Internet.kom - mediensprache.net

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Internet.kom - mediensprache.net
Sandro M. Moraldo (Hrsg.)
Internet.kom
Neue Sprach- und Kommunikationsformen
im WorldWideWeb
Band 1: Kommunikationsplattformen
Copyright © MMIX
ARACNE editrice S.r.l.
www.aracneeditrice.it
[email protected]
via Raffaele Garofalo, 133 a/b
00173 Roma
(06) 93781065
ISBN
978–88–548–2919–0
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich in allen Ländern
geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes
ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für vollständige oder teilweise Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
I Auflage: Dezember 2009
Inhaltsverzeichnis
Vorwort...............................................................................7
Sandro M. Moraldo
Sprach- und Kommunikationsformen im
WorldWideWeb..................................................................9
Christa Dürscheid
E-Mail: eine neue Kommunikationsform?........................39
Jürgen Spitzmüller
Chat-Kommunikation: Interaktion im virtuellen
Raum als multidisziplinäres Forschungsfeld.....................71
Claus Ehrhardt
Internetforen: Kommunikation und
Diskussionskultur oder «Forenbeiträge
schreiben ist quasi das fast-Food der Schreiberei».........109
Jan Schmidt
Weblogs: Formen und Konsequenzen ihrer Nutzung.....157
Hajo Diekmannshenke
Message Board und Schwarzes Brett:
Elektronische Zettelwirtschaft?………………………...181
Irene Cennamo
Gästebücher: Kontinuität und Wandel einer
kommunikativen Plattform………………………….…205
Sandro M. Moraldo
Twitter: Kommunikationsplattform
zwischen Nachrichtendienst, Small Talk und SMS.......245
Sandro M. Moraldo
Twitter: Kommunikationsplattform
zwischen Nachrichtenticker, Small Talk und SMS
0. Einleitung
1. Was ist Twitter?
2. Twitter und die ‹ambient awareness›
3. Wie funktioniert Twitter?
4. Nutzerstruktur und Kommunikationsfunktionen
5. Sprachökonomie
6. Fazit
7. Literatur
‹Share and discover what’s happening right now, anywhere in the
world.› is the philosphy of Twitter, a new short-form Web messaging
service, founded 2006 in San Francisco by Biz Stone, Evan Williams
and Jack Dorsey. Twitter exploded in popularity in 2008 and is now
going to be on top of social media networks. This article is meant as
an introduction to this microblogging service.
0. Einleitung
Gehen wir der Reihe nach: Am 15. Januar 2009 musste ein
Airbus 320 der US Airways mit rund 150 Menschen an
Bord im Hudson River von New York notlanden. Janis
Krums, der sich gerade zufällig auf einer der Fähren befand, die sich an der Bergung der Passagiere beteiligte,
schoss ein Bild der Unglücksmaschine, fügte folgenden
Kommentar hinzu: «There’s a plane in the Hudson. I’m on
the ferry going to pick up the people. Crazy.» (Abb. 1) und
schickte alles per Twitpic ins Netz. Als einer der ersten
informierte er damit die Öffentlichkeit von dem Flugzeugunglück und der ‹Bürgerjournalismus› hatte gegenüber
den professionellen klassischen Medien mal wieder die
Nase vorn. Seitdem bezeichnet sich Janis Krums in seinem
Twitter-Account (http://twitter.com/jkrums) in aller Be-
246
Sandro M. Moraldo
scheidenheit als «The Miracle on the Hudson Photo
Guy».1
Abb.1
Für Spiegel-Online war es «Twitters Sternstunde».2 Am
25. Mai 2009 sorgte dann «Hässliches Gezwitscher»
(Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Mai 2009) in
der Bundesversammlung für die «Twitter-» oder «Blumenstrauß/Blaskapellen-Affäre» (ban 2009) und damit für
Unmut unter den Abgeordneten. Als «protokollarischen
Gau» bezeichnete Volker Beck, der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen (zit. in ban 2009), den Vorgang
der MdBs Julia Klückner (CDU) und Ulrich Kelber
(SPD), die Wiederwahl des Bundespräsidenten Horst Köhlers mit den Sätzen «Leute, ihr könnt in Ruhe Fußball gucken. Wahlgang hat geklappt.» (Klöckner) und «Nachzählung bestätigt: 613 Stimmen. Köhler ist gewählt.» (Kelber)
bekannt zu machen, noch bevor Bundestagspräsident
1
2
«Im Bauch der Fähre nach New Jersey sitzend», so der US-Unternehmer Janis Krums selbst über das Ereignis im Spiegel-OnlineInterview, «sah ich durch die Seitenscheibe dieses riesige Flugzeug im Wasser. Es war ein so surrealer Moment. Fast instinktiv
zückte ich mein iPhone, knipste und stellte - weil ich gerade bei
Twitter angemeldet war - die Aufnahme ins Netz». (http://www.
spiegel.de/panorama/0,1518,601867,00. html)
Vgl. http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-38871.html.
Twitter
247
Norbert Lammert das Ergebnis in der Bundesversammlung verkündete. Am 31. August 2009 schließlich twitterten die ersten Wahlprognosen zu den Landtagswahlen in
Thüringen, Sachsen und dem Saarland noch vor Schließung der Wahllokale an die Öffentlichkeit. Den klaren
Verstoß gegen die Wahlgesetze bezeichnete die Süddeutsche Zeitung als «Gefährliches Gezwitscher».3
Dies sind nur einige von zahlreichen weiteren Beispielen,
bei denen Twitter eine Schlüsselfunktion im Koordinatennetz zwischen dem Nutzer und der Öffentlichkeit gespielt
hat. Was aber genau ist Twitter?
1. Was ist Twitter?
Twitter ist ein Dienstleistungsunternehmen, das 2006 von
Biz Stone, Jack Dorsey und Evan Williams in San Francisco gegründet wurde. Nach dem Motto «Share and discover what’s happening right now, anywhere in the
world.» (http://twitter.com) besteht ihre Dienstleistung für
registrierte Nutzer darin, so genannte Tweets (Nachrichten, Meldungen, Beobachtungen, Statements, Aphorismen,
Eindrücke, Erfahrungen etc.) in maximal 140 Zeichen
Länge über die gleichnamige Kommunikationsplattform
Twitter im Web zu verbreiten. Die Plattform bietet auch
die Möglichkeit, Tweets von anderen Nutzern (aus dem
eigenen Familien- und Freundeskreis, aber auch von Journalisten, Politikern, Unternehmen, Stars und Sternchen
usw.) über die eigene Twitter-Seite zu verfolgen. Man
abonniert ganz einfach ihre Tweets, die dann automatisch
zugestellt werden. Im Fachjargon: Man wird zu einem
Follower. Am Anfang stand die (von den Begründern
selbst zugegebene) recht banale und simple, aber durchaus
erfolgreiche Idee, sich mit Freunden darüber auszutau3
Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/554/485974/text/.
