"Liberales Bündnis mit unklaren Erfolgsaussichten", 7. Mai 2015

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"Liberales Bündnis mit unklaren Erfolgsaussichten", 7. Mai 2015
POLITISCHER BERICHT AUS DER
RUSSISCHEN FÖDERATION
Dr. Markus Ehm
Leiter der Verbindungsstelle Moskau
Nr. 9 /2015 – 7. Mai 2015
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Liberales Bündnis mit unklaren Erfolgsaussichten
Im April haben mit Blick auf die Regionalwahlen im September 2015 mehrere liberale Kräfte ein politischen Bündnis gebildet (1). Innenpolitisch werben die Oppositionellen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, außenpolitisch gilt ihre Sympathie dem Westen; bezüglich der Krim-Annexion gibt es Meinungsverschiedenheiten (2). Experten sprechen gegenwärtig von unklaren Erfolgsaussichten der Liberalen (3).
1.
Parteien und Personen
Die politische Allianz der Liberalen wurde als "politischer Block" gegründet, d.h. in einer lockeren Organisationsform, die jeder Partei ihre Eigenständigkeit belässt.1 Kern des Bündnisses ist eine Koalition
folgender drei Parteien: (1) Partei für die Volksfreiheit ("PARNAS"), Vorsitzender: Michail Kasjanow; (2)
Fortschrittspartei, Vorsitzender: Alexej Nawalnij; (3) Demokratische Wahl, Vorsitzender: Wladimir
Milow. Die Partei "Bürgerinitiative" des ehemaligen Wirtschaftsministers Andrej Netschajew schloss
sich dem Block an, und die Bewegung "Offenes Russland" von Michail Chodorkowskij sagte ihre Unterstützung zu. Die Jabloko-Partei lehnt die Zusammenarbeit ab, weil sie programmatisch die Berücksichtigung der negativen Erfahrungen der 90er Jahre und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalismus vermisst.
2.
Inhaltliche Ausrichtung
Bisher fehlt ein Programm des liberalen Bündnisses, weshalb inhaltliche Positionen im Allgemeinen
verbleiben: ehrliche Wahlen, Reform der Staatsorganisation, Einhaltung der Menschenrechte, Stärkung
der kommunalen Selbstverwaltung, Reform der Polizei und Einstellung der Überwachung von Politikern,
Rechtsstaatlichkeit und Förderung des freien Unternehmertums. 2 Ilja Jaschin, ein bekannter Oppositioneller, sagte, es gehe auch darum, einen Bürgerkrieg zu vermeiden, den Staatspräsident Wladimir Putin
provoziere, indem er verschiedene gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aufbringe.3 Bei den bevorstehenden Kommunal- und Regionalwahlen will die Allianz die Aufmerksamkeit der Wähler mit örtlichen
Problemen gewinnen, z.B. im Bereich des Umweltschutzes. Auch soziale Themen und der Kampf gegen
die Korruption sollen angesprochen werden.4
Außenpolitische Aspekte spielten bei der Versammlung der liberalen Kräfte eine untergeordnete Rolle.
Aus persönlichen Gesprächen mit den Protagonisten des liberalen Bündnisses lässt sich eine große Aufgeschlossenheit und Sympathie für den Westen ableiten. Mit Blick auf aktuelle internationale Fragen
betonte Michail Kasjanow in einem Interview, dass alle Mitglieder der Allianz die Ereignisse in der Ostukraine als eine russische Aggression gegen einen unabhängigen Staat interpretierten und diese verurteilten.5 Die Krim-Annexion blieb komplett außen vor. Ältere Äußerungen belegen grundlegende Meinungsverschiedenheiten. Bereits im Oktober 2014 erklärte Nawalnij, dass die Halbinsel nun de facto zu
Russland gehöre, "auch wenn sie unter eklatanten Verstößen gegen alle völkerrechtlichen Normen erobert wurde. Sie bleibt Teil Russlands und wird in absehbarer Zukunft kein Teil der Ukraine werden."
1
Das Folgende nach: Wedomosti vom 20.04.2015, S. 2; Kommersant vom 18.04.2015,
http://www.kommersant.ru/doc/2712281 und http://www.kommersant.ru/doc/2712692.
2
Das Folgenden nach: navalny.com vom 17.04.2015, https://navalny.com/p/4206; Gazeta.ru vom
20.04.2015, http://www.gazeta.ru/politics/2015/04/20_a_6648141.shtml.
3
http://rt12dec.ru/glavnaya-stranica/konferenciya-vybory-2015-2016-povestka-dlya-oppozicii/.
4
Gazeta.ru a.a.O.
5
Golos-ameriki.ru vom 18.04.2015, http://www.golos-ameriki.ru/content/russia-parnaskasianov/2725198.html.
