trennungsschmerz gedicht
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trennungsschmerz gedicht
Neue Z}rcer Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 30.04.1994 Nr.100 67 Eine poetische Extremistin Marina Zwetajewas Gedichtband «Gruss vom Meer» Von Ulrich M. Schmid «Gedichte sind unsere Kinder. Unsere Kinder sind älter als wir, weil sie länger, weiter leben. Sie sind von der Zukunft her älter als wir. Deshalb sind sie uns manchmal auch fremd.» Marina Zwetajewas (1892–1941) aufrichtig-zwiespältiges Bekenntnis zu ihrem eigenen Werk hat Signalcharakter: Wer sich auf diese anspruchsvolle Lyrik einlässt, riskiert zunächst Unverständnis. Wörter verbinden sich hier vor allem auf Grund ihrer Lautgestalt zu Klangkunstwerken, die das Gemeinte nicht zeichenhaft beschreiben, sondern gegenständlich beschwören. Marina Zwetajewa ist eine poetische Extremistin: Nichts darf ungesagt bleiben, alles muss in einem ganz wörtlichen Sinn zur Sprache kommen. Joseph Brodsky hat von der «calvinistischen Unerbittlichkeit» dieser Dichtung gesprochen. In der Tat: Wörter sind für Marina Zwetajewa mehr als Sinnträger, sie sind schon der Sinn selbst. Marina Zwetajewa selbst hat ihre Schreibmethode auf eindringliche Weise charakterisiert: «Ich schreie, springe, schlingere zum Sinn hin, der mich über eine ganze Reihe von Zeilen hinweg beherrscht.» Die Dichterin wird zur Vollstreckerin eines poetischen Willens, der nicht in der planenden Souveränität des Autors, sondern im Klang des Wortmaterials angelegt ist. Man ahnt es: Solche Lyrik ist nicht zum Lesen, sondern zum Hören da. Die Wichtigkeit des musikalischen Zusammenspiels von Wortklang und Satzrhythmus wird auch typographisch hervorgehoben: Marina Zwetajewa trennt einzelne Silben mit Gedankenstrich ab, merkt manchmal sogar in einer Fussnote an, wo eine Pause gemacht werden soll. Allerdings ist diese originelle Literaturkonzeption nicht überall auf Begeisterung gestossen. Gerade einer der prominentesten Leser der Autorin hat mit Kopfschütteln auf ihre Art des Schreibens reagiert. Der «Literaturpapst» Maxim Gorki liess aus seinem Exil in Sorrento verlauten: «Ihr Talent erscheint mir schreierisch, sogar hysterisch. Sie kennt die russische Sprache schlecht und geht unmenschlich mit ihr um, verzerrt sie auf jede erdenkliche Weise. Die Phonetik macht noch keine Musik aus, sie aber denkt: Das ist schon Musik.» Kann man solche Literatur überhaupt in einer Fremdsprache wiedergeben? Felix Philipp Ingold, bekannt als Übersetzer von Joseph Brodsky und Gennadi Ajgi, hat sich an die Aufgabe gewagt – ihm ist eine bemerkenswerte Umsetzung dieser Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG schwierigen Wortkunst ins Deutsche gelungen. Der Gedichtband «Gruss vom Meer» vereinigt neun Poeme, die hauptsächlich im tschechischen Exil 1922–1925 entstanden sind und unzweifelhaft einen Höhepunkt von Marina Zwetajewas Lyrik darstellen. Zwei Themen dominieren diese Schaffensphase: Liebe und Trennung. Beides spielte der Dichterin gerade zu dieser Zeit auf besonders schmerzhafte Weise mit. Ihren Ehemann Sergei Efron hatte sie bereits vier Jahre nicht mehr gesehen, die heftige, aber kurze Liebe zur Übersetzerin Sophia Parnok war ein Intermezzo geblieben, die Leidenschaft für den eleganten