Gewaltfrei Erziehen

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Gewaltfrei Erziehen
Familie & co 11/13
Gewaltfrei Erziehen
Der Klaps schadet doch! Studien zeigen, dass auch leichte Formen körperlicher
Züchtigung bleibende Spuren hinterlassen. Wie Achtsamkeit und Respekt in der
Erziehung die Oberhand behalten – und wie Eltern Konfliktsituationen friedlich meistern
können
Beim Schuhe anziehen haben sie sich gestritten, ein übermüdetes Kind, eine erschöpfte
Mutter. Thea hatte nach ihr getreten und da war ihr die Hand ausgerutscht. Entsetzt schaut
Lena Senner auf ihre Rechte, dann auf ihre Tochter. Die beginnt bitterlich zu weinen. „Ich
schäme sich so“, sagt Lena Senner, wenn sie von dem Vorfall erzählt. Sicher, Thea ist mit
ihren knapp drei Jahren in einer schwierigen „Trotzphase“, aber mit Schlägen reagieren, das
hat die junge Mutter nicht gewollt. Wie Lena Senner denken die meisten Eltern in
Deutschland. Bei einer Befragung durch die Universität Halle-Wittenberg im Jahre 2005
erklärten über 90 Prozent eine gewaltfreie Erziehung zu ihrem Ideal. Nahezu 80 Prozent der
Eltern betrachten das Schlagen eines Kindes zudem als Körperverletzung. Dass aber zwischen
Ideal und Wirklichkeit mitunter Lücken klaffen, bezeugt nicht nur das Beispiel von Lena
Senner. Nach einer Studie des Forsa-Instituts vom März 2012 benutzen immer noch 40
Prozent aller Eltern in Deutschland „einen Klaps auf den Po“ als Erziehungsmittel. Auch
„Ohrfeigen“ und „Hintern versohlen“ kommen nicht selten vor. Eine Befragung von Kindern
und Jugendlichen durch die Universität Bielefeld bestätigte unlängst diese Angaben. Mehr als
22 Prozent der Sechs- bis Sechzehnjährigen berichteten, dass sie gelegentlich oder auch
häufig von Erwachsenen geschlagen werden. „Das sind erschreckende Zahlen“, sagt Paula
Honkanen-Schobert, Familientherapeutin und Bundesgeschäftsführerin des Deutschen
Kinderschutzbundes. Denn körperliche Übergriffe auf Kinder haben schlimme Folgen.
„Schläge verursachen Schmerzen, sie schädigen die Vertrauensbasis zwischen Eltern und
Kindern und sie schädigen insbesondere das Selbstvertrauen des Kindes“, so HonkanenSchobert. Das gilt auch bereits für den angeblich so harmlosen „Klaps auf den Po“.
Schläge traumatisieren – und behindern die Hirnreifung
Dabei scheint der zunächst Wirkung zu zeigen; die Kinder fügen sich meist sofort. Ein
Scheinerfolg, meint der dänische Familientherapeut Jesper Juul. Gewalt „ist für die
persönliche Integrität des Kindes so kränkend, dass es seine Individualität verleugnet, folgsam
und leicht zu handhaben ist“, erklärt er. Gewalt hinterlässt allerdings massive Spuren im
Gehirn, weiß Joachim Bauer von der Universität Freiburg: „Kinder und Jugendliche, die keine
erzieherische Zuwendung erhalten, die vernachlässigt oder mit Gewalt traumatisiert wurden,
bleiben hinter dem Entwicklungszeitplan ihres Gehirns in gefährlicher Weise zurück und
entwickeln bleibende Hirnreifungsstörungen“, so der Neurobiologe. Die Möglichkeit, dass
von engen Bezugspersonen Gefahr drohen könnte, hält Kinder in ständiger Angst. Das
schränkt ihre natürlichen Erkundungs- und Entwicklungsdrang ein, ihre Lernfähigkeit leidet.
