Vorlesungsskript Nephrologie

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Vorlesungsskript Nephrologie
Vorlesungsskript
Nephrologie
13. Version, Mai 2012
Medizinische Klinik und Poliklinik D
Prof. Dr. Pavenstädt
in Kooperation mit
Frau Prof. Dr. Dr. Brand, Herrn Prof. Dr. Brand, Herrn PD Dr. Büssemaker, Herrn Prof. Dr.
Gabriëls, Frau Dr. Otte und Frau Prof. Dr. Suwelack
“Es gibt Geschichten von Assistenzärzten, die religiös ungläubig oder Agnostiker
waren, bis sie zur Nephrologie kamen und eine Vorstellung davon entwickelten, was
in einer Niere wirklich vor sich geht – woraufhin sie mystische Erlebnisse hatten und
erkannten, dass nur eine allwissende göttliche Intelligenz so etwas wie eine Niere
erfinden könnte. Das hochempfindliche Gleichgewicht von Elektrolyten, Hormonen,
Giften, Flüssigkeiten, Gasen in Lösungen, Zucker und Partikeln, die über Membranen
in den Nieren ausgetauscht werden, ist für den sterblichen Verstand kaum fassbar.
Jemand hat mal bemerkt, dass der heilige Paulus – wenn er heute leben würde – auf
dem Weg nach Damaskus nicht wegen eines Blitzstrahls von Pferd gestürzt wäre; er
wäre heute ein Assistenzarzt der Nephrologie, der angesichts der unglaublichen
Komplexität einer Niere die Sprache verliert. Manche Nierenfachärzte gaben sogar
ihre Praxis auf und wurden Fernsehprediger; sie gingen mit einem anatomischen
Modell der Niere auf Sendung und verkündigten, das Ewige Leben könne nur durch
ein tiefes Verständnis der Niere erlangt werden“ (aus Richard Dooling, Bett Fünf).
Inhaltsverzeichnis
1. Die Aufgabe der Niere
Seite
3
2. Die Bestimmung der Nierenfunktion
5
3. Die Urinuntersuchung, Abklärung Hämaturie – Proteinurie
7
4. Die Glomerulonephritiden
11
5. Das Management der Ödeme
21
6. Die Elektrolytstörungen: Hypo- und Hypernatriämie
24
7. Die Niere und systemische Erkrankungen
27
I. Die diabetische Nephropathie
II. Die Lupus Nephritis
III. Die Wegener Granulomatose
IV. Das multiple Myelom
V. Das hämolytisch-urämische Syndrom
VI. Das hepatorenale Syndrom
27
31
33
34
36
38
8. Die Autosomal dominante polyzystische Nierenerkrankung
41
9. Der Patient mit akutem Nierenversagen
42
10. Die chronische Nierenerkrankung (CKD)
51
11. Nierenersatztherapien inkl. Nierentransplantation
54
12. Säure-Basen-Haushalt
65
13. Die Harnwegsinfektion
72
14. Der hypertensive Patient
74
15. Fettstoffwechselstörungen
93
2
1. Aufgaben der Niere:
Ansprechpartner: Prof. Dr. Pavenstädt, [email protected]
Aufrechterhaltung eines stabilen inneren Milieus
Kontrolle der Salz- und Wasserausscheidung
Ausscheidung von Endprodukten des Stoffwechsels
und Fremdstoffen (Entgiftung)
Filter für Proteine
Regulation des Säure-Basen-Haushaltes
Produktion wichtiger Hormone (Erythropoetin, Kalzitriol)
Beteiligung an der Blutdruckkontrolle
Die Nierendurchblutung (ca. 1,2 l/min) wird autoreguliert, das heißt, dass sich die glomeruläre Filtrationsrate zwischen einem Blutdruck von 80 – 180 mmHg nur wenig ändert. Ziel der Autoregulation ist
es, die Glomerula vor Schäden durch zu hohe Blutdruckwerte zu bewahren bzw. den Abfall der
glomerulären Filtrationsrate durch niedrige Blutdruckwerte zu verhindern. Die Autoregulation ist
wichtig bei Erkrankungen, die mit einer Verminderung des renalen Blutflusses einhergehen
(Exsikkose, Herzinsuffizienz, Leberzirrhose). Bei diesen Erkrankungen können lokal ausgeschüttete
Vasodilatatoren, insbesondere Prostaglandine, durch Dilatation des Vas afferens des Glomerulums
die glomeruläre Filtrationsrate aufrechterhalten. Unabhängig von der Nierendurchblutung kann die
glomeruläre Filtrationsrate durch hormonell induzierte Widerstandsveränderungen der afferenten und
efferenten Arterie reguliert werden. Unter bestimmten Umständen können so Hemmer der
Prostaglandinsynthese (Cyclooxygenasehemmer), die die Vas afferenz kontrahieren oder
Angiotensin-Converting-Enzyme-Hemmer, die die Vas efferenz dilatieren ein akutes Nierenversagen
induzieren (siehe Abbildung 1).
A
B
C
Abbildung 1: Regulation der glomerulären Durchblutung
A. Normal
B.
Erhöhter
Widerstand
des
Vas
afferens:
z.B.
durch
Noradrenalin,
Prostaglandinsynthesehemmer. Dadurch werden renaler Blutfluss, Ultrafiltrationskoeffizient und
glomeruläre Filtrationsrate reduziert. In bestimmten klinischen Situationen (Herzinsuffizienz,
Dehydratation) kann es nach Gabe eines Prostaglandinsynthesehemmers zu einer
Vasokonstriktion der Vas afferens und damit zu einem akuten Nierenversagen kommen.
C. Erhöhter Widerstand des Vas efferens: z.B. durch Angiotensin II. Dadurch wird der renale
Blutfluss reduziert, der Ultrafiltrationskoeffizient und die glomeruläre Filtrationsrate aber erhöht!
In bestimmten klinischen Situationen (Nierenarterienstenose) kann es so durch Hemmung der
Angiotensin-II-Wirkung (ACE-Hemmer) zu einer Vasodilatation der Vas efferens und damit zu
einem akuten Nierenversagen kommen.
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Jede der 2 Millionen Funktionseinheiten der Niere, das Nephron, besteht aus einem Glomerulum, in
dem Plasmaflüssigkeit abfiltriert wird und einem Tubulussystem, dessen Transportsysteme Urin aus
dem Primärfiltrat herstellen. Im Glomerulum wird ein Ultrafiltrat des Plasmas gebildet. Die
Filtrationsbarriere wird dabei vom Endothel, der glomerulären Basalmembran und den Podozyten
gebildet (Abbildung 2).
Die Filtrationsbarriere verhindert den Übertritt von Proteinen, die größer als 10 - 50 kDa (Größe von
Albumin) sind. Störungen in der Funktion der Filtrationsbarriere führen zur Proteinurie.
Abbildung 2: Aufbau des Glomerulum:
Die Filtrationsbarriere wird vom Endothel (EN),
der glomerulären Basalmembran (BM) und den
Podozyten (Synonym: viszerale glomeruläre
Epithelzelle, EP) mit seinen Fußfortsätzen (F)
gebildet. Zwischen den Kapillaren liegt das
Mesangium (M)
EA = Afferente Arterie, B = Bowmann Kapsel,
PT = Proximaler Tubulus, MD = Macula Densa,
BS = Bowmanscher Kapselraum,
N = Nervenendigung
Das sogenannte tubuloglomeruläre Feedback spielt eine wichtige Rolle bei der Autoregulation der
glomerulären Filtrationsrate. Eine Erhöhung des renalen Perfusionsdruckes führt initial zu einer
Erhöhung der glomerulären Filtrationsrate (GFR). Durch die Erhöhung der GFR wird mehr Cl an die
Macula Densa transportiert. Daraufhin produzieren die Zellen des Juxtaglomerulären Apparates über
einen noch nicht genau bekannten Mechanismus vasoaktive Hormone. Diese induzieren eine
Kontraktion der afferenten Arterie. Hiedurch wird die glomeruläre Filtrationsrate gesenkt.
Im proximalen Tubulus werden ca. 70% des filtrierten Wassers und Kochsalzes, 95% des filtrierten
Bicarbonats und 100% der filtrierten Glukose und Aminosäuren wieder aufgenommen. Des Weiteren
sezerniert der proximale Tubulus Säuren und Basen. Die Niere resorbiert die gesamte filtrierte
+
Bicarbonatmenge und scheidet ca. 100 mmol H pro Tag in Form von Puffern aus.
Die Konzentrierung bzw. Verdünnung des Urins ist eine Leistung der Henle Schleife und der Wirkung
des antidiuretischen Hormons (ADH) am distalen Tubulus und Sammelrohr. Der aufsteigende Teil
der Henle Schleife resorbiert NaCl, ohne dass Wasser folgen kann. Durch die dadurch gesteigerte
Osmolarität im Interstitium wird dem absteigenden Schenkel der Henle Schleife Wasser entzogen.
Des Weiteren entzieht interstitieller Harnstoff dem absteigenden Teil der dünnen Henle Schleife
Wasser.
Die Wasserresorption im distalen Tubulus und Sammelrohr geschieht über Wasserkanäle, die unter
dem Einfluss von ADH in die luminale Zellmembran eingebaut werden.
Die Harnkonzentrierung ist eingeschränkt, wenn die Hyperosmolarität des Nierenmarks nicht
aufgebaut werden kann oder wenn die Wasserpermeabiliät herabgesetzt ist: z.B. bei Gabe von
+
+
Schleifendiuretika (In der dicken aufsteigenden Henle Schleife liegen Na -K -2Cl -Transporter,
+
Angriffspunkte für die Schleifendiuretika), Kaliummangel (bei intrazellulärem K -Mangel werden die
+
+
+
luminalen K -Kanäle verschlossen, die Aktivität des Na -K -2Cl -Transporters wird dadurch reduziert),
proteinarmer Ernährung (durch Verringerung der Harnstoffzufuhr), Nierenentzündungen (Dilatation der
Vasa recta, dadurch wird die Hyperosmolarität des Nierenmarks reduziert, osmotische Diurese
(Diabetes mellitus), Diabetes insipidus (ADH Mangel oder ADH Resistenz).
4
2. Bestimmung der Nierenfunktion
Ansprechpartner: Prof. Dr. Pavenstädt, [email protected]
In den meisten klinischen Situationen reicht zur Abschätzung der Nierenfunktion eine Bestimmung der
Kreatininkonzentration im Serum aus.
Kreatin
in Muskulatur
nicht-enzymatische
Wasserabspaltung ⇒ Kreatinin
Bei 70 kg ca. 1 g/Tag
Kreatininkonz. 1,0 mg/dl
in der Zirkulation
Kreatininkonz. 1 g/Tag
im Urin
Die Kreatininkonzentration eignet sich besonders gut
zur Diagnose einer Nierenfunktionsstörung. Kreatinin
wird durch einen nicht-enzymatischen Prozess in
konstanter Menge aus der Muskulatur freigesetzt (ca.
1g/Tag) und frei filtriert (Abbildung 3). Allerdings
muss man aufgrund der Beziehung zwischen
Kreatininkonzentration
und
glomerulärer
Filtrationsrate beachten, dass:
1. ein “geringer“ Anstieg der Kreatininkonzentration von
1,0 auf 1,5 mg/dl einen großen Abfall der glomerulären
Filtrationsrate von ca. 120 auf 80 ml/min, ein relativ
großer Anstieg des Kreatinins von 5 auf 10 mg/dl
hingegen “nur“ einen Abfall der glomerulären
Filtrationsrate von 24
auf 12 ml/min reflektiert
(Abbildung 4).
2. ein alter Mensch mit geringer Muskelmasse bei
“normaler Kreatininkonzentration” eine schon deutlich
eingeschränkte glomeruläre Filtrationsrate haben kann
(Abb. 4).
3. Das Kreatinin i.S. ist kein Frühmarker der renalen
Schädigung, es gibt leider kein Troponin der Niere.
Abbildung 3: Kreatinin : Synthese und Ausscheidung
Kreatinin
(mg/dl)
Abbildung 4: Beziehung zwischen der
glomerulären
Filtrationsrate
und
der
Serumkreatinin-Konzentration.
Die offenen Kreise zeigen die Beziehung, die
bestehen würde, falls Kreatinin ausschließlich
durch glomeruläre Filtration sezerniert würde.
Gestrichelte Linie: Grenzwert für den normalen
Kreatininwert
Gefüllte Kreise: Patientendaten
Beachte: Variationen der GFR zwischen 60120 ml/min sind manchmal mit grenzwertigen
Kreatininwerten assoziiert.
Glomeruläre Filtrationsrate (ml/min)
Bei Patienten mit einer Nierenerkrankung ist die Abschätzung der glomerulären Filtrationsrate zur
Beurteilung der verbleibenden Nierenfunktion und des Krankheitsverlaufs wichtig. Die Bestimmung der
Kreatininclearance ist ein guter Parameter zur Beurteilung der glomerulären Filtrationsrate:
Kreatinin wird ausschließlich renal eliminiert und frei filtriert. Kreatinin wird zusätzlich im proximalen
Tubulus sezerniert, wobei der sezernierte Anteil bei eingeschränkter Nierenfunktion größer wird.
