„Meine Frau wird immer dünner“
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„Meine Frau wird immer dünner“
FORTBILDUNG _ SCHWERPUNKT ?? _ Thema ?? _ Thema ?? _ Thema Dr. med. Barbara Faller Institut für Allgemeinmedizin und Familienmedizin Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke, Witten Koautor: Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen, Universität Witten/Herdecke, Witten Beratungsanlass ungewollte Gewichtsabnahme „Meine Frau wird immer dünner“ _ Das Leitsymptom „ungewollte Gewichtsabnahme“ stellt eine diagnostische Herausforderung dar. Es ist einerseits mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität assoziiert, andererseits aber so unspezifisch, dass es schwierig ist, eine zielgerichtete Diagnostik einzuleiten und gleichzeitig eine nicht zielgerichtete Überdiagnostik zu vermeiden. Per definitionem spricht man von „ungewollter Gewichtsabnahme“, wenn ein Patient innerhalb von sechs bis zwölf Monaten mindestens 5% seines Körpergewichts verloren hat, ohne entsprechende Diät [1, 2]. Das Symptom ist v. a. in der älteren Bevölkerung häufig. Bilbao-Garay et al. fanden unter den Patienten einer internistischen Klinik eine Prävalenz von 3% [3]. Bei Patienten höheren Alters kommt das Symptom sogar in bis zu 13% der Fälle vor [4]. Vor jeglicher Diagnostik muss die Gewichtsabnahme verifiziert werden. Sollte ein direkter Vergleich mit früheren Gewichtsmessungen nicht möglich sein, kann man durch gezielte Fragen, z. B. ob Kleidungsstücke zu weit geworden sind, oder durch Befragung von An- 34 gehörigen oder Pflegepersonal entsprechende Informationen einholen [5, 6]. Andererseits können Patienten eine Gewichtsabnahme auch ignorieren und bagatellisieren [7]. In publizierten Untersuchungsreihen zeigten sich maligne Tumoren, gastrointestinale und psychiatrische Erkrankungen als die drei häufigsten Ursachen einer ungewollten Gewichtsabnahme. Bei 5–36% der Patienten konnte eine Genese der Gewichtsabnahme allerdings nicht eruiert werden. Sie hatten eine günstigere Prognose als Patienten, bei denen eine Ursache gefunden wurde [7]. Anamnese Zur Abklärung der Genese ist eine ausführliche Anamnese essentiell. Diese sollte neben einer umfassenden Krankheitsgeschichte des Patienten auch gezielte Fragen nach diagnostischen Hinweisen wie Alkohol-/Tabakgebrauch, Medikamenteneinnahme, psychosozialen Faktoren, Essgewohnheiten, zurückliegende Reisen und sexuellem Risikoverhalten beinhalten [7, 8]. Gezielte anamnestische Fragen fahnden nach den häu- © Digital Vision/Thinkstock Eine 76-jährige Patientin, begleitet von ihrem Ehemann, stellt sich in der hausärztlichen Sprechstunde vor. Sie habe in den letzten Monaten 7 kg abgenommen. Ihr Ausgangsgewicht lag bei 56 kg bei einer Körpergröße von 162 cm. Die Patientin selbst spricht kaum. Vor allem ihr Mann wirkt sehr besorgt. Aus der Anamnese ergibt sich kein Hinweis auf eine organische Erkrankung. Der Untersuchungsbefund ist altersentsprechend unauffällig. Bei 50% der Patienten weist ein Leitsymptom auf die zugrundeliegende Ursache der Abmagerung hin. figsten Erkrankungen, die einer ungewollten Gewichtsabnahme zugrunde liegen. Bei etwa 50% aller Patienten weist bereits ein wichtiges Leitsymptom auf die richtige Erkrankung hin. Grundsätzlich sollte dabei an die in Tabelle 1 beschriebenen Differenzialdiagnosen gedacht werden [9, 