248
Sandro M. Moraldo
schen, was man gerade tut: «Twitter is a free service that
lets you keep in touch with people through the exchange
of quick, frequent answers to one simple question: What
are you doing?». «Diese Frage», so die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 5. Dezember 2008 leicht ironisch, «sollte jeder beantworten, der mit dem Internetdienst Twitter seine SMS ins Netz stellen will». Das funktioniert über ein internetfähiges Handy genauso gut wie
über E-Mail. Als registrierter Nutzer kann man dann auf
der Twitter-Website über eine ‹Timeline› (http://twitter.
com/public_timeline), «in der die Statusmeldungen der
Twitterer chronologisch durchlaufen» (Schmidt 2009), die
eigenen sowie die Beiträge der anderen in zeitlich umgekehrter Reihenfolge mitverfolgen. Twitter ist zwar eine öffentliche Plattform, man kann aber den Zugang zu den eigenen Kurztexten auf bestimmte Personen beschränken:
«Jeder kann sich (...) registrieren und entscheiden,
ob seine Beiträge (...) dann öffentlich einsehbar oder
nur von einem Kreis von Freunden abrufbar sein sollen. Außerdem kann man über die eigene Twitterseite verfolgen, was Freunde und Bekannte gerade so
treiben, weil deren Einträge ebenfalls dort einlaufen,
sofern man sie abonniert hat.» (Graff 2008)
«By following these quick, abbreviated status reports from
members of you rextended social network», schreibt Steven Johnson (2009) von Time-Magazine, «you get a
strangely satisfying glimpse of their daily routines.» Sicherlich entsteht dadurch «ein globaler Blog aus Kurznachrichten, eine Art Protokoll der Wirklichkeit» (Süddeutsche Zeitung 2008). Doch sind Leute, die Internetapplikationen wie Twitter nutzen, tatsächliche jene «Stenographen des Lebens» (Graff 2008), als welche sie vielerorts gespriesen werden? Der Behauptung, «Twitter sei
eine Mitschrift des Lebens», ist insofern zuzustimmen,
Twitter
249
weil man dank der öffentlichen Tweets auf eine bisher
«nie gekannte Weise am Leben der anderen teilhaben
kann». Gleichzeitig ist diese Behauptung «aber auch
unsinnig, weil Teilhabe an jedem Leben unmöglich ist»
(Graff 2008).
In Zeiten von Web 2.0 ist Twitter seit seiner ‹Entdeckung›
im Jahr 2008 derzeit wohl unbestritten die neue Internetapplikation, über die Menschen aktiv an der Gestaltung
der Kommunikationslandschaft teilnehmen können. Zu
diesem Hype haben US-Präsident Barack Obama, der
Twitter während seiner Wahlkampagne einsetzte (sein
Tweet zum Gewinn der US-Präsidentschaftswahl vom 5.
November 2008 um 11.34 Uhr lautete: «We just made
history. All of this happened because you gave your time,
talent and passion. All of this happened because of you.
Thanks»), Medienguru Oprah Winfrey (ihr erstes Tweet
vom 17. April 2008 um 7.11 Uhr: «HI TWITTERS.
THANK YOU FOR A WARM WELCOME. FEELING
REALLY 21st CENTURY .»),4 und Hollywood-Star Ashton Kutcher,5 wesentlich beigetragen. Ein Blick auf die
(amerikanische) Rangliste der Top 25 Social-Networks
vom Januar 2009 macht deutlich, dass Twitter der Shooting Star unter den sozialen Netzwerken ist. Im Vergleich
zum Vorjahr (Erhebung: Februar 2008) gelang dem Unternehmen der unglaubliche Sprung von Rang 22 auf Platz
3 (vgl. Abb. 2).6
4
5
6
Vgl. http://twitter.com/Oprah/status/1542224596.
Der CNN zufolge war Ashton Kutcher «the first to collect 1 million followers on Twitter» (http://www.cnn.com/2009/TECH/04/
17/ashton.cnn.twitter.battle/index.html).
Vgl. http://blog.compete.com/2009/02/09/facebook-myspace-twitt
er-social-network/. Die Daten vom Februar 2008 finden sich unter.
http://blog.compete.com/2008/03/07/top-social-networks-traffic-fe
b-2008/.
250
Sandro M. Moraldo
Abb. 2
Als Steven Johnson für das Time-Magazine den Artikel
über den Medienhype Twitter schrieb, schlugen er und
sein Verleger mit der Kurznachrichtenplattform gleich
Twitter
251
zwei Fliegen mit einer Klappe. Am 4. Juni 2009 benachrichtigte er kurz vor dem Erscheinen des Artikels seine
Follower (damals knapp 500.000, heute über eine Million)
mit dem Tweet: «I've written this week's TIME cover
story about how Twitter is changing the way we live-and
showing us the future of innovation. Buy a copy!».
Smartphone und Original-Tweet landeten dann auf die
Titelseite der Zeitschrift (Abb. 3).
Abb. 3
Johnsons Tweet lässt sich schlicht und einfach «als eine
SMS an die ganze Welt beschreiben» (Graff 2008), denn
mit dem geringsten technischen wie sprachlichen Aufwand erzielte er die größte marketing-strategische und inhaltliche Aussage.
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Sandro M. Moraldo
2. Twitter und die ‹ambient awareness›
Einer der Reize von Twitter besteht sicherlich darin, dass
sich durch das gleichzeitige Verfolgen sowohl verwandter
als auch x-beliebiger Twitterer ein persönlicher, bunter
Nachrichten-Mix zusammenstellen lässt. Man verfügt
sozusagen über eine eigene Plattform mit einem breiten
Spektrum von Personen und Informationen, wie etwa der
Journalist Dirk von Gehlen (2009a) zu berichten weiß:
«Es mischen sich in meiner Twitter-Lektüre lustige
Beobachtungen aus dem Backstage-Bereich von Harald Schmidt (@bonitoTV) mit Notizen des britischkanadischen Autors Cory Doctorow (@doctorow)
und den Statusmeldungen von wirklichen Freunden
und guten Bekannten».
Zu einer ähnlichen Erkenntnis kommt Time-Journalist Steven Johnson: «The mix creates a media experience quite
unlike anything that has come before it, strangely intimate
and at the same time celebrity-obsessed.» (2009) Aus dem
Consumer Internet Barometer des Marktforschungsinstituts TNS, das mit dem Dienstleistungsunternehmen The
Conference Board erstellt wurde (Abb. 4), lassen sich in
Bezug auf kommunikatives Verhalten folgende Schlüsse
ziehen7: Männer twittern in der Mehrzahl der Fälle mit
Freunden (59,6 %), gefolgt von Bloggern (28,5 %) und
Prominenten (27,4 %). Erst an vierter Stelle kommt die
Familie. Geschlechtsspezifische Unterschiede fallen hier
kaum ins Gewicht, nur dass Frauen verstärkt mit Freunden
und Familienmitgliedern Tweets austauschen. Bei Fernsehsendungen, am Arbeitsplatz, als Marketing-Tool oder
beim Verfolgen der Tweets von TV-Journalisten spielt
Twitter (bisher zumindest) kaum, oder eine eher untergeordnete Rolle.
7
http://consumerinternetbarometer.us/press.cfm?press_id=3669
Twitter
253
(Abb. 4)
Es wäre reduktiv, die Twitter-Seiten nur als «aktuelle, (...)
subjektive Sammlungen privater Eindrücke; ungeordnet,
ungefiltert, ohne Gewähr» (Serrao 2008) zu klassifizieren.
Denn die kurzen Textnachrichten beschränken sich nicht
nur auf die Beantwortung der Frage: «Was tust du gerade?». Twitter hat sich längst zum Kommunikationstool
entwickelt, das die verschiedensten Textsorten umspannt.
