Das Exposé zum Dissertationsvorhaben als PDF
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Das Exposé zum Dissertationsvorhaben als PDF
Das Unheimliche bei David Lynch Kritik der psychoanalytischen Filmtheorie Exposé zu einem Dissertationsvorhaben von Rudi Gaul an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Promotionsstudiengang Theaterwissenschaft (Nebenfach: Neuere deutsche Literaturwissenschaft) Dissertationsbetreuer: Prof. Dr. Jürgen Schläder München, 14. Mai 2010 Als einer der letzten echten Autoren- und Independentfilmer genießt David Lynch einen Ausnahmestatus in der aktuellen Filmlandschaft. Eine filmwissenschaftliche Beschäftigung mit seinen Werken, von den ersten experimentellen Kurzfilmen bis zu seinem jüngsten, unter nicht weniger experimentellen Arbeitsbedingungen entstandenem 173-Minuten-Epos Inland Empire, ist so sehr lohnend wie zwingend, weil Lynch wohl der einzige lebende Filmemacher ist, der nicht nur die künstlerische Kontrolle über alle Produktionsstadien vom ersten Drehbuchentwurf bis zum Final Cut ausübt, sondern bei seiner bis dato letzten Arbeit den noch ausstehenden konsequenten Schritt zur eigenverantwortlichen Kino-Distribution des fertigen Films tat. Das ist ungewöhnlich genug in einer „Kultur-Industrie“, die sogar arrivierte Regisseure und Autoren oft lediglich als künstlerische Zuarbeiter begreift, die im Auftrag des produzierenden Studios oder Fernsehsenders zwar ausführen, aber weder finanziell noch künstlerisch letztinstanzlich entscheiden und verantworten. Es liegt sicher auch an dieser radikalen künstlerischen Eigenverantwortlichkeit Lynchs, die sich nichts als dem eigenen Werkanspruch verpflichtet, dass kaum ein anderes filmisches Oeuvre so leidenschaftlich kontrovers diskutiert und gedeutet, cineastisch verehrt und vehement abgelehnt wird. Und so bleibt es freilich nicht aus, dass auch kaum ein Oeuvre in Feuilleton und Wissenschaft so häufig mit zweifelhaften film- und populärwissenschaftlichen Deutungsmustern missverstanden wird. 1 Mit vagem Bezug auf die psychoanalytische Filmtheorie sind dies allzu oft Deutungsmuster, die ein komplexes dramaturgisches Erzählkonstrukt unter Verweis auf dessen Analogie zum menschlichen Traumprozess als symptomatischen Ausdruck einer analytisch kaum fassbaren Figurenpsyche (miss-) interpretieren.2 Besonders beliebt sind dabei Leseverfahren, die Lynchs Filme als erträumte Verdrängungsprodukte eines traumatisierten Protagonisten zu entschlüsseln versuchen.3 Die Arbeiten von Maurice Lahde und Daniela Langer, aber auch umfangreiche Werkanalysen wie die von Georg Seeßlen, Anne Jerslev oder Robert Fischer sind dafür beispielhaft.4 Wozu also eine weitere Arbeit, die eben jene symbolträchtigen und gleichnisschweren Psychoanalyse-Instrumentarien zu wissenschaftlichen Analysekategorien erhebt, mit denen 1 Vgl. dazu etwa: Meller, Marius: Popanz und Programm. Rätselkunst für Fortgeschrittene: David Lynch erkundet in „Inland Empire“ die Grenzen des Kinos. Zitiert nach: http://www.tagesspiegel.de/kultur/;art772,2209421 (Zugriff: 13.11. 2007). 2 Vgl. etwa Lahde, Maurice: „We live inside a dream.” David Lynchs Filme als Traumerfahrungen. In: Pabst, Eckhard (Hg.): „A Strange World“. Das Universum des David Lynch. Kiel 1999, S. 95 – 110. 3 Vgl. etwa Daniela Langers Deutung von Lost Highway in: Langer, Daniela: Die Wahrheit des Wahnsinns. Zum Verhältnis von Identität, Wahnsinn und Gesellschaft in den Filmen David Lynchs. In: Pabst, Eckhard (Hg.): „A Strange World“. Das Universum des David Lynch. Kiel 1999, S. 69 – 94, S. 87. 4 Vgl. Fischer, Robert: David Lynch. Die dunkle Seite der Seele. München 2000. / Vgl. Jerslev, Anne: David Lynch. Mentale Landschaften. Wien 1996. / Vgl. Seeßlen, Georg: David Lynch und seine Filme. Marburg 2003. 2 allzu oft einer spekulativen, eher cineastisch denn erkenntnistheoretisch motivierten Enträtselungslust Tür und Tor geöffnet wird? – Einer cineastischen Enträtselungslust überdies, die mit ihrem Versuch der vermeintlich psychoanalytisch legitimierten Bedeutungsfixierung im Feuilleton weitaus besser aufgehoben ist als in der wissenschaftlichen Textanalyse? Trotzdem und weil diese Einwände richtig sind: Lynchs Filme thematisieren und reflektieren semantisch, ästhetisch und strukturell Motive des psychoanalytischen Deutungsverfahren, wie sie zuerst Freud dargestellt hat.5 Kaum eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Lynchs Werk schlägt aber den Bogen vom bloß filmisch virtuosen Spiel mit diesen Motiven zu ihren zeichentheoretischen Implikationen, die der psychoanalytischen Deutungstheorie als strukturaler Texttheorie inhärent sind und zuerst von Jacques Lacan erkannt wurden. Dies nun möchte ich leisten; und zwar mittels der semiotischen Beschreibungskategorie des Unheimlichen als äußerst komplexem und ertragreichem Analyseinstrumentarium, wie es nicht zuletzt von Christian Metz und Slavoj Zizek in Rekurs auf Freud und Lacan filmtheoretisch fruchtbar gemacht und kulturwissenschaftlich angewandt wurde.6 Ich möchte im Folgenden darlegen, inwiefern sich dabei meine Herangehensweise von den Arbeiten etwa Georg Seeßlens oder Anne Jerslevs grundlegend unterscheidet – beide greifen ebenfalls vage auf Bausteine der psychoanalytischen Filmtheorie zurück, vernachlässigen aber (exemplarisch für eine ganze Anzahl von entsprechenden Werkanalysen) deren spezifische Funktionalisierung innerhalb der diegetischen Filmwelt durch den Autor David Lynch selbst. In der Tat wird kaum eine Beschreibungskategorie in der feuilletonistischen und filmwissenschaftlichen Diskussion von Lynchs Filmen so sehr strapaziert wie die des Unheimlichen: Nach Chris Rodley macht das Unheimliche den Kern von Lynchs Werk aus7 und Anne Jerslev bezeichnet seine Filme als „faszinierenden und ästhetischen Ausdruck“ des Unheimlichen, „wie es von Freud analysiert wurde“.8 In seinem berühmten Aufsatz aus dem Jahr 1919 bezeichnet Freud das Unheimliche als „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“9 und sich aus dem „wiederkehrenden Verdrängten“10 speist. Zu diesem Schluss kommt Freud nach 5 Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Freud, Sigmund: Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Künstler. Frankfurt am Main 1993, 3. Aufl. 2004, S. 135 – 172. 6 Vgl. Metz, Christian: Semiologie des Films. München 1972. Sowie: Zizek, Slavoj: Lacan. Eine Einführung. Franfurt am Main 2008. Vgl. außerdem: Zizek, Slavoj: Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten. Frankfurt am Main 2002. 7 Rodley, Chris: Einleitung. In: Lynch, David: Lynch über Lynch. Hg.: Chris Rodley. Frankfurt am Main 2006, S. 7. 8 Jerslev, Anne: David Lynch. Mentale Landschaften, S. 34. 9 Freud, Sigmund: Das Unheimliche, S. 138. 10 Ebd., S. 160. 