10]. Körperliche Untersuchung Eine ausführliche und exakte körperliche Untersuchung ist von großer Bedeutung. Hierbei ist darauf zu achten, ob in der Anamnese nicht erwähnte Begleitbefunde vorliegen, z. B. eine auffällig warme Haut als Hinweis auf eine Hyperthyreose [5, 8]. MMW-Fortschr. Med. 2013; 155 (17) FORTBILDUNG _ SCHWERPUNKT Tabelle 1 Häufige Differenzialdiagnosen der ungewollten Gewichtsabnahme Betroffenes Organsystem Endokrinologische und metabolische Störungen Gastrointestinale Erkrankungen Chronische Infektionskrankheiten Neoplasma (Tumorkachexie) Altersbedingte Faktoren Medikamente Psychiatrische/Neurologische Erkrankungen Kardiale Genese Respiratorische Genese Renale Genese Rheumatologische Erkrankungen Urogenitale Erkrankungen Soziale Hintergründe Idiopathisch MMW-Fortschr. Med. 2013; 155 (17) Erkrankung Wichtige anamnestische Fragen − −− −− −− −− −− −− − −− − −− − − −− −− −− −− −− − − − −− −− − −− −− −− −− −− −− − Hypophysenvorderlappeninsuffizienz Hyperthyreose Phäochromozytom Nebennierenrindeninsuffizienz Unbehandelter Diabetes mellitus Malassimilationssyndrom Entzündliche Darmerkrankung Zöliakie Ulcus pepticum HIV Tuberkulose Darmparasiten Infektiöse bakterielle Endokarditis Z. B. Bronchialkarzinom Physiologische Veränderungen Verringertes Geschmacks- und Geruchsempfinden Zahn-/Gebissprobleme Metformin Zytostatika Diuretika Anorexia nervosa, Bulimie Psychogenes Erbrechen Depressionen Demenz Alkohol-/Drogenabhänggkeit Morbus Parkinson Z. n. Apoplex Chronische Ischämie Chronische Herzinsuffizienz Emphysem COPD Chronische Niereninsuffizienz Polymyalgia rheumatica Rheumatoide Arthritis Chronische Glomerulonephritis Chronische Pyelonephritis Isolation Armut Sehstörungen? (Bitemporale Hemianopsie?) Verlust der Sekundärbehaarrung? Schweißausbrüche? Herzrasen? Warme Haut? Anfallsweises Herzrasen? Blutdruckkrisen? Hyperpigmentierung? Mattheit? Polyurie, Polydipsie? Diarrhö? Gärungsstühle? Flatulenz? Abdominalschmerzen? Diarrhö? Blut im Stuhl? Diarrhö? Epigastrische Schmerzen? Risikoverhalten? Subfebrile Temperaturen? Husten? Auswurf? Abdominelle Schmerzen? Dermatitis? Fieber? Schwäche? Raucheranamnese? Husten? Thoraxschmerz? Hämoptyse? Zahnstatus? Überprüfung der Medikation − −− −− −− −− −− − − − −− −− Fanatischer Schlankheitswunsch? Verzerrte Wahrnehmung des körperlichen Erscheinungsbildes? Weitere psychische Symptome? Tod eines Verwandten? Andere Verluste? Schlafstörungen? Gedächtnisprobleme? Alkoholtrinkgewohnheiten? Andere Drogen? Ruhetremor? Hypokinese? Rigor? Lähmungen? Schwierigkeit bei der Nahrungsaufnahme? Dyspnoe? Angina pectoris? Dyspnoe? Beinödeme? Dyspnoe? Husten? Auswurf? Husten? Auswurf? Belastungsdyspnoe? Beinödeme? Blässe der Haut und der Schleimhäute? Symmetrische Schmerzen im Schulter- und/oder Beckengürtel? Druckschmerz der Muskeln? Gelenkschmerzen? Morgendliche Gelenksteifigkeit? Karpaltunnelsyndrom? Nagelveränderungen? Hämaturie? Hypertonie? Dumpfe Rückenschmerzen? Brechreiz? Aktuelle Lebensumstände? Aktuelle Lebenslage? 