Manche Kinder trauen sich kaum noch etwas zu und ziehen sich in sich selbst zurück. Andere
reagieren aggressiv gegenüber Gleichaltrigen oder Jüngeren. Als Erwachsene sind
misshandelte Menschen oft ängstlich oder depressiv, leiden unter Gedächtnisstörungen und
haben Probleme in Beziehungen zu anderen. Nach Erkenntnissen von UNICEF können auch
körperliche Leiden als Folge auftreten. Zum Glück setzt sich das Bewusstsein von der
schlimmen Wirkung gewaltsamer Erziehung immer mehr durch, wie die Studien der
Universität Halle-Wittenberg belegen. Professor Kai Bussmann, Initiator der Befragung, führt
diese Entwicklung nicht zuletzt auf die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention im
Jahre 1989 und das in Deutschland im Jahre 2000 verabschiedete „Gesetz zur Ächtung der
Gewalt in der Erziehung“ zurück. „Die Kampagne zur Einführung eines Rechts auf
gewaltfreie Erziehung fiel auf fruchtbaren Boden und hat Gewalt ablehnende Einstellungen
gefördert“, so Bussmann. Dieser Wertewandel ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt,
dass Prügeln, Einsperren und andere Grausamkeiten Jahrhunderte lang als normale, ja
notwendige Erziehungsmethoden galten. „Weniger als 20 Prozent der heutigen Eltern
rechtfertigen körperliche Bestrafungen noch mit erzieherischen Gründen“, konnte Kai
Bussmann feststellen. Die meisten Mütter und Väter nennen Stress und Hilflosigkeit als
Gründe dafür, dass ihnen gelegentlich die Hand ausrutscht. So wie Lena Senner. „Mir sind
einfach die Nerven durchgegangen“, sagt sie.
Kinder sind alles andere als machtgierige Egoisten
Was kann man tun, damit es erst gar nicht so weit kommt? Zunächst sollte man wissen, wie
Kinder ticken, meint Paula Honkanen-Schobert. Hinter Theas vermeintlichem Trotz zum
Beispiel verbirgt sich eine ganz normale Entwicklungsphase. Mit etwa zwei Jahren entdecken
Kinder, dass sie eigenständige Persönlichkeiten sind und etwas bewirken können. „Kann
alleine“ behaupten sie nun und probieren alles aus: Pullover anziehen, Brot schneiden, Schuhe
binden sind erste Schritte in die Selbständigkeit. Bei den Erwachsenen kommt ihr
Enthusiasmus nicht immer gut an. Kinder in diesem Alter können ihre Gefühle noch nicht
steuern, erklärt Fabienne Becker-Stoll, Leiterin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in
München. Wenn sie spüren, dass ihre „Hilfe“ nervt und sie ihren Willen nicht durchsetzen
können, reagieren die Kleinen oft mit Wutausbrüchen. Anders wissen sie sich nicht
auszudrücken, so Becker-Stoll. Und ihr “merkwürdiges” Verhalten erklären können sie auch
noch nicht. Zahlreiche neueren Untersuchungen beweisen, dass kleine Kinder alles andere als
machtgierige Egoisten sind, im Gegenteil. Schon Babys zeigen Mitgefühl und Einjährige
versuchen zu helfen, wenn sie eine Notlage erkennen. Kinder wollen grundsätzlich positiv mit
den Erwachsenen zusammenarbeiten, ist Jesper Juul überzeugt. Schwierig wird es nur, wenn
beide Seiten unterschiedlicher Meinung darüber sind, wie gute Zusammenarbeit aussieht.
Weiß man aber, dass der vermeintliche “Trotz” einer Dreijährigen lediglich Ausdruck von
Hilflosigkeit ist, muss man sich als Vater oder Mutter nicht in einen Kräfte zehrenden Kampf
einzusteigen. Wenn ein Kind sich im Supermarkt schreiend auf den Boden wirft, kann man
den “Anfall” in Ruhe vorüberziehen lassen.
Erschöpfung und Frustration rechtzeitig vorbeugen
Nicht selten steckt hinter scheinbar provozierendem Verhalten aber auch ein Problem. Jesper
Juul hat folgendes Beispiel: Wenn sich die Familie zur gemeinsamen Mahlzeit an den Tisch
setzt, verkündet ein Kind regelmäßig, es hätte keinen Hunger. Kaum ist jedoch der Tisch
wieder abgeräumt, verlangt es etwas zu essen. Das Kind verhält sich nicht so, weil es die
Eltern ärgern möchte, im Gegenteil, erklärt Juul. Es möchte ihnen einen Gefallen tun. Seit
einiger Zeit spürt es, dass die Stimmung zwischen Mutter und Vater nicht gut ist, was sich bei
den gemeinsamen Mahlzeiten in Schweigen oder gereizten Äußerungen bemerkbar macht.