3 einer etymologischen Analyse des deutschen Wortes „unheimlich“, die versucht, die Beziehung zwischen Signifikantenstruktur und Signifikat zu klären: Das Heimliche, das zunächst das „Heimische“, das „zum Haus gehörige“11 , also auch das vor der Außenwelt „Versteckte“ ist, kann zum Unheimlichen werden – nämlich dann, wenn das, was „ein Geheimnis“ und „im Verborgenen bleiben sollte“12, unerwartet hervortritt: „Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich“.13 Damit ist das Unheimliche der Zusammenfall zweier vermeintlicher Gegensätze: das fremde Vertraute – oder auch: das vertraute Fremde.14 Ich möchte für den Leser anschaulich machen, wie Lynch schon diesen etymologischen Aspekt des Unheimlichen in der oft zitierten Anfangssequenz von Blue Velvet reflektiert, indem er die vermeintliche Opposition von „heimlich“ und „unheimlich“ in eine visuelle Synthese bringt: Die Kamera eröffnet zuerst den Blick auf ein „Heim“, das dem klassischen Klischeebild der trauten amerikanischen Vorgartenidylle entspricht, um dann über den weißen Gartenzaun bis unter die Grasnarbe des sauber gestutzten englischen Rasens zu fahren. Dort wird das Gewürm sichtbar, das sich versteckt unter der Erdoberfläche tummelt. Das unheimliche Fremde ist also im wahrsten Sinne des Wortes unter dem vertrauten Heimischen verborgen, das freilich im strukturanalytischen Sinne für nichts anderes als die TextOberfläche15 steht. Diese Dichotomie zwischen Textoberfläche und Tiefenstruktur wird in Lynchs Filmen auf der histoire-Ebene reflektiert 16 und stellt zugleich das ästhetische Dispositionsprinzip der discours-Ebene dar – auch die Bildgestaltung eröffnet „die Opposition von ‚Oberfläche’ und ‚Tiefe’ bzw. ‚Schein’ und ‚Sein’“.17 Zu diesem Ergebnis komme ich nach einer eingehenden Beschäftigung mit Freuds „Unheimlichkeitstheorie“ (und Lacans Anmerkungen dazu) einerseits und ausgewählten Einzelanalysen von Lynch-Filmen andererseits – das Resümee aus diesen Vorarbeiten der letzten Monate und die daran anknüpfenden Fragestellungen möchte ich näher erläutern: Wenn davon die Rede ist, Lynchs Filme visualisierten das Unheimliche, müssen – so meine Ausgangsthese – zweierlei ineinander begründbare Lesarten von Freuds Aufsatz 11 Ebd., S. 140. Ebd., S. 143. 13 Ebd., S. 145. 14 Vgl. Freud: Das Unheimliche, S. 145 und S. 160. 15 Vgl. auch Lacan, Jacques: Schriften II. Hg.: Norbert Haas. Olten 1975, S. 34 ff. 16 Ich verwende den Terminus „Selbstreflexion“ nach der Definition von Petra Kallweit. Vgl dazu: Kallweit, Petra: Anmerkungen zu Selbstreflexion und Selbstreferenz in Twin Peaks und Lost Highway. In: Pabst, Eckhard (Hg.): „A Strange World“. Das Universum des David Lynch. Kiel 1999, S. 213 17 Schwarz, Olaf: „The owls are not what they seem.“ Zur Funktionalität ‘fantastischer’ Elemente in den Filmen David Lynchs. In: Pabst, Eckhard (Hg.): „A Strange World“. Das Universum des David Lynch. Kiel 1999, S. 60. 12 4 unterschieden werden, die von Lynch jeweils explizit auf ästhetischer, semantischer und struktureller Ebene des Filmtextes realisiert werden. Zunächst einmal fasst Freud (anhand der Beispielanalyse von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann) literarische Motive des Unheimlichen zusammen, wie sie sich allesamt auf der Handlungsebene von Lynchs Filmen in geradezu plakativer Ausprägung finden lassen: von der Begegnung mit dem vertrauten Fremden in einer Doppelgängerfigur bis hin zum daraus resultierenden Identitätsverlust des Protagonisten. Ohne hier auf die Motive im Einzelnen einzugehen lässt sich etwa am Beispiel der unheimlichen Wirkung, die sich laut Freud aus dem „Moment der Wiederholung des Gleichartigen“ 18 ergibt, treffend veranschaulichen, dass Lynch die von Freud dargestellte Motivik des Unheimlichen neben ihrer semantischen Funktionalisierung für den „plot“ auch zum ästhetischen und strukturellen Kompositionsprinzip seiner Filme erhebt: Die „hartnäckige Wiederkehr der einen Zahl“19 ‚47’ wirkt in Inland Empire genauso unheimlich wie die verzweifelte Durchquerung der immer selben Landschaften und Räume, zu der sich die Protagonistin gezwungen sieht.20 Weil sich der Zuschauer in der Kreisstruktur des Erzählkonstrukts aber genauso verirrt wie die Figuren auf der Handlungsebene, wird der Film auch rezeptionsästhetisch zum unheimlichen Déjá-vuErlebnis. Lynchs Inszenierungsstrategie beruht also im Wesentlichen darauf, die Wirkungsästhetik der unheimlichen Motivik von der Figur im diegetischen Rahmen der Filmerzählung auf die rezeptionsästhetische Empfindung des Zuschauers zu übertragen. Besonders deutlich wird das am Beispiel der unheimlichen Wirkungen, die nach Freud entstehen, „wenn die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt wird“21 – das ist der den dramatischen Konflikt der Diegesis genauso bestimmende wie die Deutungslust des Zuschauers provozierende Topos, der sich als roter Faden durch Lynchs gesamtes Oeuvre zieht. Die Motive des Unheimlichen sind für Freud im psychoanalytischen Deutungsprozess allerdings lediglich die Symptome (also Anzeichen) des Verdrängungsprozesses an der Textoberfläche, die auf etwas „ehemals Heimisches, Altvertrautes“ 22 unter eben dieser Oberfläche verweisen. Unheimlich sind sie insofern, als die Vorsilbe „un-“ den Grad der 18 19 20 21 22 Ebd., S. 156. Ebd., S. 157. Ebd., S. 156. Freud: Das Unheimliche, S. 163. Ebd., S. 164. 5 Verdrängung markiert. 23 Damit beschreibt Freud nichts anderes als das semiotische Beziehungsgeflecht zwischen Signifikanten- und Signifikatsstruktur. Ich möchte nun untersuchen, inwiefern Lynch über die bloße Darstellung der Motivik des Unheimlichen hinaus diese zweitmögliche Lesart von Freuds Aufsatz in seinen Filmen zur Anwendung bringt: Mit ihr lässt sich die psychoanalytische Deutungstheorie als Theorie der Signifikationsproduktion begreifen – ganz nach Lacans Diktum, wonach das Unbewusste strukturiert ist wie eine Sprache. 24 Der grundlegenden psychoanalytischen Opposition „bewusst – unbewusst“ entspräche dabei die vermeintliche Opposition „heimlich – unheimlich“. Das Medium der Sprache ermöglicht dem Textrezipienten (analog zum Psychoanalytiker) von der „bewussten“ Oberflächenstruktur der Signifikantenebene auf die „unbewusste“ Tiefenstruktur zu schließen – und damit aufs „wahrhaft“ Bedeutende. Die Conclusio des psychoanalytischen Filmanalysten lautet nun scheinbar folgerichtig: Der Rezipient muss zur „Enträtselung“ des von Lynch vorgeführten Verwirrspiels die darin enthaltenen Motive des Unheimlichen einem psychoanalytischen Deutungsverfahren unterziehen, um „wahrhafte“ Bedeutung erschließen, das „Filmrätsel“ also lösen zu können. Ein solches Leseverfahren übersieht aber meines Erachtens, dass Lynchs Filme gerade nicht nach jenem Prinzip funktionieren, das Slavoj Zizek am Beispiel der amerikanischen Fernsehserie Columbo veranschaulicht: Hier gelingt es dem Detektiv regelmäßig, „die Verbindung zwischen der täuschenden Oberfläche (dem ‚manifesten’ Gehalt der Mordszene […] ) und der Wahrheit über das Verbrechen (dem ‚latenten Gedanken’) herzustellen“.25 In eben diesem detektivischen Versuch der psychoanalytischen Wahrheitsfindung zeigt sich jenes tief greifende Missverständnis, auf das Jacques Lacan aufmerksam gemacht hat. Er hat als Erster das hier skizzierte Lektüreverständnis von Freuds Unheimlichkeits-Modell als strukturalistische Zeichentheorie geleistet, indem er es in Bezug zu den linguistischen und semiotischen Theorien von Ferdinand de Saussure26 und Roman Jakobson27 gesetzt hat: „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache.“ 28 Die zweite berühmte – für die LynchRezeption (wie deswegen auch für meinen Forschungsansatz) mithin entscheidende – von Lacan geprägte Formel ist die Rede vom Gleiten der Bedeutung.29 Dem Einzelzeichen kommt 23 Ebd., S. 164. Lacan, Jacques: Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Berlin/ Weinheim 1986, S. 26. 25 Zizek: Lacan, S. 41. 26 De Saussure, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967. 27 Jakobson, Roman: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, München 1974. 28 Lacan: Seminar XI, S. 26. 29 Lacan, Jacques: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud. In: Lacan, Jacques: Schriften II. Freiburg 1973, S. 15 – 55, S. 27 f. 24 6 an und für sich keine Bedeutung zu, diese wird vielmehr „gleichsam an einer Kette entlang von Signifikant zu Signifikant weitergereicht“30, so dass sich „die Vorstellung von einem unablässigen Gleiten des Signifikats unter dem Signifkanten“ aufdrängt: „Bedeutung bleibt (…) auf der Flucht vor dem Zugriff, der Endgültigkeit anstrebt.“31 Auch vor dem Zugriff des psychoanalytischen Deutungsverfahrens, ließe sich ergänzen. Ich möchte am Beispiel der Figurenkonstitution kurz verdeutlichen, wie Lynch das von Lacan entworfene Bild vom Weiterreichen der Bedeutung von Signifikant zu Signifikant in den dramatischen Hauptkonflikt der eigentlichen Filmhandlung integriert: Ohne eigenes Zutun übernehmen die Figuren (als Signifikanten) scheinbar willkürlich die „Bedeutung“ von anderen Signifikanten, oder anders ausgedrückt: den Charakter anderer figuraler Leinwanderscheinungen. Das Gleiten der Bedeutung manifestiert sich ganz konkret im Identitätswechsel der Hauptfigur, der zugleich einen neuralgischen Handlungseinschnitt markiert: So muss die blonde Betty in Mulholland Drive ihren ontologisch-fiktionalen Status als erotisch selbstbewusste und erfolgreiche Schauspielerin an die brünette Rita „weiterreichen“, die dann in der zweiten Hälfte des Films Diane heißt (also eine andere Persönlichkeit bedeutet) – aber immer noch genauso aussieht wie zuvor. Anders ausgedrückt: Der immer gleiche Signifikant – in Inland Empire etwa dargestellt von der Schauspielerin Laura Dern – erhält von Szene zu Szene einen anderen „Charakter“, oder: eine andere Bedeutung. Die von Dern verkörperte Figur heißt nicht nur, sondern ist/ bedeutet tatsächlich einmal Nikki, dann wieder Sue – und am Ende, wenn der Rezipient schließlich versucht, diesen mannigfaltigen Identitätswechseln ein analytisches Schema zugrunde zu legen, erscheint sie über den intertextuellen Verweis von Kostüm und Maske als vermeintliche Reinkarnation der Sandy-Figur aus Blue Velvet.32 Der unheimliche Clou bei Lynch besteht nun darin, dass der Erscheinung der Figur – dem Signifikanten – analog zum Rezipienten ein verzweifeltes „Rest-Bewusstsein“ über ihre wechselnden Bedeutungseinheiten bleibt; ein Rest-Bewusstsein, das nicht gleitet, sondern in dem sich das Begehren manifestiert, das Geheimnis des Gleitens enträtseln zu wollen. Die spannende Frage danach, was es mit diesem „Rest-Bewusstsein“ der Figuren über das Gleiten der Bedeutung, mit dem Begehren (auch des Rezipienten!) nach Bedeutung generell auf sich 30 Hammermeister, Kai: Jacques Lacan. München 2008, S. 70. Ebd., S. 70. 32 Schmidt, Oliver: Leben in gestörten Welten. Der filmische Raum in David Lynchs Eraserhead, Blue Velvet, Lost Highway und Inland Empire. Stuttgart 2008, S. 157 f. 31 7 hat, ist eine weit über die konkrete Beschäftigung mit Lynch hinausgehende filmwissenschaftlich relevante Fragestellung, die es unbedingt zu untersuchen lohnt: Sie zielt letztlich auf die dekonstruktivistische Gretchenfrage ab, wie Texte überhaupt gelesen und verstanden werden können – und damit auf die Frage, wie sich Bedeutung generiert; auf die Frage also, mit der sich Freud Zeit seines Lebens beschäftigt hat und um die sich auch sein Aufsatz über das Unheimliche dreht. Insofern leitet jene „zweite“, maßgeblich von Lacan beeinflusste Lesart von Freuds Essay als eine Abhandlung über semiotische Signifikationsprozesse mein Forschungsinteresse: Wenn Lynchs semantisches Spiel mit psychoanalytischer Motivik selbst nur ein symptomatisches Oberflächenphänomen ist, worauf verweist dieses Spiel dann wirklich? Was bedeutet es? Oliver Schmidt hat am Beispiel von Blue Velvet diese Problematik umrissen. Seiner Ansicht nach „scheinen die psychoanalytischen Anspielungen in Blue Velvet derart offensichtlich, dass es sich kaum noch um einen Subtext, sondern eher um eine direkte Illustration Freudscher Theorien handelt.“33 Und er schließt eben jene, auch von mir gestellte Frage an – jedoch ohne daraus die analytischen Konsequenzen zu ziehen: „Diese Tatsache negiert zwar nicht das Erklärungspotential eines solchen Ansatzes, relativiert es jedoch hinsichtlich anderer übergeordneter Ansätze, die mehr der Frage nachgehen, was es bedeutet, in dieser Weise filmisch mit einer psychoanalytischen Symbolik umzugehen.“ 34 Um solch einen übergeordneten Ansatz geht es mir. Die bis hierher entwickelten Gedanken führen mich zu meiner zentralen Arbeitshypothese: Psychoanalytische Deutungsansätze, die das innerfiktionale Filmgeschehen von Lynchs Filmen mit der innerpsychischen Disposition einer oder mehrerer Figuren gleichsetzen (etwa gar als Illustration der primärnarzisstischen Krise der frühkindlichen Erfahrung begreifen, wie es Anne Jerslev in Rückgriff auf Julia Kristevas Abjekt-Theorie vorschlägt35) sind selbst lediglich – im klassisch Freud’schen Sinne – symptomatische Ausdrücke dessen, worum es Lynch wirklich geht und was seine Filme zu Paradigmen des filmwissenschaftlichen Diskurses macht. Die Frage liegt nahe: Lassen sich Lynchs Filmtexte, indem sie die Unheimlichkeit des filmischen Bildes mit den Mitteln des Films analysieren, über ihren Status als Untersuchungsgegenstände hinaus gar als „Debattenteilnehmer“ mit diskursiver Aktivität charakterisieren? Da ich auch über Erfahrungen in der praktischen Filmarbeit verfüge und 33 34 35 Ebd., S. 70. Ebd., S. 70. Jerslev: David Lynch. Mentale Landschaften, S. 80 f. 8 insofern auf beiden Seiten – der der Produktion und der der Analyse – tätig bin, möchte ich diesen Aspekt der selbstreferentiellen Medialität nicht nur aus Perspektive des Filmwissenschaftlers, sondern auch aus der des Filmemachers darstellen. Anne Jerslev spricht sehr treffend davon, dass Lynchs Filme von ihrem eigenen Schöpfungsprozess handeln. 