1
Michail Chodorkowskij schloss sich dieser Position an und sagte: "Die Krim gebe ich nicht zurück."6
Kasjanow hingegen verneinte die Zugehörigkeit der Krim zu Russland und forderte ihre Rückgabe.7
3.
Einschätzung
Die Erfolgsaussichten der Oppositionspolitiker sind unsicher. Wie das aktuelle Wahlbarometer des soziologischen Instituts Levada-Zentrum zeigt, kommt keine Partei des Bündnisses über eine Zustimmung
von einem Prozent hinaus, und selbst zusammen würden sie keine fünf Prozent der Stimmen auf sich
vereinen.8 Verantwortlich dafür ist sicherlich auch die geringe Bekanntheit der oppositionellen Kandidaten, was der Politologe Dmitrij Solonnikow auf den begrenzten Zugang zu den Medien zurückführt 9;
das Staatsfernsehen, das für die Meinungsbildung im Land maßgeblich ist, verschwieg das aktuelle Ereignis. Der Publizist und Bürgerrechtler Alexander Podrabinek meint außerdem, dass die Ergebnisse
nicht von den Wählern abhingen, sondern von den Auszählern.10 Verwiesen wird zudem auf unpopuläre
inhaltliche Positionen. Ein Kommentator der Wirtschaftszeitung "Wedomosti" findet, dass Themen wie
die Garantie des Eigentums, Rechtsstaatlichkeit und persönliche Freiheiten keine große Aktualität besäßen; eine Chance könnten jedoch die Konzentration auf Alltagsprobleme bieten, weil diese die Politik
vor Ort oftmals nicht in den Griff bekomme und von ihrem Versagen seit der Krim-Annexion mit patriotischen Losungen ablenke.11 Gerade diese politische Großwetterlage spielt dem Staatspräsidenten in die
Hände. Der Politologe Jewgenij Mintschenko führt aus, dass deswegen das Ansehen Wladimir Putins
sogar in Moskau steige und die Opposition es wahrscheinlich nicht schaffen werde, neue Wähler anzuziehen.12
Hinzu kommt, dass bereits eine Woche nach Bildung des Bündnisses Zweifel an dessen Geschlossenheit
aufgekommen sind. Konkret geht es um die Frage, auf der Liste welcher Partei die Kandidaten des
Blocks antreten. Mit "PARNAS", der "Bürgerinitiative und der "Demokratischen Wahl" haben erst drei
die hohen Hürden der Registrierung überwunden. Während von einem Weggefährten von Alexej
Nawalnij zu hören war, dass bei den Regionalwahlen alle Oppositionellen grundsätzlich unter der Flagge von "PARNAS" ins Rennen gehen sollen, um die Partei als Marke rechtzeitig vor den
Staatsdumawahlen 2016 zu etablieren, möchte Andrej Netschajew bei den Regionalwahlen im Gebiet
Kaluga Kandidaten aus seinem Umfeld auf der Liste der "Bürgerinitiative" platzieren. Zudem holte er in
seinen Parteivorstand den ehemaligen Co-Vorsitzenden von "PARNAS" Wladimir Rijschkow sowie den
amtierenden Staatsdumaabgeordneten Dmitrij Gudkow (aus der Fraktion "Gerechtes Russland" ausgeschlossen) und den ehemaligen Staatsdumaabgeordneten Gennadij Gudkow. Somit könnte es wie in der
Vergangenheit sein, dass undurchsichtige Partikularinteressen und charismatische Persönlichkeiten
einem breiteren Kompromiss im Weg stehen. Der Politologe Stanislaw Belkowskij spricht vom "127.
Versuch, die liberale Opposition zu einen".13
Moskau, 7. Mai 2015
Dr. Markus Ehm
Leiter der Verbindungsstelle Moskau der Hanns-Seidel-Stiftung
Der Autor dankt Mechti Ajwasow für seine Unterstützung bei der Erstellung des Beitrags.
6
Russland-Analysen, hrsg. von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und der
Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Nr. 284, 24.10.2014, S. 11.
7
Radio Freiheit vom 22.12.2014, http://www.svoboda.org/content/transcript/26756946.html.
Umfrage vom 27.04.2015, http://www.levada.ru/27-04-2015/aprelskie-elektoralnye-reitingi.
Abnews.ru vom 10.04.2015, http://abnews.ru/2015/04/10/politolog-obedinenie-rpr-parnas-i-partiiprogressa-mozhet-povysit-ix-shansy/.
Institut für ein modernes Russland vom 29.04.2015, http://imrussia.org/ru/мнения/2240оппозиционная-мобилизация.
Wedomosti vom 20.04.2015, S. 1 und 6.
Gazeta.ru a.a.O.
http://echo.msk.ru/programs/graniweek/1536702-echo/.
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