Mein Leben hier - Rachel Gratzfeld, Literaturvermittlung

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Mein Leben hier - Rachel Gratzfeld, Literaturvermittlung
Wachuschti Kotetischwili
Tschemi zutisopeli1 (Mein Leben hier)
Roman, 720 S. (zweisprachig georgisch-russisch), 2005
Eine große Familiengeschichte – von den repressiven Jahren unter Stalin bis zum
unabhängigen Georgien der jüngsten Vergangenheit – die Geschichte einer IntellektuellenFamilie, die tief verwurzelt ist im georgischen Volkstum und hochangesehen in der
georgischen Gesellschaft – eine Geschichte voller Tragik und gleichzeitig voller
Herzenswärme.
Der autobiografische Roman „Tschemi zutisopeli” ist die semifiktionale, halbdokumentarische
Geschichte einer Familie während des kommunistischen Regimes in Georgien. Man könnte ihn als die
große „Kotetischwili-Saga” bezeichnen, denn die Kotetischwilis waren von herausragender Bedeutung
für das kulturelle Leben und den intellektuellen Fortschritt im damaligen Georgien.
Das Buch schildert das tragische Schicksal der Familie während des Stalin-Regimes und der
Repressionen von 1937. Mehrere Familienmitglieder opferten ihr Leben für ihre beruflichen
Auffassungen, die Menschlichkeit, Moral, ihre Loyalität zum Heimatland und ihre Ideale. Der Autor
beschreibt die sozialen Hintergründe und Wurzeln seiner Eltern und Vorfahren. In dieser riesigen
Charaktergalerie finden wir Porträts wie jene der Dilewskis – polnischer Aristokraten –, Figuren des
georgischen öffentlichen Lebens wie die Kartwelischwilis, Wachuschtis Großeltern mütterlicherseits,
oder, väterlicherseits, des Geistlichen Ilja Kotetischwili und seiner Frau Ekaterine Bidsinaschwili, die
aus einfachsten Verhältnissen stammte, aber höchste moralische Prinzipien verteidigte.
Am Anfang steht die große Liebesgeschichte seiner Eltern, die ein tragisches Ende findet, als Nina im
Kindbett stirbt. Wachtang, herausragender Literaturkritiker, Künstler, Universitätsprofessor,
Wissenschaftler – der bekannt wurde als Sammler und Bewahrer georgischer Folklore,
Volksdichtkunst und -liedguts, für die er im ganzen Land herumreiste und die er der Öffentlichkeit
wieder zugänglich machte, ja durch äußerst populäre Aufführungen wiederbelebte –, wird zwei Jahre
später wegen politischer Unzuverlässigkeit verhaftet und erschossen, wie so viele Intellektuelle und
Künstler, die nicht der Parteilinie folgten. Von den drei Waisen stirbt die jüngste Schwester kurz
danach an Leukämie und Kummer; der zweijährige Wachuschti wird von seiner fünfzehnjährigen
Schwester Leila aufgezogen. Schon als Kinder hatten sie mit Vorurteilen zu kämpfen, damit, als
Volksfeinde zu gelten. Einzige Unterstützung waren die nächsten Verwandten, die Großmutter, eine
Tante und die Onkel. Wachuschti wird schon früh bewusst, dass eine Maschinerie des Bösen seine
Familie zerstört und ihn seiner Kindheit beraubt hat. Und früh schon ist das Bewusstsein einer
Verpflichtung gegenüber dem geistigen Erbe seines Vaters der größte Impetus für sein eigenes
Schaffen. Doch ebenso prägte ihn die Frage nach dem „Warum?”, auf die er nie eine Antwort fand.
Trotz des ungeheuren physischen und moralischen Drucks fanden die Kotetischwilis und andere, die
ihr Schicksal teilten, die Kraft, weiterzuleben, eine innere Freiheit zu bewahren und zueinander zu
stehen, obwohl sie dies oft genug teuer bezahlten. Ihr Humanismus und ihr hohes Berufsethos, nicht
1 zutisopeli, wörtlich „Minutenwelt”, d.h. (das kurzfristige) Erdenleben ist ein Wort, hinter dem die ganze georgische Lebenswelt,
Lebensanschauung steht. Es ist zusammengesetzt aus „zuti” = Augenblick, Minute und „sopeli” = Welt, Erde, Dorf. Die Deutung,
dass das irdische Leben so kurz ist wie eine Minute, ist stark im georgischen Bewusstsein eingeprägt. Und weil es so kurz ist,
muss man eilen, alles sofort ergreifen, das Leben maximal genießen. Dies findet vielleicht seinen Ausdruck im typisch
georgischen Leichtsinn, aber auch in Gedichtzeilen wie „Das Leben ist so geordnet, dass nach der Nacht der Tag kommt, Und
die Liebe baut wieder auf, was die Feindschaft zerstört'.”
