DIE DRITTE WELT Von der Kolonisierung über die Dekolonisierung
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DIE DRITTE WELT Von der Kolonisierung über die Dekolonisierung
DIE DRITTE WELT oder Von der Kolonisierung über die Dekolonisierung zur Rekolonisierung von Andreas Exenberger Institut für Wirtschaftstheorie, -politik und -geschichte Universität Innsbruck Working Paper 00/09 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 INHALTSVERZEICHNIS 1. 2. 3. Einleitung ........................................................................................................................ 2 1.1. Weltsystemtheorie .................................................................................................. 2 1.2. Was ist die Dritte Welt? ......................................................................................... 3 Einfach zum Nachdenken: Wann war das 20. Jahrhundert?........................... 5 2.1. Wilsonianismus........................................................................................................ 6 2.2. Leninismus ............................................................................................................... 7 Wirtschaftshistorischer Abriß des Entwicklungsjahrhunderts ...................... 8 3.1. Phase 0: Vorlauf des Imperialismus .................................................................... 8 3.2. Phase 1: Imperialismus und Kolonialismus ....................................................... 9 3.3. Das Werden von Grenzen, Staaten und Ethnien in der Welt .......................11 3.4. Phase 2: Zwischenkriegszeit und Dekolonisierung........................................12 3.5. Die Entwicklungsidee geht um ...........................................................................15 3.6. Internationale Organisationen............................................................................17 3.7. Phase 3: Schulden, Abhängigkeit und Rekolonisierung................................19 4. Rück- und Ausblick....................................................................................................22 5. Literatur .........................................................................................................................25 1 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 1. Einleitung Man kann das 20. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht treffend beschreiben. Als Jahrhundert der Kriege (oder vielleicht besser der Kriegstoten), als Jahrhundert der Ökologie, als Jahrhundert der Frauen, als Jahrhundert der Massendemokratie oder des Massenkonsums und ebenso als Jahrhundert des Faschismus oder Kommunismus. Man kann vom Jahrhundert der Medizin oder der Technik sprechen, vom Jahrhundert der „Fortschritts“ oder vom Jahrhundert des Flugzeugs oder Autos. Man kann auch einzelne besonders symptomatische Ereignisse herausgreifen, wie die Abwürfe von Atombomben, den Holocaust, die Mondlandung oder die Russische Revolution (die von 1917). Man kann es an Orten festmachen wie Auschwitz, Berlin, Saigon, Jalta, Hiroshima, Tschernobyl oder Sarajevo (und das gleich zweimal) und man könnte das Jahrhundert auch anhand von Personen beschreiben. Viele Blickwinkel sind möglich und jeder von ihnen verdeckt weit mehr als er offen legt. Doch damit kann man sich nicht zufriedengeben, denn dann könnte man die Arbeit hier enden lassen. Ich werde also versuchen, einen dieser Blickwinkel offen zu legen, indem ich mich plakativ auf die sogenannte „Dritte Welt“ stürze und versuche, die Geschichte des Kolonialismus im 20. Jahrhundert zu erzählen. Als das Jahrhundert im Jahre 1900 begann, war Europa gerade dabei, die Welt ganz zu durchdringen (abgesehen vom bereits „befreiten“ Lateinamerika und dem bereits zu starken Japan1 ). 1950 lief die Dekolonisierung voll an. Und im Jahr 2000 sehen wir uns – so zumindest meine These – einer weltweiten Rekolonisierung gegenüber, auch wenn deren Charakteristika noch schwer auszumachen sind. Und nur wenn wir alle diese drei Prozesse erkennen, bekommen wir ein Bild, das dieses Jahrhundert in wenigstens diesem Aspekt einigermaßen umfassend und zutreffend beschreibt. 1.1. Weltsystemtheorie Ich möchte nicht verhehlen, daß ich mich selbst als Weltsystemtheoretiker begreife. Ich folge dabei grundsätzlich dem Ansatz Immanuel Wallersteins (erstmals 1974) und verwende bis zu einem gewissen Grad auch seine Begrifflichkeit. Bei diesem Ansatz handelt es sich um einen Zentrum-Peripherie-Ansatz, der die wirtschaftliche Ausbeutung und politische Abhängigkeit von „Peripherien“ durch und von „Zentren“ postuliert. Die bedeutendsten Unterschiede zwischen diesen Zonen (und dazwischen situierten, vermittelnden Semiperipherien) liegen in 1 Auch die übrigen außereuropäischen Länder mit permanenter staatlicher Tradition (Äthiopien, Persien, Siam, China) sahen sich zu dieser Zeit dem politischen und militärischen Druck der europäischen Mächte auf ihre Souveränität gegenüber. Daß sie ihre „Selbständigkeit“ einigermaßen erhalten konnte, ist bis zu einem gewissen Grad reiner Zufall. 2 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 der Art der Arbeits- und Produktionsorganisation, im Ausmaß der Kapitalakkumulation und in der Stärke der Staaten. Kurz gesagt: je zentraler ein Staat, desto weniger drückend die Ausbeutung der Arbeitskräfte, desto stärker der Staat und desto größer das Ausmaß der Akkumulation. Die wichtigste Analyseeinheit in der Weltsystemtheorie ist dabei das Weltsystem als soziales (und damit historisches) System. 2 „Entwicklung ist eine der zentralen Fragen im Weltsystem. Die Entwicklungsideologie beruht dabei auf dem Aufholen ‚unter‘-entwickelter Staaten bei gleichzeitigem globalem Wachstum. Sie ignoriert damit die (psychologische) Bedeutung des relativen Abstands. Die Weltsystemanalyse hingegen erkennt, daß der Gewinn einer Region immer der Verlust einer anderen ist, auch wenn dies nicht in der Form eines Nullsummenspiels stattfinden muß. Sie kontrastiert damit konventionelle Entwicklungstheorien, die postulieren, daß sich in der Vergangenheit erstens alle Staaten (oder wenigstens die meisten) absolut verbessert hätten und zweitens der Abstand zwischen den ‚starken‘ und den ‚schwachen‘ geringer geworden sei. Dem hält sie entgegen, daß der Anteil der ‚Profiteure‘ im System in 500 Jahren immer einigermaßen konstant war (mit höchstens 20% der Weltbevölkerung). Hingegen zeichnet sich das Weltsystem durch die Dominanz trans-nationaler ökonomischer Strukturen (zusammenhängende Handelsketten und Produktionsprozesse) über politische Gebilde aus.“3 Wallerstein selbst formuliert den zentralen Inhalt der Weltsystemanalyse wie folgt: es geht darum, „[...] die lokale Ebene aus der Perspektive des Weltsystems zu betrachten und zu zeigen, daß beide Bereiche nicht autonom vom jeweils anderen existieren können, sondern vielmehr ein Ensemble einander überlappender gesellschaftlicher Erscheinungen darstellen.“4 Es geht nicht darum, eine der beiden Alternativen zu wählen (Weltsystem oder lokale Ebene), sondern immer darum, beide zusammen und voneinander bedingt zu sehen. 1.2. Was ist die Dritte Welt? Die Dritte Welt ist zweifellos eines der Charakteristika des 20.Jahrhunderts, denn es gab sie nie vorher und an seinem Ende kommt man zunehmend zu der Ansicht, daß es sie inzwischen nicht mehr gibt. Die Frage wird vielmehr gestellt, ob es sie je gegeben hat, denn schon immer waren die Länder, die man gemeinhin zur Dritten Welt zählte, sehr heterogen. 2 Zur Weltsystemtheorie, zu deren weiteren prominenten Vertretern Samir Amin und Andre Gunder Frank gehören, vgl. W ALLERSTEIN 1986 (bisher 2 weitere Bände), vor allem S 99-194, W ALLERSTEIN 1995a, vor allem S 127-151 und S 271-323, HOUT, vor allem S 111-129, der auch die Beiträge von Frank, Amin und Galtung diskutiert, oder EXENBERGER 1999, vor allem S 14-32. 3 EXENBERGER 1999, S 17. 