Daher weicht bei zunehmender Niereninsuffizienz die Kreatininclearance von der glomerulären
Filtrationsrate nach oben ab.
Es wird daher im Praxisalltag die Nierenfunktion mit Hilfe von etablierten Formeln berechnet:
Besonders wichtig ist dies vor Gabe von Antibiotika: Dosisanpassung!
2
Normwert: > 90 ml/min/1.73 m
5
A. MDRD Formel: Eine neue verkürzte Formel zur Abschätzung der GFR wurde im Rahmen der
Studie “Modification of diet in Renal Diseases“ (MDRD-Studie) validiert. Sie bestimmt die GFR aus
Serumkreatinin, Alter, Rasse und Geschlecht. Die Abschätzung der GFR mithilfe der verkürzten
MDRD-Formel gilt bei GFR Weten unter 60 ml/min als fast ebenso zuverlässig wie die Berechnung
2
der Kreatininclearance aus dem 24-Stunden-Urin. Bei Werten unter 20 ml/min/1,73 m kann es
allerdings zu einer Überschätzung der GFR kommen.
-1,154
-0,203
MDRD Formel: GFR = 186 x (Serumkreatinin)
x (Alter)
Bei Frauen wird der errechnete Wert mit 0,742 multipliziert.
Im Internet lässt sich die “MDRD-GFR“ rasch berechnen: z.B. unter
http://www.kidney.org/professionals/KDOQI/gfr.cfm (Bitte ausprobieren)
Am UKM wird z.B. für jeden Patienten automatisch die geschätzte GFR im Labor bestimmt.
B. Formel nach Cockroft und Gault:
(140 – Alter) x kg (Körpergewicht)
____________________________
Serumkreatinin (mg/dl) x 72
Bei Frauen wird wegen der geringeren Muskelmasse mit dem Faktor 0,85 multipliziert.
Welche Nierenfunktion hat eine 100 Jahre alte Frau mit einem Kreatinin von 2,0 mg/dl, die 50 kg
wiegt. Bitte berechnen.
C. Kreatininclearancebestimmung durch Urinmessungen
Urinvolumen (ml/Tag) x Urinkreatininkonz. (mg/dl)
________________________________________
Plasmakreatininkonz. (mg/dl) x 24 x 60 (min/Tag)
Nach dem 20. Lebensjahr nimmt pro Dekade die glomeruläre Filtrationsrate um ca. 5% ab!
Hohe Proteinzufuhr (rohes Fleisch) erhöht bei Gesunden die Kreatininausscheidung!
Limitationen der Kreatininclearance:
Unterschätzung der GFR durch inkomplettes Sammeln
Überschätzung der glomerulären Filtrationsrate bei eingeschränkter Nierenfunktion
Wie sammelt man den Urin?
Morgens: Blase entleeren,
Sammelperiode beginnt
Sammeln jeden Urins in ein Plastikgefäß
Vor einem Stuhlgang Urin sammeln
Nach genau 24 Stunden wird die Blase vollständig entleert
Bestimmung der Kreatininkonzentration im Sammelurin
und des Serumkreatinins
Die Harnstoffkonzentration ist kein geeigneter Parameter für die Beurteilung der glomerulären
Filtrationsrate: Die Harnstoffkonzentration im Serum hängt nicht nur von der glomerulären
Filtrationsrate sondern auch von der Produktionsrate und der tubulären Resorptionsrate ab.
Die Harnstoffproduktion ist z.B. erhöht bei gesteigerter Proteinzufuhr, Katabolismus und intestinalen
Blutungen.
6
3. Die Urinuntersuchung:
Ansprechpartner: Prof. Dr. Pavenstädt, [email protected]
Die Urinuntersuchung ist eine wichtige Basisuntersuchung, zum Beispiel beim akuten
Nierenversagen, glomerulären Erkrankungen und Infektionen. Der Spontanurin wird zunächst mit Hilfe
eines Teststreifens untersucht. Zellen und Errgeger im Urin können am besten nach Zentrifugation
des Urins im sogenannten Urinsediment beurteilt werden.
Urinuntersuchung mittels Urin-Teststreifen und Mikroskopie des Sedimentes
1.
2.
3.
3.
4.
5.
Frischen Mittelstrahlurin in ein Plastikgefäß schütten
Teststreifen eintauchen und hiernach ablesen
10 ml Urin zentrifugieren: 3000 U/min für 5 Minuten
Überstand abkippen, abtropfen lassen
Sediment homogenisieren (Mit Pipette aufsaugen und ausblasen)
20 µl mit Pipette vom Sediment abnehmen und auf einen
Objektträger bringen, Deckglas auflegen.
6. Mikroskopie mit 40er Objektiv und 10er Okular
Teststreifen für die Urinanalytik
Reaktionszone des Teststreifens enthält Indoxylester. Dieser wird durch
Leukozyten
Esterasen der Granulozyten gespalten. Indoxyl oxidiert zu Indigoblau.
Erythrozyten
Erythrozyten, Hämoglobin, Myoglobin werden nachgewiesen
pH
Normal zwischen 4,5-8. pH > 8: Infektion? Bei Patienten mit metabolischer
Azidose sollte der pH < 5,3 sein. Falls nicht: Renal tubuläre Azidose?
Glukose
Positiv bei Diabetes mellitus, sehr selten: Defekt im proximalen Tubulus
Ketone
erhöht bei Ketoazidose
Nitrit
erhöht bei Harnwegsinfekt
Proteinurie
Normal bis 150 mg/Tag (darüber Proteinurie)
Semiquantitativ (ca. ab einer Proteinurie von 300 mg/Tag, also relativ
unsensitiv), detektiert vor allen Dingen Albumin, negativ bei Bence- JonesProtein. Die Albuminkonzentration im Urin ist abhängig von der Menge an
Albumin und vom Urinvolumen. Dadurch wird z.B. bei einem Patienten mit
erhöhter Proteinurie nach einer größeren Trinkmenge die Urinmenge erhöht
und die Proteinkonzentration und damit die Reaktion des Stix reduziert.
Mikroalbuminurie
< 30 mg/Tag. Mikroalbuminurie: 30 – 300 mg/Tag
Weitere Analysenmethoden im Urinüberstand
Immunologisch
Quantifizierung von Urinproteinen (Albumin, IgG, α1-Mikroglobulin) freie
Leichtketten, Transferrin
Das Urinsediment (siehe auch Abbildung 5)
Erythrozyten
Das Auftreten von extraglomerulären (glattwandigen Erythrozyten) deutet
auf Blutungen hin. Dysmorphe Erythrozyten, vor allen Dingen Akanthozyten
werden bei glomerulären Erkrankungen gesehen.
Erythrozytenzylinder
Pathognomonisch für akute Glomerulonephritis
Leukozyten
Weiße Zellen, Leukozytenzylinder: Hinweis auf Harnwegsinfekt
Kristalle
Treten oft auch bei gesunden Patienten auf. (Cave: Cystin-Kristalle
(hexagonal) bei Cystinurie, einer angeborenen Erkrankung mit vermehrter
Ausscheidung von Cystin und Bildung von Cystinsteinen).
Epithelzellen
Treten oft auch bei gesunden Patienten auf. Vermehrt bei einer Vielzahl von
tubulären und glomerulären Erkrankungen.
7
Erythrozytenzylinder
Eumorphe
Erythrozyten
Leukozyten
Epithelzelle
Akanthozyten
(dysmorphe
Erythrozyten)
Epithelzellzylinder
Abbildung 5: Befunde im Urinsediment
Abklärung Proteinurie – Hämaturie
Proteinurie: Unter einer Proteinurie versteht man eine Eiweißausscheidung von mehr als 150 mg
Eiweiß pro Tag. Die normale Albuminausscheidung liegt bei unter 30 mg/Tag; eine Mikroalbuminurie
liegt vor wenn zwischen 30 mg und 300 mg/Tag Albumin ausgeschieden wird. Dies entspricht einem
Albumin/Kreatinin Quotienten (AKQ) von 30-300 mg/g. Zu beachten ist, dass eine Mikroalbuminurie oft
in eine Proteinurie übergeht und dass eine Albuminurie ein wichtiger Riskofaktor sowohl für die
Progression einer Nierenerkrankung als auch für kardiovaskuläre Ereignisse ist.
Glomeruläre Proteinurie:
Überlaufproteinurie:
Tubuläre Proteinurie:
Postrenale Proteinurie:
Defekter glomerulärer Filter
Vermehrt gebildetes und filtriertes niedermolekulares Protein
(monoklonale Leichtketten), die Niere ist intakt.
Verminderte Rückresorption im Tubulus (interstitielle Nephropathie,
Fanconi Syndrom)
Plasmaproteine, z.B. bei Blutung
Management einer Proteinurie im Stix:
Quantifizierung der Proteinurie im 24-Stunden Sammelurin oder im Spot Urin. Beim letzteren wird der
Protein/Kreatinin Quotient im ersten Morgenurin gemessen. Es wird dabei angenommen, dass die
tägliche Kreatininausscheidung 1g/Tag beträgt und das Verhältnis der ausgeschiedenen
Eiweißmenge zur Kreatininkonzentration konstant ist. In der Tat konnte gezeigt werden, dass die 24-h
Proteinausscheidung sehr gut mit der Protein/Kreatinin Ratio im Spoturin korreliert.
24 h Proteinmenge (g)
1 g Kreatinin
=
Protein im Spoturin (mg/dl)
Kreatinin im Spoturin (mg/dl)
Falls keine zusätzliche Hämaturie oder Einschränkung der Nierenfunktion vorliegt, spricht man von
einer isolierten Proteinurie. Bei Verdacht auf eine primäre glomeruläre Erkrankung wird bei einer
isolierten Proteinurie von < 1g/Tag normalerweise keine Nierenbiopsie durchgeführt.
Bei erhöhter Proteinurie: Kreatininclearance (eGFR) und Ultraschalluntersuchung der Nieren:
• Falls isolierte Proteinurie > 1 g/Tag
und unter 1. genannte Umstände und
Erkrankungen ausgeschlossen:
Nierenbiopsie
8
• Falls isolierte Proteinurie < 1 g/Tag:
Immunologische Verfahren zum Nachweis von
höhermolekularen Proteinen (glomeruläre Proteinurie,
z. B. Albumin, IgG, Transferrin)
niedermolekularen Proteinen (tubuläre Proteinurie,
z.B. beta2-Mikroglobulin)
Normalerweise keine Nierenbiopsie
• Falls Proteinurie > 1 g/Tag
und/oder Kreatininanstieg
Nierenbiopsie
Hämaturie:
Zunächst wird die Hämaturie im Urin-Stix nachgewiesen.
Jeder postive Urin-Stix muss durch eine Urin-Sediment Untersuchung weiter abgeklärt bzw.
bestätigt werden.
3 Fragen
1. Gibt es aus der Anamnese und der klinischen Untersuchung Hinweise auf eine
Hämaturie?
Menstruation, Tropenaufenthalt, Familiäre Nierenerkrankung, Dysurie bei Harnwegsinfekt,
Steinanamnese, Prostataerkrankung (Diuresestop, nachlassender Harnstrahl?), Trauma?
2. Ist die Hämaturie extraglomerulär oder glomerulär?
Extraglomerulär Glomerulär
Urinfarbe
Rot oder Rosa
Rot, Cola-ähnlich
Koagulation
Möglich
Nein
Proteinurie
< 500 mg/Tag
Oft > 500 mg/Tag
Erythrozyten
Glatt
Dysmorph
Erythr.-Zylinder
Nein
Möglich
3. Ist die Hämaturie transient oder persistierend?
Eine transiente Hämaturie kann bei bis zu 13% aller Frauen in der Postmenopause
gefunden werden. Die Ätiologie ist unklar.
Fieber, starke Anstrengungen und Traumata können eine Hämaturie verursachen.
Praktisches Vorgehen
Befund:
Sediment negativ bei positivem Teststreifen: ⇒ Farbe des Blutserums untersuchen
Serumfarbe rot ⇒ Hämoglobinurie, Serumfarbe normal ⇒ Myoglobinurie, rote Beete
Auftreten von Dysmorphen Erythrozyten, eventuell mit Erythrozytenzylindern oder
erhöhter Proteinurie aber keine Gerinnsel ⇒ Glomeruläre Erkrankung
Falls dabei Kreatininkonzentration erhöht oder/und Proteinurie > 1 g/Tag: Nierenbiopsie
durchführen
Auftreten von eumorphen Erythrozyten ⇒ verschiede Ursachen möglich
a. Harnwegsinfekt
Procedere: ggf. Urinkultur und antibiotische Therapie
b. Gerinnungsstörung
Procedere: Thrombozyten, Quick, Partielle Thromboplastinzeit (PTT), Blutungszeit
bestimmen
c. Stein
Procedere: Klinik, Ultraschall, in Verbindung mit Pyelographie, Computertomographie (CT)
d. Tumor
Procedere: Ultraschall, Zystoskopie, CT
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Beim Auftreten von eumorphen Erythrozyten liegt wahrscheinlich eine extraglomeruläre Hämaturie
vor. Oft wird keine Ursache gefunden. In ca. 13% der Fälle findet sich ein Infekt, in ca. 4% ein
Nierensteinleiden, in ca. 13% ein Tumor. Um einen Tumor auszuschließen muss daher die
Hämaturie weiter abgeklärt werden. Bei Patienten über 40 Jahren ist, da die
Ultraschalluntersuchung oft einen Tumor “übersieht“, eine CT-Untersuchung oder i.v.