Rachel Gratzfeld – LITERATUR AUS GEORGIEN
VERMITTLUNG – BERATUNG - LEKTORAT - ÜBERSETZUNG
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Kotetischwili, Tschemi zutisopeli 1
zuletzt ein schwarzer Humor und die Liebe zum Leben ließen diese hochinteressanten und vielseitigen
Menschen überleben, „wie Blumen, die aus dem Asphalt empor sprießen”.
Das Tragische und glückliche Ereignisse wechseln sich ab in der Erzählung. Alles durchdringt die
Gewissheit, dass die Brutalität, die ihre Eltern und sie selbst erfuhren, keine Samen säen konnte in die
Seele der Kinder, sie nie Rache suchten. Ihr Leben überschattete allein eine grenzenlose Traurigkeit
und Schmerz. Für die georgischen Leser sind die Figuren dieser Familiengeschichte unsterblich und
werden geehrt als Menschen, die sich für ihre hohen Ideale und ethischen Prinzipien geopfert haben.
Der Roman setzt sich aus einzelnen Erzählungen zusammen, die für sich gelesen werden können,
und ist durchdrungen von Elementen aus Volksweisheit und Wortspielen, die uns Georgien und seine
Seele sehr nahe bringen.
Wachuschti Kotetischwili (1935-2008), Sprachwissenschaftler und Schriftsteller, ist bekannt als einer der
hervorragendsten Übersetzer ins Georgische, der eine ganze Generation von Übersetzern prägte und nach dem
heute ein renommierter Übersetzerpreis benannt ist. Er war auch eine wichtige und bekannte öffentliche
Persönlichkeit, sein eigenes Leben Stoff für einen Roman.
Schon sein Vater Wachtang Kotetischwili war eine sehr prominente Persönlichkeit: berühmter Literaturkritiker,
Sammler und Erforscher georgischen Volkstums, Maler und Bildhauer. Wie viele andere Professoren und
Dozenten der Staatlichen Universität Tbilissi wurde er während der Stalinistischen Säuberungen für politisch
unzuverlässig erklärt und 1937 erschossen. Die Mutter Nina Dilewski war die Tochter des polnischen Aristokraten
und Juristen Ewgeni Dilewski; sie starb bei Wachuschtis Geburt. Zwei Jahre später nahm man den drei
Halbwaisen auch den Vater; Wachuschtis Schwester starb kurz nach seiner Inhaftierung, so dass der zweijährige
Wachuschti mit seiner ältesten Schwester Leila zurückblieb. Leila kümmerte sich um den Jungen, und ihr widmete
er seinen autobiografischen Roman „Mein Leben hier”, der die Saga der Kotetischwilis erzählt.
1959 graduierte Wachuschti Kotetischwili an der Staatlichen Universität Tbilissi in Orientalischen Sprachen und
Geschichte. Bereits als Student veröffentlichte er eine Sammlung von Übersetzungen orientalischer Dichtkunst,
unter anderen Gedichte von Hafis, Chayyam und Rumi, die ihn schnell bekannt machte. 1962 schloss er auch in
persischer Philologie ab und wurde Direktor der Abteilung für Orientalische Sprachen und Geschichte an der
Staatlichen Universität. 1964 wurde er außerordentlicher und 1975 ordentlicher Professor. Er lehrte während 50
Jahren und publizierte zahlreiche Essays, Gedichte, Übersetzungen usw. und richtete in Georgien die ersten
Master-Kurse für junge Übersetzer ein; seine Vorlesungen wurden später gesammelt publiziert. Außer
orientalischer Poesie übersetzte er auch deutsche, österreichische, russische und holländische Dichter. Für seine
herausragende Übersetzung von Rainer Maria Rilkes Gedichten wurde ihm 1995 der Sonderpreis des
österreichischen Kulturministeriums zuerkannt und 2008 in Georgien der Saba-Preis für sein Gesamtwerk und
seinen Beitrag zur georgischen Kultur.
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