Auch wenn der Small Talk den tatsächlichen Reiz von
Twitter ausmachten sollte –
«Twitter ist (…) in erster Linie ein hervorragendes
technisches Werkzeug, um Small Talk im Internet zu
führen. Wobei ich bewusst all die damit verbundenen vermeintlich negativen Eigenschaften wie Beiläufigkeit, Lockerheit und mangelnde Tiefe einschließe. Ja, Twitter ist der Ort für Befindlichkeiten
und Plaudereien.» (von Gehlen 2009a),
– es lassen sich neben (meist) belanglosen Kurzmitteilungen über den Alltag und einfachen Statusberichten auch
höchst interessante Diskussionen verfolgen, «Augenzeu-
254
Sandro M. Moraldo
gen-Nachrichten aus Krisenregionen» verbreiten (Graff
2008) oder News im journalistischen Kleinformat verfassen. So nutzen auch immer mehr professionelle Journalisten Twitter, wie etwa Matthew Cooper von Time-Magazine, Rachel Sklar von der Huffington Post oder John
Dickerson von Slate (vgl. Formenti 2008), um Nachrichten kurz und knapp auf den Punkt zu bringen und den Leser (Follower) schnell und unkompliziert zu informieren.
Das Dienstleistungsunternehmen selbst meint:
«Twitter has grown into a real-time short messaging
service that works over multiple networks and
devices. In countries all around the world, people
follow the sources most relevant to them and access
information via Twitter as it happens – from
breaking world news to updates from friends.»8
Dass man mit Twitter trotz der Begrenzung auf 140 Zeichen auch vieles mehr machen kann, als nur private oder
öffentliche Meldungen zu schreiben, ist auf den Erfindergeist der Nutzer zurückzuführen:
«In recent months Twitter users have begun to find a
route around that limitation [140-character updates;
S.M.M.] by employing Twitter as a pointing device
instead of a communication channel: sharing links to
longer articles, discussions, posts, videos – anything
that lives behind a URL» (Johnson 2009).
Sascha Lobo, der in Deutschland zu den populärsten Twitteren zählt, sagt über diesen neuen Trend: «Mikro-Blogging hat einen ganz besonderen Charme. Es ist PrivatNachrichten-Ticker, in den Mitteilungen vermischen sich
persönliche und weltpolitische Nachrichten. Man hat das
Gefühl, ein Teil des pulsierenden Lebens im Internet zu
sein und nichts zu verpassen». (Kortmann 2008) Clive
8
Vgl. http://twitter.com/about#about.
Twitter
255
Thompson (2008) bemüht für den Erfolg der Social Networks wie Facebook und Twitter den Begriff der ‹ambient
awareness› oder auch ‹ambient intimicy› aus den Sozialwissenschaften. «It is», schreibt er seinem Beitrag «Brave
New World of Digital Intimacy» (2008) für die New York
Times, «very much like being physically near someone
and picking up on his mood through the little things he
does – body language, sighs, stray comments – out of the
corner of your eye». Das Paradoxe an dieser «ambient
awareness» sei es aber nun, dass «each little update – each
individual bit of social information» – für sich alleine
genommen, völlig unbedeutend sei. Erst über einen längeren Zeitraum hinweg
«the little snippets coalesce into a surprisingly
sophisticated portrait of your friends’ and family
members’ lives, like thousands of dots making a
pointillist painting. This was never before possible,
because in the real world, no friend would bother to
call you up and detail the sandwiches she was
eating. The ambient information becomes like (…)
an invisible dimension floating over everyday life.»
Die wachsende Popularität von Sozialen Netzwerken korreliere auch mit der zunehmenden sozialen Isolation: «The
mobile workforce», so heißt es bei Thompson weiter, «requires people to travel more frequently for work, leaving
friends and family behind, and members of the growing
army of the self-employed often spend their days in solitude». Aus diesem Grund «ambient intimacy becomes a
way to ‹feel less alone›.» (Thompson 2008)
Für Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel reflektiert Twitter «sehr gut die Art und Weise der Kommunikation in der total vernetzten, globalisierten Gesellschaft», denn es generiere ununterbrochen «eine Art ‹digital state of the mind› des Netzes, eine Momentaufnahme
256
Sandro M. Moraldo
dessen, was die Netzwelt beschäftigt». Widerspiegeln tue
sich das in bestimmten Themen, «unterhaltungsorientierte
und alberne, aber auch sehr spannende und politische Themen», mit denen sich die Twitizens in der Twittersphäre
auseinandersetzen. Letztendlich sei Twitter eine Art «Vergewisserungskommunikation», die dem Bedürfnis des
Menschen nach «Formen der permanenten Vergewisserung, ob alles in Ordnung ist», entgegenkomme (zit. in
Herber 2009). Als direkte Verbindung zwischen Produzent
und Verbraucher wird Twitter schon längst in die Kommunikationsstrategie von Unternehmen als Marketing-Tool
eingesetzt, nämlich als Vertriebskanal (u.a. für Informationsangebote) und zur Kundenorientierung (für Beschwerden, Produkt- und Markenbewertungen). Auch hat jeder
berühmte Schauspieler, Musiker, Sportler o.ä einen Twitter-Account und schreibt «continual updates of one’s daily
life.» (Cohen 2009) Ob nun Hollywood-Star Ashton Kutcher, der als ‹digital native› in einem erinnerungswürdigen
Fernsehauftritt in der CNN-Sendung Larry Kind live dem
Journalisten-Veteranen und ‹digital migrant› Larry King
die Vorzüge des Nachrichtendienstes vortwittert und damit
die Kluft des ‹digital divide› zumindest für einen Augenblick überwinden hilft,9 Sängerin Britney Spears oder Bas9
Vgl. http://www.ustream.tv/recorded/1398558. Ashton Kutcher ist
zudem ein Paradebeispiel dafür, wie es einem Prominenten mit
Hilfe von Twitter gelingen kann, die Berichterstattung über das
eigene Privat- und Familienleben nach außen zu steuern: «Ashton
Kutcher und alle anderen VIPs, die twittern, nutzen die Kurzmitteilungsplattform, um die Macht darüber zurückzugewinnen, was
und wie über sie berichtet wird. Wenn Kutcher Bilder vom angeblichen Hinterteil seiner Ehefrau [die Schauspielerin Demi Moore;
S.M.M.] ins Netz stellt, verlieren alle Paparazzi-Schnappschüsse
mit ähnlichen Motiven ihren Wert. Kutchers Botschaft lautet: Näher und authentischer kann niemand über mein Leben berichten als
ich selbst.» (von Gehlen 2009b).