Pyelographie sinnvoll. Bei Patienten unter 40 Jahren ist, da hier ein Tumor eine Rarität ist,
zunächst eine metabolische Abklärung sinnvoll: Hyperkalziurie und Hyperurikosurie können eine
Hämaturie induzieren, daher sollte die Calcium- und Uratausscheidung im 24-Sunden-Sammelurin
bestimmt werden.
Dysmorphe
Erythrozyten
Akanthozyten
Proteinurie
Abbildung 6:
Glomeruläre versus
extraglomeruläre Hämaturie
Abklärung
Proteinurie > 1g/die
Extraglomeruläre Hämaturie
und /oder
Kreatininanstieg
Nierenbiopsie
Extraglomeruläre Hämaturie
Sonographie
abnormal
Weitere
Abklärung
normal
< 40 Jahre
Hyperkalziurie
Hyperurikosurie
Alter
> 40 Jahre
i.v. Urogramm/CT
negativ
Abbildung 7: Abklärung
einer extrarenalen
Hämaturie:
Jede Hämaturie sollte
sonographisch abgeklärt
werden. Da aber durch die
Sonographie relativ häufig
Tumore übersehen werden
ist vor allen Dingen bei
Patienten über 40 J. eine
weitergehende Diagnostik
sinnvoll. Bei jüngeren
Patienten ist ein Tumor eine
Rarität.
normal
Zystokopie
Zytologie
10
4. Die Glomerulonephritiden
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Glomerulonephritiden sind entzündliche Erkrankungen des Glomerulums, die zum chronischen
Nierenversagen führen können. Glomerulonephritiden können nach klinischen oder
pathogenetischen Kriterien eingeteilt werden.
I. Klinische Einteilung
a. Asymptomatisch
Der Patient hat eine Proteinurie < 3,5 g/Tag oder/und eine Mikrohämaturie
b. Rapid progrediente Glomerulonephritis
Der Patient kommt mit Hämaturie, Proteinurie < 3,5 g/Tag, rascher Abnahme der glomerulären
Filtrationsrate bzw. Anstieg der Kreatininkonzentration im Serum (Notfall!)
c. Nephrotisches Syndrom
Der Patient hat Ödeme, Proteinurie > 3,5 g/Tag, Hypoalbuminämie < 3 g/dl,
Hypercholesterinämie. Die Nierenfunktion ist oft noch normal. Dem nephrotischen Syndrom
liegt eine Schädigung des Podozyten zugrunde. Der Podozyt umgibt mit seinen Fußfortsätzen die
Kapillaren. Zwischen den Fußfortsätzen von benachbarten Podozyten bildet sich eine dünne
Membran, die Schlitzmembran. Mutationen von Schlitzmembranproteinen führen zu hereditären
Formen des nephrotischen Syndroms. Das nephrotische Syndrom ist durch das Verschwinden der
Schlitzmembranen und der Verschmelzung der Podozyten-Fußfortsätze gekennzeichnet. Vor allen
Dingen führen drei primär glomeruläre Erkrankungen zum Nephrotischen Syndrom: Die Minimal
Change-Glomerulonephritis, die membranöse Glomerulonephritis und die fokal segmentale
Glomerulosklerose (FSGS). Die primären Erkrankungen sind durch die selektive Schädigung des
Podozyten gekennzeichnet. Das Nephrotische Syndrom kann aber auch im Rahmen von
Systemerkrankungen auftreten (z.B. Diabetes mellitus, Amyloidose, Lupus Nephritis, usw.). Bei
den Systemerkrankungen werden die Podozyten ebenfalls geschädigt; die Erkrankung ist aber
nicht auf die Podozyten beschränkt.
Zytokinfreisetzung?
Unbekannte Mediatoren?
Minimal Change FSGS
Lokale
Immunkomplexe
Membranöse GN
Abbildung 8:
Podozytenschädigung und
nephrotisches Syndrom
Podozytenschädigung
Nephrotisches Syndrom
d. Chronische Glomerulonephritis
Der Patient hat eine eingeschränkte Nierenfunktion, Hypertonie, Proteinurie und verkleinerte
Nieren
II. Pathogenetische Einteilung
Glomerulonephritiden ohne Immunkomplexablagerungen
Bei diesen Erkrankungen kommt es zu einer Schädigung der Podozyten durch noch unbekannte
Faktoren. Folge ist eine Retraktion der Fußfortsätze der Podozyten mit daraus entstehender
Proteinurie (Haupterkrankungen: Minimal Change Glomerulopathie, Fokal segmentale
Glomerulosklerose). Die Patienten präsentieren sich meist mit einem Nephrotischen Syndrom.
Glomerulonephritiden mit Immunkomplexablagerungen
11
Bei diesen Erkrankungen kommt es zu Immunkomplexablagerungen im Glomerulus. In
Abhängigkeit von Ort bzw. Zelltyp, an denen sich Immunkomplexe ablagern, entstehen
unterschiedliche klinische Syndrome (Abbildung 9).
Podozyt
Abbildung 9: Lokalisation von
Immunkomplexen bei glomerulären
Erkrankungen
Endothel
—
Endoth.
1,2: Subepitheliale Immunkomplexe
unterhalb der Podozyten
3: Subendotheliale Immunkomplexe
4: Mesangiale Immunkomplexe
5: Anti-Glomeruläre-BasalmembranAntikörper
MC
MM
= Mesangialzelle
= Mesangiale Matrix
a. Immunkomplexablagerungen unterhalb der Podozyten, auch als “subepithelial“
bezeichnet
Z.B. bei der membranösen Glomerulonephritis: Durch die in situ Immunkomplexablagerungen
kommt es zu einer Schädigung der Podozyten mit folgender Retraktion ihrer Fußfortsätze mit
daraus entstehender Proteinurie. Die Patienten präsentieren sich meist mit einem
Nephrotischen Syndrom.
b. Immunkomplexablagerungen im Mesangium und/oder subendothelial
Z.B. bei der IgA-Nephritis: Durch Ablagerungen von Immunkomplexen im Mesangium oder
unterhalb des Endothels wird eine Entzündung und Proliferation der Mesangialzellen und des
Endothels induziert, wodurch es klinisch überwiegend zu einer Hämaturie mit deformierten
Erythrozyten, Erythrozytenzylindern (sogenanntes nephritisches Syndrom) kommt. Die
Nierenfunktion kann in Abhängigkeit von der Entzündungsreaktion normal oder eingeschränkt
sein.
c. Autoantikörper gegen die glomeruläre Basalmembran
Hierbei kommt es zur Bildung eines Autoantikörpers gegen die alpha-3-Kette des Kollagen-IV der
glomerulären Basalmembran mit linearen Ablagerungen des Antikörpers entlang der Membran.
Die Antibasalmembran-Antikörper-Glomerulonephritis ist eine Unterform der Rapid Progredienten
Glomerulonephritis. Klinisch äußert sie sich in einer Hämaturie, Proteinurie (meist < 3 g/Tag) und
einem raschen Abfall der glomerulären Filtrationsrate.
Nephritisches Syndrom
Nephrotisches Syndrom
Klinische
Präsentation
Grad der glomerulären Entzündung
bestimmt die Niereninsuffizienz:
von asympt. Hämaturie bis
Kreatininerhöhung
Kreatininkonzentration evtl. noch
normal,
„asympt. Proteinurie“ oder Vollbild
Urinsediment
Aktiv (= Zellen)
Inaktiv (wenige Erys, fat bodies,
hyaline Zylinder)
Proteinurie
Gering
> 3,5 g/dl
Differenzierung: Nephrotisches versus nephritisches Syndrom
12
Im Folgenden werden 6 wichtige primäre Glomerulonephritiden besprochen.
I. Die Minimal Change Glomerulonephritis ist histopathologisch durch eine normale
Lichtmikroskopie und Immunfluoreszenzmikroskopie charakterisiert. In der Elektronenmikroskopie
findet sich eine Retraktion der Fußfortsätze der Podozyten (Abbildung 10).
In 20% der Fälle ist die Erkrankung im Erwachsenenalter Ursache eines Nephrotischen Syndroms.
Sie kann sekundär im Rahmen von Allergien, Morbus Hodgkin, Lymphomen und nach Einnahme
nichtsteroidaler Antirheumatika auftreten.
Abbildung 10: Minimal Change GN
Lichtmikroskopie:
Die Kapillarlumen sind offen, die
glomeruläre Basalmembran (langer
Pfeil) und die tubuläre Basalmembran
(kleiner Pfeil) sind gleich dick. Die
Mesangiumzellen (2 Pfeile) sind im
Zentrum der Kapillare lokalisiert.
Normale Niere
Elektronenmikroskopie:
Normale Fußfortsätze (FP)
Minimal Change GN
Elektronenmikroskopie:
Einziehung der Fußfortsätze (Pfeil)
Pathogenese: Nicht genau geklärt. Es wird vermutet, dass Zytokine, die durch aktivierte Lymphozyten
freigesetzt werden, die Podozyten schädigen.
Klinik: Nephrotisches Syndrom, selten Hämaturie (10%), sehr selten akutes Nierenversagen.
Prognose: Sehr gute Langzeitprognose aber hohe Rezidivrate (ca. 30%)
Komplikationen des Nephrotischen Syndroms:
Thrombose, Lungenembolie
(Mechansimus nicht gut verstanden, Überwiegen der prokoagulatorischen Proteine)
Infektionen (Vermehrte Immunglobulinausscheidung, etc.)
Hypovolämie (Flüssiggeitsshift ins Interstitium)
Akutes Nierenversagen (selten)
13
Therapie:
1. Allgemeine Basis-Therapiemaßnahmen beim Nephrotischen Syndrom:
► Einsatz von Schleifendiuretika bei symptomatischer Überwässerung
► Reduktion der Kochsalzzufuhr (< 5 g NaCl-Zufuhr/Tag)
► Einsatz eines ACE-Hemmer bzw. bei Unverträglichkeit
eines Angiotensin-II-Rezeptorblockers
► Zusätzliche antihypertensive Therapie, falls keine normotensive Situation
(Ziel-RR 125/75 mmHg) unter der ACE-Hemmertherapie erreicht wird
► Statingabe bei Hyperlipidämie
► Antikoagulation bei Albumin i.S. < 2g/dl
► Nikotinabstinenz
2. Spezifische Therapie der Minimal Change GN:
1. Gabe von Prednison, 1 mg/kg Körpergewicht.
2. Osteoporoseprophylaxe beachten: Calcium 1000 mg/die + Vitamin D 500 IU/die
Knochendichtemessung, ggf. Bisphosphonate
3. Nach Remission (Sistieren der Proteinurie): Fortführen der Prednisontherapie über 4 Wochen,
dann mit halber Dosierung für 1 - 2 Monate.
Beim ersten Rezidiv: Wiederholung der Therapie
Bei Steroidresistenz (kein Ansprechen nach 16 Wochen) oder häufigen Rezidiven (> 2 Rezidive
/6 Monate): Rebiopsie erwägen. Therapie: Cyclosporin A, initial 5 mg/kg Körpergewicht für 12
Monate oder Cyclophosphamid: 2 mg/kg Körpergewicht für 12 Wochen.
Mögliche Nebenwirkungen der Cyclophosphamidtherapie:
3
Leukopenie (cave: Dosierungsanpassung nach Leukozytennadir, nicht unter 3000 Leukozyten/mm ),
hämorrhagische Zystitis, Sterilität!, Spätentwicklung von Malignomen.
Daher ist eine schriftliche Aufklärung des Patienten notwendig!
Bei Patienten sollte Samen asserviert werden. Patientinnen sollten vor der Therapie gynäkologisch
untersucht und beraten werden. Ein Therapie mit GnRH Analoga (3.75 mg D-TRP6-GnRH-a i.m.
einmal pro Monat) ist zur Prophylaxe der Infertilität indiziert
II. Bei der fokal segmentalen Glomerulosklerose (FSGS) kommt es in einzelnen Glomerula (fokal)
histopathologisch zu einem entzündlichen Umbau von zunächst einem Teil der Kapillarschlingen
(segmental) (Abbildung 11). Es ist zunächst eine deskriptive Diagnose – keine Krankheitsentität
Einteilung:
Idiopathisch; akutes Nephrotisches Syndrom
Familiär/genetisch (Mutationen der Schlitzmembranpoteine)
Viral (HIV, Parovirus B-19, CMV)
Med./Drogen (Heroin, Interferon α, Litium, Pamidronat, Siroli.)