36 Umso unverständlicher bleibt es, dass sie – wie viele Verfechter der psychoanalytischen Filmtheorie mit ihr – die Konsequenz dieser Erkenntnis in der eigenen Analyse so wenig beherzigt: dass nämlich die Unheimlichkeit dieser Selbstreferentialität nur sehr wenig mit innerpsychischen Vorgängen welcher Art auch immer zu tun hat, dafür aber umso mehr mit spezifisch filmischer Medialität. Fast scheint es, als habe Lynch teilweise Christian Metz verfilmt: Einerseits erhebt er zwar die unter anderem von Hugo Münsterberg37, Béla Balázs38 oder Jean Mitry39 betonte filmtheoretische Affinität zwischen Film und Traum zum ästhetischen und dramaturgischen Konstruktionsprinzip; der Film erscheint als Darstellung eines subjektiv assoziierten psychischen Prozesses, als Projektion eines „lediglich im Bewusstsein abrollenden inneren Film[s] auf die Leinwand“40. Wer aber diese Affinität zum alleinigen Deutungskriterium erhebt, ignoriert die zweite Seite der Medaille, auf die ich meinen Forschungsschwerpunkt legen möchte: Andererseits nämlich wird der Rezipient – und stellvertretend für ihn die Figur innerhalb der Diegesis – immer wieder mit der folgenschweren Erkenntnis konfrontiert, dass die Film- im Gegensatz zu den Traumbildern fremder Herkunft sind.41 Christian Metz sieht den Zuschauer beim Blick auf die Leinwand deswegen folgendem Dilemma ausgesetzt: Das Zuschauer-Ich konstituiert sich zwar durch die Identifikation mit dem eigenen (vertrauten) Blick; dieser Blick ist aber zugleich der fremde Blick der Kamera. 42 Dieses unheimliche Dilemma begründet die erschreckende Entdeckung, die Lynchs Protagonistin am Ende von Inland Empire machen muss: Sie begegnet ihrem eigenen Blick als einem fremden, auf die Kinoleinwand gebannten Blick. Der Film ermöglicht ihr die unheimliche Beobachtung des eigentlich 43 Unbeobachtbaren : ihrer Beobachtung selbst. Ob und inwiefern in dieser Differenz das 36 Ebd., S. 74. Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie und andere Schriften zum Kino. Wien 1996. 38 Bálazs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt am Main 2001. 39 Mitry, Jean: Esthétique et psychologie du cinéma. Paris 1990. 40 Balázs, Béla: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst. Wien 1972, S. 80. 41 Brütsch, Matthias: Kunstmittel oder Verleugnung? Die klassische Filmtheorie zu Subjektivierung und Traumdarstellung. In: Martig, Charles und Leo Karrer (Hg.): Traumwelten. Der filmische Blick nach innen. Marburg 2003, S. 45 – 58, S. 79. 42 Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino. Münster 2000, S. 68. f. 43 Der Terminus „Beobachtung des Unbeobachtbaren“ ist dem Titel folgenden Werks entliehen: Jahraus, Oliver und Nina Ort (Hg.): Beobachtungen des Unbeobachtbaren. Konzepte radikaler Theoriebildung in den Geisteswissenschaften. Weilerswirst 2000. 37 9 Filmbild selbst zum vertrauten Fremden, zum per se Unheimlichen wird, möchte ich untersuchen, indem ich die zahlreichen Motive des Unheimlichen analysiere, in denen sich für Lynchs Protagonisten der filmisch-unheimliche Blick auf das vertraute Fremde manifestiert (zum Beispiel in der Begegnung mit einer Doppelgängerfigur). Methodisch wird mich dabei jeweils ein Dreischritt leiten, der von Freud über Lacan zur Kritik der psychoanalytischen Filmtheorie führt: Für Freud rekurriert das Motiv des Doppelgängers auf eine vermeintlich innerpsychische Disposition. Mit Lacan lässt sich diese Disposition als semiotisches Phänomen der Medialität verstehen. Ausgehend von diesen beiden Deutungsmöglichkeiten lässt sich veranschaulichen, inwiefern sich die filmwissenschaftliche Werkinterpretation von Lynchs Filmen (wie an Jerslevs Beispiel nachzuvollziehen) meist im Spannungsverhältnis zwischen psychoanalytischen und medientheoretischen Deutungsversuchen bewegt – ohne sie jedoch in einen stimmigen Bezug zueinander zu setzen. Letzteres möchte ich über Freud und Lacan versuchen – und damit ausgehend von der Analyse des unheimlichen Filmbildes in Lynchs Werk erstens die Qualität filmischer Medialität in generaliter diskutieren und daran anschließend zweitens eine Kritik psychoanalytischer Filmtheorie formulieren. Kants Verständnis von „Kritik“ folgend geht es mir dabei keineswegs darum, die psychoanalytische Filmtheorie als unbrauchbar für filmwissenschaftliche Untersuchungen zu verwerfen, sondern sie vielmehr auf ihren Gegenstand hin kritisch zu hinterfragen und so sinnvolle Anwendungsmöglichkeiten von unsinnigen zu unterscheiden. Dabei gilt es zu überprüfen, inwieweit klassische (z.B. Christian Metz) und gegenwärtige (z.B. Slavoj Zizek) psychoanalytische Filmtheorie bisweilen in die argumentative Falle eines selbst initiierten circulum vitiosus geht: Denn wo sie zur Entschlüsselung der semantischen Tiefenebene eines Filmtextes in Analogsetzung der vermeintlichen Film-„Realität“ zur psychischen „Realität“ eines Traumes auf die Mittel der psychoanalytischen Traumdeutung zurückgreift, übersieht sie nicht selten, dass diese Traumanalogien selbst lediglich symptomatischer Natur sind. Ich möchte der Frage nachgehen, inwieweit sich diese symptomatischen Traumanalogien mit Augenmerk auf die zeichentheoretischen Implikationen der Psychoanalyse-Theorie als Resultat einer „verdrängten“ Reflexion über filmische Medialität und den „unheimlichen“ filmischen Blick dekuvrieren lassen. Ein Ziel meiner Forschungsarbeit besteht folglich darin, die metaphorische Qualität dieses „Symptom-Charakters“ von Lynchs PsychoanalyseAnspielungen mittels einer Dechiffrierungstechnik bloßzulegen und zu benennen, die ihre Wurzeln in der Linguistik und Semiotik hat. Die methodische Kopplung von linguistischen, semiotischen, psycho- und filmanalytischen Instrumentarien leitet mich dabei nicht nur 10 konkret in meinem analytischen Vorgehen, sondern stellt im besten Fall auch eine filmwissenschaftliche Innovation dar, aus der vielleicht neue Analysekategorien in der Auseinandersetzung mit Filmtexten entwickelt werden können. Im Zusammenhang mit der filmanalytischen Anwendung von Lacans Freud-Lektüre wird außerdem zu fragen sein, warum Lynch die Rückkoppelung der psychoanalytischen Motivik an ihren unüberwindbaren medialen Status nicht selten mit ihrer Parodie verbindet – eine Parodie, die sich meist in der unheimlichen Wiederkehr der immergleichen Signifikanten ausdrückt. Zu untersuchen wäre, inwieweit dieses parodistische Element nicht einfach nur psychoanalytische Kulturtheorie karikiert, sondern vielmehr das fehlende Scharnierstück zwischen automedial-selbstreflexiver und psychoanalytischer Deutungsebene darstellen könnte. Ähneln die psychoanalytischen Motive bei Lynch etwa dem, was Alfred Hitchcock einst „Mac Guffins“ nannte? Nach Slavoj Zizek ist der Mac Guffin zunächst einmal „ein reiner Vorwand, dessen Rolle darin besteht, die Geschichte in Gang zu bringen (…). Dieses Objekt ist reiner Schein: (…) seine Bedeutung ist rein selbstreflexiv, sie besteht in dem Umstand, dass das Objekt Bedeutung für andere besitzt, dass es für die Hauptfiguren der Geschichte von lebenswichtiger Bedeutung ist.