Twitter
257
kettballer Shaquille O’Neal ihre Fans mit neuesten Infos
updaten: «Twitter is seen as an intimate link between celebrities and their fans», auch wenn nicht alle Stars ihre
Tweets selbst verfassen: «But someone has to do all that
writing, even if each entry is barely a sentence long. In
many cases, celebreties and their handlers have turned to
outside writers – ghost Twitterers if you will – who keep
fans up to date, often in the stars own voice.» (Cohen
2009) Auch musste Twitter eingreifen, als «fake celebrity
accounts» (Boffey 2009) für Aufsehen sorgten: Twitterer
verbreiteten unter dem Deckmantel eines prominenten
Namens in der Twittersphäre Falschmeldungen, die bald
in den klassischen Medien landeten.10 Auch die Globalplayer Microsoft (mit ihrer Suchmaschine Bing) und
Google sind nun daran interessiert, Statusmeldungen von
Twitter (und Facebook) in Echtzeit in die normalen Suchergebnisse einzubinden. (vgl. Barnett 2009) Ob allerdings
dadurch ein Mehrwert für die User erzeugt wird, bleibt
abzuwarten. Sieht man einmal davon ab, dass Tweets für
die Suche nach interessanten Links relevant sein dürften,
sind zumindest Zweifel am Nutzen der Status-Updates
durchaus berechtigt. Holger Schmidt jedenfalls sieht im
«Strom der Nachrichten», die tagtäglich auf der Datenautobahn durch Internet fließen und in den technischen
Innovationen, einen «Quantensprung» des Netzes. «Aus
einem eher statischen Netz mit großen Anlaufstellen wie
Google oder Yahoo», schreibt er, «entwickelt sich jetzt
das Echtzeitinternet, gekennzeichnet von einem stetigen
10
Ein falscher Tweet war z.B. der von Ex-US-Präsident George W.
Bush: «Queenie Lizzie’s birthday party today. She’s lookin’ good
for 110 years old, or however old she is.» (Boffey 2009). Ein
Beispiel aus der deutschen Twitterszene: «Achtung: neuer TwitterAccount @BILDchef ist ein fake #unfollow» (http://twitter.com/
wbuechner)
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Sandro M. Moraldo
Informationsfluss», der Nachrichten oder Statusmeldungen der Nutzer dezentral im Internet verteilt.» Angetrieben
werde das Echtzeitinternet «vorwiegend von den mehr als
200 Millionen Internetnutzern auf Seiten wie Facebook,
Twitter oder Friendfeed, die Informationen in Sekundenschnelle verbreiten.» (Schmidt 2009)
3. Wie funktioniert Twitter?
Das Prinzip von Twitter ist recht simpel. Auf der TwitterWebsite (http://twitter.com) meldet man sich mit Namen
und selbstgewähltem Nutzernamen an, der mit einem vorangestellten @-Zeichen als Adresse fungiert. In die Statuszeile What are you doing? wird die Kurznachricht (z.B.
«Neue Hochschulreform in Italien!!!! Wird sich was ändern?? oder wieder nur: Alter Wein in neuen Schläuchen!!»)11 eingetragen und dann mit dem Klicken auf Update in die Twittersphäre gepostet. Bei der Eingabe achtet
ein rückwärts laufender Zähler darauf, dass die 140 Zeichen nicht überschritten werden. Die Kurznachricht erscheint dann sowohl auf der eigenen Zeitleiste als auch
mit vorangestelltem fettgedrucktem Nutzernamen auf der
Timeline von Twitter («sanmor1 Neue Hochschulreform
in Italien!!!! Wird sich was ändern?? oder wieder nur: Alter Wein in neuen Schläuchen!!») und wird automatisch –
sofern vorhanden – den Abonnenten (Follower) zugestellt.
Will man beim Twittern auf andere Tweets antworten,
Kurznachricht weiterempfehlen oder eine direkte, d.h.
nicht öffentliche Mitteilung an einen anderen Nutzer twittern, so müssen bestimmte Abkürzungen und Sonderzeichen eingesetzt werden, die den interaktiven Austausch
11
http://twitter.com/sanmor1. Alle Tweets werden in Original wiedergegeben, also auch mit eventuellen Rechtschreibfehlern, graphostilistischen Markierungen etc.
Twitter
259
und die reibungslose Zuordnung der Tweets garantieren.
So setzt man bei einer öffentlichen Antwort den Klammeraffen @ vor den ursprünglichen Verfasser der Mitteilung, wie in folgender Antwort von FAZ-‹Netzökonom›
Holger Schmidt auf einen Tweet von Daniel Elsässer:
«@DanielElsaesser Oh, danke für den Hinweis. Ist geändert.»12 Handelt es sich um eine persönliche, private Mitteilung (Direct Message) an einen Follower, die nur von
ihm erhalten und gelesen werden soll, kann man entweder
über die DM-Funktion den Tweet direkt verschicken, oder
man ersetzt den Klammeraffen durch ein d, setzt ein Leerzeichen vor den Username (d Username) und postet dann
die Nachricht. Über die Reply-Taste wiederum kann man
auf einen Tweet antworten. In der Statuszeile erscheint
dann automatisch @Username und der Antworttext kann
eingegeben werden: «@AxelS jeder sucht sich selbst die
MItte seiner Interessenswelt – und die ist meist im Eigeninteresse verankert – nicht im Leserinteresse.»13 Die Sigle
RT (= Retweet) dagegen wird eingesetzt, wenn man eine
interessante Kurznachricht eines anderen Twitterers den
eigenen Followern weiterempfehlen möchte. Meist wird
ein kurzer Kommentar dem Verweis vorausgeschickt, es
folgt das RT-Zeichen mit der Twitter-Adresse des Nutzers
(@Username) und schließlich der Tweet, wie im folgenden Beispiel von dpa-Chefredakteur Wolfgang Büchner:
«Coelhos Wort zum Sonntag RT @paulocoelho Try to be
"good", you'll be judged. Try to be yourself, you'll be criticized. Choose 2nd option.»14 Ein Hashtag (aus engl. hash
= Raute und tag = Anhänger) schließlich ist sozusagen ein
ikonisch hervorgehobenes Schlag- oder Stichwort, das die
12
13
14
http://twitter.com/Holgerschmidt
http://twitter.com/FrankGarrelts
http://twitter.com/wbuechner
260
Sandro M. Moraldo
Nachricht thematisch zuordnet und dadurch die SuchOrientierung und Archivierung von Themen, Personen,
Ereignissen etc. erleichtert. Setzt man in einer Kurzmitteilung ein #-Zeichen vor ein (Stich)Wort, einen Namen
o.ä., wird dies automatisch zu einem Tag, der Twitter-Gemeinschaften als roter Diskussions-Faden dient, wie im
Tweet von Roland Tichy, Chefredakteur der Wirtschaftswoche: «Schwarzgelb gewinnt, Bahn pünktlich. Ende der
rotgrünen Schlamperwirtschaft? Oder neoliberaler Druck
beim Personal?#Schwarzgelbangst; -)».15
«[T]he most fascinating thing about Twitter», schreibt
Johnson (2009), «is not what it’s doing to us. It’s what
we’re doing to it», denn viele «core features and applications» von Twitter «have been developed by people who
are not on the Twitter payroll». Sonderzeichen wie z.B.
der Hashtag (#) sind dafür ein schönes Beispiel. Für
Twitter vorgeschlagen wurde es von dem Blogger Chris
Messina (2007), alias Factory Joe. Der Grund: «I’m (…)
interested in simply having a better eavesdropping experience on Twitter.» Weiterhin kann der Klammeraffe
auch für mehrere Funktionen eingesetzt werden. So hat
der Blogger Len Kendall (2009), alias constructive grumpiness, in seinem Posting «@natomy of the Twitter ‹@›
Symbol» gleich mehrere Funktionen des Klammeraffen
nachweisen können. Er selbst hat acht aufgelistet und erklärt:
«Before all the third party clients and tools existed,
one of the few core differentiators between Twitter
and other communication platforms was the ‹@›
symbol. From the early days of Twitter, this ymbol
15
http://twitter.com/RolandTichy. Für eine ausführliche Einführung
und Beschreibung von Twitter und seinen Features vgl. Simon/
Bernhardt (2009).