4 W ALLERSTEIN 1998, S VII. 3 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 Seit wann spricht man von der Dritten Welt? Der Begriff scheint erstmals um 1950 in Frankreich aufgekommen zu sein, programmatisch wurde er aber 1955 mit der BandungKonferenz, auf der die Staaten Afrikas und Asiens sich zur Blockfreiheit und zu einem „dritten Weg“ bekannten, einer Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus. Waren die kapitalistischen Staaten Europas und Amerikas (einschließlich Lateinamerika) plus Australien und Neuseeland die Erste Welt und der Kommunistische Block (Sowjetunion plus Osteuropa) die Zweite, so bekannte sich der dekolonisierte Rest der Welt zu einem dritten. Stärker wirtschaftlich konnotiert wurde der Begriff mit der ersten UNCTAD-Konferenz 1964 und er begann sich zunehmend ohne ideologische Grenzen weltweit auszudehnen. Im Zuge dieser Ausdehnung sprach Julius Nyerere (damals Präsident von Tanzania und einer der führenden Theoretiker des „Third Worldism ”) 1982 von der Dritten Welt als Versammlung der „Opfer und Ohnmächtigen der Weltwirtschaft“, 5 was wahrscheinlich nicht die schlechteste Beschreibung ist. Und es wurde sogar eine Vierte Welt (begrifflich) geschaffen, die die 30 bis 40 am wenigsten entwickelten Länder umfaßt (Least Less Developed Countries LLDCs im Gegensatz Less Developed Countries LDCs, erstmals 1971). Betrachtet man den ideologischen Ursprung des Begriffs „Dritte Welt“, wird bald klar, warum man vom Ende der Dritten Welt spricht: da es die Zweite nicht mehr gibt, wird auch der Begriff der Dritten Welt obsolet. Wesentlicher aber ist der Einwand, daß die Unterschiede zwischen den Ländern der sogenannten „Dritten Welt“ immer schon sehr groß waren. Vom Milliardenstaat Indien bis zu Inseln mit wenigen Tausend Einwohnern, vom reichen Erdölstaat bis zum bitterarmen Mozambique, vom kapitalistischen teilindustrialisierten Thailand bis zum kommunistischen zwangsagrarisierten Kambodscha, es finden sich, selbst wenn man die Transformationsstaaten und die Schwellenländer abzieht, heute rund 100 Staaten in der Dritten (und Vierten) Welt, die keine einzige allen gemeinsame Eigenschaft haben. Und die globalen ideologischen Alternativen zu Kapitalismus und Kommunismus „wurden im ‚verlorenen Jahrzehnt‘ der 80er Jahre von der Folge der Verschuldungskrise überrollt, die den westlichen [Industrieländern] und den von ihnen beherrschten ‚BrettonWoods-Zwillingen‘ (IWF und Weltbank) den Hebel zur Bändigung aufmüpfiger Protagonisten des Third Worldism (wie Mexiko, Jamaika, Algerien oder Tanzania) lieferte.“6 Weniger Beachtung findet in der Diskussion eine Begriffsverschiebung, die in den 50 Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat. Man sprach unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg (übrigens erstmals; vorher gab es eine solche Diskussion nur in der 5 6 Zitiert in N OHLEN/N USCHELER, S 18. NOHLEN/ NUSCHELER, S 19. 4 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 marxistischen Imperialismusdebatte) von den „weniger entwickelten Ländern“ (less developed countries). Im Laufe der Jahrzehnte änderte man die Bezeichnung in (sich) „entwickelnde Länder“ (developing countries). Hinter dem ersten Konzept steht die Schöpfung eines Defizits, ein Status wird festgestellt. Die betroffenen Länder sind eben (noch) unvollkommen. Hinter dem zweiten Konzept steht der Glaube, daß Entwicklung möglich wäre, ja mehr noch, es vermittelt den Eindruck, daß sie gerade dabei ist, überall in der Welt stattzufinden. Das ist dynamisch und optimistisch, ist es aber auch zutreffend? 2. Einfach zum Nachdenken: Wann war das 20. Jahrhundert? Historiker streiten sich gerne darum, wann ein Jahrhundert stattgefunden hat. Diese Frage kommt dem Nicht-Historiker kindisch vor, denn ganz logisch beginnt das 20. Jahrhundert mit dem Jahr 1900 und endet mit 1999 (obwohl es schon hier logisch richtig wäre, 1901-2000 zu schreiben). Dieser Streit um die Dauer ist dann wenig sinnbringend, wenn er – wie in den endlosen Diskussionen darum, ob mit dem 1.1.2000 nun ein neues Jahrtausend begonnen hat oder nicht – bloß zur Begriffsverwirrung führt. Er ist aber dann höchst sinnvoll, wenn er Strukturen aufzeigt, die man andernfalls vielleicht übersehen hätte. Um genau das zu tun, möchte ich hier im Anschluß an Wallerstein die These aufstellen, daß das 20. Jahrhundert 1917 begann und 1989 endete. Vor 1917 befanden wir uns im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter von Restauration und Imperialismus; heute befinden wir uns im 21. Jahrhundert, von dem wir noch nicht wissen, wie es zu nennen sein wird. Warum 1917 bis 1989? Nun, nicht (nur) wegen der Sowjetunion, sondern wegen der „großen ideologischen Antinomie des 20. Jahrhunderts“, die im Jahre 1917 ihren Anfang und wahrscheinlich 1989 ihr Ende nahm: Wilsonianismus versus Leninismus. 7 Vor allem ersteren wird man vielfach in der öffentlichen Diskussion kaum wahrnehmen, ja meist nicht einmal in der Fachdiskussion unter Wissenschaftlern. Aber es ist diese Antinomie, die nicht nur eine ideologische Differenz verkörpert, sondern auch einen wichtigen dreiteiligen Konsens, der in diesem Jahrhundert dominierte: national-staatliche Entwicklung. Ich werde daher diese Arbeit im Rahmen eines Dreigestirns aus „Nation“, „Staat“ und „Entwicklung“ anlegen (bzw. Kombinationen dieser Konzepte) Wir werden feststellen, daß es im globalen Kontext in diesem Jahrhundert die drei entscheidenden Begriffe sind, an denen sich die Abfolge Kolonisierung-Dekolonisierung-Rekolonisierung festmachen läßt. Es sind die drei Beiträge, die Europa in die Welt trug und durch die es die Welt nach seinem Ebenbild 7 Vgl. dazu W ALLERSTEIN 1995b, S 108-122. 5 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 schuf – und die Analogie zum unvollkommenen Adam ist alles andere als zufällig. Bevor das geschieht, betrachten wir uns den Wilsonianismus und den Leninismus und die Programme, die auf diesem Vorbau aufsetzten, etwas genauer. 2.1. Wilsonianismus Man denkt beim Jahr 1917 fast sicher zuerst an die Russische Revolution. Doch noch ein anderes Ereignis war von welthistorischer Bedeutung: die USA traten mit programmatischer Rückendeckung in den Ersten Weltkrieg ein. Präsident Woodrow Wilson forderte ihn mit Bezug auf den notwendigen „Schutz der Demokratie“ und nach dem erfolgreichen Abschluß des Krieges verkündete er 14 Punkte zur Neuordnung der Welt. Wilson übersetzte darin das liberale Konzept der individuellen Freiheit von Staatsbürgern auf Nationalstaaten und erklärte deren Selbstbestimmungsrecht. 8 Der aufklärerische Rechtsstaat wurde so (als Völkerbund mit seinen „souveränen“ Mitgliedsstaaten) auf die internationale Ebene übertragen. Und aufgrund der Unterstellung, daß alle Menschen (und damit auch Staaten) überall und immer rational handeln, sind Frieden und Reform zielführender als Krieg und Revolution. Die allfällige nationale Unabhängigkeit sollte das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses des Besatzers mit einer einheimischen intellektuellen Bourgeoisie sein, sie sollte „gegeben“ werden – und bliebe damit zeitlebens eine abgeleitete Gefälligkeit an unvermeidlich Rückständige. Man hat immer wieder die „Freiheit der Völker“ verkündet, die Geschichte zumindest dessen, was wir „Neuzeit“ nennen, ist voll davon. Doch niemals hat man diese Forderung global angemeldet und sie auch auf Kolonien bezogen. Daß sie 1917 noch nicht im Sinne der Dekolonisierung verstanden werden konnte, das erklärt sich einfach daraus, daß die USA im Vergleich zu den Kolonialmächten damals noch politisch zu schwach war. Bis 1945 hatte sich das ganz entscheidend verändert und es ging diesmal nicht nur den Kriegsverlierern, sondern auch und vor allem den Imperien an den Kragen. Ivor Jennings erkannte den Grundfehler dieses Konzepts treffend: „Oberflächlich betrachtet war es vernünftig: laß die Völker entscheiden. Aber tatsächlich war es lächerlich, weil die Völker erst entscheiden konnten, nachdem irgend jemand entschieden hatte, wer die Völker waren.“9 Nun, nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg bestimmte dieser „Jemand“ (die USA war immer irgendwie dabei), was eine Nation war und was nicht. 1918 8 W ALLERSTEIN 1995b, S 109. Ivor Jennings (1956) zitiert in: W ALLERSTEIN 1995b, S 110. [“On the surface it seemed reasonable: let the people decide. It was in fact ridiculous because the people cannot decide until somebody decides who are the people.”] 9 6 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 waren die Tschechen eine, die Kurden nicht; die Kenianer waren anscheinend bis 1963 eine Nation geworden, die Lakota nicht. Ich möchte nicht mit weiteren Beispielen langweilen, denn die Beliebigkeit der Zuschreibung, die immer gegen potentielle Konkurrenten um die globale Vorherrschaft gerichtet war, sollte bereits ausreichend klar geworden sein. 2.2. Leninismus Die ideologisch „andere“ Seite hatte dabei ein in vielen Punkten vergleichbares Rezept auf Lager. Bei Lenin spielte die Arbeiterklasse die Rolle der Nation, eine Arbeiterklasse, die über kurz oder lang (in der Theorie) zur Internationalen zusammenwachsen würde. Die größte Ähnlichkeit liegt in der Frage nach der nationalen Selbständigkeit, die beide propagierten, und in der Frage, wem sie zukommen sollte. Beide Vielvölkerstaaten – die UdSSR wie die USA – propagierten nicht etwa die Befreiung der Nationen innerhalb ihrer Grenzen (die waren ja einfach dadurch, daß sie innerhalb der Grenzen lagen, schon per definitionem befreit!), sie propagierten vielmehr die „Freisetzung“ der Peripherien anderer Imperien zum Zwecke der indirekten Aneignung durch die beiden Spätberufenen. Der Weg zur Unabhängigkeit führte bei Lenin zwar über die Revolution (ob Masse oder Avantgarde, jedenfalls geführt von einer bolschewistischen Elite), sie mußte „genommen“ werden und war daher kein Geschenk, sondern eine Leistung. Der nächste Schritt nach der Unabhängigkeit war der Staatssozialismus, und in diesem staatlichen Ansatz zeigt sich klar ein Konsens Lenins und seiner Nachfolger mit den Ideen Wilsons und seiner Adepten. Was dabei herauskam, sowohl beim „sozialistischen“ wie auch beim „liberalen“ Projekt, das ähnelte sich daher auch überall in der Welt sehr. Es standen für dekolonisierte Länder letztlich zwei Wege ideologisch zur Auswahl (zumindest, wenn man Unterstützung und finanzielle Hilfe bekommen wollte), die beide in Staatswirtschaften und (autoritäre) Einparteiensysteme mündeten und die finanzielle und wirtschaftliche Abhängigkeit nicht beendeten, sondern höchstens verlagerten und nicht selten sogar vertieften. 