Urgewalt des Charismas
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Urgewalt des Charismas
AZ_KUL_4 43 43 KULTUR MZ Samstag, 8. November 2008 Urgewalt des Charismas cd pianisten LUCERNE FESTIVAL AM PIANO Leon Fleisher ist in den USA eine Legende. Der Schwei- DON HUNSTEIN /SONYBMG zer Pianist Oliver Schnyder schreibt exklusiv über seinen berühmten Lehrer. OLIVER SCHNYDER* Bereits als Kind kam ich in Berührung mit Aufnahmen Leon Fleishers. Seine Liszt-Sonate etwa erreichte mich so unmittelbar, dass ich fortan den Wunsch hegte, eines Tages von diesem Meister zu lernen. Im März 1998, kurz vor Erlangung des Solistendiploms, brachten mich glückliche Umstände in Besitz der Telefonnummer eines Turiner Hotels, in dem Fleisher tourneehalber absteigen sollte. Als sich die sonore, warme Stimme Fleishers meldete, musste ich zweimal leer schlucken, ehe ich in Schulenglisch meine Absicht kundtun konnte, ihm vorspielen und sein Schüler werden zu wollen. Fleisher lehnte sofort höflich ab, er habe keine freien Kapazitäten. Auf mein Insistieren, mir wenigstens eine Audition zu gewähren, liess er sich erweichen. Wir verabredeten uns anderntags in Turin, wo ich ihm Beethoven und Bartok vorspielte sowie auf seinen Wunsch mancherlei, was ich aus dem Gedächtnis gerade abrufen konnte. Dies alles umrahmt von viel Humor und einer etwas sonderba- VOLLKOMMEN Vorsicht! Wer «The Essential» von Leon Fleisher – eine günstige Sony-Doppel-CD – auflegt, wird aus dem Staunen und Schwärmen nicht mehr herauskommen, wird wohl auch etwas melancholisch an eine Zeit zurückdenken, in der vieles anders war. Nicht nur die Pianisten. Das Orchester aus Cleveland, das Leon Fleisher begleitet, ist dank George Szells schneidender Gestaltungskunst – u. a. in Beethovens 5. Klavierkonzert, aber auch bei Griegs a-Moll-Schlachtross – hinreissend. Ganz zu schweigen von Fleisher: Schade, ist nur Stückwerk zu hören. Aber diese CDs wollen bloss Einblick geben, wollen Fleisher so breit wie möglich zeigen. Mit Erfolg. Es ist nicht einfach nur historisch interessant, sondern schlicht ergreifend, wie Fleisher Bachs «Chaconne», arrangiert von Brahms, spielt. Von Brahms ist dann bald Originales zu hören: nie romantisch überdrückt, sondern unheimlich strebend, und doch tieftraurig. Bald lacht auch das Mozart-Glück in VollkomC H R I ST I A N B E R Z I N S menheit. LEON FLEISHER ren Fragestunde: Spielst du gern mit Orchester? Wollt ihr nicht in die UNO? Kennst du «Wizard of Oz»? Wenig später war ich Student von Fleisher am Peabody Institute in Baltimore und blieb es bis zum Studienabschluss 2001. AN WELCHEM REICHTUM ich dank dieser glücklichen Fügung in der Folge teilhaben durfte! Mein geschmeicheltes Ego wusste natürlich vor Studienantritt, dass mir Hunderte, Tausende Klavierstudenten auf der ganzen Welt meinen Platz gern streitig gemacht hätten. Aber ich hatte keine Ahnung, mit welcher Urgewalt mich das künstlerische Charisma dieses Mannes erreichen würde. Kaum war der diesbezügliche Schock überwunden, fand ich mich in einem Ozean neuer Eindrücke und Anforderungen wieder, schnappend nach Luft im verzweifelten Versuch, mich freizuschwimmen. Dieser Zustand dauerte Monate an. Alle Kriterien, die mich bis anhin als guten Klavierstudenten klassifiziert hatten, wurden obsolet. Unverges- sen der erste Unterrichtstag, an dem ich einen Mitstudenten in Brahms’ 2. Konzert korrepetierte und ich, zu unserer beider Verblüffung, eine stündige Lektion über das Umsetzen des einleitenden Hornthemas auf dem Klavier erhielt! Während eines ganzen Semesters reihten sich ähnliche Erlebnisse aneinander und erschütterten mein sauber erarbeitetes pianistisches Selbstbewusstsein gehörig, ehe ich nach qualvoller Suche zu verstehen begann und eine vollkommen neue Freiheit greifbar