Twitter
261
has grown to be used in many different and will
most likely continue to have an expanded purpose as
users become more clever. The following are just a
few pieces of the current @natomy»
Die acht @-Varianten im einzelnen: 1) Want Attention
from a Response; 2) Can’t DM (Not Being Followed); 3)
Want to Associate with Someone; 4) Rheotrical; 5) Recognize/Welcome New Followers (or list favorites); 6) Give
Credit for a Link, New, Content; 7) Mentioning a Brand or
Person (The Tweet isn’t directed at them); 8) Spammers
Trying to Get Your Attention.16
Twitter-Tools erlauben zudem das Integrieren von zahlreichen kreativen Funktionen. Zum Beispiel können – wie im
Fall von Janis Krums – über Twitpic Bilder hochgeladen,
optional mit Kommentar versehen und als Tweet gepostet
werden. Im Update des eigenen Twitter-Profils erscheint
dann der Link zu Twitpic, wo das Bild abgelegt ist. Sehr
beliebt sind weiterhin – schon aus rein sprachökonomischen Gründen – Shorturl-Dienste (etwa Tinyurl oder
Snipurl), die in einem Tweet der 140-Zeichen-Restriktion
entgegenkommen, weil sie lange Links durch kurze ersetzen und damit Platz sparen helfen. Wer Statistiken über
seine Tweeterei erstellen möchte, kann auf Tweetstats zurückgreifen.17
Zwar kann man in Tweets über alles schreiben und seine
Meinung kundtun, dennoch sollte man sich folgende Regel: «Be careful everybody can read your tweets -> do not
post from the event: ‹shit, no more beer available!›»18 zu
16
17
18
Zu den einzelnen Bedeutungsfunktionen vgl. Len Kendall (2009).
Zahlreiche weitere Twitter-Tools unter: twitdom.com, twtbase.com
oder twitter.com/downloads.
http://www.fstotal.com/teamwork/marketing/internet/565-twitter140-signs-for-your-team-marketing
262
Sandro M. Moraldo
Herzen nehmen, solange eine Tweetiquette (alternativ:
Twittiquette) noch aussteht.
4. Nutzerstruktur und Kommunikationsfunktionen
Twitter ist eine technische Innovation, die sich nahtlos in
das ‹Mitmachnetz› einfügen lässt. In der großen Bandbreite der Web 2.0-Anwendungen stellt es nämlich eine weitere Möglichkeit des sozialen Miteinanders, des aktiven Informationsaustausches und der produktiven wie rezeptiven
Beteiligung am Kommunikationsprozess dar. Während
neue Internetanwendungen zumeist unter Teenagern eine
rasche und rapide Verbreitung erfahren, «zeigt sich diese
Altersgruppe doch – medienübergreifend – allen technischen Neuerungen gegenüber stets besonders aufgeschlossen» (Busemann/Gscheidle 2009: 356), ist dies bei Twitter
anscheinend nicht der Fall. Dies geht zumindest aus einem
Bericht von Morgan Stanley hervor, derzufolge Jugendliche zwar aktiv im Mitmachnetz mitmischen, an der neuen
Social Software Twitter aber weniger interessiert zu sein
scheinen:
«Most teenagers are heavily active on a combination
of social networking sites. Facebook is the most
common, with nearly everyone with an internet
connection registered and visiting >4 times a week.
Facebook is popular as one can interact with friends
on a wide scale. On the other hand, teenagers do not
use twitter. Most have signed up to the service, but
then just leave it as they release that they are not
going to update it (mostly because texting twitter
uses up credit, and they would rather text friends
with that credit). In addition, they realise that no one
is viewing their profile, so their ‹tweets› are pointless». (Robson 2009: 2)
Twitter
263
Dieser Trend in den USA wird in Deutschland von der
Online-Studie des Jugendreise-Veranstalters RUF Jugendreisen mit über 3.400 Teilnehmern zwischen 11 und 21
Jahren bestätigt. «Die Jugend zwitschert nicht» lautet das
Fazit der Umfrage.19 Ihr Nutzungsverhalten wird vorrangig von Social Networks wie Facebook, MySpace und
studiVZ oder Instant Messaging geprägt. Während sich
also gerade bei der internetaffinen Gruppe der Teenager
kein allzu großes Interesse für den Kurznachrichtendienst
ausmachen lässt, ist es laut einem Bericht von comScore
vor allem die ältere Generation, bei der Twitter Verbreitung findet und verstärkt zum Ensatz kommt.
Einen wichtigen Grund für die Einbindung von Twitter in
das Medienrepertoire der Altersgruppen ab 25 sieht comScore (Abb. 5) darin, dass die ehemals jungen ‹digital
natives› mit dem Älterwerden den habitualisierten Umgang mit Internetapplikationen auch in ihrer neuen Lebensphase beibehalten. Nur so lässt sich der hohe Grad an
aktiver Beteiligung erklären:
«The skew towards older visitors, although perhaps
initially surprising for a social media site, actually
makes more sense than you might think at first. With
so many businesses using Twitter, along with the
first generations of Internet users ‹growing up› and
comfortable with technology, this is a sign that the
traditional early adopter model might need to be revisited. Not only teenagers and college students can
be counted among the ‹technologically inclined›,
which means that trends are much more prone to
take off in older age segments than they used to.
And with those age 25 and older representing a
19
Vgl. http://www.jugendreise-news.de/2009/04/die-jugend-zwitsch
ert-nicht/
264
Sandro M. Moraldo
much bigger segment of the population than the
under 25 crowd, it might help explain why Twitter
has expanded its reach so broadly so quickly over
the past few months.»20
Abb. 5 (UV = Unique Visitors)
Am Consumer Internet Barometer (vgl. Fußnote 7) lässt
sich dagegen das Nutzungsverhalten der Twitterer ablesen.
Die Untersuchung ergab, dass 41,6 % der Nutzer Tweets
zur Kontaktpflege mit Freunden einsetzen. 29,1 % nutzen
Twitter, um ihren eigenen Status regelmäßig bekannt zu
geben. Für 25,8 % ist primär die zielgerichtete Suche nach
Informationen entscheidend, u.a. um sich auf dem Laufenden zu halten. Knapp 22 % setzen die Anwendung für berufliche Zwecke ein, während 9,4 % der Befragten Twitter
für Recherche-Zwecke nutzen. Spaß- oder Spielfunktionen
20
Vgl.http://blog.comscore.com/2009/04/twitter_traffic_explodesand
_ no. Html.
Twitter
265
spielen mit 0,3 % überhaupt keine Rolle. Die geschlechtsspezifischen Nutzungsmuster unterscheiden sich dabei nur
leicht voneinander. Typisch männlich wie weiblich ist die
Kontaktpflege. Männer sind aber grundsätzlich mehr daran interessiert, Nachrichten zu finden, während Frauen
eher das Bedürfnis haben, ihren Status zu aktualisieren.
Abb.6
Es wäre interessant, die Daten mit deutschen Zahlen abzugleichen. Da meines Wissens in Deutschland, wo Twitter
im Grunde erst 2009 auf breites Interesse in der Öffentlichkeit gestoßen ist, noch keine Erhebungen bezüglich
Nutzergruppen und Nutzungsverhalten erschienen sind,
kann man davon ausgehen, das die Kommunikationsplattform Twitter wohl in der nächsten ARD/ZDF-Online-Studie mit hoher Wahrscheinlichkeit auftauchen wird.