“44 In Anlehnung an Lacans Seminar Encore45 schlägt Zizek folgende Deutung des Mac Guffins vor: „Der Mac Guffin ist das Lacansche objet petit a, die Objekt-Ursache des Begehrens, (…) d.h. der Mangel, die Leere des Realen, die die symbolische Bewegung der Interpretation in Gang setzt, der reine Schein eines zu erklärenden (…) Geheimnisses“46. Bei Lynch wird dieser Schein eines zu interpretierenden Geheimnisses durch die psychoanalytische Motivik evoziert; sie setzt die „symbolische Bewegung der Interpretation“ in Gang und ist damit die Objekt-Ursache des Begehrens. Das heißt: Das Begehren des Zuschauers wie der Figuren der diegetischen Welt fällt mit dem offensichtlichen Mangel an Bedeutung zusammen, oder besser: speist sich aus dem unbedingten Verlangen, diesen Mangel zu überwinden. Ironischerweise, aber folgerichtig arbeitet Lynch auf den verschiedenen Textebenen mit der Wiederkehr der immergleichen Signifikanten – für Freud eines der zentralen Motive des Unheimlichen. Denn sie realisiert jene unheimliche Begehrensstruktur, die Lacan mit Verweis 44 45 46 Zizek: Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, S. 18. Lacan, Jacques: Das Seminar XX. Berlin/Weinheim 1991. Zizek: Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, S. 21. 11 auf die linguistischen Operationen der Metonymie und der Metapher illustriert. „Begehren ist ein metonymisches Gleiten, das durch einen Mangel vorangetrieben wird“47 – durch den Mangel der finalen Bedeutung eben. Ich möchte untersuchen, ob sich mithilfe von Zizeks Lacan-Interpretation auch die Lynch’sche Filmerzählung auf jene metonymische Struktur zurückführen lässt, der das niemals zu befriedigende Begehren der Bedeutungserzeugung eingeschrieben ist. Begehren ist „per definitionem ‚unbefriedigt’, jeder möglichen Interpretation zugänglich, da es letztendlich mit seiner eigenen Interpretation zusammenfällt, d.h. es ist nichts anderes als die Bewegung der Interpretation“.48 Inwiefern nun spielt der psychoanalytische Mac Guffin deswegen eine so zentrale Rolle in Lynchs Werk, weil er als reiner Signifikant gewissermaßen den Katalysator für dieses metonymische Gleiten der Bedeutung darstellt? „Die Mac Guffins bedeuten nur, dass sie etwas bedeuten; sie bedeuten die Bedeutung als solche, der tatsächliche Inhalt ist dabei völlig bedeutungslos.“49 Eben dieses theoretische Paradoxon gälte es am Beispiel der metonymischen Erzählstruktur ausgesuchter Filmtexte zu veranschaulichen. Dahinter steht die Vermutung: Gerade weil das Begehren des Rezipienten, den Mangel an Bedeutung zu überwinden – genau wie das der Figuren – nicht erfüllt werden kann, bleibt es auch lange nach Filmende noch bestehen und führt zu eben jenen verzweifelten „Bedeutungsfixierungsversuchen“, die mannigfaltig in Filmwissenschaft und Feuilleton zu beobachten sind: interpretatorische Versuche, den Bedeutungsmangel zu neutralisieren. Damit aber, so könnte eine hypothetische Folgerung lauten, führt Lynch das Lacan’sche Begehren nicht nur in der diegetischen Welt vor, sondern überführt es zugleich in den filmwissenschaftlichen Diskurs über sein Oeuvre. Und hierin läge dann auch eine Innovation meines Forschungsansatzes: Ich formuliere meine Kritik der psychoanalytischen Filmtheorie nicht exemplarisch an David Lynchs Filmen, sondern extrahiere sie aus seinem Werk; ich möchte zeigen, inwieweit sie seinem Oeuvre bereits eingeschrieben ist. Dieses induktive methodische Vorgehen führt mich schließlich zu einer übergeordneten Fragestellung, die den gesamtwissenschaftlichen Diskurs berührt und eine Neubestimmung von Lynchs Werk innerhalb dieses Diskurses nach sich ziehen muss: Inwiefern lassen sich Lynchs Filme als Prototypen eines postmodernistischen Filmgenres begreifen? Georg Seeßlen ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Vertreter derer, die von dieser Typisierung deduktiv 47 48 49 Ebd., S. 211. Ebd., S. 111. Ebd., S. 43. 12 ihre gesamte Werkinterpretation ableiten und dafür so etwas wie einen Baukasten postmodernistischer Erkennungsmerkmale vorschlagen: Postmoderne Filme bildeten „keine linearen Prozesse der Veränderung mehr ab, sondern bewegen sich stets in mehrere Richtungen gleichzeitig“.50 Dekonstruktivistische Verfahrensweisen, folgert Seeßlen, seien demnach ein wesentlicher Bestandteil des postmodernen Films: Der Inhalt verbirgt sich nicht mehr in der Form der Story, der Plot selbst wird einem Prozess der Dekonstruktion unterzogen. Damit bricht auch die traditionelle Unterscheidung zwischen der Oberfläche und dem Kern zusammen (psychoanalytisch gesprochen: zwischen dem manifesten und dem latenten Trauminhalt (…).51 Und die „Falle der postmodernen Doppelcodierung“ bestehe schließlich darin, dass eine Szene sowohl als Aussage wie auch als „Untersuchung der Sprache dieser Aussage“ verstanden werden kann.52 Diese Aneinanderreihung von Spezifika des postmodernen Films enthält ohne Zweifel viel Richtiges und Untersuchenswertes, bildet aber meines Erachtens exakt jene begrifflichen Unschärfen ab, denen die meisten Analysen von Lynchs Texten aufsitzen: Sie operieren entweder mit postmodernistischen, psychoanalytischen und dekonstruktivistischen Termini als gleichrangigen Untersuchungskategorien oder ordnen die beiden letzteren strukturalen Beschreibungskategorien einer zeit- und filmgeschichtlichen unter. „Eins der zentralen Themen in der Diskussion um die Filme von David Lynch ist die Frage nach dem traditionellen, dem konventionellen, dem modernen, dem avantgardistischen und dem postmodernen Film.“53 In der Tat, und ich füge hinzu: leider. Denn diese leidenschaftlich debattierte Frage ist falsch gestellt, wenn man nicht das eigentlich Innovative und wirklich Neuartige an Lynchs Filmen übersehen will. Wer, wie Seeßlen, dekonstruktivistische Textverfahrensweisen methodisch nur als Subkategorie oder Instrument der Postmoderne begreift und sie in eine Aufzählung reiht mit jenen anderen Erkennungsmerkmalen des postmodernen Films, der wird struktural keine nennenswerten Unterschiede zwischen David Lynchs Filmen und, sagen wir, Quentin Tarantinos entdecken; Seeßlens Definition folgend sind die Werkzyklen beider Regisseure ohne Frage zum postmodernen Film zu rechnen – worin aber die qualitative Differenz besteht, bleibt ungenannt und unerkannt. Tarantinos 50 51 52 53 Seeßlen, Georg: David Lynch und seine Filme, S. 126. Ebd., S. 126 f. Ebd., S. 128. Ebd., S. 125. 13 Filme etwa sind ähnlich wie die Lynchs non-linear erzählt und von zahlreichen intertextuellen und intratextuellen Querverweisen durchzogen – bevorzugte Stilmittel des postmodernen Films. Während aber Tarantino damit zuvorderst ein virtuoses Spiel mit Klischees, Genres und Versatzstücken der Filmgeschichte treibt, das in erster Linie den filmgeschichtlich versierten Zuschauer ironisch mit seinen eigenen Erwartungshaltungen konfrontiert, „will Lynch (…) von Anbeginn auf etwas anderes hinaus als auf die ironische Darstellung der eigenen Erzählmittel, mit denen eine Distanzierung von der (‚naiven’) Aussage zu erreichen ist; er behandelt eine Art Doppelcodierung der Wahrnehmung selbst.