Bei anderen Glomerulonephritisformen
Sekundär bzw. Adaptiv (5/6 Nephrektomie, Hypertonie, Adipositas)
Meist kein nephrotisches Syndrom
Langsam ansteigende Proteinurie
Fokale Fußfortsatzverschmelzung
Normoalbuminämie (>3.5 g/dl)
Abbildung 11:
FSGS Initiale Phase:
Das linke Glomerulum ist
intakt. Das rechte Glomerulum ist vergrößert
und zeigt zwei FSGS Herde.
14
Pathogenese: Nicht genau geklärt. Im Blut zirkulierende Faktoren schädigen die Podozyten.
Zirkulierende Mediatoren
Hypertonie, Gene
reversibel
Schädigung des Podozyten
Albuminurie/Proteinurie
Ablösung/Apoptose
irrreversibel
Missfiltration
Kapilläre Expansion
FSGS
Abbildung 12: Pathogenese der FSGS
Klinik: Nephrotisches Syndrom (70%), Hämaturie (30%), Hypertonie (50%), eingeschränkte
Nierenfunktion (25%)
Prognose: Sie ist abhängig von der Proteinurie:
Proteinurie zwischen 3 und 10 g/Tag:
50% der Patienten entwickeln eine Niereninsuffizienz nach 6 - 8 Jahren
Proteinurie < 3 g/Tag: Ausreichende Nierenfunktion nach 10 Jahren bei 80% der Patienten
Rezidiv nach Nierentransplantation bei ca. 30% der Patienten.
Therapie: A. Allgemeine Basis-Therapiemaßnahmen, siehe Seite 14. B. Primäre FSGS: Initiale
Therapie mit Prednison, 1 mg/kg Körpergewicht für bis zu 4 Monate. Hiernach: Gabe von Prednison,
0,5 mg/kg Körpergewicht für 2 Monate. Erfolg der Therapie bei nur ca. 60% der Patienten.
Bei Nichtansprechen nach 4 Monaten (Steroidresistenz): Gabe von Cyclosporin, 3-4 mg/Tag.
Der Therapieeffekt setzt manchmal erst nach 2 - 3 Monaten ein. Alternativen: FK506, Mycophenolat
Mofetil, Rituximab ( alle nicht durch Studien gesichert)
Bei Steroidabhängigkeit (Wiederauftreten des Nephrotischen Syndroms beim Tappern der
Prednisondosis): Cyclosporin oder Cyclophosphamid 2 mg/kg/Tag für 8-12 Wochen.
Sekundäre FSGS: Keine immunsuppresive Therapie! Therapie der Grunderkrankung,
Blutdrucksenkung, ACE Hemmer
III. Die membranöse Glomerulonephritis ist eine Immunkomplexnephritis, bei der es zur lokalen
Bildung von Immunkomplexen unterhalb der Podozyten (subepithelial) kommt (Abbildung 13). Sie
ist in ca. 30% der Fälle Ursache für ein Nephrotisches Syndrom im Erwachsenenalter.
Man unterscheidet eine idiopathische membranöse Glomerulonephritis (80%) von einer sekundären
Form (20%), hauptsächliches Auftreten bei Tumoren, Infektionen: Malaria, Hepatitis C u. B., Syphillis,
Schistosomiasis Autoimmunerkarnkungen: Sarkoidose, M. Crohn, Lupus erythematodes, rheumatoide
Arthritis, Hashimoto-Thyreoiditis, Dermatomyositis, ankylosierende Spondylitis. Medikamente:
Captopril, Penicillamin, Gold, NSAR.Toxine: Formaldehyd
15
Abbildung 13: Die
membranöse
Glomerulonephritis:
(Lichtmikroskopie)
Verdickung der glomerulären
Basalmembran (lange Pfeile) im
Vergleich zur tubulären Basalmembran (kurzer Pfeil), Zellzahl
normal, Areale mit mesangialer
Expansion (Sternchen).
Immunfluoreszenz;
Granuläre
IgG-Ablagerungen
entlang
der
glomerulären
Basalmembran
sind
durch
Immunfluoreszenz markiert.
Elektronenmikroskopie:
Unterhalb des Podozyten sind
Immunkomplexe (D = Dense
deposit) und
eingezogene
Fußfortsätze zu erkennen.
Pathogenese: Es kommt zu einer lokalen Antigen-Antikörperreaktion unterhalb der Podozyten. Das
liegt dabei auf den Podozyten. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass ca. 70% der Patienten mit
primärer membranöser Glomerulonephritis Autoantikörper gegen den M-Typ Phospholipase A2
Rezeptor haben. Durch die Bildung von Antikörperkomplexen unterhalb der Podozyten wird lokal das
Komplementsystem aktiviert, deren Faktoren von den Podozyten aufgenommen werden.
Komplementfaktoren, in erster Linie C5b-9, schädigen die Podozyten durch die Freisetzung von
Sauerstoffradikalen und Entzündungsmediatoren, die die darunterliegende Basalmembran und den
Podozyten selbst schädigen. Es kommt zur Proteinurie.
Klinik: Alter der Patienten > 30 Jahre (80 - 95%), Männer (70%) - Frauen (30%), Nephrotisches
Syndrom (80%), asymptomatische Proteinurie (20%), Hypertonie (30%), Mikrohämaturie (50%),
Kreatinin > 2 mg/dl (10%), normale Komplementspiegel (lokale Bildung), relativ häufig thrombotische
Komplikationen (Nierenvenenthrombose).
Prognose: Patienten, die nicht nephrotisch sind, haben eine sehr gute Prognose (< 5% entwickeln
eine Niereninsuffizienz). ca. 30% der Patienten entickeln nach 1-2 Jahren eine komplette oder partielle
Remission des Nephrotischen Syndroms.
Von den Patienten mit einem Nephrotischen Syndrom sind aber nach 10 Jahren ca. 40%
dialysepflichtig.
Daher ergibt sich folgende Herausforderung: Unnötige Behandlung, da 30% Spontanremission versus
längerfristige Gefahr der Niereninsuffizienz und Komplikationen ohne Behandlung
Therapie:
1. Kein Nephrotisches Syndrom: Kontrollen, keine Therapie aufgrund einer guten Prognose.
2. Nephrotisches Syndrom: 6 Monate Beobachtungsphase, da Spontanremissionen beobachtet
werden. Hier nur Allgemeine Basis-Therapiemaßnahmen (S. 14).
Falls ein Nephrotisches Syndrom (Eiweißausscheidung > 4 g/Tag) mehr als 6 Monate persistiert
und/oder es zu einem Kreatininanstieg kommt (Alarmzeichen) ist eine immunsuppressive Therapie
indiziert. Ziel: Rückgang der Proteinurie, Erhalt der Nierenfunktion: Komplette oder partielle Remission
(Porteinurie < 3 g/Tag), auch hierunter schon verbesserte renale Prognose.
Therapie nach Ponticelli: Für 6 Monate: 1., 3. und 5. Monat: Methylprednisolon i.v., 1 g/Tag für 3
Tage, hiernach Prednison, 0,5 mg/kg/Tag p.o. für 27 Tage.
2., 4. und 6. Monat Cyclophosphamid, 2 mg/kg/Tag oral.
Alternativ und bei Nichtansprechen oder schlechter Toleranz:
Cyclosporin, 3-4 mg/kg Körpergewicht (Siegel ca. 125 ng/ml), initial mit Prednison, 1 mg/kg alle 2
Tage.
3. Alternative: Rituximab (CD20 Antikörper), 2x1 g über 2 Wochen, Erfolgschance: ca. 50%
16
IV. Die IgA-Nephritis ist die häufigste Glomerulonephritisform. Sie ist erkennbar durch einen
immunfluoreszenzoptischen Nachweis von IgA-Ablagerungen im Mesangium (Abbildung 13).
Allerdings kann es auch zu Ablagerungen von IgG, IgM und C3 im Mesangium kommen. In der
Lichtmikoskopie sieht man eine segmentale oder diffuse mesangiale Hyperzellularität.
Segmental betonte Verbreiterung des
Mesangiums mit Hyperzellularität
(Pfeile) bei der IgA-Nephritis
Immunfluoreszenzoptischer Nachweis
von IgA-Ablagerungen im Bereich des
Mesangiums
Abbildung 13: Die IgA Nephritis
Pathogenese: Bei der IgA-Nephritis kommt es zu einer gestörten Bildung von IgA1 im Knochenmark
und in der Mucosa der Schleimhäute. IgA1 besitzt O- und N-Glykosylierungen. Durch eine falsche
Glykosilierung kann IgA1 eine höhere Bindungsaffinität zum Mesangium bekommen und einen Defekt
in der Clearance von IgA1 in der Leber auslösen. In der Blutbahn zirkulierende IgA1 enthaltende
Immunkomplexe lagern sich dann im Mesangium ab. Bei Bindung von IgA1 an Mesangialzellen
kommt es zu Schädigung der Zellen: Entzündungsmediatoren und Zytokine, wie z.B. der „platelet
derived growth factor“, werden freigesetzt. Es kann dann mit oder ohne vorausgehender Mesangiolyse
zu einer Mesangialzellproliferation kommen. Diese kann wieder ausheilen oder in eine
Glomerulosklerose übergehen.
Klinik: Sehr variabel. Ca. 40% der Patienten haben eine asymptomatische Mikrohämaturie
(Zufallsbefund). Ca. 30 - 40% der Patienten (meist < 40 Jahre) bekommen eine rekurrierende
Hämaturie, die vor allen Dingen 2 - 3 Tage nach einer Infektion des oberen Respirationstraktes
auftritt. 5% der Patienten präsentieren sich mit einem Nephrotischen Syndrom. 5% der Patienten
erscheinen mit einem akuten Nierenversagen.
10 - 20% der Patienten präsentieren sich mit einer chronischen Niereninsuffizienz, vermutlich durch
eine länger bestehende IgA-Nephritis.
Prognose: Innerhalb von 20 Jahren entwickeln ca. 20 - 30% der Patienten mit IgA-Nephritis eine
Niereninsuffizienz. Ein erhöhtes Kreatinin oder/und eine Proteinurie von > 1 g/Tag oder/und eine
Hypertonie sind schlechte Prognosefaktoren.
Therapie:
1. Normale Nierenfunktion, isolierte Mikrohämaturie, minimale Proteinurie:
Keine Therapie, Kontrolle alle 6 Monate
Allgemeine Basis-Therapiemaßnahmen: Nikotinabstinenz, Analagetika meiden
Proteinurie > 500 mg/Tag:
Kochsalzarme Diät, Blutdruckeinstellung, ACE Hemmer, Nikotinabstinenz, Analagetika meiden,
Aggressive Blutdruckeinstellung mit einem ACE-Hemmer oder AT1 Antagonisten
(Ziel RR: 125/75 mmHg).
Bei persistierender Proteinurie > 1 g über 6 Monate trotz ACE Hemmer-Therapie und einer nur
moderaten Einschränkung der GFR (Kreatinin ≤ 1,5 mg/dl) ist die Therapie mit Kortikosteroiden nach
dem Pozzi-Schema ratsam: Methylprednisolon: 1g i.v. im 1., 3. und 5 Monat Prednison: 0,5 mg/kg
jeden 2. Tag für 6 Monate. Die Indikation für diese Therapie wird gerade in Studien geprüft.
2. Akutes Nierenversagen bzw. rascher Anstieg der Kreatininkonzentration:
Prednison, 40 mg/Tag und zusätzlich Cyclophosphamid, 1,5 mg/kg Körpergewicht/Tag für 3 Monate,
hiernach Azathioprin, 1,5 mg/kg Körpergewicht für 2 Jahre
17
V. Die membranoproliferative Glomerulonephritis (Synonym: mesangiokapilläre Glomerulonephritis) Die MPGN wird nach ihren typischen lichtmikroskopischen Zeichen definiert: Verdickung der
glomerulären Basalmembran durch Ablagerung von Immunkomplexen oder mesangialer Matrix
zwischen GBM und Endothelzellen („membrano-“) bis hin zu Doppelkonturierungen der GBM („tram
tracks“) sowie mesangiale Hyperzellularität („-proliferativ“), die zu einem lobulierten Erscheinungsbild
des glomerulären Kapillarknäuels führen kann. Eine MPGN ist mithin grundsätzlich eine
biopsiebasierte Diagnose, bei der zur Subspezifizierung immer auch eine elektronenmikroskopische
Untersuchung erforderlich ist (Abb. 14).
Formen: Die MPGN kann sowohl als primäre, idiopathische als auch als sekundäre GN-Form
auftreten. Diese können lichtmikroskopisch nicht voneinander unterschieden werden.
Auftreten der primären MPGN vorwiegend im 8.-30. LJ (70% in zweiter Lebensdekade).
Sekundäre MPGN-Formen gehen in der Regel auf Erkrankungen zurück, die zur Ablagerung von
Immunkomplexen führen.
Ursache
Infektionen
Autoimmunerkrankungen
Dysproteinämien
Chron. Lebererkrankungen
Thrombotische
Mikroangiopathien
Malignome
Genetische Ursachen
Beispiele
HCV mit Kryoglobulinämie, HBV, Shunt-Infekt, chronische
Abszesse, ...