266
Sandro M. Moraldo
5. Sprachökonomie
Tweets sind, von ihrer ursprünglichen Konzeption her,
zunächst einmal nicht dialogisch, im Vergleich etwa zu
einer SMS oder einem Chat, obwohl durch die ReplyFunktion durchaus die Möglichkeit gegeben ist, auf abonnierte Kurznachrichten zu antworten. Vergleichbar sind
sie diesbezüglich eher mit Blogeinträgen. Nicht von ungefähr wird das Medium Twitter mit dem Begriff MikroBlogging synonym verwendet und wie Weblogs richtet
sich Twitter «in der Regel nicht an einen ausgewählten
Kreis von wenigen privaten Personen», mit dem der Twitterer kommunizieren möchte, «sondern eher einer dispersen.» (Siever 2006: 84f.) Im Vergleich aber zu einem Posting aus einem (Makro-)Blog, wo keine Zeichenbegrenzung technisch implementiert ist, gibt das Wortbildungselement ‹Mikro-› bei Twitter eine Zeichen- (140 inklusive
Leerzeichen) und indirekt auch eine Textoptimierung vor.
Zu fragen wäre allerdings, ob sich die «Benennungsökonomie» (Siever 2006: 83) auch tatsächlich in den Kurznachrichten niederschlägt und wenn ja, ob die technische
Restriktion auf 140 Zeichen auch eine sprachliche Ökonomiefunktion impliziert, d.h.: Lassen sich in Tweets morphologische Einsparungen, syntaktische Reduktionen, lexikalische Kurzformen und/oder andere stilistische Merkmale nachweisen, denen eine Schreibsparfunktion zugeschrieben werden kann? Fakt ist, dass man in Tweets viele
der in den ‹Neuen Medien› (SMS, Chats, E-Mails und
Blogs) herausgefilterten Sparschreibungen nachweisen
kann, sowohl auf syntaktischer, lexikalischer wie morphologischer Ebene, wobei auch die Graphostilistik eingesetzt
wird, die dann das ‹Sprachbild› noch zusätzlich markiert.21
21
Zu sprachlichen wie graphostilistischen Phänomenen in SMS, EMail, Chat und Weblog vgl. die einschlägigen Arbeiten von Run-
Twitter
267
Weiterhin wird auffallen, dass sich viele der Kurznachrichten gerade im privaten Bereich an Muster und Strukturen gesprochener Sprache orientieren. Tweets sind zwar
textbasiert, also medial schriftlich, aber das Spezifische
der Kommunikation via Twitter ist ihre konzeptionelle
Mündlichkeit, die einen hohen Grad an kommunikativer
Nähe suggeriert.
Das breite Spektrum sprachlicher (und auch typographischer, non- oder paraverbaler) Eigenheiten soll daher abschließend anhand einiger Beispiele aus der Twittersphäre
kurz veranschaulicht werden (in Klammern der Verweis
auf den jeweiligen Twitter-Account). Die Auflistung erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Repräsentativität, sondern will eher einen generellen Überblick über
sich möglicherweise abzeichnende Tendenzen sprachlicher Ausprägungen geben. Hier gilt es aber noch auf die
bei der Analyse verschiedener Kommunikationsformen erzielte Erkenntnis hinzuweisen, dass es nämlich «eine Vielzahl von sprachlichen Variationen zwischen den und innerhalb der einzelnen Kommunikationspraxen gibt», die
darauf zurückzuführen ist, dass (sowohl mobil- wie computervermittelte) Kommunikationsformen in einem «komplexen sprachlichen Raum» zu lokalisieren sind, der durch
zahlreiche Parameter wie «Medium, Domäne, Herkunft
der User, Client usw.» gekennzeichnet ist. Daraus folgt,
dass sich «[i]n Abhängigkeit von der Konstallation der
einzelnen Parameter einzelne Stile und Register aus(bilden)» (Schlobinski 2000: 77; weiterhin Runkehl/Schlobinski/Siever 1998: 27-134). Die Kommunikationspraxis
des Twitterns bildet, wie die nachfolgenden Beispiele zeikehl/Schlobinski/Siever (1998), Schlobinski (2000), Schlobinski
et al. (2001), Schlobinski/Siever (2005), Siever/Schlobinski/Runkehl (2005), Moraldo (2002, 2004a, 2004b, 2005, 2006, 2007a).
268
Sandro M. Moraldo
gen werden, in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Hier nun
die Beispiel-Tweets:22
1) wegen der vielen nachfragen: ja, unter @weltkompakt twittert frank schmiechen. danke für die aufmerksamkeit... (http://twitter.com/weltkompakt)
2) Genießt man das Leben nun besser in vollen oder in
leeren Zügen? Angenehm friedlich im ICE heute
morgen... (http://twitter.com/wbuechner)
3) Twittermüdigkeit?Keine Spur: 30 % Besucherwachstum auf 3,1 Mio. in DE im September auf Twitter.com (lt. Nielsen)
(http://twitter.com/Holgerschmidt)
4) Ok, wir sind wieder da. Sorry für den Ausfall. :-) Seite könnte aktuell ein wenig langsamer sein, ist aber
bald gefixt. (http://twitter.com/rponline)
5) Immer nur Argumente gegen Steuersenkung. Deutsche und Journalisten lieben es, wenn ihnen das Fell
abgezogen wird. National-Masochismus.
(http://twitter.com/RolandTichy)
6) Fieber. Alle Termine abgesagt. Tut mir leid. (Freuen
Sie sich ersatzweise auf Tweets live aus dem Fieberwahn). (http://twitter.com/saschalobo)
7) Ich geb's zu -- unsere Büros sind nicht so schön:
http://bit.ly/1guVGm Aber wir wachsen auch gerade
nicht so doll wie Facebook.
(http://twitter.com/computerwoche)
8) Staatshilfe für Zeitungen? (Vorschlag der WaPo:
http://bit.ly/OP9ow ) Was würde die ARD sagen?
"Willkommen im Drei-Stufen-Test!" :-)
(http://twitter.com/wblau)
22
Im Durchschnitt sind die Tweets 114 Zeichen (inklusive Leerzeichen) lang. Die kürzeste Nachricht (20) umfasst 72, die längste
(18) 140 Zeichen.
Twitter
269
9) Sen-sa-tio-nell. Schreikatzenvideos mit Sound sind
das neue Yeaahh! http://j.mp/katzenschreien
(http://twitter.com/saschalobo)
10)Kerners Freund und Anwalt Klatten sitzt in der ersten Reihe. Schlechte Kritiken wird der aber nicht verhindern können ;-) (http://twitter.com/DWDL)
11)Frings gelb?????????? Was laeuft denn da? Fehlt nur
noch, dass gleich ein faehnchenschwenkender Don
King auf dem Spielfeld auftaucht.
(http://twitter.com/FrankGarrelts)
12)Das freut mich. shit ey habe heute erstmal anschiss
vom deutsch leherer bekommen das ich so viel störe
was völliger blödsinn ist...
(http://twitter.com/sim200)
13)ACHTUNG: In der Realschule Winnenden gab es
heute einen Amoklauf, Täter angeblich flüchtig –
besser nicht in die Stadt kommen!!!! (http://twitter.
com/tontaube/status/1309864040) 23
14)@TheProblemzone Apropo arbeiten. Pause ist rum.
xD *schnief* wieder weiter an die arbeit und nach
der arbeit erstmal zu dm..:D
(http://twitter.com/Mizechats)
15)Neue sitzordnung in deutsch gefällt mir nicht so...
mh vllt eine strafe für die 5 :(
(http://twitter.com/ 94Lina94)
16)Ich überlege, ob ich in meinen Tweets die deutsche
Groß- und Kleinschreibung besser beachten sollte.