“54 Wie Oliver Schmidt gelingt es aber auch Seeßlen nicht, diese These zu konkretisieren, ohne sämtliche Filme Lynchs – interessanterweise wiederum im Rückgriff auf psychoanalytische Interpretationsmuster – in einen übergeordneten Bedeutungsrahmen zu zwingen. Um genau das zu vermeiden, muss meiner Ansicht nach zunächst einmal terminologisch exakt zwischen postmodernistischer, psychoanalytischer und dekonstruktivistischer Beschreibungskategorie unterschieden werden. In einem zweiten Schritt lässt sich dann nachweisen, dass Lynch mit seinen Filmen einen fundamentalen Paradigmenwechsel vom postmodernen Filmgenre à la Tarantino zum filmischen Dekonstruktivismus vollzieht, der die Kommunikationsbedingungen des Mediums Film selbst untersucht – und zwar, indem er sie mittels einer Kritik der psychoanalytischen Filmtheorie zum expliziten Konfliktgegenstand der diegetischen Welt macht. Ist der Dekonstruktivismus in der linguistischen, theaterwissenschaftlichen und generell semiotischen Forschung längst nicht nur ein wissenschaftlich anerkanntes Analyseverfahren, sondern diskursiver Bestandteil der literarischen und theatralen Produktion selbst, die ihn reflektiert, ironisiert und diskutiert, so spielte er für den filmischen Autor lange Zeit keine Rolle – und damit auch nicht für die Filmwissenschaft. Lynch ist hier Vorreiter und Pionier. Ich möchte zeigen, wie sich anhand seines Oeuvres dieser Paradigmenwechsel verfolgen lässt. Denn während Lynchs frühe Werke wie Eraserhead oder Blue Velvet psychoanalytische Deutungsverfahren zunächst zu illustrieren, dann zu parodieren scheinen – und somit der geübte Zuschauer nach seiner Lynch-Initiation in die oft zitierten „strange worlds“ glaubt, einen bewährten Analyseschlüssel zur Hand zu haben – geht Lynch in der Spätphase seines Werks (mit Lost Highway, Mulholland Drive und Inland Empire) dazu über, den Kommunikationsprozess zwischen unsichtbarem filmischem Autor und Rezipienten-Blick zu 54 Ebd., S. 128. 14 reflektieren. Die Filmwissenschaft hat diesem Paradigmenwechsel größtenteils nicht ausreichend Beachtung geschenkt bzw. ihn gar nicht zur Kenntnis genommen. Lynchs Reflexion über den medialen Kommunikationsprozess expliziert, was die Filme Hitchcocks noch implizierten – und was seit jeher bevorzugter Untersuchungsgegenstand der psychoanalytischen Filmtheorie war. Ihre zentrale Prämisse besagt, dass sich der Zuschauer „noch vor der Identifikation (…) mit einer Person der diegetischen Realität (…) mit sich selbst als reiner Blick“ identifiziert.55 Hitchcocks Inszenierung zielte nun meist darauf ab, den Zuschauer seines voyeuristischen, dem Sehakt zugrunde liegenden Begehrens zu überführen: „Der Zuschauer wird zum Eingeständnis gezwungen, dass die Szene, deren Zeuge er ist, einzig und allein für seine Augen inszeniert wurde, dass sein Blick von Anbeginn an in der Szene mitenthalten war.“56 Lynch aber verlegt diese Reflexion über die mediale SenderEmpfänger-Beziehung in die diegetische Welt der Filmhandlung selbst, macht sie gar zum Motor der dramatischen Verwicklungen; und zwar erstens, indem nicht nur die Rezipienten, sondern auch die Figuren der Diegesis mit jener Hitchcock’schen Inszenierungsstrategie konfrontiert werden – in Lost Highway, Mulholland Drive und Inland Empire etwa als Film im Film. Die Figuren erkennen ihr Sosein als fiktionale Konstrukte; sie erkennen, dass ihr ontologischer Status ausschließlich darauf gründet, dem Rezipienten-Blick auf sie zu genügen. Und eng damit zusammenhängend positioniert sich Lynch zweitens als Autor und Urheber dieses voyeuristischen Filmaktes selbst innerhalb der Diegesis. Die Figuren erkennen, dass der Autor eine Kamera auf sie richtet, sie erkennen ihre Fremdsteuerung und Fremdkontrolle durch den Filmemacher, der sich – und an dieser Stelle schlägt die Parodie der psychoanalytischen Filmtheorie in ihre konsequente, aber beispiellose Anwendung um – als „Großer Anderer“ geriert, ganz in Lacans Sinne.57 Aus diesem Grund habe ich oben gefragt, ob Lynchs Filme als argumentativ-aktive „Teilnehmer“ eines filmwissenschaftlichen Diskurses über Medialität verstanden werden können: Meiner Ansicht nach lässt sich darstellen, wie Lynch von seinen ersten Kurzfilmen über Eraserhead bis zu Inland Empire als Autor in seinen Filmen immer sichtbarer und analytisch fassbarer wird – d.h. ganz konkret: innerhalb der Diegesis als „Figur“, die nicht nur eine Metaebene einzieht und repräsentiert, sondern von dieser Metaebene aus die psychoanalytische Motivik des Unheimlichen arrangiert und in Beziehung zur medientheoretischen Analyseebene setzt. Das Außergewöhnliche, Spannende, aber eben auch 55 56 57 Zizek: Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, S. 204 f. Ebd., S. 205. Vgl. Lacan, Jacques: Seminar III. Die Psychosen. Berlin/ Weinheim 1997, S. 322 f. 15 Verstörende daran ist: Die erzählerische Instanz tritt als der „große Andere“ sowohl zum Rezipienten als auch zu den Figuren der diegetischen Welt in ein antagonistisches Verhältnis. Wenn etwa die Protagonistin Nikki Grace in Inland Empire erkennen muss, dass sie ihre „heimische“ Identität verloren hat, speist sich aus diesem Verlust an Bedeutung ihr unheimliches und verzweifeltes Verlangen, die ursprüngliche Identität, also jene illusionäre Übereinstimmung von Signifikant und Signifikat, wiederzuerlangen. Das ist der Motor der dramatischen Handlung. Zudem sucht sie nicht weniger verzweifelt nach Demjenigen, der dieses Lacan’sche Gleiten der Bedeutung veranlasst und kontrolliert. Verschiedentlich identifiziert sie diese antagonistische Kraft mit der Kamera, die vom „großen Anderen“ gesteuert wird – von Lynch selbst. Um das Gleiten der Bedeutung ein für allemal zu stoppen, gälte es, ihn zur Strecke zu bringen. Aber kann dieses Unterfangen, auch und gerade in einem analytischen Sinne, überhaupt gelingen? Diese Frage wirft ein interessantes Schlaglicht auf die von Lynch evozierte Kreuzung zwischen Medien- und Psychoanalyse, die ich untersuchen will: Denn übernimmt der Filmemacher als „großer Anderer“ nicht dieselbe Funktion, die Lacan dem Psychoanalytiker zuschreibt? Wie der Lynch-Diskurs in Feuilleton und Filmwissenschaft zeigt, provoziert Lynch diesen Schluss vor allem dadurch, dass er seine exponierte Stellung als einer der letzten großen „Film-Autoren“, der die künstlerische Kontrolle über alle Produktionsstadien hinweg in der Hand behält, erstens zum zentralen Marketingbestandteil für die Bewerbung seiner Filme macht und zweitens (wie in Mulholland Drive oder Inland Empire) sogar innerfiktional thematisiert. Der Psychoanalytiker nämlich, so Zizek in seiner LacanInterpretation, funktioniert „als Subjekt, dem Wissen unterstellt wird (…): Sobald der Patient sich auf die Behandlung eingelassen hat, hat er die (…) absolute Gewissheit, dass der Analytiker um seine Geheimnisse weiß (was lediglich bedeutet, (…) dass es eine geheime Bedeutung gibt, die aus seinen Handlungen geschlossen werden kann). Der Analytiker (…) verkörpert (…) die absolute Gewissheit des unbewussten Begehrens des Patienten (…).