10 Für die meisten neuen Staaten war es jedenfalls notwendig, sich für einen der beiden Wege zu entscheiden, und beide Wege (ebenso wie die später aufkommenden dritten) hatten als Leitstern eine nationale, vom Staat getragene Entwicklung anzubieten. „Kurz gesagt, die Wilsonianistisch-Leninistische Ideologie der Selbstbestimmung der Nationen, ihrer abstrakten Gleichheit und das Entwicklungsparadigma, das sich in beiden Varianten der Ideologie zeigte, wurde als Arbeitsprogramm der politischen Bewegungen der 10 Wie sich am Beispiel Kuba schön zeigen läßt; vgl. EXENBERGER 1999, S 38-83. 7 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 peripheren und semiperipheren Zonen des Weltsystems als überwältigend und buchstäblich unfehlbar angenommen.“11 Das Aufholen von Rückständen, von Entwicklungsdefiziten, es wurde universelles Programm. Selbst die Sowjetunion selbst oblag dieser Illusion. 3. Wirtschaftshistorischer Abriß des Entwicklungsjahrhunderts Nun möchte ich chronologisch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts besprechen, um an ihnen die drei für mich wesentlichsten Elemente aufzuzeigen: einmal die Duplette aus Staat und Nationen einschließlich der „Erfindung“ der Grenze in der Peripherie; zum zweiten die Entwicklungsidee selbst, die erst etwas später als drittes Element des Dreigestirns der Moderne hinzugekommen ist; und zum dritten sollten einige Bemerkungen zu einem weiteren Aspekt nicht fehlen, der durch die beiden anderen Vorgänge ganz entscheidend gefördert wurde, nämlich das Aufkommen von inter-nationalen, zwischen-staatlichen Organisationen. 3.1. Phase 0: Vorlauf des Imperialismus Bevor wir uns dem 20. Jahrhundert zuwenden, sollte der Vorlauf zum Imperialismus in einigen wenigen Schlaglichtern erhellt werden. 1415 eroberte Portugal Ceuta und besiedelte kurz danach Madeira. Die erste moderne Kolonialmacht war ins Licht der Geschichte getreten, sie sollte später einige Städte in Indien, dauerhafter aber Brasilien und Teile des südlichen Afrika besetzen. 1492 erreichte der Genueser Kolumbus einen bis dahin nicht bekannten Kontinent, der innerhalb von 50 Jahren zu etwa einem Drittel spanisch besetzt wurde. Mindestens 90% der davon betroffenen einheimischen Bevölkerung überlebte diesen Prozeß nicht. Briten, Franzosen, Niederländer (auch Dänen und Schweden) fuhren daraufhin ebenfalls über die Ozeane und begannen im 17. Jahrhundert, Siedlungen aufzubauen. In Amerika entstanden 1604 Kanada (französisch), 1607 Virginia (britisch) und 1612 NeuAmsterdam (niederländisch), später folgten Stützpunkte in der Karibik. In Asien errichteten die Niederländer um 1600 erste Stützpunkte, die Briten kamen kurz später nach Indien, wo auch die Franzosen 1674 auftauchten. Auch in Afrika setzten sich diese Mächte an einigen Küstenabschnitten fest, am Senegal, an der „Goldküste“ und in der Kapkolonie. Auch einige deutsche Fürsten beteiligten sich an diesem globalen Projekt in kleinen Nebenrollen. 11 W ALLERSTEIN 1995b, S 114-115. [”In short, the Wilsonian-Leninist ideology of the selfdetermination of nations, their abstract equality, and the developmentalist paradigm incarnated in both variants of the ideology, was overwhelmingly and virtually unfailingly accepted as the operational program of the political movements of the peripheral and semi-peripheral zones of the world-system.”] 8 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 Im Zuge des Weltkriegs 1756-63 verdrängten die Engländer Frankreich aus Amerika und Indien, doch schon kurz später erhielten die europäischen Mächte einen Rückschlag: im Zuge der „ersten“ Dekolonisierung lösten sich die ibero-amerikanischen Siedlereliten von ihren Mutterländern, den bereits heftig schwächelnden Kolonisten der ersten Stunde (181025), und schon vorher errangen die USA in ähnlicher Weise ihre Unabhängigkeit von England (1776). Nach diesem Verlust intensivierten sich aber gerade Englands Bemühungen, Indien zu unterwerfen, was innerhalb eines langen Jahrhunderts (1753-1886) auch vollständig gelang. Spanien und Portugal waren für eine solche Interessenverlagerung schon zu schwach. Betrachten wir uns nun die Lage Mitte des 19. Jahrhunderts, dann erkennen wir, daß der zweite Schwung des Kolonialismus (nach dem ersten um 1500) erst noch bevorstand. Neben den englischen Siedlerkolonien (Kanada, Südafrika, Australien, Neuseeland) war nur die Karibik vollkolonisiert, Indien und Indonesien standen kurz davor, einige chinesische Häfen waren zwangsweise dem europäischen Zugriff geöffnet und in Afrika waren (bei weitem nicht durchgehend) lediglich einige Küstenstriche bereits unter europäischer Kontrolle. 3.2. Phase 1: Imperialismus und Kolonialismus Noch harrten also große Teile des Globus der Kolonisierung. Auch Rußland war gerade dabei, „seinen“ Osten zu erschließen (der bereits seit etwa 1650 formell russisch war) und die USA erschlossen „ihren“ Westen. Was an Raum sonst noch zu kolonisieren war, befand sich vor allem in Afrika, in Südostasien, im Pazifik oder im Einflußgebiet erodierender Großreiche (Türkei, China). Und diese Gebiete wurden nun aufgeteilt, und zwar zwischen nur acht europäischen Staaten: Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Spanien, Portugal, Italien, Belgien und den Niederlanden. Von Bedeutung waren vor allem die ersten drei, weil sich zwischen ihnen (plus Rußland) auch der Kampf um die Hegemonie im Weltsystem immer mehr zuspitzte, in dem Kolonien ein wichtiges „Schlachtfeld“ waren. Noch freilich reden wir vom 19. Jahrhundert, in dem die Berliner Afrikakonferenz den Auslöser abgab, im Zuge dessen Europa im Laufe von nur 20 Jahren den gesamten Kontinent verschlang. Daß dabei die einheimische Bevölkerung und ihre politischen Gebilde (FutaDjalon, Kong, Sokoto, Kanem-Bornu, Kongo, usw. usw. usw.) nur strategische Reserven abgaben, ist typisch für den Kolonialismus. 12 1902-12 besetzte der Nachzügler Italien Gebiete in Ost- und Nordafrika. 13 Nachdem 1920 die Territorien des Kriegsverlierers Deutschland als 12 1899 teilten Großbritannien und Frankreich in einem bilateralen Vertrag großzügig die gesamte Sahara unter sich auf. Nur wenig davon war vorher auch nur von Europäern betreten worden. 13 Libyen und Somalia, die bisher unbesetzt waren, weil sie fast ausschließlich aus Sand bestehen. 9 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 Mandatsgebiete verteilt worden waren, zeigte die Landkarte des Kontinents die heute noch vertraten Züge und Grenzen, wenn auch noch in anderen, europäischen Farben. Zur selben Zeit drangen die Europäer in den Pazifik vor, Frankreich unterwarf Indochina und England Burma, auch Japan und China sahen sich Kolonisierungsdruck ausgesetzt, der im Falle Chinas sogar zur Umkehrung des uralten Ost-West-Gefälles führte. 