wurde. Fleisher hatte mich transformiert! Durch seine Gabe, komplexeste musikalische Sachverhalte in Worte zu fassen, gab er einem die Mittel, auf den Grund eines Werkes vorzustossen, den «schwarzen Punkten» in der Partitur Sinn zu verleihen. Er lehrte uns den Umgang mit Puls, zeigte uns ungeahnte Möglichkeiten der Klanggebung, weihte uns in die Geheimnisse des Pedals ein, schulte unser inneres Hören und führte uns so über den Weg des grössten Widerstands zur natürlichsten Form des Musizierens und schliesslich zur Selbstständigkeit. DASS FLEISHERS tragisches Schicksal ihm auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft den Gebrauch seiner rechten Hand verwehrte, verleiht seiner Präsenz noch mehr Gravität. Wie er mit seinem Schicksal fertig geworden ist – noch immer fertig wird –, hat mich stets berührt. Die Aura des verwundeten Löwen umgibt ihn und verleiht ihm die Macht, seine Schüler und Zuhörer – für einen kurzen Moment wenigstens – zu sich selbst finden zu lassen, zu ihren ureigensten Tiefen. Fleishers menschliche und künstlerische Autorität ist, bei aller Genialität, auch das Ergebnis einer Selbstüberwindung. * Der Schweizer Pianist Oliver Schnyder (geboren 1973) lebt in Ennetbaden. Er spielt am 16. November im Kultur-Casino in Bern (17 Uhr) Mozarts «Krönungskonzert» und am 17. November in der Zürcher Tonhalle ein grosses Solorezital. Bei Sony ist vor kurzem eine Mozart-Doppel-CD erschienen. Leon Fleisher wurde 1928 in San Francisco geboren, er war Schüler Artur Schnabels. Mit 16 debütiert er beim New York Philharmonic unter Pierre Monteux. 1952 gewinnt er den Brüsseler Reine Elisabeth Concour. Danach macht er eine atemberaubende Karriere und bahnbrechende Schallplattenaufnahmen (v. a. mit dem Cleveland Orchestra unter George Szell). Mit 36 Jahren erkrankt Fleisher an Fokaler Dystonie, die seine rechte Hand lähmt. Dank neuen Behandlungsmethoden kann sich Fleisher heute wieder dem Standardrepertoire zuwenden. Fleisher spielt am 23. 11., 11 Uhr im KKL. Wenig Konzept, aber viel Faszination LUCERNE FESTIVAL AM PIANO Das erfolgreiche Festival, das am 17. November beginnt, feiert sein 10-jähriges Bestehen. Während einer Woche sind drei Generationen von Pianisten zu hören. C H R I ST I A N B E R Z I N S Im Sommer 1998 lagen grosse Dampfer nicht bloss auf dem Vierwaldstättersee, sondern plötzlich stand da ein Luxusdampfer in der Form eines Konzertsaals am See: 1998 war die Salle Blanche, wie der heutige KKL-Konzertsaal damals hiess, bezugsbereit. Claudio Abbado dirigierte das Eröffnungskonzert, das sommerliche Lucerne Festival nahm seinen erfolgreichen Lauf. So weit, so gut. Doch war dieser Saal nicht etwas zu gross geraten? Wer sollte dort ausserhalb des Sommers auftreten, wer die Ränge füllen? LUCERNE FESTIVAL «erklärte sich bereit», so die offizielle, amüsante Formulierung, «zu helfen, um den beträchtlichen Quantensprung vom Kunsthaus zur Salle Blanche zu erleichtern». Ein kleines Festival war rasch organisiert: Bei «Piano 98» traten während vier Tagen im neuen KKLSaal die berühmten Pianisten Murray Perahia, Anatol Ugorski, Katia & Marielle Labèque, Till Fellner und Alfred Brendel auf. Die Musiker spielten, was sie gerade im Gepäck hatten. Das Konzept war die Ansammlung der Stars in wenigen Tagen. Ob das auf die Länge gut gehen würde? Die Auslastung gab den Machern schnell recht – fast allabendlich sassen 1800 Menschen im KKL. Dieses Jahr kann das 10-jährige «Piano»-Bestehen gefeiert werden. Gross verändert hat sich das Piano-Festival nicht, auch wenn es nun sieben Tage dauert. Der Reiz ist nach wie vor die Ansammlung grosser Pianisten. Jazz-Pianisten, selten Orgel- oder Cembalospieler, lockerten die schweren Steinway-Klänge der Stars auf. Die Palette der Tasteninstrumente wurde