35 FORTBILDUNG _ SCHWERPUNKT Kasuistik Wie ging es weiter? Zum Ausschluss einer ernsten Erkrankung wurde eine Basisdiagnostik bestehend aus Labor (Blutbild, BKS, Elektrolyte, GPT, aP, TSH), Ober- und Unterbauchsonografie sowie einer Röntgen-Thoraxaufnahme eingeleitet. Diese Untersuchungen ergaben keinen pathologischen Befund. Mithilfe der Geriatric Depression Scale wurde der V. a. eine Depression erhärtet. Die Patientin wurde einem Facharzt für Psychiatrie vorgestellt. Unter antidepressiver Therapie kam es zu einer langsamen Gewichtszunahme. Besonderheiten bei Älteren Bei älteren Patienten sind die Ursachen für eine unerwünschte Gewichtsabnahme im Wesentlichen mit den Ursachen im mittleren Alter vergleichbar. Jedoch führt meist eine Kombination aus mehreren Faktoren zu einer Gewichtsabnahme [6]. Es ist insbesondere auf das Essverhalten und die begleitenden Umstände zu achten. Es kann nützlich sein, einem älteren Patienten beim Essen zuzuschauen. Hilfreich ist auch der standardisierte Anamnesebogen zur Bestimmung des Ernährungszustandes älterer Menschen (Mini Nutritional Assessment) [2] sowie der Mini-Mental-Status-Test und die Geriatric Depression Scale zur Beurteilung der kognitiven Funktionen und psychiatrischen Veränderungen [6]. Basisdiagnostik Sollten sich nach gründlicher Anamnese und ausführlicher körperlicher Untersuchung keine Hinweise auf eine organische Genese ergeben, ist eine behutsame Basisdiagnostik durchzuführen. Zu den wesentlichsten Untersuchungen gehören Laboruntersuchungen (Tab. 2), Röntgen-Thorax sowie Abdomen- und Beckensonografie [5]. Vorgehen bei positiver Basisdiagnostik Diagnostische Hinweise durch pathologische Befunde in der Basisdiagnostik müssen durch weitere technische Untersuchungen abgeklärt werden. ... und bei negativer Basisdiagnostik Unter Berücksichtigung der Patientenpräferenzen ist ein abwartendes Offenhalten gerechtfertigt, um Belastungen (Strahlenbelastung, invasives Vorgehen) durch Überdiagnostik und unnötige Kosten zu vermeiden [7]. Auch sollte nochmals gezielt nach einer möglichen psychiatrischen Ursache gefahndet werden. Tabelle 2 Basisdiagnostik Labor 36 Laborparameter Erkrankungen, die mit dem Parameter ausgeschlossen oder entdeckt werden sollen Blutbild Tumor- oder Infektanämie, Infektionen BSG oder CRP Infektionen, chronisch entzündliche oder tumoröse Erkrankungen Nüchtern-Blutzucker Diabetes mellitus GPT, alkalische Phosphatase, Albumin Leberzellschädigung, osteoblastische Metastasen Natrium, Kalium, Kalzium Nebennierenrindeninsuffizienz, Niereninsuffizienz HIV-Serologie (falls Risikofaktoren) HIV-Infektion TSH Hyperthyreose Harntest Glomerulonephritis, Pyelonephritis Test auf okkultes Blut im Stuhl Intestinale maligne Neoplasien Metalidis et al. konnten in ihrer Studie an 101 Patienten mit ungewollter Gewichtsabnahme zeigen, dass die Basisdiagnostik eine Sensitivität von 96,5% für das Vorliegen einer ernsten organischen und eine Sensitivität von 100% für das Vorliegen einer Tumorerkrankung aufweist. Sie ist somit sehr gut als Ausschlussdiagnostik geeignet. Nur zwei der 57 Patienten mit organischer Ursache für die Gewichtsabnahme wiesen eine unauffällige Basisdiagnostik auf. Die relativ schlechte Spezifität der Basisdiagnostik von nur 52,3% (d. h. zahlreiche falsch positive Befunde) muss aufgrund des bedrohlichen Charakters des Symptoms in Kauf genommen werden. Alternativ zur Basisdiagnostik wurden Score-Verfahren entwickelt, die aber nicht überzeugen konnten. Ein von Hernandez et al. entwickelter Score für maligne Neoplasien für Patienten mit unerwünschter Gewichtsabnahme und unspezifischen Symptomen erreichte lediglich eine Sensitivität von 69% und ist damit als Ausschlusstest ungeeignet [11]. Einige Autoren befürworten in jedem Fall eine weitere gastrointestinale endoskopische Diagnostik oder eine altersund geschlechtsspezifische Krebsfrüherkennungsuntersuchung [12]. Es gibt aber keine Studienevidenz, die diese Empfehlungen rechtfertigt. Die meisten Autoren kommen daher zu dem Schluss, dass eine gründlich durchgeführte Basisuntersuchung ohne resultierende Hinweise auf die Genese der ungewollten Gewichtsabnahme die Strategie des abwartenden Offenhaltens erlaubt und gegenüber weiteren teuren und invasiven Maßnahmen bevorzugt werden sollte [7]. Literatur unter mmw.de Für die Verfasser: Dr. med. Barbara Faller, Institut für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke Alfred-Herrhausen-Str. 50, D-58448 Witten E-Mail: [email protected] Keywords Involuntary weight loss Baseline diagnostics – watchful waiting – overdiagnosis MMW-Fortschr. Med. 2013; 155 (17) FORTBILDUNG _ SCHWERPUNKT Literatur 1. Metalidis C, Knockaert DC, Bobbaers H, Vanderschueren S. Involuntary weight loss. Does a negative baseline evaluation provide adequate reassurance? European Journal of Internal Medicine 19 (2008) 345-349. 2. Huffman GB. Evaluating and treating unintentional weight loss in the elderly. American family physician 2002 Feb 15; 65(4): 640-50. 3. Bilbao-Garay J, Barba R, Losa-García JE, Martín H, García de Casasola G, Castilla V, González-Anglada I, Espinosa A, Guijarro C. Assessing clinical probability of organic disease in patients with involuntary weight loss: a simple score. European Journal of Internal Medicine 13 (2002) 240-245. 4. Wallace JI, Schwartz RS, LaCroix AZ, Uhlmann RF, Pearlman RA. Involuntary weight loss in older outpatients: incidence and clinical significance. Journal oft the American Geriatrics Society.1995 Apr;43(4): 329-37. 5. Kunnamo, I.; Sönnichsen, A.; E.; Rabady, S. EBM-Guidelines. Evidenzbasierte Medizin für Klinik und Praxis. 5.vollständig überarbeitete Auflage 2011. Deutscher Ärzteverlag Köln. 6. Alibhai SM, Greenwood C, Payette H. An approach to the management of unintentional weight loss in elderly people. Canadian Medical Association Journal 2005 Mar 15; 172(6): 773-80. 7. Vanderschueren S, Geens E, Knockaert D, Bobbaers H. The diagnostic spectrum of unintentional weight loss. European Journal of Internal Medicine 16 (2005) 160-164. 8. Moriguti JC, Moriguti EK, Ferriolli E, de Castilho Cação J, Iucif N Jr, Marchini JS. Involuntary weight loss in elderly individuals: assessment and treatment. Sao Paulo Medical Journal 2001 Mar;119(2): 72-7. 9. Kasper, D.L.; Fauci, A.S.; Longo, D.L.; Braunwald, E.; Hauser, S.L.; Jameson, J.L. Harrison`s Principles of internal medicine. Sixteenth Edition. The McGraw-Hill Companies, Inc. 2005. 10. Hernández JL, Riancho JA, Matorras P, González-Macías J. Clinical evaluation for cancer in patients with involuntary weight loss without specific symptoms. The American Journal of Medicine 2003 Jun 1; 114(8): 631-7. 11. Hernández JL, Matorras P, Riancho JA, González-Macías J. Involuntary weight loss without specific symptoms: a clinical prediction score for malignant neoplasm. QJM: Monthly journal of the Association of Physicians 2003 Sep; 96(9): 649-55. 12. Bouras EP, Lange SM, Scolapio JS. Rational approach to patients with unintentional weight loss. Mayo Clinic Proceedings 2001; 76: 923-929. 2 MMW-Fortschr. Med. 2013; 155 (17)