1905 zerfiel Persien in drei Interessensphären, eine russische, eine britische und eine persische. Nach 1918 schließlich wurde auch das ehemalige türkische Reich unter Großbritannien und Frankreich aufgeteilt (in der Form von Mandatsgebieten). Nimmt man all das zusammen, markiert das Jahr 1920 den absoluten Höhepunkt des Kolonialismus. Außerhalb Europas und Amerikas gab es nur acht einigermaßen selbständige Staaten (Liberia, Äthiopien, Jemen, Afghanistan, Nepal, Siam, China und Japan14 ), diese Selbständigkeit war aber letztlich nur für den damals bereits mächtigsten unter ihnen unangefochten: Japan. Japan hatte 1895 China und 1905 Rußland geschlagen und wurde damit – anstelle kolonisiert zu werden – selbst zur Kolonialmacht (Formosa, Korea), was durch ein Mandat über die ehemals deutschen Karolinen im Pazifik 1920 auch von Europa und den USA bestätigt wurde. Auch die USA erarbeiteten sich im 19. Jahrhundert diese Position: sie besiegten 1898 das altersschwache Spanien und erhielten dafür die Philippinen, Guam und Puerto Rico sowie Kontrolle über Kuba; schon zuvor hatten sie ihre Ambitionen durch den Kauf Alaskas (von Rußland) und die Annexion von Hawaii angedeutet. Die Hoheitsbereiche der Kolonialmächte um 1920 Gesamtfläche der Erde 146 Mio. km2 ; Gesamtbevölkerung der Erde ca. 1800 Mio. KOLONIALMACHT Großbritannien * Frankreich Belgien Portugal Niederlande Italien USA Spanien Japan Mutterland Größe (in km2 ) 315'000 551'000 30'000 92'000 34'000 313'000 9'369'000 505'000 386'000 Mutterland Einwohner 47,7 Mio. 39,2 Mio. 7,5 Mio. 6,0 Mio. 6,9 Mio. 38,9 Mio. 105,8 Mio. 21,3 Mio. 56,0 Mio. Kolonien Größe (in km2 ) 31'770'000 12'436'000 2'411'000 2'080'000 2'057'000 2'006'000 315'000 302'000 298'500 Kolonien Einwohner 395,7 Mio. 61,9 Mio. 9,9 Mio. 7,7 Mio. 49,4 Mio. 2,0 Mio. 10,5 Mio. 0,8 Mio. 21,7 Mio. * Großbritannien einschließlich der quasi souveränen Dominions Irland, Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika (insgesamt 19 Mio. km2 und 18,5 Mio. Einwohner), deren offizielle Selbständigkeit erst das Westminster-Statut 1931 verbriefte (nur Irland schon 1921). 14 Der Status der Mongolei und von Tibet sind 1920 zu strittig, um sie in diese Liste aufzunehmen. 10 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 3.3. Das Werden von Grenzen, Staaten und Ethnien in der Welt Als eine der wesentlichsten Folgen dieses Prozesses wurde die Welt mit europäischen Methoden der Verwaltung und Wirtschaftsorganisation konfrontiert, mit europäischen Sitten und Gebräuchen und mit europäischen Menschen und Denkmustern. Diese Konfrontation fand in Form einer Einbahnstraße statt, was bedeutet, daß die Europäer ihre von ihnen für überlegen gehaltenen Denkmuster, Sitten und Methoden der Welt aufzwangen. Die Ansicht von einer Überlegenheit war dabei nicht nur rassistisch begründet, sondern sie speiste sich vor allem aus der offensichtlichen militärischen Dominanz Europas über den Rest der Welt. Was nun als erster und offensichtlicher Punkt erkennbar wird, wenn man nur einen Blick auf die Landkarten wirft, sind die Grenzen. 15 Die Welt um 1800 kannte noch kaum Grenzen, vor allem waren diese Grenzen flexibel und hatten außerhalb Europas wenig Bedeutung. Die Welt des Jahres 1900 war bereits durchzogen von Grenzen, die teilweise quer durch die Siedlungsgebiete derselben Sprachgruppe 16 verliefen, weil sie nach strategischen Erwägungen der Europäer und meist am Verhandlungstisch in Europa gezogen wurden. Weniger offensichtlich aber nicht minder gewaltsam vollzog sich die Durchsetzung des Konzepts „Staat“. Den Kolonisierten wurden viele Facetten dieses Staates vor Augen geführt, insbesondere die Notwendigkeit der Staatsbürgerschaft, der Zuordnung zu einem bestimmten Verwaltungsgebiet (damit verbunden die Seßhaftigkeit), die Staatsgewalt, die Einhebung von Abgaben und Steuern (zumindest deren Intensität verstärkte sich), die Personifizierung des Staates in der Form eines „weißen“ Kolonialbeamten (der gar nicht selten ein Einheimischer oder Mischling war). Das Projekt, von dem hier gesprochen wird, war die Durchsetzung der Zivilisation und der Moderne in den Kolonien und zwar in einer Weise, die typisch ist für das Weltsystem: man gliedert Gebiete ein, um sie auszuschließen, man kolonisiert, um Gebiete in einer untergeordneten Position und damit ausgeschlossen von der Macht im oder gegen das System einzugliedern. Kurz: man erschuf den Rückständigen, den Menschen zweiter Klasse. 17 Die Verwaltungszuordnung begründete nicht selten erst eine ethnische Zugehörigkeit, die es vorher nicht einmal dem Wesen nach gegeben hatte. Tradionellerweise war man wie auch im vorkapitalistischen Europa in einen Familienverband integriert. „Ethnien“ waren 15 Im übrigen waren auch die Landkarten für viele Kulturen absolut neu und vor allem die Art, wie mit dem Boden umgegangen wurde (das „Vermessen“ und formell „in Besitz nehmen“ nämlich). Die Durchsetzung von Besitzansprüchen und Rechtstiteln auf Grund und Boden war überhaupt eines der wichtigsten und zugleich unterschätztesten Elemente der Kolonisierung. 16 Ich möchte diesen ein sicherlich wichtiges Merkmal beschreibenden Begriff verwenden, um den Konstrukten „Nation“ oder „Ethnie“ zu entkommen. 17 Wallerstein postuliert, „daß eine der Grundformeln, nach der unser eigenes historisches System, die kapitalistische Weltwirtschaft, organisiert wurde, die ist, daß sie Menschen ausschließt, indem sie Menschen einbezieht.“ W ALLERSTEIN 1995a, S 102. 11 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 transitiv, doch diese Zuordnung wurde abgelöst (nicht zuletzt, um Arbeitskräfte für den Markt „freizusetzen“) und es entstanden multiple Identitäten, deren eine die ethnische Gruppe war. 18 Auf dieser Basis konnten schließlich auch Nationen entstehen, deren Zusammensetzung aber notwendigerweise in jeder Hinsicht sehr heterogen sein mußte und die insbesondere in Afrika nicht ohne Rückgriff auf Traditionen der vorkolonialen Herrschaft und Herrschaftsform gedacht werden können, nur eben kolonial deformiert. 19 Daß der Staat und die Staatsgrenze bis heute konstituierenden und identitätsstiftenden Charakter haben, sollte klar sein. Daß etwa Statistiken fast nur auf der Basis der Analyseeinheit Staat und auf der Basis staatlicher Systematiken erstellt werden, gilt als selbstverständlich, macht aber die Behandlung mancher wichtiger Fragen teils sogar unmöglich. Der Rassismus, oft gepaart mit sozialer Disqualifikation und Unterenwicklung, hat dieses Jahrhundert ebenfalls geprägt. Zwar ist die gröbste Form des Rassismus (der genetisch motivierte) durch die Fassungslosigkeit angesichts des Holocaust vorerst überwunden, an seine Stelle tritt aber kultureller Rassismus der Mentalitäten, der beim Unterdrückten Defizite feststellt und im Falle ihrer Behebung den sozialen Aufstieg verheißt. Dieser Aufstieg aber wird praktisch immer in die Ewigkeit irgendeiner Zukunft verlagert. Für Wallerstein und andere ist die Unterentwicklung daher die ökonomische Dimension des Rassismus, die kapitalistische Weltwirtschaft ohne beides nicht vorstellbar. Denn der Rassismus „liefert innerhalb der ideologischen Zwänge der kapitalistischen Weltwirtschaft die einzig akzeptable Legitimation einer Wirklichkeit, die durch ausgedehnte kollektive Ungleichheit bestimmt wird.“20 Und Kapitalismus braucht Konkurrenz und reproduziert damit Ungleichheit. 3.4. Phase 2: Zwischenkriegszeit und Dekolonisierung Die Zwischenkriegszeit war nicht nur von mehreren Wirtschaftskrisen in Europa und den USA und der Verfestigung (manche mögen „Erstarrung“ sagen) der Sowjetunion geprägt, es ereignete sich außerdem das Völkerbund-Experiment (das 1939 endgültig scheiterte) und die Dekolonisierung nahm ihren zögerlichen Anfang. Ägypten, Saudi-Arabien und der Irak wurden zwischen 1922 und 1932 unabhängig. Doch im wesentlichen zeigten sich in dieser 18 So basiert der ach so tief verwurzelte Konflikt zwischen „Hutu“ und „Tutsi“ in Ruanda auf einem in die Ausweise eingetragenen Vermerk der (belgischen) Kolonialbehörde, die aufgrund von mehr oder weniger als 10 Tieren Viehbesitz eine Ethnie der „Viehzüchter“ und eine andere der „Ackerbauern“ konstruierten. Divide et impera. 19 Zu einigen Grundproblemen der Oktroyierung des Staatskonzepts in Afrika vgl. BAYART. Für Fallbeispiele wie solche oktroyierte Staaten zerbrechen, möchte ich R ENO sehr empfehlen. 20 W ALLERSTEIN 1995a, S 106. Vgl. ausführlich dazu W ALLERSTEIN 1995a, S 101-112, in Anlehnung an den Wirtschaftsnobelpreisträger (!) Gunnar Myrdal. 12 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 Periode zwei andere Tendenzen als vorherrschend: erstens die institutionelle Verfestigung aller Kolonialreiche, die sich zugleich bereits gegen innere Widerstände zur Wehr setzen mußten, und zweitens der Aufschwung autoritärer Regime in Europa, der in die globale Konfrontation um die Hegemonie im Weltsystem führte, den Zweiten Weltkrieg. Die Kolonien begriff man zunehmend weniger als Reserve im Kampf um die globale oder wenigstens europäische Vorherrschaft, sondern immer stärker als Gebiete der Ausbeutung von Ressourcen (einschließlich Menschen) – wenngleich man das schon immer getan hat. Die Ökonomien der Kolonien wurden den Bedürfnissen der Volkswirtschaften ihrer Mutterländer gänzlich unterworfen, sie fungierten als Rohstoffquelle und bis zu einem gewissen Grad auch als Absatzmarkt der industriellen Produkte. Eine eigenständige Industrialisierung der Kolonien wurde zumeist sogar gezielt verhindert (Indien) indem man die Verarbeitung von Rohstoffen im Land dezitiert verbot, obwohl sie infolge schon damals niedrigerer Lohnkosten eigentlich profitabel gewesen wäre. Doch die Präferenzen der Kolonialherren galten ganz eindeutig den eigenen Bevölkerungen und deren Bedürfnissen, die schließlich auch bei Wahlen stimmberechtigt waren. 