SLE, RA, M. Sjögren
Kryoglobulinämie, M. Waldenström, Paraproteine
jegliche Ätiologie
HUS/TTP, Sichelzellanämie, AntiphospholipidAntikörper-Syndrom
B-Zell-Lymphome, CLL, Melanome, Nierenzell-Ca
α1-Antitrypsinmangel, hereditäre Komplementdefizienz
Pathogenese: Nach derzeitiger Vorstellung spielt für die MPGN Typ I die Ablagerung von
Immunkomplexen eine wichtige ätiologische Rolle. Diese führen zur Aktivierung von Komplement über
den klassischen Weg mit nachfolgender Hypokomplementämie. Komplementaktivierung führt zur
Freisetzung von chemotaktischen Faktoren mit nachfolgender Akkumulation von Plättchen und
Leukozyten. Zelluläre Aktivierung führt zu lokaler Schädigung, mesangialer Proliferation und
Matrixexpansion. Demgegenüber wird die MPGN Typ II (DDD) auf die kontinuierliche Überaktivierung
des alternativen Komplementaktivierungsweges zurückgeführt. Hier sind mehrere pathogenetische
Faktoren identifiziert worden: u.a. (1) ein C3-Nephritischer Faktor (C3NeF), (2) eine fehlende oder
veränderte Aktivität von Faktor H (CFH), der die C3-Convertase des alternativen Komplementwegs
blockiert, oder (3) seltenere Ursachen wie eine mutierte Faktor H-Bindungsstelle oder C3Autoantikörper. Für die MPGN Typ III wird eine ähnliche Pathogenese wie für die MPGN Typ I
angenommen. Hier führen allerdings weitere, bisher wenig verstandene Faktoren zur zusätzlichen
Ablagerung von Immunkomplexen in den subepithelialen Raum. Neuere Untersuchungen weisen
zusätzlich auf die Rolle von angeborenen Immunmechanismen wie den toll-like receptors als
Regulatoren der Ablagerung von Immunkomplexen hin.
Bei den sekundären MPGN-Formen spielen Kryoglobuline vom Typ II oder III eine wichtige Rolle.
Abbildung 14: Membranoproliferative
Glomerulonephritis, Typ 1:
Lichtmikroskopie: Verdickung der Kapillaren
mit Doppelkonturen (lange Pfeile) und
Arealen mit fokaler Zellproliferation (kurzer
Pfeil). (Bitte vergleichen mit Lichtmikroskopie
bei Minimal Change Glomerulonephritis)
Elektronenmikroskopisches
Bild
einer
Mesangialzelle, die sich zwischen Endothel
und glomeruläre Basalmembran geschoben
hat. Dadurch kommt es zur Doppelkontur.
18
Klinik: Variabel. Nephrotisches Syndrom (10-20%), asymptomatische Proteinurie (30%), Hämaturie
(8-10%), akutes Nierenversagen (15%), Erhöhung der Kreatininkonz. (20%), Hypertonie (20%).
Labor: Nicht zuletzt aufgrund der variablen klinischen Präsentation ist die MPGN eine histologische
Diagnose. Die weitere Diagnostik gilt dem Ausschluss bzw. der Sicherung sekundärer Formen. Ein
wichtiger diagnostischer Hinweis ist der Nachweis einer Komplementaktivierung, die nachfolgenden
Laborkonstellationen sollen dabei nur als Anhalt dienen: Bei Typ I findet sich häufig eine
Panhypokomplementämie (Erniedrigung von C3, C4, C5), bei Typ II (DDD) meist nur ein erniedrigtes
C3 als Hinweis auf die Aktivierung des alternativen Wegs, bei Typ III ein erniedrigtes C3 oder C5 bei
meist normalem C4. Neben der Komplementdiagnostik empfiehlt sich bei DDD eine C3NeF-Diagnostik
sowie ein Mutationsscreen auf CFH.
Therapie: Bei Vorliegen einer sekundären MPGN: Behandlung der Grundkrankheit.
Primäre MPGN: Gute kontrollierte Studien fehlen weitgehend. Versuch mit Prednison 2 mg/kg jeden
2. Tag übder 3-4 Monate, danach langsam tappern. Kombinationstherapie. Dipyridamol (75 mg) und
Aspirin (500 mg). Bei der DDD haben Prednison und Calcineurin-Inhibitoren keinen günstigen Effekt.
Die neueren pathophysiologischen Erkenntnisse zur DDD (vgl. oben) führen zu derzeit noch als
©
experimentell zu wertenden neuen Therapieansätzen: Eculizumab (Soliris ): Antikörper gegen C5,
©
Rituximab (Mabthera ): Antikörper gegen CD20 (nur bei Pat. mit Nachweis von C3NeF, C3-Verbrauch
und fehlender CFH-Mutation), Plasmapherese (nur bei Pat. mit Nachweis von C3NeF, C3-Verbrauch
und fehlender CFH-Mutation), Plasmainfusion: 10-15 ml/kg KG FFP alle 14 Tage (bei inaktivierenden
CFH-Mutationen, evtl. auch bei Risikoallelen. Cave Volumenbelastung)
Prognose: 5 Jahre nach Diagnosestellung sind 50%, nach 10 Jahren ca. 65% der Patienten entweder
verstorben oder benötigen ein Nierenersatzverfahren. Bei MPGN Typ II (DDD) entwickelt sich häufiger
eine terminale Niereninsuffizienz.
VI. Die Poststreptokokkenglomerulonephritis ist eine akute und meist reversible
Immunkomplexglomerulonephritis, die nach einem symptomfreien Intervall ca. 2 - 3 Wochen nach
einem Streptokokkeninfekt der Gruppe A auftritt.
Abbildung 15:
Die Poststreptokokkenglomerulonephritis
Lichtmikroskopie:
Diffuse, exudativ proliferierende Glomerulonephritis.
Die Glomerula sind so zellreich (Pfeil), dass man kaum
offene Glomerulalumen sieht (Vergleiche bitte mit
normaler Lichtmikroskopie bei der Minimal Change
Glomerulonephritis).
Elektronenmikroskopie:
Unterhalb der Podozyten (subepithelial) sind
sogenannte Humps (Immunkomplexe, siehe
Pfeil) zu erkennen
Pathogenese: Es kann bei der Poststreptokokkenglomerulonephritis zu subepithelialen oder
subendothelialen Immunkomplexablagerungen kommen (Abbildung 15). Durch subendotheliale
Immunkomplexablagerungen wird das Komplementsystem aktiviert und es wandern
Entzündungszellen in das Glomerulum ein. Hierbei werden Mediatoren ausgeschüttet, die eine
proliferative Glomerulonephritis induzieren, die zu einer Erythrozyturie (aktives Sediment) und einem
variablen Abfall der Nierenfunktion führen. Die subendothelialen Immunkomplexe werden von den
Makrophagen rasch wieder abgebaut, wodurch es zur Abheilung kommt.
Die subepithelialen Immunkomplexe schädigen die Podozyten, es entsteht eine Proteinurie. Da sich
diese Immunkomplexe nicht innerhalb des Blutkreislaufs befinden, dauert es länger, bis sie abgebaut
19
werden. Daher bleibt die Proteinurie auch nach Wiederherstellung der Nierenfunktion noch länger (bis
zu 2 Jahren) bestehen.
Klinik: Hämaturie, Proteinurie, Hypertonie, variable Einschränkung der Nierenfunktion, Konzentration
der Komplementfaktoren erniedrigt, ggf. Enzephalopathie (vor allen Dingen bei Kindern)
Serologie: Antistreptolysin-O-Titer und Antidesoxyribonuclease-Titer erhöht.
Prognose: Die Poststreptokokkenglomerulonephritis heilt meist aus. Sehr selten kann sich eine rapid
progrediente nekrotisierende Glomerulonephritis mit Halbmondbildung entwickeln.
Therapie: Konservativ: Ampicillin, 4 x 2 g/Tag über 14 Tage, Blutdruckeinstellung, Diuretika, ggf.
vorübergehend Dialysetherapie.
Bei Auftreten einer Rapid Progredienten Glomerulonephritis mit einer extrakapillären Proliferation von
mehr als 50% der Glomerula: Prednison und Cyclophosphamid.
20
5. Management von Ödemen
Ansprechpartner: Prof. Dr. Pavenstädt, [email protected]
Ödeme sind palpable Schwellungen, die durch Ausdehnung des interstitiellen Volumens zustande
kommen. Erst bei einer Zunahme des interstitiellen Volumens von mehr als 3 Litern kommt es zu
einem Ödem.
Ursache von Ödemen
Erhöhter Kapillardruck
Herzinsuffizienz, Leberzirrhose, Nierenerkrankungen
Verminderter kolloidosmotischer Druck
Nephrotisches Syndrom, Enteropathie, Leberzirrhose
Erhöhte KapillarPermeabilität
Verbrennung, Trauma, Sepsis, Diabetes mellitus
Erhöhter interst.
Onkotischer Druck
Lymphknotenerkrankungen, Hypothyreose
Zunächst Auschluss kardialer, hepatischer, nephrologischer Ursachen
Daher zunächst klinische Fragen:
Herzinsuffizienz:
Belastungsdyspnoe? Flach liegen? Nykturie?
Leberzirrhose:
Aszites? Ikterus? Hautveränderungen? Gynäkomastie?
Labor: Bilirubin, Quick, Thrombozytopenie
Nephrotisches Syndrom: Schäumender Urin? Urinstix
Proteinurie
Hypoalbuminämie
Primärtubulärer Defekt
Kolloidosm. Druck ↓
Plasmavolumen ↓
ADH ↑
Renin-Angiotensin-System (RAS), Aldosteron↑
ANP↓
Salzretention ↑
Wasserresorpt. ↑
Ödeme
Abbildung 16: Pathophysiologie der Ödementstehung
21
Therapie der Ödeme
Eine Kochsalzrestriktion (< 6 g/Tag) ist oft sinnvoll und wird oft vergessen.
Ödeme beim Nephrotischen Syndrom und Ödeme bei einer fortgeschrittenen Niereninsuffizienz
werden initial mit einem Schleifendiuretikum behandelt. Ggf. kann die zusätzliche Gabe eines
Thiaziddiuretikums sinnvoll sein: sequenzielle Nephronblockade.
Bei einer Leberzirrhose werden Ödeme bei Patienten mit einer Kreatininclearance > 50 ml/min
zunächst mit Spironolakton behandelt (einschleichende Dosierung, 50 mg, maximal bis 400 mg/Tag).
Ggf. kann ein Thiaziddiuretikum (25 – 50 mg) zusätzlich gegeben werden. Bei einer
Kreatininclearance < 50 ml/min sollte mit einem Schleifendiuretikum therapiert werden.
Bei einer milden Herzinsuffizienz können Ödeme mit einem Thiaziddiuretikum therapiert werden.
Wurde eine schwere Herzinsuffizienz diagnostiziert, ist die Gabe eines Schleifendiuretikums in
Kombination mit Spironolakton sinnvoll.
Es werden hauptsächlich 3 Diuretikatypen eingesetzt: Schleifendiuretika, Thiaziddiuretika und
kaliumsparende Diuretika.
Wirkmechanismen der Diuretikahauptgruppen
Typ
Wirkungsort- und weise
% filtriertes Na
Schleifendiuretikum
Dicke aufsteigende Henlesche Schleife.
Inhibierung des Na-K-2Cl-Transportes
30 – 35
Thiaziddiuretikum
Distaler Tubulus
Inhibierung des Na-Cl-Kotransporters
5
K-sparendes Diuretikum
Sammelrohr
Hemmung luminaler Na-Kanäle
4
Was ist die Konsequenz einer Diuretikatherapie?
Das effektive zirkulierende Volumen wird reduziert. Dies kann in einigen Fällen die Organperfusion
signifikant reduzieren, z.B. bei Patienten mit einem sehr niedrigen effektiv zirkulierenden Volumen
(z.B. schwere Herzinsuffizienz) oder bei einer Überdosierung von Diuretika. Daher unter der Therapie
immer Gewichtskontrollen durchführen! Eine adäquate Gewebeperfusion unter Diuretikatherapie
kann z.B. durch Bestimmung der Plasmakreatininkonzentration erfolgen. Ein Anstieg des
Kreatininwertes zeigt an, dass weitere Flüssigkeitsauschwemmungen vermieden werden sollten.
Unter stationären Bedingungen sollte eine Thromboseprophylaxe erfolgen.
Wann und wie schnell müssen Ödeme behandelt werden?
Das Lungenödem und das Hirnödem sind die einzigen Ödemformen, die rasch behandelt werden
müssen. Bei allen anderen Formen sollte die Ödemausschwemmung langsam erfolgen (ca.
0,5 - 1 l/Tag).
Wie werden Schleifendiuretika bei der Ödemtherapie dosiert?
Die initiale Furosemiddosis liegt bei Patienten mit normaler Nierenfunktion bei 20 - 40 mg Furosemid
i.v. Die Effektivität ist bei Patienten mit Herzinsuffizienz, fortgeschrittener Leberzirrhose, Niereninsuffizienz und Nephrotischem Syndrom erniedrigt (Gründe: Erniedrigte renale Perfusion und damit
weniger Diuretikawirkung in der Niere, Natriumretention hormonell erhöht, fehlendes Albumin zur
Bindung). Bei einer chronischen Niereninsuffizienz müssen die Dosen in Abhängigkeit von der
Kreatininkonzentration verdoppelt bis verdreifacht werden.