Von wegen Vorbildfunktion und so.
(http://twitter.com/orbisclaudiae)
23
Der Tweet von tontaube (i.e. Natali Haug) hat in den Medien eine
wahre Diskussionsflut ausgelöst über den «Unterschied zwischen
echter Nachricht und Unsinn» (vgl. Blank 2009).
270
Sandro M. Moraldo
17)@soulchaot Ui. Schade. Dann drück ich fürs nächste
Mal wieder die Daumen. ;)
(http://twitter.com/leibinet)
18)RT @frischkopp: Ich fasse es nicht - der hsv ist tatsaechlich gegen osnabrueck rausgeflogen... Arghhhh
- respekt u glückwunsch an osnabrueck
(http://twitter.com/CDernbach)
19)Igitt, Deutsch und Englisch in einem Satz.24 Ich widere mich ja selber an. Das war wohl eine Tat im Affekt… (http://twitter.com/Galgenterrorist)
20)Da geht man schon ne Viertelstunde eher los und
dann is Stau. Klasse das (http://twitter.com/Sinistral)
21)nicht alles ist schnelllebig; seit 1951 in Deutschland:
Holiday On Ice; heute Premiere der neuen Show in
L:Hamburg http://bit.ly/174nSZ
(http://twitter.com/spunkta)
22)@U2tour *seufz* nur Lieblingslieder... schade, dass
ich nicht dabei sein kann
(http://twitter.com/Kittichan)
Bei den Beispielen handelt es sich sowohl um Tweets professioneller Schreiber wie Journalisten, Redakteure, Medienexperten (1-10) als auch um Nachrichten, Meinungen
und persönliche Eindrücke von Privatpersonen (11-22).
Auf den ersten Blick fallen sofort die zahlreichen Ellipsen
auf. Nur (!) Tweet (3) und (10) haben keine elliptischen
Strukturen. Deswegen enthalten aber die restlichen Kurznachrichten noch lange keine ‹unvollständigen (syntaktischen) Äußerungen›, da deren Aussage situationsadäquat
verstanden werden kann. Der Großteil syntaktischer Reduktionen besteht zum einen aus der Tilgung des Artikels: (4) «[Die] Seite könnte aktuell ein wenig langsamer
24
Bezogen auf sein Tweet «Then everything shall pass, oder so.»
Twitter
271
sein, ist aber bald gefixt.», (14) «[Die] Pause ist rum»,
(15) «[Die] Neue sitzordnung in deutsch gefällt mir
nicht»; der Tilgung von Subjekt und (Hilfs-)Verb: (2)
«[Es ist] Angenehm friedlich im ICE heute morgen..»; (6)
«[Ich habe] Fieber. [Ich habe] Alle Termine abgesagt.»;
(19) «Igitt, [Ich verwende] Deutsch und Englisch in einem
Satz.»; (22) «[Sie spielen] nur Lieblingslieder.»; zum anderen aus der Tilgung des Kopulaverbs sein allein: (20)
«Klasse [ist] das» und (21) «heute [ist] Premiere der neuen
Show in L:Hamburg» oder zusammen mit dem «FokusPronomen das» (Weinrich 1993: 401): (9) «[Das ist] Sensa-tio-nell.»; (17) «[Das ist (aber)] Schade.»; (15) «vllt [ist
das] eine strafe für die 5 :(». In manchen Fällen resultiert
daraus ein Telegrammstil, da der Informationskern auf
das Wesentlichste reduziert wird. Allerdings ist das telegrammartige Komprimieren nicht typisch für den Rest der
jeweiligen Tweets. Für dieses Extrem sprachlicher Knappheit stehen etwa die Beispiele (6) «Fieber. Alle Termine
abgesagt. Tut mir leid.», (13) «Täter angeblich flüchtig»,
(11) «Frings gelb??????????», oder (8) «Staatshilfe für
Zeitungen?», das am Anfang der Mitteilung fast schon
Überschriften- oder Schlagzeilen-Charakter hat, wie man
das aus Zeitungen kennt. Prägnanz im Ausdruck und Erfassung des Wesentlichen sind hier stilistische Kennzeichen. Bei «Fieber» (6) und «Schade» (17) handelt es sich
um Einwortsätze, die die Funktion einer sprachlichen
Handlung – Äußerung einer Befindlichkeit – haben. Auch
in (5) («National-Masochismus») lässt sich eine solche
Konstruktion nachweisen, die Kommentarfunktion übernimmt. In Kurznachricht (22) liegt dagegen bei «schade,
dass..» eine ‹Strukturellipse› vor, bei der «das Kopulaverb nach es-Tilgung» fehlen kann (Zifonun/Hoffmann/
Strecker 1997: 440). Sascha Lobo setzt in Kurznachricht
(9) sowohl auf elliptische Sprechhandlungen als auch auf
272
Sandro M. Moraldo
graphostilistische Markierungen zur Kompensation von
technischer Zeichenrestriktion und Intonationskontur. In
«Sen-sa-tio-nell» wird einerseits die Aussage auf das Wesentlichste komprimiert. Andererseits werden die einzelnen Silben aufgrund phonetischer Markierung graphisch
durch Trennstrich voneinander abgesetzt. In «Yeaahh!»
schließlich ist die (normwidrige) Doppelung von Vokal
und Konsonant eine expressiv phonetische Schreibung. In
diesem Zusammenhang ist auch die Iteration von Satzzeichen (Frage- oder Ausrufezeichen) zu nennen, die man besonders aus Short Messages und Chatsequenzen kennt. Es
handelt sich dabei um «expressive Lautungsmodifikationen» (Ewald 1997: 54). In (11) «Frings gelb??????????»
markiert z.B. die Iterierung des Fragezeichens das Unverständnis über eine Schiedsrichterentscheidung und in Beispiel (13) «besser nicht in die Stadt kommen!!!!» unterstreicht das vierfach wiederholte finale Satzzeichen die
Wichtigkeit der Aussage, bzw. des Aufrufs. Hier wird die
Dramatik der Situation durch ein weiteres in den Neuen
Medien verbreitetes Stilmittel, nämlich die Majuskelschreibung («ACHTUNG»), unterstützt. GroßbuchstabenSchreibung und Iteration des Satzzeichens rahmen die
Nachricht.