21 Keiner europäischen Macht wäre es in den Sinn gekommen, ihre Kolonien zu entwickeln, dazu war man sich immer selbst zu sehr der nächste. Lediglich den missionarischen Eifer – nun eben nicht mehr so sehr christlich, sondern vielmehr „zivilisatorisch“ – den hatte man immer noch. Diese offensichtliche Geringschätzung und Benachteilung, die meist auch noch rassistisch begründet wurde, förderte den Widerstandswillen der nunmehr schon „nationalen“ Befreiungsbewegungen. „National“, weil es keinen anderen Rahmen gab, innerhalb dessen man sich hätte organisieren können, als den der kolonisierten „Nation“. Nur sehr wenige spätere Staaten konnten auf vorkoloniale Traditionen zurückgreifen, sehr viel prägender waren die Grenzen, die Europäer Anfangs des 20. Jahrhunderts gezogen hatten. 22 Nur innerhalb der Kolonie wurde an den kolonialen Grenzen gerührt, aber selbst dann richtete man die neue postkoloniale Einteilung fast immer nach den alten Verwaltungsgliederungen. Ein Grund dafür ist wohl, daß die „nationalen“ Bewegungen die koloniale Realität insofern akzeptieren mußten, daß eine Organisationen ihrer Gruppen innerhalb von kolonialen Gebieten wesentlich reibungsloser möglich war, als über Gebietsgrenzen hinweg. Erst als die koloniale Herrschaft abgeschüttelt war, konnten sich interne Spannungen ausleben. Doch zu 21 Es sei hier wieder einmal darauf verwiesen, daß die wichtigen europäischen Kolonialmächte Demokratien waren. Nur die drei weniger bedeutenden Italien, Spanien und Portugal wurden im Gegensatz zu Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Belgien im Laufe der 1920er Jahre zu autoritären Regimen. Deutschland hatte keine Kolonien mehr. 22 Nur in zwei Fällen wurden die alten Kolonialgrenzen überschritten, nämlich in Somalia 1960 (britisch und UN-Mandat, vormals italienisch) und Vanuatu 1980 (britisch und französisch). 13 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 diesem Zeitpunkt gab es bereits neue Herren (afrikanische oder asiatische), die genauso keine Beschneidung ihres Machtbereichs zulassen wollten. Der Zweite Weltkrieg wurde in Asien und Afrika auch auf dem Rücken kolonialer Bevölkerungen ausgetragen. Deshalb erwuchsen in Asien aus dem Krieg auch eine Reihe von Unabhängigkeitsbewegungen, die nach 1945 die Macht im Lande für sich beanspruchten: Indonesien, Vietnam und die Volksrepublik China (nach einem blutigen Bürgerkrieg) entstanden auf diese Weise. Den Rest der Dekolonisierungsgeschichte 23 faßt man am prägnantesten anhand des Jahres der jeweiligen nominellen „nationalen“ Unabhängigkeit in einer Übersicht zusammen. Dabei sind die Dekolonisierung des sowjetischen Kolonialimperiums (jetzt 15 Staaten) und der Zerfall Jugoslawiens (zur Zeit 5 Staaten) 1990 bis 1993 ausgelassen. Jahr der nominellen Unabhängigkeit (und Kolonialmacht) 1946-99 Zwischen Kolonien, Protektoraten und Mandatsgebieten wird nicht unterschieden; Abkürzungen: britisch (br.), französisch (frz.), belgisch (bel.), niederländisch (ndl.), spanisch (span.), portugiesisch (port.), italienisch (ital.), US-amerikanisch (US), japanisch (jap.). 1946 Jordanien (br.), Philippinen (US) 1947 Indien, Pakistan (br.) 1948 Birma, Sri Lanka, Israel (br.), Südkorea, Nordkorea (jap., nach 1945 besetzt) 1949 Indonesien (ndl.) 1951 Libyen (ital., seit 1945 UNO-Mandatsgebiet) 1954 Nordvietnam, Südvietnam, Laos, Kambodscha (frz.) 1956 Marokko, Tunesien (frz.), Sudan (br.) 1957 Ghana, Malaysia (br.) 1958 Guinea (frz.) 1960 Kamerun, Senegal, Togo, Madagaskar, Benin, Niger, Obervolta, Elfenbeinküste, Tschad, Zentralafrika, Kongo-Brazzaville, Gabun, Mali, Mauretanien (frz.), Nigeria, Somalia, Zypern (br.), Kongo-Kinshasa (bel.) 1961 Sierra Leone, Kuwait, Jamaika, Tanganjika (br.) 1962 Algerien (frz.), Burundi, Ruanda (bel.), Uganda, Trinidad & Tobago (br.), Westsamoa (neuseeländisches UNO-Mandatsgebiet) 1963 Kenia, Zanzibar (br.) 1964 Malawi, Zambia, Malta (br.) 1965 Singapur (von Malaysia), Gambia, Malediven (br.) 23 1966 Guyana, Barbados, Botswana, Lesotho, Südjemen (br.) 1968 Nauru, Mauritius, Swaziland (br.), Äquatorial-Guinea (span.) 1970 Tonga, Fiji, Oman (br.) 1971 Bangladesch (von Pakistan), Bhutan (von Indien), Vereinigte Arabische Emirate, Bahrein, Katar (br.) 1973 Bahamas (br.) 1974 Guinea Bissau (port.), Grenada (br.) 1975 Angola, Mozambique, Kapverdische Inseln, Sao Tomé & Principe (port.), Komoren (frz.), Papua-Neuguinea (australisches UNO-Mandatsgebiet), Surinam (ndl.) 1976 Westsahara (span., seither von Marokko besetzt), Seychellen (br.) 1977 Djibouti (frz.) 1978 Dominica, Salomonen, Tuvalu (br.) 1979 Saint Lucia, Saint Vincent, Kiribati (br.) 1980 Zimbabwe (br., bereits 1966 einseitig verkündet), Vanuatu (br./frz.) 1981 Belize, Antigua & Barbuda (br.) 1983 Saint Christopher & Nevis (br.) 1984 Brunei (br.) 1986 Marshall-Inseln, Föderierte Staaten von Mikronesien (jap., seit 1945 US-Mandat) 1990 Namibia (von Südafrika) 1993 Eritrea (von Äthiopien) 1994 Palau-Inseln (US) Vgl. insbesondere zu Afrika R EINHARD, S 133-166. 14 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 Zusammenfassen läßt sich die Dekolonisierung in drei Phasen: die erste Phase (194655) beinhaltet die Selbständigkeit der europäischen und japanischen Kolonien in Asien; die zweite und zugleich wichtigste Phase (1956-64) bringt den völligen Zerfall des französischen und belgischen und den fast vollständigen Zerfall des britischen Kolonialreiches in Afrika; die dritte Phase (seit 1965) bringt den Zerfall des portugiesischen Kolonialreiches mit sich und zudem die Befreiung von einigen noch verbliebenen Protektoraten und den meisten heutigen Inselstaaten, was vor allem die Briten traf. Heute gibt es nur noch sehr wenige Überseegebiete in der Karibik und im Pazifik, von denen eigentlich nur noch die französischen eine gewisse Bedeutung haben. 24 3.5. Die Entwicklungsidee geht um Nun nähern wir uns schnurstracks einem weiteren Kernelement des 20. Jahrhunderts, der Entwicklung. Es wäre wenig verfehlt anzunehmen, daß „Entwicklung“ eine Erfindung der Nachkriegszeit ist, während man sich vorher kaum Gedanken darüber gemacht hat. Konkret wird diese Erfindung gerne US-Präsident Harry S. Truman zugeschrieben, der diesen Begriff am 20. Januar 1949 bei seiner Regierungserklärung verwendete. „Da war er plötzlich da und ist seither nicht mehr wegzudenken, jener folgenträchtige Begriff, der die unermeßliche Vielfalt der Lebensumstände auf dem Süden des Globus in einer einzigen Klassifikation zusammenfaßte: ‚unterentwickelt‘. Zum ersten Mal wurde damit von prominenter politischer Bühne die neue Weltsicht verkündet, nach der die Völker der Erde sich auf einer gemeinsamen Bahn bewegen und in ihren Aspirationen auf ein Ziel hin konvergieren: dem der ‚Entwicklung‘.“25 Entwicklung wird dabei als quantitatives Wachstum der Wirtschaft verstanden (was übrigens alles andere als selbstverständlich ist und wo die wilsonianische Analogie mit dem Individuum schon wieder aufhört) und die USA steht bereit, um den Darbenden dieser Erde technische Hilfe auf diesem Wege zu leisten. Im Rückblick betrachtet war diese Rede „gleichsam die Eröffnungsansprache zu jener Aufholjagd des Südens gegenüber dem Norden, an deren Ende nicht nur das Feld weiter auseinandergefallen ist und eine Anzahl von Läufern von der Bahn getorkelt sind, sondern es allen zu dämmern beginnt, daß sie vielleicht gar in die falsche Richtung laufen.“26 In den 24 Um die wichtigsten zu nennen: Guyana, Guadeloupe, Martinique, Réunion, Neukaledonien und Tahiti (französisch); Bermuda, Jungferninseln, Cayman Inseln und Falkland (britisch); Aruba und Curacao (niederländisch), sowie Puerto Rico, Jungferninseln, Samoa, Guam und die Marianen (USA). Einige Südsee-Inseln sind neuseeländisch oder australisch verwaltet, Grönland und die Färöer-Inseln (dänisch) genießen große Autonomie und sind damit Sonderfälle. 25 SCHADE, S 26. Der Abschnitt ist entlarvend mit „Eine Weltmacht sucht ihre Mission“ betitelt. 26 SCHADE, S 26. 15 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 folgenden Jahrzehnten wechselten sich wirtschaftspolitische Strategien ab, in der westlichen wie der sozialistischen Welt, mit denen das hehre Ziel der Entwicklung verwirklicht werden sollte. Industrialisierung war das Vehikel dafür, Importsubstitution und Exportförderung (oder eine Mischung aus beiden) wurde dabei häufig angewandt, die gewünschten Erfolge stellten sich aber nicht ein. 27 Später – als schon Beispiele des kläglichen Scheiterns vorlagen – kamen Ideen wie „ländliche“ (McNamarra) oder „nachhaltige“ (Brundtland) Entwicklung auf. Was Entwicklung kaum einmal hieß, war das, was Ende der 1980er Jahre als „menschliche Entwicklung“ vom United Nations Development Programme (UNDP) thematisiert wurde. Darin werden neben dem Lebensstandard (gemessen durch das Pro-KopfEinkommen28 ) auch die Lebensqualität (ausgedrückt durch die Lebenserwartung) und Lebenschancen (gemessen durch Bildungsindikatoren) berücksichtigt. 