Bei oraler Gabe von Furosemid muss die Dosis verdoppelt werden, da Furosemid bei oraler Gabe
nur eine Bioverfügbarkeit von 50% hat. Im Vergleich zu Furosemid hat Torasemid eine bessere orale
Bioverfügbarkeit.
22
i.v. Diuretikadosen
Furosemid
Torasemid
40 mg
10 - 20 mg
Herzinsuffizienz
40 - 80 mg
20 - 50 mg
Nephrotisches Syndrom
120 mg
50 mg
Leberzirrhose
Beachte: Solange die Dosis des Diuretikums konstant ist und die Ernährung nicht verändert wird,
stellt sich ein neues und stabiles Flüssigkeitsgleichgewicht ca. 3 Wochen nach Therapiebeginn mit
Diuretika ein. Elektrolytstörungen treten meist in den ersten 3 Wochen der Therapie auf.
Nebenwirkungen der Diuretika
•
•
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•
•
•
•
•
•
•
•
Allergische Reaktion
Volumenmangel
Ototoxizität (Furosemid)
Hypokaliämie
Hyponatriämie (Thiazide)
Hypomagnesiämie
Hyperurikämie
Metabolische Alkalose
Azotämie
Fett/Glucosestoffwechselstörungen
Thiazide: Calciumrückresorption
Furosemid: Calciumausscheidung
Zusammenfassung Management Ödemtherapie
♦ Kochsalzrestriktion < 5 g/Tag
♦ Diuretika: Dosisbeginn (mg/Tag):
Spironolakton: 50 mg oral
Thiazid:
25 – 50 mg oral
Furosemid:
40 mg i.v. (80 mg oral),
Dosis verteilen: z.B. 1-1-0
♦ Bei fehlendem Ansprechen: Schrittweise Erhöhung der Dosis z.B. von Furosemid
bis zu 250 mg i.v.
(500 mg oral) oder kontinuierlich über Persusor
ggf. zusätzliche Gabe eines Thiaziddiuretikums
♦ Verlaufskontrollen: Blutdruck, Puls, Bilanzierung, tägliche Gewichtskontrolle
Laborparameter: Elektrolyte, Kreatinin,
bei kontinuierlicher Gabe von Diuretika zusätzlich Harnsäure, Blutzucker und
Cholesterin einmal pro Jahr kontrollieren
♦ Thromboembolieprophylaxe in der Klinik
♦ Nebenwirkungen beachten
23
6. Elektrolytstörungen: Hypo- und Hypernatriämie
Ansprechpartner: Prof. Dr. Pavenstädt, [email protected]
I.
Hyponatriämie
Zustand, bei dem es zu einem relativen Exzess von Wasser kommt (meist zuviel an Wasser, nicht
+
zuwenig Na ! Die meisten extrazellulären Osmolyte sind Natriumsalze. Die Serumosmolalität
+
entspricht ungefähr 2 x Serum [Na ].
+
+
Die Na -Konzentration im Serum (Na i.S.) repräsentiert dabei den Wasserstatus und nicht den
+
+
Salzstatus! Es besteht keine Relation zwischen Na i.S. und Na i.U.
+
Na i.U. wird reguliert durch das Extrazellularvolumen (bei intakter Nierenfunktion)
+
Volumendepletion: Na i.U. niedrig,
+
Volumenüberladung: Na i.U. hoch.
Der Wasserhaushalt (Wasseraufnahme und -ausscheidung) wird reguliert durch Durst und
ADH: Osmolalität steigt: Durstempfinden plus ADH hoch, Osmolalität sinkt: ADH wird gehemmt.
Wasserbelastung
S-Osmolal
WasserADH
Wasserdiurese entzug
S-Osmolal
ADH
Antidiurese, Durst
Ursachen der Hyponatriämie:
1. Reduktion des effektiven zirkulierenden Volumens:
a. Verlust von Elektrolyten und Flüssigkeit über
Thiaziddiurektikum
Gastrointestinaltrakt oder Haut.
Volumenmangel
Distale Na-+
b. Herzinsuffizienz
ADH-Sekretion
Resorption
c. Leberzirrhose
2. Nebenwirkung von Thiaziddiurektika
3. Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion
Na-Ausscheidung
Wasserabsorption
(SIADH)
Vorkommen: Bei Tumoren, Lungenerkrankungen,
Na+ im Serum
ZNS-Störungen, Medikamenten (Carbamazepin,
nichtsteroidale Antiphlogistika, Cyclophosphamid),
Postoperativ.
Klinik und Diagnostik des SIADH:
+
Keine Ödeme, Na i.U. > 20 mmol/l, Urinosmolalität > 100 mosm/kg
⇒ Konzentrierter Urin trotz Hypoosmolarität, Ausschluss Hypothyreose, NNR Insuffizienz.
4. Fortgeschrittene Niereninsuffizienz
5. selten: Polydipsie
Klinik: Verwirrtheit, Koma
Diagnostik: Wichtige Schritte!
1. Handelt es sich um eine „echte“ Hyponatriämie?
Plasma-Osmolal < 280: Echte Hyponatriämie
Plasma-Osmolal > 280: Pseudohyponatriämie (bei Hyperlipidämie, Hyperglykämie, Hyperproteinämie)
2. Urin-Osmolalität
Frage: Antwortet die Niere adäquat? Ist ADH adäquat supprimiert?
Urin-Osmolal. < 100 mosm/kg: adäquate ADH-Antwort
1. Primäre Polydipsie
2. Malnutrition mit niedriger Ausscheidung von Harnstoff
Urin-Osmolal. > 100 mosm/kg: keine adäquate ADH-Suppression
1. SIADH
2. Hypovolämie Linksherzinsuff.
3. Hypothyreose, NNR-Insuffizienz
24
3. Urin-Natriumkonzentration
Frage: Liegt eine Hypovolämie vor?
U-Na < 15 mmol/l: Volumendepletion (außer bei Diuretika-Gabe)
U-Na > 20 mmol/l: SIADH mit Normovolämie oder andere Ursachen
4. Ist die Störung akut oder chronisch? Ist sie symptomatisch?
Therapie der Hyponatriämie:
1. Nachdenken! Punkt 1 - 4 der Diagnostik beachten.
2. Bei einer Reduktion des effektiven zirkulierenden Volumens:
Therapie der Grundkrankheit
3. SIADH ohne neurologische Symptome: Wasserrestriktion
4. SIADH mit neurol. Symptomen: NaCl-Infusionen
(Osmolal. der Infusion muss größer sein als Osmolal. des Urins,
z.B. 3% NaCl Lösung)
+
Abschätzung des Na -Defizits:
+
+
+
Na -Defizit = 0,5 x Körpergewicht (kg) x (Na soll – Na ist)
z.B. 0,5 x 70 x (120 – 105) = 525 mmol
+
Unter Therapie: Engmaschige Kontrolle des Na im Serum.
Korrekturrate < 0,5 mmol/l/Stunde (12 mmol/l/Tag)!!
Beachte: Eine zu schnelle
Korrektur einer Hyponatriämie
kann
zu
einer
zentralen
Demyelinisierung
(pontine
Myelinose)
mit
Todesfolge
führen.
5. Schleifendiuretika: Ausscheidung eines verdünnten Urins
6. Neben einer Wasserrestriktion und Gabe von konzentrierter Kochsalzlösung steht seit kurzem die
V2-Rezeptor Antagonist Therapiealternative zur Verfügung. Die Gabe des V2 Rezeptors
Tolvaptan führt zu einer Wasserausscheidung ohne die Kalium- und Natriumausscheidung zu
beeinflussen. Nebenwirkung: Durst.
II
Hypernatriämie
Ist in der Regel eine Störung der Wasserbilanz. Das Durstempfinden ist der effektivste
Schutzmechanismus gegen eine Hypernatriämie. Deshalb kommt eine Hypernatriämie am häufigsten
bei Patienten vor, die nicht in der Lage sind, Wasser zu trinken (Kinder, Patienten im Koma). Eine
Hypernatriämie ist eher selten, selbst bei Patienten mit einem Diabetes insipidus, da diese bei einer
bestehenden Polyurie mehr trinken.
Differentialdiagnose der Hypernatriämie
I. Wasserverlust
a. Extrarenal (Fieber, Verbrennung)
b. Renal
Diabetes insipidus (selten)
Osmotische Diurese
II. Kochsalzzufuhr (z.B. durch Bicarbonat)
Anamnese: Neurologie. Bei wachen Patienten oft Störung des Durstempfindens. Gewichtsverlust,
Polydypsie?
+
Diagnostik: Urinosmolarität, Urin-Na -Konzentration bestimmen.
Therapie der Hypernatriämie:
Berechnung des Wasserdefizits nach der Formel:
+
Wasserdefizit = Gesamtkörperwasser x [(Serum Na ÷140) –1]
Beachte: Eine zu schnelle
Korrektur der Hypernatriämie
kann zu einem Hirnödem mit
Todesfolge führen.
25
z.B. 70 kg schwere Patientin: 0,5 x 70 x [(168÷140)-1] = 7l
+
z.B. als Infusion von 5% Glukose, Serum-Na -Konzentration engmaschig kontrollieren.
+
Korrekturrate Na nicht > 0,5 mmol/l/h oder 12 mmol/l/Tag
Diabetes insipidus:
Ursachen des Diabetes insipidus:
I. Zentral: Ausfall der ADH-Produktion
durch Tumore, Frakturen, Hypoxie,
Medikamente (Phenytoin) oder
idiopathisch
II. Renal: Ausfall der ADH-Wirkung durch
Hypokaliämie, Hyperalciämie,
interstitielle Erkrankungen,
Medikamente (Lithium)
Klinik: Polyurie. Eine Polyurie (Urinausscheidung > 3l/Tag) kann durch eine primäre Polydipsie,
einem zentralen Diabetes insipidus oder einem renalem Diabetes insipidus verursacht sein. Dabei
wird eine große Menge an verdünntem Urin ausgeschieden. Bei der primären Polydipsie ist die
Polyurie eine physiologische Antwort auf die vermehrte Flüssigkeitszufuhr. Bei den beiden Formen
des Diabetes insipidus ist dagegen der Wasserverlust unphysiologisch. Bei der primären Polydipsie
haben die Patienten daher ein eher niedriges Serumnatrium (< 137 mmol/l), Patienten mit einem
Diabetes insipidus haben dagegen eher ein hochnormales Serumnatrium (> 142 mmo/l) (Abb. 17).
Diagnostik: ggf. bei V.a. Diabetes insipidus: Durstversuch unter stündlicher Kontrolle von Gewicht,
+
Serum- und Urinosmolalität (Serum- und Urin-Na ). Bei Diabetes insipidus bleibt die Urinosmolalität <
300 mosm/kg und kann bei einem zentralen Diabetes insipidus durch Gabe von ADH gesteigert
werden.
Abbildung 17: Differentialdiagnose der Polyurie
Uosm < 200 mosm/kg?
Ja
Nein
Steigt Uosm
> 250 mosm/kg
nach ADH Gabe?
Ist die osmolare
Ausscheidung
> 1 mosm/min?
Ja
Zentraler Diabetes
insipidus
Nein
Nephrogener
Diabetes
insipidus
Ja
Osmotische Diurese
Diuretika
Nein
Partieller Diabetes
insipidus
Therapie des Diabetes insipidus zentralis:
Desmopressin (DDAVP) nasal, initial 5 µg vor dem Schlafengehen, dann Dosiserhöhung in
Abhängigkeit von Nykturie und Polyurie, mittlere Dosis 5 - 20 µg ein bis zweimal/Tag. Zur Behandlung
der Nykturie möglichst minimale Dosis, da sonst die Gefahr einer Hyponatriämie droht.
Diabetes insipidus renalis:
Thiaziddiuretikum: Durch die Gabe eines Thiaziddiuretikums, z.B. Hydrochlorthiazid 1 – 2 x
25 mg/Tag, wird eine milde Volumendepletion induziert. Dadurch wird im proximalen Tubulus Salz und
Wasser resorbiert und das Volumen an ADH-sensitivem Wasser im Sammelrohr reduziert. Die Folge
ist eine um ca. 50% verminderte Ausscheidung.
Nichtsteroidale Antiphlogistika, die den Effekt von ADH antagonisieren (z.B. Ibuprofen, 3 x 400 –
800 mg/Tag).
26
7. Die Niere und Systemerkrankungen
Ansprechpartner: Prof. Dr. Pavenstädt, [email protected]
I.
Die diabetische Nephropathie
Die diabetische Nephropathie ist eine Komplikation des Diabetes mellitus und die häufigste
Ursache für eine terminale Niereninsuffizienz
Inzidenz: Nicht jeder Patient mit Diabetes mellitus entwickelt eine diabetische Nephropathie. Die
Inzidenz der diabetischen Nephropathie liegt für den Typ 1 und Typ 2 Diabetiker bei ca. 30%
Pathogenese: Genetische Prädisposition, Hyperglykämie und Risikofaktoren (Hypertonie, Nikotin,
Hypercholesterinämie) führen zu einer Aktivierung von Protein-Kinase C in glomerulären Zellen.