Künstler Konstantin Rodsewitsch dauerte nur wenige Monate. Marina Zwetajewas Gedichte bedeuten jedoch mehr als eine poetische Bewältigung der persönlichen Krise. In ihrem längsten Poem, dem «Rattenfänger» (nach Motiven der deutschen Sage), verschmilzt das Motiv des Verrats an menschlichen und letztlich künstlerischen Idealen mit einer Besinnung über die Verführungskraft der Poesie. Eine «lyrische Satire» nannte Marina Zwetajewa ihren Text: «Rote Ratten» enttäuschen den Flötenspieler ebenso wie die selbstzufriedene Bourgeoisie aus Hameln. Der Zorn der Dichterin macht sich in einem erregten Staccato Luft: «Augengauner! Augenschinder, Augengräber, Augenbrecher! Horizont, genauer: Augenweide – blauste Bläue, unaussprechlich!» Die beiden Poeme «Berggedicht» und «Endgedicht» verarbeiten das Liebeserlebnis und die Trennung von Konstantin Rodsewitsch. Im «Berggedicht» wird die lautliche Nähe der russischen Wörter für «Berg» (gorá) und «Leid» (góre) zum poetischen Leitmotiv. Die Dichterin fasst ihren Trennungsschmerz in einen erhabenen Hymnus, der Berg ist gleichzeitig Ort der Klage und des Rausches (die deutsche Übertragung ersetzt die russische Doppeldeutigkeit durch die Paronymien «Leid/Lied» und «singt/siegt»): «Eine Bewegung – und weg! Höher das Herz – zum Berg! Mich zwingt das Leid zum Lied, Denn wer singt, der siegt!» Marina Zwetajewa hat diesem Poem ein Hölderlin-Zitat als Motto vorausgeschickt: «Liebster, Dich wundert die Rede? Alle Scheidenden reden wie Trunkene und nehmen gerne sich festlich . . .» Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung LITERATUR UND KUNST Das Pathos des Abschieds durchzieht auch das «Endgedicht», allerdings mischt sich hier eine tief tragische Note in den enthusiastischen Ton. In einem Brief an Boris Pasternak hat die Autorin den inneren Zusammenhang der beiden Poeme hervorgehoben: «Berg- und Endgedicht sind – eins. Nur ist der Berg früher und das Männerbild in der ersten Glut plötzlich auf zu hoher Note, und das Endgedicht ist schon aufgebrochenes Frauenleid, ausgebrochene Tränenflut . . . Berggedicht – der Berg wird von einem anderen Berg erkannt. Endgedicht – der Berg lastet auf mir, ich bin unter ihm.» Die Verzweiflung – im «Berggedicht» noch rauschhaft überspielt – schlägt plötzlich in Aggression um: «Soll man sich nicht den Kopf wundklopfen? Klopfen, bis er birst?» In einer der grossartigsten Passagen des Gedichts erscheint die Trennung nicht nur unwirklich, sondern auch als leeres Wort, das als sinnlose Grösse aus der Sprache ausscheidet: «Was soll dieses Wort? So ein Unsinn: Uns trennen . . . – Von hundert – eins? Bloss ein Wort mit zwei Silben – Unding, Dahinter steht nichts, kein Reim. Aber halt! Vielleicht hält die Tschechei uns zum Narren Sei's auf serbisch, kroatisch – wie heisst's? Was heisst ‹Trennung›, ‹sich trennen›? . . . Wohl besser wir sparen Uns dieses Wort – die reine Unsäglichkeit! Reiner Missklang – er dröhnt in den Ohren, Durchfährt mich als stechender Schmerz . . . Denn ‹Trennung›, ‹sich trennen› – Worte, verloren: Unrussisch! Unweiblich! Unmännlich! Kein Scherz – Auch Gott weiss davon nichts! Sind wir Bloss Lämmer, die gähnen am Trog? Also ‹Trennung› – ein Fremdwort? Schlimmer! Ein Wort ohne Sinn, ein Wort Ohne Laut! Nur einfach ein Kreischen – Eine