29 In den 1990er Jahren hat das UNDP mit dem jährlich erscheinenden Human Development Report ein trotz berechtigter Kritik ambitioniertes Konkurrenzprodukt für vor allem die Entwicklungsberichte der Weltbank entwickelt. Vom Grundkonzept „Entwicklung“ geht aber auch das UNDP nicht ab, es sorgt nur für eine Modifikation der Zielprioritäten. In dieser Arbeit ist nicht genug Raum, um sich ausführlich mit dem Phänomen der vielfach nicht stattfindenden Entwicklung zu beschäftigen. Einige wenige Zahlen müssen genügen. So wägt etwa der Human Development Report von 1996 Erfolge und Mißerfolge recht unverblümt ab, wenn er konstatiert, daß 101 von 166 erfaßten Ländern der Erde ihren historischen Höchststand des Pro-Kopf-BIP in den 1990er Jahren nicht erreicht hatten. 30 In diesen Ländern leben immerhin 1.5 Milliarden Menschen, sie befinden sich größtenteils in Lateinamerika und Afrika, während sich die „erfolgreichen“ Staaten auf die OECD und Asien konzentrieren. Besonders dramatisch wird die Situation, weil der historische Höchststand für rund 30 dieser Länder schon vor 1970 lag. Sie haben selbst Probleme damit, einen absoluten Stand zu konsolidieren, der schon damals niedrig war und das, während die westliche Welt und Ostasien ihre Werte verdoppeln konnte. „Aufholen“ wird dadurch zur Farce. Dabei könnte man sich in Sicherheit wiegen: OECD und Entwicklungsländer haben beide im Schnitt seit 1960 ihr reales Pro-Kopf-Einkommen etwa verzweieinhalbfacht. Also 27 Für eine Diskussion dieser Strategien vgl. EXENBERGER 1997, S 20-32. Reine Importsubstitution war kurzfristig oft recht erfolgreich, aber langfristig nie, Exportförderung kann nur auf einige sehr positive Beispiele verweisen (Singapur, Hongkong), während sie insgesamt eher erfolglos war und als globale Strategie auch theoretisch eher untauglich ist. Am erfolgreichsten waren noch gemischte Ansätze wie die Südkoreas oder Taiwans. 28 In Kaufkraftparitäten gerechnet und seit dem Bericht von 1999 durch Logarithmierung verflacht. Vorher wurden hohe Einkommen über die sogenannte Atkinson-Formel noch stärker eingeebnet. 29 Und außerdem Sonderfragen behandelt, wie etwa geschlechtsspezifische Differenzen in den Entwicklungschancen oder regionale Disparitäten innerhalb von Ländern. 30 Vgl. UNDP 1996, S 3. 16 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 keine Probleme? Mitnichten, denn der Großteil des Anstiegs für die Entwicklungsländer ist regional auf Ost- und Südostasien begrenzt. Während Lateinamerika und die arabischen Staaten seit 1980 nur noch stagnieren und teilweise zurückfallen, bietet Afrika ein besonders besorgniserregendes Bild: die Einkommen hatten sich bis 1980 um immerhin durchschnittlich 30% erhöht (die OECD hatte damals bereits 70% erreicht), seither aber sind sie praktisch auf ihr Ausgangsniveau von 1960 zurückgefallen. Dazu kommt eine massive Rezession in allen Transformationsstaaten in den 1990er Jahren – und es sei nochmals betont, daß es sich hier um einen Vergleich der Wachstumsdynamik und nicht etwa der Niveaus handelt. 31 3.6. Internationale Organisationen Im Laufe den 20. Jahrhunderts erlebten nicht nur nicht-staatliche Organisationen (NGOs) einen rasanten Aufschwung, sondern – was in jeder Hinsicht wichtiger ist – diejenigen, denen sich die NGOs als immer noch ziemlich machtloser Gegenpol entgegen setzen wollten und wollen. Denn das 20. Jahrhundert war zweifellos das Jahrhundert der inter-nationalen und zwischen-staatlichen Organisationen. Vorher hatte es bi- oder multilaterale Verträge gegeben, aber kaum stabile internationale (oder gar globale) Organisationen. Im 20. Jahrhundert wurden aber zwei politische Weltorganisationen geschaffen: der Völkerbund (1920) und die Vereinte Nationen (1945). 28 Gründungsmitglieder und 11 eingeladene Staaten schlossen sich 1920 zum Völkerbund zusammen, 20 weitere stießen im Laufe der Zeit dazu. Doch blieben auch einige Staaten dem Völkerbund fern, vor allem die USA, was ein entscheidender Mangel dieser Organisation war. Am Ende zählte er noch 45 Mitglieder, wobei aber die Sowjetunion, Deutschland, Japan, Italien und die meisten lateinamerikanischen Mitglieder in den 1930er Jahren ausgetreten waren. Daß fast sämtliche „Völker“ Afrikas nie auch nur die Chance erhielten, ihm beizutreten, ist sicherlich ein dritter grober Strukturfehler. Die wichtigere Gründung war daher die der Vereinten Nationen (UNO). Ihr gehörten von Anfang an alle dominierende Staaten der Erde an, die sich überdies im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auch gegenseitig kontrollieren konnten. 1999 sind neben der kleinen pazifischen Insel Tuvalu nur noch Taiwan, die Schweiz und der Vatikan nicht Mitglieder der Vereinten Nationen. 32 In der Folge entstanden weitere weltumspannende Organisationen von großer Bedeutung. Neben den Teilorganisationen der UNO (ILO, UNESCO, WHO, IWF, 31 Vgl. UNDP 1996, S 20. Man beachte also den sehr unterschiedlichen Startwert. Tuvalu und die Schweiz freiwillig (mit Tendenzen zum Beitritt), Taiwan wegen des Widerstands der Volksrepublik China. Ob die von Marokko besetzte Westsahara ein Staat ist, ist strittig. 32 17 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 IBRD, UNIDO, ...) ist die WTO (Welthandelsorganisation), der inzwischen außer China und Rußland praktisch alle wichtigen Staaten (insgesamt 135) der Erde angehören, von besondere Bedeutung. Dazu könnte man fast zahllose regionale Organisationen nennen wie etwa die Arabische Liga, die ASEAN, den Europarat, die NAFTA, die NATO, die OAS, die OAU, die OECD, die OPEC, die OSZE oder die EU. 33 Die Mitgliederzahl der Vereinten Nationen 1945-95 100 159 185 90 80 143 70 118 60 50 76 40 51 30 1999 beigetreten: Tonga, Nauru, Kiribati (alle Ozeanien) Nicht-Mitglieder mit 1.1.2000: freiwillig: Schweiz, Vatikan, Tuvalu unfreiwillig: Taiwan, Westsahara 20 10 0 1995 1985 1975 1965 1955 Gründung Gesamt Afrika Amerika Asien Ozeanien Europa Obige Abbildung zeigt den fast linearen Anstieg in der Mitgliederzahl der Vereinten Nationen seit 1945 und bildet auch die Dekolonisierung ab. Es entschied sich offenbar bereits im ersten Jahrzehnt des Bestehens, daß die UNO wichtig werden würde, denn die anfangs zögernden Staaten Europas schlossen sich bis 1955 fast alle an (BRD und DDR erst 1973). Europa machte daher im ersten Jahrzehnt zusammen mit Asien den Hauptteil des Anstiegs aus. Im zweiten Jahrzehnt übernahm Afrika diese Rolle, im dritten und vierten war es ein Phänomen allgemeiner, sich verlangsamender Dekolonisierung, und im fünften kann der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens hauptverantwortlich gemacht werden. Anfangs war der Repräsentationsgrad in der UNO vor allem in Europa nur etwa zwei Drittel. Das änderte sich mit 1955, als zahlreiche Staaten beitraten. Seither verbesserte er sich stets und hat inzwischen fast 100% erreicht. Dabei verschoben sich die Stimmgewichte in der Generalversammlung eindeutig von der Ersten zur Dritten Welt: 1955 stand es „politisch“ 33 Vgl. zu diesen Organisationen Fischer-Weltalmanach 2000, S 963-1084 (zur UNO S 1007-1035). 18 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 noch 42 zu 24 (plus 10 für die Zweite Welt), 1985 hingegen „ökonomisch“ 24 zu 121 (plus 14 für die Zweite Welt). Dies wurde nur wegen der besonderen Konstruktion des Sicherheitsrates (mit dem Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder) nicht schlagender. Welche Ideologie meiner Ansicht nach die Vereinten „Nationen“ als zwischen„staatliche“ Organisation transportieren, sollte aufgrund meiner bisherigen Ausführungen klar sein. Die ebenfalls bereits 1945 verkündeten Menschenrechte sind nur ein Symbol für die zunehmende Verrechtlichung, Verstaatlichung und Universalisierung der Menschen und Völker und ihrer Beziehungen. Das kann man sowohl als Fortschritt im Vergleich mit dem als barbarisch begriffenen Gehabe der Zeiten davor ansehen, aber auch genauso als gefährlichen Ausschluß bestimmter Gruppen aus dieser Gemeinschaft. Und daß die Zeit nach 1945 nicht weniger barbarisch war als die Zeit davor (von den Spitzen der Gewalt vielleicht abgesehen), erklärt sich angesichts der Meldungen in den täglichen Nachrichten von selbst. 