Weil es keine Worte für seine Gefühle in dieser bedrückenden Atmosphäre findet, lenkt das
Kind die Aufmerksamkeit und den Zorn der Eltern auf sich. Statt auf das „ungehörige“
Verhalten des Kindes mit Druck oder gar Schlägen zu reagieren, rät der Familientherapeut:
„Versuchen Sie, das Leben Ihres Kindes aus seinem eigenen Blickwinkel zu betrachten, und
nutzen Sie die Gelegenheit, Ihr Kind auf eine neue Art und Weise kennen zu lernen.“
So wichtig es ist, das Kind zu verstehen, so bedeutsam ist auch, sich selbst zu verstehen.
Besonders wenn Kinder klein sind, muss man auf Vieles verzichten - Schlaf, Freizeit,
entspannte Mahlzeiten – und viel geben. Das führt auf die Dauer zu Erschöpfung und
Frustration, aus der sich allmählich Wut auf die Kinder entwickeln kann. Spätestens jetzt
heißt es, die Notbremse ziehen. „Jedes Elternteil trägt Verantwortung für seinen eigenen
Kräftehaushalt, der immer wieder neu aufgetankt werden muss“, sagt Paula HonkanenSchobert. Mütter und Väter sollten beizeiten überlegen, was ihnen hilft, wieder ins innere
Gleichgewicht zu kommen. Bessere Absprachen zwischen den Partnern? Sich ab und zu einen
Kinoabend zu zweit freischaufeln? Sich nicht immer neue Arbeit vom Chef aufhalsen lassen?
Die Kardinalfrage beim Stressabbau lautet: Was ist mir wirklich wichtig? Das gilt auch für
den Umgang mit den Kindern. Ist es wichtiger, dass Thea mit korrekt geschlossenen Schuhen
bei der Oma erscheint oder die Verabredung pünktlich eingehalten wird? Zählt Pauls
Kreativitätsentfaltung beim Bau einer Sessel-Sofa-Höhle mehr als die Ordnung im
Wohnzimmer?
Ich-Botschaften senken den Aggressionspegel
Sind die Prioritäten einmal geklärt, heißt es eindeutige Absprachen treffen. Regeln erleichtern
das Zusammenleben in der Familie, das spüren auch Kinder. Je mehr sie am Aushandeln der
Regeln beteiligt sind und erleben, dass ihre Wünsche ernst genommen werden, desto eher sind
sie bereit, sich an Absprachen zu halten. Lena Senner und Thea haben folgenden Kompromiss
gefunden: Damit sie pünktlich bei der Oma ankommen, trägt Mama die Kleine zum Auto.
Während der Fahrt darf Thea ihre Schuhe in aller Ruhe selbst anziehen. Das ist keine
Vereinbarung für die Ewigkeit, immer wieder muss das Familienreglement neu ausgehandelt
werden. Wichtig ist, dass die Erwachsenen eine Atmosphäre schaffen, in der die Bedürfnisse
aller respektiert werden, natürlich auch die der Eltern. Die sollten ihre Wünsche unbedingt als
Ich-Botschaften formulieren, rät Paula Honkanen-Schobert, nicht als Vorwurf. „Ich möchte so
gerne mal in Ruhe mit meiner Freundin telefonieren“ statt „Nie lässt du mich mal zwei
Minuten in Ruhe telefonieren.“ Und sie sollten die Kinder in die Lösungssuche einbeziehen.