“58 In Übersetzung ließe sich formulieren: Beim Schauen eines Lynch-Films fungiert Lynch als Subjekt, dem das Wissen um die eigentliche Bedeutung hinter den rätselhaften Bildwelten unterstellt wird. Sobald sich der Zuschauer auf den Film eingelassen hat, hat er die absolute 58 Zizek: Lacan, S. 42. 16 Gewissheit, dass Lynch um die Geheimnisse der vorgeführten Bedeutungsverschiebungen weiß (was lediglich bedeutet, dass es eine geheime Bedeutung gibt, die aus der unheimlichen Filmhandlung geschlossen werden kann). Als Creator Mundi verkörpert der filmische Autor die absolute Gewissheit des Zuschauerbegehrens nach letztinstanzlicher Bedeutung. Vermeintliches Wissen um Bedeutung konstituiert sich nach Lacan immer über die symbolische Ordnung, deren Hüter und Gesetzgeber der große Andere ist.59 Die aber ist in den Filmen von David Lynch nachhaltig gestört, zumindest darüber sind sich die meisten Interpreten einig. Uneinigkeit besteht jedoch über die Konsequenz aus dieser Störung des filmischen Raumes.60 Verweist sie auf eine heimliche Bedeutung, die sich über die Existenz des Großen Anderen erschließen lässt? Oder liegt die eigentliche Bedeutung in dieser Störung selbst, in der sich eine Kritik an psychoanalytischen Bedeutungserzeugungsprozessen manifestiert? Denn das Rezipientenvertrauen in die Bedeutungshoheit des Großen Anderen mag ideologisch nachvollziehbar sein, aber ist es auch gerechtfertigt? Zizek bezeichnet den großen Anderen „trotz seiner fundamentalen Macht“ als „substanzlos, regelrecht virtuell in dem Sinn, dass sein Status der einer subjektiven Unterstellung“ ist.61 Das legt die paradox anmutende These nahe, dass der Autor bei Lynch diegetisch maximal präsent zu sein scheint – und doch macht gerade seine vermeintliche Anwesenheit umso deutlicher, inwiefern er bloße subjektive Unterstellung und also tot ist. 62 Und ist nicht auch nach Lacan das Unbewusste, jener Ort der vermeintlichen Bedeutungserzeugung, kein personales, sondern ein strukturales Phänomen? Dabei postuliert Lacan das „Supremat des Signifikanten“ 63 . Inwieweit setzt Lynch dieses Supremat mit Hilfe der psychoanalytischen Mac Guffins dramatisch und visuell um – und realisiert damit Lacans Diktum, wonach es keine auktorial gesetzte Zuordnung von Signifikant und Signifikat geben kann – und damit auch keine fixe Bedeutung? All diese Fragen zielen letztlich auf das Spannungsverhältnis zwischen automedial-selbstreflexiver und psychoanalytischer Deutungsebene ab, das ich untersuchen möchte: Nicht von Ungefähr verhandelt Lynch mit den Psychosen und Traumata seiner Figuren immer zugleich die medialen Bedingungen von Film und Theater. Beides spielt in seinem Werk eine große Rolle: Der Film im Film und die Bühne auf der Leinwand. Inwieweit also reflektiert Lynch zwar vordergründig Mechanismen der Traumarbeit, wie etwa die der 59 Vgl. ebd., S. 18 f. Vgl. zum Begriff des „filmischen Raumes“: Schmidt: Leben in gestörten Welten, S. 13 f. 61 Zizek: Lacan, S. 20. 62 Vgl. Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Jannidis, Fotis (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185 – 193. 63 Lacan: Schriften 1. Berlin 1991, S. 19. 60 17 Verdichtung und Verschiebung, bildet dabei aber in erster Linie mediale Strukturen ab, wie sie Lacan nach Roman Jakobson64 formuliert hat, wenn er die Verdichtung nach dem Prinzip der Metapher, die Verschiebung nach dem der Metonymie beschreibt?65 Entzieht sich Lynch damit gänzlich psychoanalytisch-intentionalen Analyse- und Interpretationsmustern, wie sie Zizek, Seeßlen und Jerslev auf unterschiedliche Weise anzuwenden versuchen? Ist Lynch demnach ein Poststrukturalist, der die Gesetze des Strukturalismus in seinen Filmen dekonstruiert? Und schließlich: Wie ist diese Art von Lynch-Film, der sich selbst mit seiner implizierten Kritik der psychoanalytischen Filmtheorie als diskursiver Teilnehmer einer filmwissenschaftlichen Debatte geriert, filmhistorisch und methodisch einzuordnen? Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich vergleichsweise erstens auf Filme mit psychoanalytischer Motivik von Stanley Kubrick, Alfred Hitchcock oder Louis Bunuel Bezug nehmen, deren exkursorische Analysen gleichsam eine Kontrastfolie für meine Beschäftigung mit Lynch bilden. Zweitens wird eine filmgeschichtliche Kategorisierung durch die eingehende Auseinandersetzung mit solchen Spielfilmen 66 sinnfällig, auf die Lynch innerhalb seines Oeuvres mehrfach intertextuell verweist. Oliver Schmidt hat die Frage nach einer Kategorisierung von Lynch-Filmen mit Blick auf die Rezeption von Lynchs letztem Film Inland Empire aufgegriffen, der ähnlich wie sein erstes Werk Eraserhead oft als Avantgarde- und Experimentalfilm bezeichnet wird, „der nur noch rudimentär etwas mit Film im klassischen Sinn zu tun hat“.67 Dieser rudimentäre Charakter aber begründet ganz entscheidend die unheimliche Wirkung von Lynchs Filmen, die sich nicht zuletzt deswegen einstellt, weil das Filmbild „im Niemandsland zwischen Populär- und Kunstfilm angesiedelt“ 68 ist – und somit zugleich fremd und vertraut erscheint. „Seine [Lynchs, Anm. d. Verf.] Arbeiten balancieren haarscharf an der Grenze zwischen der strengen Gestaltung des Genrefilms und der Formauflösung der Avantgarde.“ 69 Demnach sei zu überprüfen, so Schmidt, ob „Inland Empire sich als reines Assoziationsmaterial den Konventionen des Erzählkinos verweigert“70 und eher als Essayfilm oder gar Videokunst zu begreifen sei71. Dagegen spräche jedoch „der Rezeptionskontext als wesentliche Größe bei der Wahrnehmung und Bewertung eines Werkes“: Spielfilme definieren sich 64 Vgl. dazu: Jakobson, Roman: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, München 1974. Vgl. Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud, S. 50 ff. 66 darunter unter anderen The Wizard of Oz (USA, 1939; Regie: Victor Fleming), Sunset Boulevard (USA, 1950; Regie: Billy Wilder) oder The Lady from Shanghai (USA, 1947; Regie: Orson Welles) 67 Schmidt: Leben in gestörten Welten, S. 136. 68 Jerslev: David Lynch. Mentale Landschaften, S. 13. 69 Ebd., S. 13. 70 Schmidt: Leben in gestörten Welten, S. 138. 71 Ebd., S. 139. 