Daraufhin werden Zytokine und Wachstumsfaktoren sezerniert. Es kommt zu Ablagerungen von
Glykoproteinen im Glomerulum.
Bei fehlender Therapie entwickelt sich eine Hyperplasie und Hypertrophie glomerulärer Zellen.
Zunächst werden die Podozyten geschädigt, später kommt es zu einer Expansion des Mesangiums
und einer Verdickung der glomerulären Basalmembran (Abb. 18).
Abbildung 18: Histologisches
Bild
der
diabetischen
Nephropathie mit typischer
mesangialer Expansion
Klinik:
Der Verlauf der diabetischen Nephropathie ist beim Typ-1- und Typ-2-Diabetes charakterisiert durch:
1. Veränderungen der Albuminausscheidung im Urin,
2. Abnahme der glomerulären Filtrationsleistung,
3. Entwicklung oder Verstärkung von Hypertonie,
4. Dyslipoproteinämie und weiteren diabetestypischen Komplikationen.
Nach dem klinischen Verlauf wird die diabetische Nephropathie in 5 Stadien unterteilt.
Nephropathie-Stadien (neue Klassifikation) und assoziierte Begleiterkrankungen
Stadium/Beschreibung
Albuminaus- KreatininBemerkungen
-scheidung
Clearance
(mg/L)
(ml/min)
Nierenschädigung mit
S-Kreatinin im Normbereich
Normaler Nierenfunktion
Blutdruck im Normbereich
1a Mikroalbuminurie
20-200
>90
steigend oder Hypertonie
1 b Makroalbuminurie
>200
Dyslipidämie, raschere
Progression von KHK, AVK,
Retinopathie und Neuropathie
Nierenschädigung mit
S-Kreatinin grenzwertig oder
Niereninsuffizienz (NI)
erhöht, Hypertonie
2 leichtgradige NI
>200
60-89
Dyslipidämie, HypoglykämieZunehmendes
kardiovaskuläres
3 mäßiggradige NI
abnehmend
30-59
Neigung
Risiko
4. hochgradige NI
15-29
rasche Progression von KHK,
5. terminale NI
< 15
AVK, Retinopathie
u. Neuropathie
Anämie-Entwicklung, Störung
des Knochenstoffwechsels
27
Screening einmal jährlich durch Bestimmung der Albuminkonzentration im Urin. Wünschenswert ist
die jährliche Berechnung der Clearance, da Patienten mit Diabetes auch ohne Albuminurie bereits
eine eingeschränkte Nierenfunktion aufweisen können.
Die Mikroalbuminurie ist das erste klinische Zeichen der diabetischen Nephropathie. Sie ist ein
Alarmsignal, da mit Auftreten der Mikroalbuminurie sich sowohl die Prognose der
Nierenerkrankung verschlechtert als auch die Inzidenz für eine koronare Herzkrankheit stark erhöht
ist. Eine Mikroalbuminurie kann auch vorliegen, wenn die Protein-Ausscheidung im 24 Stunden-Urin
„normal“ ist (Normale Proteinurie: 150 mg/24 Stunden). Ein Urin-Stix wird erst bei einer Proteinurie
über 300 bis 500 mg/Tag positiv. Daher sollte bei der Suche nach einer diabetischen Nephropathie ein
semiquantitativer Teststreifen (z.B. Micral-Test) oder eine quantitative Messung (mittels ELISA/RIA)
durchgeführt werden. Bei Verwendung von Schnelltests/Teststreifen ist die Nachweisempfindlichkeit
der Albuminkonzentration zu beachten. Für Albuminkonzentrationen < 200 mg/ l sind geeignet:
Micraltest II, Microalbu-Stix. Die Albuminkonzentration kann vorübergehend erhöht sein, z. B. bei
körperlicher Anstrengung, akuten fieberhaften Erkrankungen, Harnwegsinfektionen, schlecht
eingestelltem Diabetes, unkontrolliertem Hochdruck, Herzinsuffizienz. Zur zweiten Kontrolle sollte eine
laborchemische Methode benutzt werden. Sie gestattet bei erhöhter Konzentration eine Graduierung
der Albuminurie: Mikroalbuminurie: 20–200 mg/ l, Makroalbuminurie: > 200 mg/l
Abb. 19: Untersuchung auf
Albuminurie/diabetsische
Nephropathie
Die Diagnose diabetische Nephropathie ist wahrscheinlich wenn:
- seit 10 bis 20 Jahren ein Diabetes mellitus vorliegt,
- sich eine Proteinurie oder
- ein Nephrotisches Syndrom,
- ein progredienter GFR-Verlust bemerkbar gemacht haben,
- eine diabetische Retinopathie vorliegt (cave: Eine Retinopathie kann bei 30% der Typ 2-Diabetiker
mit Nephropathie fehlen.)
Eine nicht durch Diabetes bedingte Nephropathie sollte in Betracht gezogen werden bei:
1. ein pathologisches Harnsediment (insbesondere dysmorphe Erythrozyten, Erythrozytenzylinder
oder Leukozyten)
2. eine rasche Zunahme der Proteinurie
3. eine extrem hohe Proteinurie (>6 g/24 h)
4. ein rascher Kreatinin-Anstieg
5. Diabetesdauer unter 5 Jahren bei Typ-1-Diabetes
6. atypische sonografische Veränderungen der Nieren, d. h. insbesondere verkleinerte Nieren
oder asymmetrische Nierengröße
Bei 1.- 5.: ggf. Nierenbiopsie, bei 6: Duplexsonographie zum Ausschluss Nierenarterienstenose
28
Prognose: Die Prognose der diabetischen Nephropathie ist sehr schlecht: 5-Jahres Überlebensrate
von Patienten mit diabetischer Nephropathie und terminaler Niereninsuffizienz: 30%!
Einstellung des Diabetes mellitus, Blutdruckeinstellung, Mikroalbuminurie, Rauchen und
Cholesterinspiegel sind die wichtigsten Prognosefaktoren.
Primärprävention einer diabetischen Nephropathie
Vermeidung des Auftretens eines Diabetes mellitus. Gewichtsreduktion und Erhöhung der
körperlichen Aktivität. Allein eine Gewichtsabnahme von 5 kg geht mit einer Reduktion des HbA1c um
1 % einher. Eine prospektive finnische Studie zeigte allein durch Veränderung dieser
Lebensgewohnheiten an einer Risikogruppe mit metabolischem Syndrom eine Reduktion des relativen
Risikos zur Inzidenz von Diabetes mellitus um 43 % während des Beobachtungszeitraums von 7
Jahren im Vergleich zur Kontrollgruppe
Therapie der diabetischen Nephropathie:
Da Patienten mit diabetischer Nephropathie ein exzessives kardiovaskuläres Risiko besitzen, ist eine
optimale Diabetes- und Blutdruckeinstellung und ebenfalls eine konsequente Behandlung der übrigen
kardiovaskulären Risikofaktoren, insbesondere der LDL-Cholesterinerhöhung und erhöhten
Thrombozytenaggregation erforderlich.
1. Optimale Stoffwechselkontrolle:
Zielwert für HbA1c: ≤ 6,5 %
Typ I:
Intensivierte Insulintherapie früh beginnen
Typ II: Gewichtsreduktion, Diät, Sulfonylharnstoffe, Metformin, Insulin
Wichtiges Fluss-Diagramm zur Therapie des Typ-2 Diabetes mellitus:
Abb. 20: Therapie des Typ2Diabetes Mellitus
aus : Evidenzbasierte Leitlinien der DDG
http://www.deutsche-diabetesgesellschaft.de/redaktion/mitteilungen/leitlinien/EBL_Dm_Typ2_Update_2008.pdf
29
Dabei ist zu beachten, dass bestimmte orale Antidiabetiker (OADs) bei fortgeschrittener
Niereninsuffizienz nicht mehr eingesetzt werden dürfen:
Substanz
Therapieempfehlung bei Niereninsuffizienz
Metformin
Kontraindiziert (GFR <60 ml/min)
Glukosidasehemmer
Keine Empfehlung wegen fehlender Studien
Sulfonylharnstoffe
In der Regel Dosisreduktion, Ausnahme Gliquidon
Repaglinide
Dosisreduktion bei Kreatinin-Clearance <30/min
Nateglinide
Keine Empfehlung wegen fehlender Studien
Rosiglitazon
Keine Empfehlung wegen fehlender Studien
Pioglitazon
Möglich (bis GFR 8 ml/min)
Insulin
Im Verlauf meist Dosisreduktion
2. Antihypertensive Therapie
Neu seit 2010: Zielblutdruckkorridor zwischen 130-139 / 80-85 mm Hg
Mittel der ersten Wahl:
ACE-Hemmer/AT1 Rezeptor Blocker verlangsamen aufgrund ihres antiproteinurischen Effektes die
Progression eines Nierenfunktionsverlustes, reduzieren auch bei normotensiven Typ I Diabetikern im
Frühstadium die Mikroalbuminurie und wirken so einem Nierenfunktionsverlust entgegen.
Risiken einer ACE-Hemmer/AT1 Rezeptor Blocker-Therapie:
Entwicklung einer Hyperkaliämie, inadäquater Kreatininanstieg bei renovaskulären Stenosen,
Hypoglykämie durch Verbesserung der Insulinsensitivität
Kontraindikationen: Hyperkaliämie, Nierenarterienstenose bds., Schwangerschaft
+
K und Kreatininkontrolle 3 und 7 Tage nach Therapiebeginn. Ein Kreatininanstieg von 20% wird
toleriert („Funktioneller GFR Abfall“ durch Vasodilatation der Vas Efferens)
Weitere antihypertensive Therapie:
Calciumkanal-Antagonisten: Bei Nicht-Dihydropyridinen ist der antiproteinurische Effekt vergleichbar
mit ACE-Hemmern.
Diuretika: Als Ergänzung zu ACE-Hemmern u./o. Calciumkanal-Antagonisten (cave:
Verschlechterung der Insulinresistenz)
ß-Blocker: Reduzieren die Insulinsensitivität, verschleiern eine Hypoglykämie-Symptomatik, neigen
zur Kumulation bei Niereninsuffizienz ⇔ aber: vermindern Mortalität bei KHK: 50 - 60 % der Typ II
Diabetiker sterben an einer KHK.
Weitere präventive Therapiemaßnahmen
1. Rauchen einstellen
2. Sport
3. Thrombozyten-Aggregationshemmung, z. B. mit ASS 100mg/ die
4. LDL-Cholesterin unter 100mg/ dl absenken
5. Normalisierung einer erhöhten Eiweißaufnahme auf 0,8–1,0 g/kg Körpergewicht
6. Bei eingeschränkter Nierenfunktion: Behandlung der Anämie und Ausgleich eines gestörten
Phosphat-Kalziumstoffwechsels
Monitoring und Langzeitkontrolle (Abb. 21)
Folgende Parameter sollten je nach Nephropathie-Stadium 2- bis
4-mal jährlich überprüft werden:
1. HbA1c, Lipide,
2. Monitoring des Blutdrucks (einschließlich Selbstkontrolle und evtl. 24-h-Blutdruckmessung),
30
3. Serum-Kreatinin, Harnstoff und Kalium,
4. Bestimmung der Albuminausscheidung,
5. Berechnung oder Messung der Kreatinin-Clearance
Abbildung 21: Übersicht über das Management von Patientinnen und Patienten mit einer
diabetischen Nephropathie
multidisziplinäre Betreuung
Allgemeinarzt, Diabetologe / Endokrinologe, Nephrologe, Augenarzt
Gewicht ↓,
körperliche Aktivität ↑,
Salzkonsum ↓
ICT + Pumpentherapie
(HbA1c <7 %)
NSAR, KM und
Nephrotoxizität vermeiden
jährlich
Kreatininclearance
Albuminurie
bestimmen
Fundus ansehen
RR-Kontrolle
Ideal: 120/80 mmHg
Ziel: 130/80 mmHg
Mikroalbuminurie
Proteinurie begrenzen
Eiweiß-Konsum
normalisieren
ACE-I / ARB (Kontrolle von
Krea + K+ ! ) plus
CalciumAntagonist u/o. Diuretikum
Ziel RR < 125/70 mmHg
BZ !
↓
Cholesterin ↓
LDL Chol. < 100 mg/dl
Rauchen einstellen
Weitere Informationen: www.diabetes-deutschland.de oder Uptodate
II. Die Lupusnephritis:
Der Lupus erythematodes ist eine Systemerkrankung unklarer Ätiologie, die durch
Entzündungsvorgänge in verschiedenen Organen und das Auftreten von Autoantikörpern
charakterisiert ist.
Klinische Kriterien des systemischen Lupus erythematodes
Bei Vorliegen von mindestens 4 Kriterien ist ein systemischer Lupus erythematodes wahrscheinlich.