3.7. Phase 3: Schulden, Abhängigkeit und Rekolonisierung Was nicht leicht zu erzählen ist und noch schwerer chronologisch, ist der Prozeß der Rekolonisierung seit 1945. Die von Europäern „befreiten“ Gebiete mußten sich meist einer der beiden Supermächte annähern, um Zugang zu Krediten und Hilfsleistungen zu bekommen (manche erhielten allerdings auch Geld von beiden). Dieser Prozeß erstreckte sich von Anfang an auch auf Lateinamerika. Stellvertreterkriege wurden in den Interessensphären geführt, die eine ähnliche Funktion wie Kolonien hatten: möglichst exklusive Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, teilweise auf privatwirtschaftlicher Basis („Zugang für private Investoren“). Der große Vorteil für die Neu-Kolonisten war, daß die Kosten (für Infrastruktur, für Ausbildung, für Sicherheit) nun zum Großteil die Gastländer tragen mußten. Dazu kommt, daß es spätestens seit den späten 1970er Jahren entgegen landläufiger Meinung einen beständigen Nettoressoucentransfer vom Süden in den Norden gibt, der in der Form von Kapitalflucht, Zinsendienst, Tilgungen und obligatorischen Gegengeschäften fließt, und der die gewährten Kredite und die Entwicklungshilfe deutlich übersteigt. Die damit verbundenen Abhängigkeiten von internationalen Organisationen (IWF, Weltbank) und bilateralen Gläubigern ist drückend und eine weitere Quelle der Rekolonisierung, da sie mit sehr unmittelbaren Eingriffen in die nationale Souveränität des betroffenen Landes durch Aid Conditionality oder/und Structural Adjustment einher geht. Auch das Verschuldungsporblem hat bereits viele Bücher gefüllt. „Als Mexiko im August 1982 seine Zahlungsunfähigkeit gegenüber den ausländischen Gläubigern erklärte, 19 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 kam es zum offenen Ausbruch der internationalen Schuldenkrise.“34 Gegeben hat es das Problem schon vorher, nur zur Krise wurde es in der weltöffentlichen Wahrnehmung erst, als diese Probleme auf die Gläubiger zurückschlugen. In der Folgezeit hat man es durch massive Interventionen geschafft, wenigstens den Schuldendienst der wichtigeren Schuldnerstaaten wieder zu sichern. Das Problem der Hochverschuldung ist aber unverändert gegeben und der Schuldenstand der Entwicklungsländer multipliziert sich in regelmäßigen Abständen, und das schneller als das BIP der jeweiligen Länder. Weder die Aid Conditionality des IWF noch das Structural Adjustment der Weltbank haben daran etwas zum Guten geändert. Wie schwierig es ist, aus der Schuldenfalle herauszukommen, zeigt ein einfacher Blick in die Statistik: von einem etwa gleichem Niveau an Wachstum, Spar- und Investitionsquote gestartet, driften die Länder mit Verschuldungsproblemen und diejenigen mit Verschuldung, aber ohne Probleme damit, immer weiter auseinander. Seit Beginn der „Schuldenkrise“ 1982 haben letztere Länder eine durchschnittliche Wachstumsrate um 6.5%, erstere hingegen nur von 2 bis 3%. 35 Schulden sind eine der direktesten Wege in die Abhängigkeit. Einerseits ist man vom Wohlwollen der Geldgeber abhängig, muß deren Auflagen erfüllen (die im Interesse des Schuldendienstes und nicht des Schuldners sind) und ist damit in weiterer Folge den Unbillen des Weltmarktes noch unvermittelter ausgesetzt, weil man dieses Forum braucht, um Produkte dort verkaufen zu können, die Devisen für den Schuldendienst bringen. Auf diesem Marktlatz werden auch Kredite und Risikokapital gehandelt, und beides gehorcht durchaus denselben Regeln: politische oder wirtschaftliche Unsicherheit stören den Handel. Zur finanziellen Abhängigkeit vieler Entwicklungsländer gesellt sich ihre ökonomische. Es ist für diese Staaten nur möglich, in den Industrieländern profitablen Absatz zu finden, weil andere Märkte nicht die erforderliche Aufnahmekapazität haben. Die Abhängigkeit hat daher teil sehr direkte Stränge: für die ehemaligen Kolonien waren ihre ehemaligen Mutterländer in den meisten Fällen sehr naheliegende Handelspartner, ein Abkoppeln von den bestehenden Verbindungen nur unter großen Anstrengungen möglich. Die Mutterländer haben diese Tendenz nicht selten durch gezielte Handelsvergünstigungen für ehemalige Kolonien untergraben (nichts anders sind die Lomé-Verträge der EG). Damit blieb für das Industrieland der Strom an Rohstoffen gesichert (und günstig), das Entwicklungsland hingegen gewann zwar sichere Abnehmer, verlor aber zugleich Anreize zur Diversifikation der Produktion. Für das langfristige Entwicklungspotential war dies teils verheerend. 34 35 SCHLICHTING, S 1. SCHLICHTING, S 17. 20 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 Im Vergleich zur Zeit des Kalten Krieges hat sich in Sachen politische Abhängigkeit ein Umstand grundlegend geändert: es gibt nun nur noch ein richtiges Verhalten für diejenigen, die Entgegenkommen irgendeiner Art brauchen. In all diesen Feldern ist dabei eine Art „Privatisierung“ in den 1990er Jahren unverkennbar: immer öfter sind es nicht Staaten, sondern grenzüberschreitende Konzerne, die Politik und Wirtschaftspolitik machen und bestimmen, was die eine richtige ist. Diese Tendenzen gehen soweit, daß – im Kreise von Politikern wohlgemerkt – ein Abkommen über Investitionsschutz ernsthaft diskutiert wurde (und wohl auch weiterhin wird), das selbst Industriestaaten gegenüber internationalen Konzernen in eine ungünstige Verhandlungsposition bringt. Das hat manche dazu veranlaßt, sogar von Europa als „Kolonie der Konzerne“ zu sprechen. 36 Die Praktiken, die private Wirtschaftsunternehmen heute in Entwicklungsländern anwenden (viele von ihnen haben – auch wenn der Vergleich hinkt – einen größeren jährlichen Umsatz als das BIP ihres Gastlandes ausmacht), stehen den früheren Kolonisten kaum nach – siehe Shell in Nigeria. Weltweit verschieben sogenannte „fußlose“ (footloose) Unternehmen ihr Kapital und damit ihre Produktionsstätten teils innerhalb von Tagen quer über den Globus auf der Suche nach der besten Rendite. Und die gibt es oft dort, wo das Gastland so große ökonomische Probleme hat, daß es dem Investor alle nur erdenklich möglichen Freiheiten zugesteht. 37 Ein weiteres Problem ist die Tatsache, daß die Führer der dekolonisierten Staaten samt und sonders europäisch ausgebildet wurden und daher den ehemaligen Kolonisten gedanklich näher stehen als ihren Landsleuten. Erskin Childers hat dies unter dem Begriff „exogene Souveränität“ zusammengefaßt: „Die Dekolonisierten waren gezwungen, nicht nur die intellektuellen und ökonomischen, sondern auch die territorialen Strukturen ihrer Kolonisierung aufrechtzuerhalten. [...] Bald war eine gegebene nationale Elite, die schon intellektuell geprägt und ökonomisch abhängig vom Westen war, auch von dieser exogenen Souveränität abhängig.“38 Die erfolgreiche Unabhängigkeitsbewegung mußte mit den Außengrenzen leben, in denen die Kolonien organisiert waren und sie mußte damit leben, daß ihre Führer bis zu einem gewissen Grad direkt oder indirekt korrumpiert waren. 36 Gemeint ist im übrigen das Multilateral Agreement on Investment (MAI). Hier möchte ich auf EXENBERGER 1997, verweisen, wo Exportverarbeitungszonen ausführlich theoretisch wie in einem globalen empirischen Überblick beschrieben sind. Kurz gefaßt geht es dabei darum, Investoren für vorrangig für den Export bestimmte Produktion zu gewinnen, denen Produktionsstätten und Infrastruktur, billige Arbeitskräfte und zahlreiche finanzielle und steuerliche Vergünstigungen gewährt werden. Erfolge und Mißerfolge halten sich durchaus die Waage. 38 CHILDERS, S 139-140. [“The decolonized were compelled to maintain not only the intellectual and economic, but also the territorial structures of their colonization. [...] Before long a given national elite already intellectually conditioned by and economically dependent on the West was also dependent on this exogenous sovereignty.”] 37 21 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 Man kann manche ökonomische und politische Entwicklungen der letzten Jahre sehr gut verstehen, wenn man sie unter einer „Brille“ der Rekolonisierung betrachtet: dann streiten in Afrika plötzlich nicht mehr nur ethnische Fanatiker, sondern zumindest auch Privatarmeen von Konzernen; dann sind brutale Regionalkonflikte kein Zeichen von moralischer Degeneration, sondern plötzlich auch von außen finanzierte Kämpfe um Zugang zu Ressourcen; dann kann es plötzlich logisch sein, daß in Zaire nicht Kabila mit Mobutu ringt, sondern auch US-amerikanisches mit französischem Kapital. Nicht, daß dies schon die ganze Geschichte wäre, nein, es ist wahrscheinlich sogar überzeichnet; aber man sollte selbst ohne eine bestimmte „Brille“ diese Ereignisse als das erkennen, was sie sind und nicht als das, wofür wir sie halten sollen. 4. Rück- und Ausblick Ein Hauptergebnis des 20. Jahrhunderts war die Integration der außereuropäischen Welt in die formellen politischen Institutionen des zwischenstaatlichen Systems. Die Konzepte von „Staat“, „Nation“ und „Entwicklung“ haben sich durchgesetzt, das System aber hat sich nicht verändert, weil es statt dessen die Welt verändert hat und die oft trügerische Aussicht auf Entwicklung hat zugleich das bestehende System legitimiert. 