„Hast du eine Idee, wie das gehen könnte?“ Mit Ich-Botschaften ließen sich Verbote,
Beschimpfungen oder ein Klaps oft vermeiden, so Honkanen-Schobert, weil Kinder ja gerne
im Rahmen ihrer Möglichkeiten mitdenken und helfen. Sollte allen guten Willens zum Trotz
aber dennoch der Wutpegel einmal so hoch steigen, dass man am liebsten Ohrfeigen verteilen
möchte, rät die Familientherapeutin, den „Notausgang“ zu nehmen: „Fluchend und brüllend
aus dem Zimmer laufen. Gegen Kissen schlagen, Türen treten. Einmal um den Block laufen
(aber bitte Bescheid geben, dass Sie zurück kommen.). Bis hundert zählen...“. Oder das
Elterntelefon anrufen. Dort trifft man auf verständnisvolle Gesprächspartner ebenso wie in
den örtlichen Erziehungsberatungsstellen oder den Elternkursen des Deutschen
Kinderschutzbundes. Wenn man den „Notausgang“ einmal doch nicht gefunden und
zugeschlagen halt, hilft nur eins: Den Fehler einräumen und sich entschuldigen.
Das habe sie auch getan, erzählt Lena Senner. Und neulich, als sie wegen Theas Sturheit
einmal wieder die Wut packte, sei ihr eine abstruse Idee gekommen: „Wenn sie nicht aufhört,
hänge ich sie mit Klammern an die Wäscheleine, hab ich gedacht und musste über diesen
albernen Gedanken plötzlich lachen. Mit Humor kann man Ärger auch weglachen, glaube
ich.“
„Gelobt sei, was hart macht“
Nicht immer zählten in der Erziehung Respekt und Verständnis mehr als Prügel und Gewalt. Ein
Rückblick
So autoritär wie die Gesellschaften blieben Jahrhunderte lang auch ihre Erziehungsmethoden.
Das Ziel pädagogischen Einwirkens war, von Natur „wilde“ Kinder zu Erwachsenen zu
formen, die sich ins System einfügen. Der Einsatz von Zwangsmitteln galt dabei als
unumgänglich. Als dann Hierarchien flacher wurden und die Unterdrückten aufbegehrten,
rückte der Einzelne mehr und mehr in den Blick, auch die Persönlichkeit des Kindes. In den
pädagogischen Konzepten von Johann Heinrich Pestalozzi und Friedrich Fröbel spiegelt sich
diese neue Sicht. Während sich ihre Ideen international zur Reformpädagogik weiter
entwickelten, wurde diese Traditionslinien jedoch während der Nazi-Zeit in Deutschland
gekappt. Mehr denn je galt das „Feindbild vom Kind“, so der Weinheimer Psychologe Claus
Koch. Gierig, faul, und tyrannisch veranlagt braucht es nach dieser Vorstellung eine massive
Regulierung. Eltern sollten den Bedürfnisen der Kinder gegenüber hart sein und sie zum
Gehorsam zwingen. Nach 1945 wurden die Methoden der Nazi-Zeit zunächst bruchlos weiter
angewandt. Viele heute über Fünfzigjährigen erinnern sich schmerzlich, dass Schläge in
Elternhaus und Schule zum Alltag gehörten.
Kinderrechte im Wortlaut
Die UN-Kinderrechtskonvention wurde am 20. November 1989 von der Vollversammlung der Vereinten
Nationen verabschiedet; für Deutschland trat sie am 5. April 1992 in Kraft.
Darin Artikel 19: Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung:
(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und
Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger
Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder
Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen
Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines
Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das
Kind betreut.
Das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung:
Am 2. November 2000 vom Deutschen Bundestag verabschiedet.
Darin § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB):
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische
Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Das Elterntelefon
0800 111 0 550
Anonym und kostenlos über Festnetz und Handy
Montags und Mittwoch 9 bis 11 Uhr
Dienstag und Donnerstag von 17 bis 19 Uhr
Buchtipps
Paula Honkanen-Schobert: Starke Kinder brauchen starke Eltern. Kreuz Verlag 2012, 160 S., 14,99
Euro
Das Buch beschreibt mit vielen praktischen Vorschlägen, wie Familien ihre Konflikte
demokratisch und gewaltfrei lösen können.
Jesper Juul: Dein kompetentes Kind. rororo 2009/2011, 283 S., 9,99 Euro
Plädoyer dafür, den Blickwinkel des Kindes einzunehmen und auf seine sozialen Fähigkeiten
zu vertrauen.
Rita Steininger: Eltern lösen Konflikte. Klett-Cotta 2006, 174 S, 13,00 Euro
Reden statt schreien oder schlagen. Praktische Anleitung für eine gelungene Kommunikation
in der Familie.