65 18 nicht nur über ihre ästhetische Form, sondern auch über ihren Distributionsweg, ihre Repräsentation in den Medien und schließlich über ihren Rezeptionskontext im Kino (…). Inland Empire repräsentiert sich in dieser Hinsicht als klassischer Arthouse-Film, der in den Medien als solcher angekündigt, beworben und rezensiert wurde.72 Lynchs Beeinflussungsstrategie der Rezeptionshaltung operiert also auch hier mit Mechanismen der Freud’schen Unheimlichkeits-Theorie: Der Zuschauer wird im vertrauten Rezeptionskontext zunächst mit Versatzstücken vertrauter Erzählmuster konfrontiert – die dann umso jäher von fremden Seh-Erfahrungen durchbrochen werden. Dieser Aspekt der nachhaltigen Erschütterung von Sehgewohnheiten im vertrauten Rezeptionskontext des Kinoerlebnisses (den Lynch in Inland Empire sogar explizit reflektiert), wird in der Diskussion um die Klassifizierung von Lynch-Filmen zu sehr vernachlässigt: Er legt die Vermutung nahe, dass sie neben und – psychoanalytisch gesprochen – hinter ihrer oberflächlichen Wahrnehmung als Spielfilme eine „eigentlichere“ Funktion erfüllen, die ich oben in einer ersten Arbeitshypothese mit der von „argumentativen Teilnehmern“ an einem filmwissenschaftlichen Diskurs über die psychoanalytische Filmtheorie verglichen habe. Denn ohne Frage nimmt das Unheimliche als Zeichen- und Medientheorie auf allen Ebenen der Lynch’schen Film- „Erzählung“ eine zentrale Rolle ein; umgekehrt könnte es als richtig verstandenes Analyseinstrumentarium, das psychoanalytische wie medientheoretische Deutungsansätze in Relation zueinander setzt, spannende Erkenntnisse über das filmische Werk eines Ausnahmeregisseurs liefern, das den filmwissenschaftlichen Diskurs nicht nur stark beeinflusst, sondern auch aufgreift und kommentiert. Diese Erkenntnisse könnten wiederum eben diesen Diskurs befruchten, der Lynchs Filme einerseits unter medienanalytischen Gesichtspunkten, andererseits mit psychoanalytischen Deutungsstrategien begreift und dabei nicht nur allzu oft den Zusammenhang zwischen beiden Analyseebenen übersieht, sondern auch, wie aus diesem Zusammenhang eine fundierte Kritik der psychoanalytischen Filmtheorie von Christian Metz bis Slavoj Zizek entwickelt werden kann. 72 Ebd., S. 140. 19 Literatur- und Quellenverzeichnis 3. 1 Primärtexte: Filme von David Lynch (Auswahl) Six Figures. USA, 1967. Länge: 1 min. Regie, Animation und Produktion: David Lynch. Produktionsgesellschaft: Pennsylvania Academy of Fine Arts. The Alphabet. USA, 1968. Länge: 4 min. Regie, Buch, Kamera, Schnitt, Animation: David Lynch. Produktion: H. Barton Wasserman. Besetzung: Peggy Lynch (Mädchen). The Grandmother. USA, 1970. Länge: 34 min. Regie, Buch, Kamera, Animation: David Lynch. Produktion: David Lynch und American Film Institute. Besetzung: Richard White (Junge), Dorothy McGinnis (Großmutter), Virginia Maitland (Mutter), Robert Chadwick (Vater). Eraserhead. USA, 1977. Länge: 89 min. Regie, Buch, Schnitt: David Lynch. Kamera: Frederick Elmes, Herbert Cardwell. Produktion: David Lynch und American Film Institute. Besetzung: Jack Nance (Henry Spencer), Charlotte Stewart (Mary X), Allen Joseph (Mr. X), Jeanne Bates (Mrs. X) u.a. The Elephant Man. USA, 1980. Länge: 123 min. Regie: David Lynch. Buch: Christopher De Vore, Eric Bergren, David Lynch. Kamera: Freddie Francis. Schnitt: Annie V. Coaties. Musik: John Morris. Produktion: Jonathan Sanger, Brooksfilm. Besetzung: Anthony Hopkins (Frederick Treves), John Hurt (John Merrick), Anne Bancroft (Madge Kendal), Sir John Gielgud (Carr Gomm) u.a. Dune. USA, 1984. Länge: 137 min. Regie: David Lynch. Buch: David Lynch nach dem Roman von Frank Herbert. Kamera: Freddie Francis. Schnitt: Antony Gibbs. Musik: Toto. Produktion: Dino de Laurentiis Corp. Besetzung: Kyle MacLachlan (Paul Atreides), Francesca Annis (Lady Jessica), Jürgen Prochnow (Fürst Leto Atreides), José Ferrer (Imperator Shaddam IV.) u.a. 20 Blue Velvet. USA, 1986. Länge: 120 min. Regie und Buch: David Lynch. Kamera: Frederick Elmes. Schnitt: Duwayne Dunham. Musik: Angelo Badalamenti. Produktion: Fred Caruso, De Laurentiis Entertainment Group. Besetzung: Kyle MacLachlan (Jeffrey Beaumont), Isabella Rossellini (Dorothy Vallens), Dennis Hopper (Frank Booth), Laura Dern (Sandy Williams) u.a. Twin Peaks. USA, 1989 – 1991. Idee und Konzeption: David Lynch und Mark Frost. Regie: David Lynch (bei Folge 1/3/9/10/15/30). Buch: David Lynch, Mark Frost, Harley Peyton, Robert Engels, Jerry Stahl u.a. Musik: Angelo Badalamenti. Produktion: Lynch/ Frost Productions, Propaganda Films. Besetzung: Kyle MacLachlan (Special Agent Dale Cooper), Michael Ontkean (Sheriff Harry S. Truman), Joan Chen (Jocelyn Packard), Piper Laurie (Catherine Martell), Jack Nance (Pete Martell), Eric DaRe (Leo Johnson), Mädchen Amick (Shelley Johnson), Sheryl Lee (Laura Palmer), Dana Ashbrook (Bobby Briggs), Sherilyn Fenn (Audrey Horne), Grace Zabriskie (Sarah Palmer), Ray Wise (Leland Palmer) u.a. Wild At Heart. USA, 1990. Länge: 124 min. Regie: David Lynch. Buch: David Lynch nach dem Roman von Barry Gifford. Kamera: Frederick Elmes. Schnitt: Duwayne Dunham. Musik: Angelo Badalamenti. Produktion: Propaganda Films und PolyGram. Besetzung: Nicholas Cage (Sailor Ripley), Laura Dern (Lula Pace Fortune), Willem Dafoe (Bobby Peru), Isabella Rossellini (Perdita Durango), Harry Dean Stanton (Johnnie Ferragut), Diane Ladd (Mariette), Sheryl Lee (gute Fee) u.a. Twin Peaks: Fire Walk With Me. USA, 1992. Länge: 134 min. Regie: David Lynch. Buch: David Lynch, Robert Engels. Kamera: Ron Garcia. Schnitt: Mary Sweeney. Musik: Angelo Badalamenti. Produktion: Gregg Fienberg, David Lynch, Mark Frost für Twin Peaks Productions. Besetzung: Sheryl Lee (Laura Palmer), Kyle MacLachlan (Special Agent Dale Cooper), Moira Kelly (Donna Hayward), Dana Ashbrook (Bobby Briggs), Sherilyn Fenn (Audrey Horne) u.a. Lost Highway. USA, 1996. Länge: 134 min. Regie: David Lynch. Buch: Barry Gifford und David Lynch. Kamera: Peter Deming. Schnitt: Mary Sweeney. Musik: Angelo Badalamenti. Produktion: Asymetrical, CiBy 2000, Lost Highway Productions. Besetzung: Bill Pullman 21 (Fred Madison), Patricia Arquette (Renee Madison / Alice Wakefield), Balthazar Getty (Pete Dayton), Robert Blake (Mystery Man), Robert Loggia (Mr. Eddy / Dick Laurent) u.a. Mulholland Drive. USA, Frankreich 2001. Länge: 146 min. Regie und Buch: David Lynch. Kamera: Peter Deming. Schnitt: Mary Sweeney. Musik: Angelo Badalamenti. Produktion: Asymmetrical Productions, Le Studio Canal+, Les Films Alain Sarde. Besetzung: Justin Theroux (Adam Kesher), Naomi Watts (Betty Elms / Diane Selwyn), Laura Elena Harring (Rita / Camilla Rhodes), Ann Miller (Coco Lenoix) u.a. Inland Empire. USA, Polen, Frankreich 2006. Länge: 173 min. Regie, Buch, Schnitt, Kamera: David Lynch. Produktion: David Lynch, Mary Sweeney für Asymmetrical Productions, Le Studio Canal+. Besetzung: Laura Dern (Nikki Grace / Sue), Jeremy Irons (Stewart Kingsley), Justin Theroux (Devon Berk / Billy Side), Harry Dean Stanton (Freddie), Julia Ormond (Doris Side) u.a. 22 3.2 Sekundärtexte (Auswahl) Arnheim, Rudolf: Film als Kunst. München 1974. Balázs, Béla: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst. Wien 1972. Bálazs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt am Main 2001. Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Jannidis, Fotis (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185 – 193. Bazin, André: Was ist Film? Hg.: Robert Fischer. Berlin 2004. Brütsch, Matthias: Kunstmittel oder Verleugnung? 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