Säge, die den Schlaf zerteilt.» Radikaler noch durchlebt Marina Zwetajewa die Trennung von jemandem, den sie eigentlich noch gar nicht getroffen hatte: Am 29. Dezember 1926 stirbt in Raron Rainer Maria Rilke, mit dem die Russin kurz zuvor in einen stürmisch-leidenschaftlichen Briefwechsel getreten war. In ihrem ersten Brief an Rilke – in tadellosem Deutsch abgefasst – gerät der Name des Dichters unversehens zum Gedicht, in dessen Wohlklang sich die Dichterin sogleich verliebt: «Rainer Maria Rilke! Darf ich Sie so anrufen? Sie, die verkörperte Dichtung, müssen doch wissen, dass ihr Name allein – ein Gedicht ist. Rainer Maria, das klingt kirchlich – und kindlich – und ritterlich. Samstag, 30.04.1994 Nr.100 67 Umgangs» war, legt in ihren Briefen eine Intimität an den Tag, die für sie nur in der vertrauten Welt des Worts erreichbar ist. Eine Begegnung der beiden Dichter war zwar geplant, scheiterte aber an der Krankheit Rilkes und an der Sturheit der helvetischen Behörden (im erwähnten Brief heisst es bitter: «Die Schweiz lässt keine Russen hinein. Aber die Berge sollen sich rücken [oder spalten!]»). Marina Zwetajewas Neujahrsbrief an den toten Rilke überspielt die endgültige Abwesenheit des Briefpartners: «Rainer» aufersteht in Zwetajewas Bewusstsein nicht als Mensch, sondern als Text. Das Wort «Tod» ist zur leeren Sprachhülse vertrocknet, es lastet ein geheimnisvolles Tabu auf dieser Vokabel. Was nicht klingt, ist nicht. Aber auch der Umkehrschluss gilt: Immer wieder umkost die Dichterin die Lautgestalt des geliebten Namens, der sich so ins Leben zurückruft. Der Dichterin gelingt es, ihr phantastisches, bisweilen erotisch knisterndes Briefverhältnis zu Rilke auch über die Grenzen des Todes hinweg aufrechtzuerhalten. Ihr Schreiben zielt auf die Überwindung der Zeit: Der Abschied ist gleichzeitig auch Anfang einer neuen Beziehung zu einem idealen Leser, den sich die Autorin erträumt. Schon ihren ersten Brief an Rilke hatte Marina Zwetajewa – keck zum vertrauteren Du wechselnd – in den Rang eines literarischen Kunstwerks erhoben, das in die Ewigkeit hinaus geschrieben ist: «Antworten brauchst Du mir nicht, ich weiss, was Zeit ist, und weiss, was ein Gedicht ist. Ich weiss auch, was ein Brief ist. Also.» Schreiben wird hier zum existenzsichernden Akt – die Metaphysik des Lebens ist die Metaphysik des Briefs. Die Versprachlichung des Unfassbaren hat allerdings ihre Grenzen: Während der «Neujahrsbrief» noch erfolgreich den Kontakt zum toten Dichterfreund sichern konnte, gewinnt in der Folge Marina Zwetajewas Angst die Oberhand, dass die Dinge wahrer werden, wenn man sie beim Namen nennt. Nach der Rückkehr in die Sowjetunion im Jahr 1939 ist das Leben auch literarisch nicht mehr ausdeutbar: Marina Zwetajewas Mann und Tochter befinden sich in Lagerhaft, die Dichterin selber sieht keine Möglichkeit mehr, ihrer schriftstellerischen Tätigkeit nachzugehen. Am 31. August 1941, zwei Monate nach dem deutschen Einmarsch, erhängt sie sich. Marina Zwetajewa: Gruss vom Meer. Gedichte. Aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold. Hanser-Verlag, München 1994. 128 S., Fr. 28.50. Marina Zwetajewa, für die der Briefwechsel nach den Träumen die zweitliebste «Form des Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 2