39 Was vor allem gewachsen ist, ist dabei die Anzahl der schwachen und sehr schwachen Staaten, zumindest wenn man die Stärke relativ bestimmt. Daß diese Staaten nicht nur politisch, sondern gerade in ökonomischer Hinsicht schwach und sehr schwach sind, sollte an vielen Stellen dieser Arbeit angeklungen sein. Hierzu eine Tabelle zur Entwicklung der Anzahl der Staaten im 20.Jahrhundert (1940 ist wegen der kriegsbedingten Unklarheiten, was ein Staat ist und was nicht, ausgelassen). 40 Anzahl der faktisch souveränen Staaten 1900-2000 nach Regionen Gebiet GESAMT Afrika Amerika Asien Ozeanien Europa 39 40 1900 49 2 20 6 0 21 1910 54 2 22 6 2 22 1920 71 3 22 9 2 35 1930 74 4 22 11 2 35 1950 87 4 22 27 2 32 1960 94 10 22 28 2 32 1970 139 42 26 33 4 34 1980 165 51 32 39 9 34 1990 173 52 35 40 12 34 Vgl. W ALLERSTEIN 1995b, S 120. Datum der jeweiligen faktischen Unabhängigkeit gemäß Fischer-Weltalmanach 2000. 22 2000 193 54 35 44 13 47 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 Auch hier sieht man eine fast lineare Aufwärtsentwicklung, die von Europa und Amerika ausgeht, nach 1918 in Europa einen ersten Sprung zeigt, nach 1945 in Asien, 1960 in Afrika und zuletzt noch einmal 1990-93 in Europa. Wenn nun noch ein kurzer Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung einzelner Staaten werfen, sehen wir auch quantitativ, was in den Kapiteln über Entwicklung zusammenfassend bereits erwähnt worden ist: die klaffende Wunde, die sich zwischen den Industrieländern und dem Rest der Welt – von Ausnahmen abgesehen – immer weiter öffnet. 1900 betrug das Verhältnis des Pro-Kopf-BIP zwischen dem reichsten und dem ärmsten Staat in der folgenden Aufzählung noch etwa 10:1 (Großbritannien:Ghana), heute beträgt dasselbe Verhältnis mehr als 22:1 (USA:Ghana) oder sogar 62:1 (USA:Äthiopien, für 1900 aber nicht berechenbar):41 Pro-Kopf-BIP ausgewählter Länder 1900-1990 (in 1990 Geary-Khamis Dollar) Gebiet durchschn. Wachstum 1900-1950 1950-1990 1900 1930 1950 1970 1980 1990 % % % % 2‘901 4‘593 3‘134 2‘849 3‘610 5‘195 4‘049 4‘489 3‘731 9‘813 13‘881 16‘792 6‘847 10‘694 12‘777 16‘302 4‘281 11‘933 15‘370 18‘685 5‘221 11‘558 14‘979 17‘777 EUROPA Österreich Großbritannien Deutschland Frankreich 0,5 0,8 0,6 1,2 INDUSTRIELÄNDER USA Australien UdSSR 1,7 % 1,0 % 1,7 % 2,1 % 2,1 % 2,2 % 4‘096 4‘299 1‘218 6‘220 4‘792 1‘448 9‘573 14‘854 18‘270 21‘866 7‘218 11‘637 13‘805 16‘417 2‘834 5‘569 6‘437 6‘871 LATEINAMERIKA Argentinien Brasilien Mexiko 1,2 % 1,7 % 1,2 % 0,7 % 2,7 % 2,2 % 2‘756 704 1‘157 4‘080 1‘061 1‘371 4‘987 1‘673 2‘085 7‘302 3‘067 3‘774 5,9 6,0 3,8 2,0 1‘135 850 652 625 1‘780 1‘173 786 654 1‘873 876 614 597 9‘448 13‘113 18‘548 2‘208 4‘103 8‘977 1‘092 1‘462 2‘700 878 938 1‘316 509 462 - - 517 1‘193 277 636 2‘251 941 1‘275 393 711 3‘709 % % % % ASIEN Japan Südkorea China Indien 1,0 % 0,1 % - 0,1 % - 0,1 % AFRIKA Ägypten Ghana Äthiopien Zaire Südafrika 0,0 % 1,9 % - 3,8 2,2 3,8 3,1 % % % % 3,5 % - 0,5 % 0,6 % - 0,8 % 1,3 % 41 8‘245 5‘246 5‘254 1‘483 1‘041 401 538 4‘114 6‘581 4‘812 4‘997 2‘030 966 350 458 3‘719 Daten nach MADDISON 1995, S 194-206. Man beachte auch die umfangreichen Anmerkungen zur Berechnung und teilweise Schätzung der Werte, vgl. MADDISON 1995, S 118-147. 23 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 Der Vergleichbarkeit wegen seien auch einige weitere durchschnittliche (geometrische) Wachstumsraten erwähnt. Das stärkste Wachstum ergab sich global demnach in der Zeit zwischen 1950 und 1970, nur Brasilien, Mexiko und Ägypten verschieben dies auf die 1970er Jahre, Südkorea, China und Indien auf die 1980er Jahre (die regionalen Spezifika sind nicht Zufall). Es ist auch erwähnenswert, daß der hohe Standard der USA im wesentlichen auf einer gleichmäßigen Aufwärtsentwicklung fußt, während insbesondere die Staaten Europas erst in der Nachkriegszeit zu ihrem Höhenflug ansetzten – der allerdings von Südkorea und Japan klar in den Schatten gestellt wird. Die 1980er Jahre sind dabei geradezu symptomatisch: während Ostasien boomte und die Industrieländer über eine Verlangsamung des Wachstums klagten (auf knapp unter 2%), hatten 7 der 19 betrachteten Staaten, allesamt in Lateinamerika und Afrika, sogar negative Wachstumsraten zwischen 0.5 und 2.2%. Was das Niveau des BIP anbelangt, lagen im Jahre 1900 die USA (312 Milliarden US$) vor China (260 Milliarden), Großbritannien (176 Milliarden), Rußland (154 Milliarden) und Indien (147 Milliarden). 1950 lag die USA mit 1.46 Billionen US$ bereits sehr viel deutlicher voran, dahinter folgten die UdSSR (510 Milliarden), Großbritannien (344 Milliarden), China (335 Milliarden) und Frankreich (218 Milliarden). 1990 schließlich liegen die USA weiterhin und mit inzwischen 5.46 Billionen US$, voran. China (3.06), Japan (2.29), die UdSSR (1.99) und Deutschland (1.18) folgen mit Respektabstand. 42 Diese Arbeit beschreibt nicht nur einen gewaltsamen Prozeß der globalen Gleichmacherei lange bevor die Globalisierung zum Modewort wurde, sondern auch einen unheilvollen Zirkel der Entwicklung, der vor allem darin besteht, daß in vielen Fällen, die noch dazu regional klar bezeichenbar sind, keine Entwicklung (mehr) stattfindet. Afrika zeigt, daß militärische Dekolonisierung noch keine Freiheit bringt und auch keine wirtschaftliche Entwicklung garantiert, durchaus auch wegen der Ausplünderungsmetalität neuer „einheimischer“ Eliten. Lateinamerika zeigt, daß wirtschaftliche Erfolge in der Vergangenheit nicht zwingend in die Zukunft übertragen werden können. Und daß in eine simple BIP-Rechnung vieles nicht eingeht, das mit menschlicher oder nachhaltiger Entwicklung zu tun hat, sollte klar sein. Würden die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts einfach fortgeschrieben, hätte wir am Ende des 21. Jahrhunderts an die 1000 Staaten und noch mehr internationale Organisationen, das Weltprodukt betrüge vielleicht eine Million Milliarden US$ (oder Euro; heute sind es 30'000), doch der braungebrannte Äthiopier stürbe weiterhin von 1 Dollar pro Tag, während 42 Zahlen nach MADDISON 1995, S 180-192. Zum Vergleich die österreichischen Zahlen: 17.3, 25.9 und 129.6 Milliarden US$. 24 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 der weiße, angelsächsische, protestantische Ostküsten-US-Amerikaner seine jährliche Million scheffelt (bei gleichen Preisniveaus). Über die Bevölkerungsentwicklung (heute 6 Milliarden Menschen), die ich hier bewußt ausgelassen habe, möchte ich gar nicht spekulieren. So darf und wird es hoffentlich nicht kommen und es liegt vor allem an uns Ökonomen, das nicht zu erlauben. Ansätze zu zivilgesellschaftlichem Widerstand lassen allerdings auch hoffen. Die Proteste, die sich 1999/2000 in Seattle (anläßlich der WTO-Ministertagung) und Washington (beim Jahrestreffen des IMF) ereignet haben, drücken eine breite Unzufriedenheit selbst unter den Menschen aus, die vom System – noch zumindest – relativ profitieren. So möchte ich diese Arbeit grau schließen und nicht schwarz, denn möglicherweise bringt ja das bereits angebrochene nächste Jahrhundert weniger Katastrophen und mehr Gerechtigkeit. Zumindest die Hoffnung kann nicht verboten werden. 5. Literatur Bayart, Jean-François: The State in Africa. The Politics of the Belly. London u.a.: Logman, 1993. Betz, Joachim und Stefan Brühne (Hrsg.): Jahrbuch Dritte Welt 1999. München: Beck, 1998. Brown, Lester A., Michael Renner und Brian Halweil: Vital Signs 1999. The Environmental Trends that are Shaping our Future. New York, London: W.W.Norton & Company, 1999. Childers , Erskine: “Amnesia and Antagonism” in: Noor, Farish A. (ed.): Terrorising the Truth. 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Frankfurt/M.: Fischer, 1999. 25 Exenberger: Die Dritte Welt © Andreas Exenberger 2000,2001 WP 00/09 Parnreiter, Christoph, Andreas Novy und Karin Fischer (Hrsg.): Globalisierung und Peripherie. Umstrukturierung in Lateinamerika, Afrika und Asien. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel, 1999. Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Europäischen Expansion. Band 4: Dritte Welt Afrika. Stuttgart u.a.: Kohlhammer, 1990. Reno, William: Warlord Politics and African States. Boulder, London: Lynne Rienner, 1998. Schade , K. Friedrich: Wolfgang Sachs: Zur Archäologie der Entwicklungsidee. Frankfurt/M.: Verlag für interkulturelle Kommunikation, 1992. Schlichting , Georg: Das Verschuldungsproblem der Dritten Welt. Lösungsmöglichkeiten und Ansätze zur Vermeidung zukünftiger Schuldenkrisen. Pfaffenweiler: Centaurus, 1997. Stiftung Entwicklung und Frieden: Globale Trends 2000. Fakten, Analysen, Prognosen. Frankfurt/M.: Fischer, 1999. UNDP: Bericht über die menschliche Entwicklung 1996. Bonn: UNO-Verlag, 1996. 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