Auch Smileys sind «hochgradig sprachökonomisch» (Siever 2006: 77) und fungieren als unterstützende Kommunikationsmittel für metasprachliche Handlungen. Sie drücken je nach Stimmungslage Gefühlsregungen wie Freude,
Betroffenheit, Traurigkeit, Verärgerung, Enttäuschung etc.
aus und stehen in einem unmittelbaren Bezug zu dem Geschriebenen. Ihre Bedeutung kann allerdings «nicht allein
aus dem (ikonographischen) Zeicheninhalt gewonnen werden», sondern es muss auch «die konkrete Verwendungsweise» berücksichtigt werden (Schlobinski 2000: 75). So
lässt sich z.B. in (4) «Sorry für den Ausfall. :-)» der Smi-
Twitter
273
ley wohl kaum als Ausdruck der Freude über den Absturz
des Programms interpretieren. Vielmehr würde man ihn
als sprachökonomische Variante für Aussagen wie «[Das]
Kommt schon mal vor.»/«[Das] Kann schon mal passieren.» dekodieren.25 In den Beispielen kommen sie meist in
ihrer (gedrehten) Grundform :-) vor, wie in den Beispielen
(4) und (8), oder als ‹zwinkernder› ;-) (10) und ‹trauriger›
Smiley :( (15). In anderen Varianten lässt es sich nur in
(14) belegen, dafür gleich zweimal: xD und :D. (vgl. zu
den einzelnen Schreibvarianten Schlobinski 2009). In diesem Kontext sind auch Inflektive zu nennen. Prädikativ
gebrauchte Verbstämme wie *schnief* (14) und *seufz*
(22) stehen meist zwischen zwei Asterisken, werden also
visuell vom Rest der Mitteilung herausgehoben. Ähnlich
wie beim Einsatz von Smileys oder Emoticons handelt es
sich hier um eine Kompensationsstrategie, um dem Leser
subjektive Erlebnisse zu vermitteln (vgl. Teuber 1997 und
Schlobinski 2001).
Einsparfunktion haben auch Lexeme wie «Igitt» (19),
«Ui» (17) und «Arghhh» (18). Bei «Igitt» handelt es sich
um eine «expressive Interjektion» (vgl. Weinrich 1993:
859), die zum Ausdruck des Ekels sprachökonomisch eingesetzt wird. Bei «Ui» (17) und «Arghhh» (18) um Onomatopeika, die situationsspezifische Nunancierungen der
gesprochenen Sprache wiedergeben. Dagegen wird die
konzeptionell mündliche Gesprächspartikel «mh» (15) als
Ausdruck des Zweifels eingesetzt. Expressive Interjektionen und Gesprächspartikel emulieren in schriftbasierten
Texten Mündlichkeit (vgl. Haase et. al. 1997). Auffallend
ist weiterhin die Kleinschreibung in (1), (12), (15) und
25
Zusätzlich wird hier durch die Verwendung der anglizistischen
Floskel «Sorry», die im Deutschen mit «Wir entschuldigen uns
[für den Ausfall]» wiederzugeben wäre, Sprachmaterial eingespart.
274
Sandro M. Moraldo
(18), die sich in der Twittersphäre vielfacht nachweisen
lässt. Es handelt sich hier wohl «um eine Art Ökonomie,
die sich vorwiegend auf die physikalische Arbeit beschränkt», denn «(k)onsequente Kleinschreibung reduziert
zwar nicht die Anzahl der Zeichen, jedoch den Aufwand
des Betätigens der Umschalttaste(n) und erhöht damit die
Schreibgeschwindigkeit» (Siever 2006: 77). Passend dazu
die Kurzmeldung (16). In (14) fallen fehlende Zeichensetzung und – in Tweets eher selten – Orthographiefehler
auf. Ins Auge fällt dann bei den Tweets (7), (8) und (21),
dass über eine Kurzurl (im Original farblich hervorgehoben), auf Kontexte verwiesen wird, auf die der Textinhalt Bezug nimmt und die für das Verständnis wichtig
sind, aber aufgrund der Zeichenbeschränkung nicht ausgeführt werden können. Wenig zum Einsatz kommt der
SMS-artige Stil der Wortverknappung bei den Ad-hocAbkürzungen. Hier nachgewiesen in nur zwei Fällen:
Beispiel (15) «vllt» («vielleicht») und (18) «u» («und»).
Auch morphologische Reduktionsformen wie wortinitiale
(«ne» in 20) oder wortfinale Tilgung («is» in 20), Enklisen
(«fürs» in 17) kommen in den zitierten Tweets selten vor.
Typographisch auffallend sind die zur graphischen Visualisierung einer Pause eingesetzten Punkte «…» in (15),
(18), (22), die in (7) von zwei Minuszeichen «--» übernommen wird. In (1), (2) und (12) haben die Auslassungspunkte jedoch die Funktion eines ‹offenen Schlusses›. Zu
erwähnen bleibt letztlich noch in (21) die Kombination
«L:» (L = Location), mit der ein Ort, eine Stadt («L:Hamburg») eigens markiert werden kann.
Abschließend sei folgendes festgehalten: Viele der hier
aufgelisteten sprachökonomischen Formen sind prototypisch für die gesprochene Sprache. Die Tatsache, dass zudem gerade für persönliche Mitteilungen (11-22) – insbesondere (11), (12), (14), (15), (18), (19), (20) und (22) –
Twitter
275
umgangssprachliche Formulierungen (vgl. stellvertretend
Beispiel 12: «Das freut mich. shit ey habe heute erstmal
anschiss vom deutsch leherer bekommen das ich so viel
störe was völliger blödsinn ist...»), Emotionalität und
Spontaneität charakteristisch sind, legt die Vermutung
nahe, dass mit Zunahme der Privatheit, ähnlich wie in
Chats, auch in Tweets «die Merkmale der mündlichen
Sprache, die Sprachkreativität, die Kurzformen etc., ansteigen» (Siever 2006: 81). Bei niedrigem Formalitätsgrad
rekurriert man anscheinend zunehmend auf Merkmale der
gesprochenen Sprache.
Soweit zu einigen Charakteristika von Sprachökonomie in
‹zwitschernden› Kurznachrichten, die in diesem Exkurs
bei weitem nicht vollständig erfasst werden können. Ob
sich daraus nun allerdings eine valide Aussage über
sprachökonomische Erscheinungen in Tweets, wie in den
‹Neuen Medien›, überhaupt treffen lässt, hat Siever (2006:
74) m.E. zu Recht in Frage gestellt. Sicherlich werden sich
bestimmte Trends abzeichnen, die es dann zu untersuchen
und zu deuten gilt.
6. Fazit
Twitter ist derzeit der Medienhype schlechthin. Wie lange
er anhalten wird, bleibt abzuwarten. Trotz einer kontrovers
geführten Diskussion um Nutzen und Nachteil dieser neuen Kommunikations- und Nachrichtenplattform kommt
man in der modernen Informations- und Wissensgesellschaft an einer sachlichen Auseinandersetzung darüber
nicht herum. Auch hier gilt die Regel: «Neue Medien und
Kommunikationsformen werden in den Alltag der Mitglieder von Kommunikationsgemeinschaften integriert, wie es
kommunikative Bedürfnisse und Normen erfordern».
(Schlobinski 2006a: 7) Vielfach gepriesen, aber auch kritisiert ist diese neue Internetapplikation aufgrund einfacher
276
Sandro M. Moraldo
technischer Handhabe und Zeichenbeschränkung geradezu
prädestiniert für «user generated content», auch wenn bei
der Gestaltung von Inhalten nicht alles Gold ist was
glänzt. Doch auch hier gilt es zu unterscheiden. Für die
verschiedenen Wissenschaften eröffnet Twitter zumindest
ein weites Forschungsfeld. Aus der Linguistik, den Medien- und Kommunikations- und anderen Wissenschaften,
sowie aus deren Vernetzung, darf man mittel- bis langfristig gesehen fundierte(re) und valide(re) Aufschlüsse über
Nutzertypologie, Funktionsprofil (Information, Orientierung, Spaß etc.), Stellenwert und nicht zuletzt Sprachausprägungen erwarten.
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