allerdings nie wirklich ausgereizt, nie zum Konzept erklärt. Immerhin: «Piano Off-Stage» gab dem Anlass ein lokales Kolorit – Barpianisten spielen in den Hotelbars der Stadt auf. Dieses Jahr wird es spannend sein, drei, ja vier Pianistengenerationen nach- und miteinander zu hören. Die Eröffnung macht Evgeny Kissin. Er ist zwar erst 37 Jahre alt, aber er erinnert, seit er von Herbert von Karajan 1988 entdeckt wurde, an die Grossen von einst. Kissin war künstlerisch nie jung und gehört im Luzerner Reigen zur Generation von Angela Hewitt (* 1958), Pierre Laurent Aimard (* 1957) und Jean-Ives Thibaudet (* 1961). Aimard ist Stammgast in Luzern, hat auch dort immer wieder zu beweisen versucht, dass er nicht einfach «nur» der Spezialist für moderne Musik ist. In seinem Luzerner Programm schlägt er am 20. November einen gewaltigen Bogen von Schumann und Chopin über Debussy, Skrjabin und Bartok zu Messiaen. Auch die BarockSpezialistin Hewitt wird das 20. Jahrhundert berühren und Ravels «Tombeau de Couperin» spielen. Kissin, dem Genialischen, ist es vorbehalten, mit Prokofiew und Chopin urpianistisch Virtuoses zu zeigen. Zur Gruppe der «Jungen» gehören in Luzern neben Pianist Martin Helmchen (* 1982) Künstler, die in der «Debut»-Reihe auftreten: Das sind beliebte Konzerte in der Lukaskirche um 12.15 Uhr für gerade mal 20 Franken. Auch dort gibt es «Stars» – etwa Lise de la Salle. Die 20-jährige Französin hat mit ihren CDs immer und immer wieder überrascht. In der «Debut»-Reihe treten auch die bei uns wenig bekannten Llyr Williams (* 1976) und Antti Siirala (* 1979) auf. Überragt wird das Festival von den beiden Altmeistern Alfred Brendel (* 1931) und Leon Fleisher (* 1928). Brendel gibt auf seiner Abschiedstournee sein letztes Rezital bzw. Konzert in der Schweiz – Fleisher einen lange ersehnten Abend. Lucerne Festival Am Piano 17. bis 23. November. Karten: Tel. 041 226 44 80. Leon Fleisher The Essential. 2 CDs. Sony BMG 2008. ★★★★★ FLEISHER IN LUZERN So, 23. 11., 11Uhr. GIPFELTREFFEN Ein eigenartiges Gipfeltreffen zweier grosser Musiker: Evgeny Kissin, Jahrgang 1971, und Sir Colin Davis, Jahrgang 1927. Doch irgendwie überzeugt es. Das Orchester klingt zwar wie mit der Weichzeichnerlinse eingefangen, wobei immerhin im unteren Dynamikbereich die Holzbläser prominente Präsenz markieren. Zudem dirigiert Davis mit straffer Hand und setzt immer wieder artikulatorische Akzente – langweilig wirds einem nicht dabei. Und erst recht nicht, wenn Kissin spielt, mit glasklarem, aber sehr körperhaftem Ton und mit einer beredten Behändigkeit im Laufwerk. Nichts bauscht er zur virtuosen Selbstdarstellung auf, sondern bleibt ein Akteur unter mehreren, vielleicht gar um eine Spur zu zurückhaltend. Aber irgendwie passt das überzeugend zuW E R N E R P F I ST E R sammen. Beethoven Kissin/Davis. EMI 2008. ★★★★★ KISSIN IN LUZERN Mo, 17. 11., 19.30 Uhr. SEHR ACHTBAR Man mag an Zelebritäten wie Brendel denken. Aber bei Klaviermusik von Schubert darf es offenbar auch Martin Helmchen sein. Der Berliner zeigt jedenfalls, dass er über ein Sensorium verfügt sowohl für die ins Epische gestreckte zweitletzte Sonate wie auch für die kleinerformatigen und doch so reichhaltigen «Moments musicaux». Keine selbstinszenatorischen Ausrufezeichen, keine marktschreierischen Drücker stören in dem Vortrag. Dieser ist vielmehr durchdacht und hat lyrische Qualitäten. Es gibt Fälle, bei denen einem das Spiel fast zu unaufgeregt vorkommt, wo man sich die Noten noch von etwas mehr Espressivo beseelt wünschte. Fortissimi und Forzati wirken abgemildert, schlagen zu wenig nach oben aus. Trotzdem: eine sehr achtbare Leistung. TO R B J Ö R N B E R G F L Ö D T Martin Helmchen Franz Schubert. Pentatone 2008/Musicora. ★★★★★ HELMCHEN IN LUZERN Sa, 22. 11., 11 Uhr.