1. Schmetterlingserythem
2. Diskoider Lupus erythematodes
3. Fotosensibilität
4. Orale oder nasale Schleimhautulzera
5. Nichterosive Arthritis von 2 oder mehr Gelenken
6. Serositis (Pleuritis, Perikarditis)
7. Nierenbeteiligung
8. ZNS-Beteiligung
9. Hämatologische Befunde (Coombs pos. Hämolytische Anämie, Thrombopenie, Leukopenie)
10. Immunologische Befunde (Anti-Doppelstrang-DNS-Antikörper, Antiphospholipid-Antikörper)
11. Antinukleäre Antikörper
31
Pathogenese der Lupusnephritis: Initial scheint beim SLE ein Verlust der Selbsttoleranz
aufzutreten. Diese ist normalerweise von der aktiven Kontrolle der immunologischen Funktionen durch
T-Lymphozyten
abhängig.
Autoantikörper
werden
gebildet
mit
der
Folge
von
Immunkomplexablagerungen. Sehr viele unterschiedliche Mediatoren, Komplementfaktoren und
Chemokine werden im Glomerulus aktiviert und führen hier zu einer unterschiedlich ausgeprägten
Entzündungsreaktion. Eine Fehlregulation von Proteinen, die an der Aufnahme und Clearance von
apoptotischen Zellen durch Makrophagen beteiligt sind, rückt immer mehr in den Vordergrund der
Erklärungen von Autoimmunvorgängen beim Lupus erythematodes.
Eine Nierenbeteiligung beim Lupus erythematodes ist häufig (> 80% der Pat.). Sie äußert sich durch:
Klinik der Lupusnephritis:
Proteinurie
Nephrotisches Syndrom
Erythrozytenzylinder
Mikrohämaturie
Makrohämaturie
Eingeschränkte Nierenfunktion
Rapid progrediente Glomerulonephritis
Hypertonie
Hyperkaliämie
%
100
45 - 65
10
80
1
40 - 80
30
50
15
Als Basisdiagnostik bei Verdacht auf Lupus erythematodes sollten folgende Untersuchungen
durchgeführt werden:
Basisdiagnostik bei Verdacht auf Lupusnephritis:
1. Mikroskopische Untersuchung des Urinsediments:
dysmorphe Erythrozyten, Erythrozytenzylinder?
2. Suche nach einer Proteinurie
a. Teststreifen
b. Messung der 24-Stunden-Proteinurie
3. Bestimmung der Kreatininclearance
Bei pathologischem Befund: Nierenbiopsie
Histopathologie der Lupusnephritis: Immunkomplexglomerulonephritis
Zusätzlich u.U.: Subendotheliale tubuloretikuläre Ablagerungen, tubulointerstitielle Nephritis,
Immunkomplex-Ablagerungen an der tubulären Basalmembran oder in den Gefäßen, mikrovaskuläre
Zylinder, thrombotische Mikroangiopathie
Das glomeruläre Schädigungsmuster bei der Immunkomplexglomerulonephritis ist abhängig von der
Lokalisierung der gebildeten Immunkomplexe. Es werden dabei 6 verschiedene Klassen der
Immunkomplexglomerulonephritis unterschieden. Die Immunkomplexe bestehen dabei aus DNA-antiDNA-Antikörperkomplexen, können aber auch Aggregate von Nukleosomen, Chromatin, C1q und
Laminin enthalten.
WHO
Glomeruläre Läsion
Häufigkeit
Prognose
I
Minimale mesangiale LN
> 1%
Sehr gute Prognose
II
Mesangial proliferierende LN
26%
Eher milde renale Beteiligung, gute
Prognose
III
Fokal segmentale LN (weniger als
50% der Glomerula sind betroffen)
18%
Variable Prognose, abhängig von der
Anzahl der betroffenen Glomerula
Klasse
32
IV
Diffus proliferierende LN
38%
Schlechte Langzeitprognose
Nach 10 Jahren sind ca. 60% der
Patienten dialysepflichtig
V
Membranöse LN
16%
Variable Prognose
VI
Sklerosierende LN
1 - 2%
Langsamer Verlust der Nierenfunktion
Therapie:
Generell sind eine abfallende Nierenfunktion, ein nephritisches Sediment, eine ansteigende
Proteinurie, steigende Anti-DNS Antikörper und abfallende Komplementfaktoren Indikatoren für eine
aggressive Therapie der Lupusnephritis.
Bei allen Patienten sollte eine optimale Blutdruckeinstellung erfolgen. Eine Proteinurie sollte durch
Gabe von ACE Hemmer reduziert, eine Hypercholesterinämie mit Diät und ggf. mit HMG-CoA
Reduktase-Hemmer therapiert werden.
Lupusnephritis Klasse I: Keine Therapie
Lupusnephritis Klasse II: Meist keine Therapie, ggf. Prednison
Lupusnephritis Klasse III:
-
Die “milde Form“ (<25 % der Glomerula betroffen, fokale Proliferation, kein nephrotisches
Syndrom, normale Nierenfunktion) hat eine gute Prognose bzw. die Inzidenz einer terminale
Niereninsuffizienz ist in 5 Jahren < 5 %. Daher reicht normalerweise eine Therapie mit Prednison
aus.
-
Die “schwere Form“ (40-50 % der Glomerula betroffen, Nekrosen, Halbmonde, nephrotisches
Syndrom, Hypertonie, Kreatininanstieg) hat eine schlechtere Prognose, das heißt, dass nach 5
Jahren: 15-20 % der Patienten niereninsuffizient sind. Daher: Therapie wie Klasse IV Nephritis mit
initial Cyclophosphamid und Methylprednisolon.
Lupusnephritis Klasse IV: Etablierte Therapie:
Induktion: Methylprednisolon 500 mg pro Tag für 3 Tage, dann Prednison 0,5 mg/kg für 4 Wochen,
dann langsam tapern auf 10mg/Tag. Vit. D plus Calcium: Sandocal-D 0-0-1 p.o.
+
500 mg Cyclophosophamid i.v. alle 2 Wochen für 3 Monate (Kumulativ: 3g).
2
Leukozytennadir < 3000/µl oder Neutrophile < 1500/µl: Dosisreduktion um 0,25 g/m
2
2
Leukozytennadir > 5000/µl und kein Ansprechen: Dosissteigerung um 0,25 g/m (max. 1,0 g/m )
Bei allen CYC-enthaltenden Regimen, insbesondere bei i.v. Gabe, muss an die beträchtliche
Blasentoxizität des Medikamentes gedacht werden und eine entsprechende Prophylaxe mit MESNA
erfolgen. Unter der relativ niedrigen Kumulativdosis sehr wenig Infertilität.
Schriftliche Aufklärung der Nebenwirkungen
Blutbildkontrollen bei i.v.-Cyclophosphamidbolustherapie: an Tag 8, 10 und 12 nach der
Infusion, abhängig von Leukozytenwerten auch häufiger
Remssionstherapie nach 3 Monaten: (Leukozyten sollten > 4000 µl sein):
Mycophenolat Mofetil 2x1 g/Tag für 2 Jahre, Dosis im Verlauf tapern.
Lupusnephritis Klasse V: Es wird empfohlen, Patienten mit einem schweren nephrotischen Syndrom
oder mit einer Nierenfunktionseinschränkung mit Steroiden in Kombination mit zytotoxischen
Substanzen (Cyclophosphamid oder Azathioprin) oder mit Cyclosporin A zu behandeln.
Prognose: Dialysepflichtigkeit ca. 20%, Mortalität nach 15 Jahren: 36%
Nach Nierentransplantation: Im Vergleich zu anderen Erkrankungen ähnliches Patienten- und
Transplantatüberleben.
III.
Nierenbeteiligung beim Morbus Wegener
Die Wegener-Granulomatose ist eine nekrotisierende Vaskulitis der kleinen und mittleren Gefäße.
Pathogenese: Die ANCA-Zytokin-Sequenz-Theorie wird als Modell zur Pathogenese des M.
Wegener favorisiert: Durch eine lokal gesteigerte Bildung proinflammatorischer Zytokine (z.B.
TNF-α), wie es unter anderem in Infektsituationen möglich ist, kommt es zu einer Translokation
der primär intrazellulär gelegenen ANCA-Zielantigene Proteinase 3 und Myeloperoxidase an die
Zelloberfläche von Neutrophilen und Monozyten. Es kommt dann zu einer Bindung der
zirkulierenden ANCA an ihre nun zugänglichen Zielantigene auf der Neutrophilenoberfläche und zu
einer Adhäsion dieser Zellen an das Endothel. Die ANCA-Bindung führt nun über eine weitere
33
Aktivierung des Granulozyten zur Degranulation und zur Freisetzung lysosomaler Enzyme und
freier Sauerstoffradikale und damit zur Endothelschädigung. Die Frage, warum ANCA überhaupt
erst entstehen, ist weiterhin nicht geklärt. Kürzlich wurde in Seren von Patienten mit ANCAassoziierter, fokal-nekrotisierender GN zu 90% Autoantikörper gegen Lamp2, einem glykosylierten
Membranprotein in Lysosomen, intrazellulären Vesikeln und der äußeren Zellmembran von
Endothelzellen und neutrophilen Granulozyten entdeckt. Das Lamp2-Epitop ist zu 100% homolog mit
FimH, einem bakteriellen Adhäsin. Antikörper gegen Lamp2 kreuzreagieren mit FimH. Darüber hinaus
entwickeln Ratten nach Immunisierung mit FimH Lamp2 Antikörper und eine fokal-nekrotisierende GN.
Symptome:
1. Zu Beginn oft unspezifisch (Fieber, Gewichtsverlust, Leistungsknick, Arthralgien)
2. Nasale oder orale Entzündungen
3. Pulmonale Veränderungen
4. Bioptisch nachgewiesene granulomatös-entzündliche Veränderung der Arterienwand
5. Nachweis antineutrophiler zytoplasmatischer Antikörper (cANCA), siehe Abb. 21
6. Nierenbeteiligung
Häufig besteht eine Nierenbeteiligung:
Nephritisches Urinsediment (Erythrozyturie, Erythrozytenzylinder)
Meist Rasch progrediente Glomerulonephritis mit dem histologischen Bild einer extrakapillär
proliferativ-nekrotisierenden Glomerulonephritis (siehe Abb. 18)
Keine Ablagerungen von Immunglobulinen im Glomerulus in der Immunfluoreszenz
Abbildung 22:
A: Nachweis von antineutrophilen
cytoplasmatischen Antikörpern
(c-ANCA) in Leukozyten mit Hilfe
der Immunfluoreszenz:. Diese
Antikörper sind gegen Proteinase 3
gerichtet.
B: Lichtbildmikroskopie der
Nierenbiopsie:
Segmental nekrotisierende
Läsion mit Fibrinablagerungen
(Pfeile)
Therapie: Schema Cyclophosphamid i.v. 500 – 1000 mg/Monat für 3-6 Monate
Dosisreduktion bei Krea-Cl < 30 ml/min oder Alter > 65J. um 30% bei Erstgabe, dann Anpassung
nach Nadir + Prednison, 1 mg/kg/Tag, langsam nach 2 Wochen tapern.
Zusätzlich Plasmapherese bei:
a) initialer Dialysepflichtigkeit;
b) pulmonalen Hämorrhagien;
c) gleichzeitigem Auftreten von Antibasalmembran-Antikörpern (sehr selten)
Remissionserhaltung: Azathioprin 2 mg/kg/Tag für 1-2 Jahre
Prognose: Mortalität ohne Therapie: 90%. Mit Therapie: 20-30%.
Ca. 25% (50%) der Patienten, die initial nicht dialysepflichtig sind (die dialysepflichtig sind) werden
(bleiben) dialysepflichtig.
IV.
Nierenbeteiligung beim multiplen Myelom
Das multiple Myelom ist durch eine maligne Proliferation von Plasmazellen im Knochenmark und
durch die Ausscheidung monoklonaler Immunglobuline (IgG oder IgA, seltener IgD, E oder M) oder
34
von Immunglobulinfragmenten (Leichtketten- / Bence-Jones-Proteinurie) im Urin gekennzeichnet. Eine
renale Beteiligung beim multiplen Myelom findet sich bei mehr als 50% der Patienten und ist auch
prognostisch relevant.
Es gibt mehrere unterschiedliche Ursachen der Nierenschädigung beim multiplen Myelom,
Abbildung 23:
Immunglobuline
Plamazellen
Calcium↑
Vasokonstriktion
Akutes
Nierenversagen
Ablagerung
im Mesangium
LCDD
Nephrot.
Syndrom
Filtration
Bence Jones
Proteinurie
Myelomniere
Akutes
Nierenversagen
Ablagerung im
Glomerulum
Amyloidose
Abbildung 23:
Renale Beteiligung
beim Muliplen Myelom
LCDD= light chain
deposition disease
Nephrot.
Syndrom
1. Hypercalcämie
Eine Hypercalcämie ist ein relativ häufiges Syndrom bei Patienten mit einem multiplen Myelom. Durch
Vasokonstriktion und Ausfällung kann eine Hypercalcämie ein Nierenversagen induzieren.
Klinik: Polyurie und Polydipsie, Nierenversagen (prinzipiell reversibel).
Bei Patienten mit einem multiplen Myelom, die eine Hypercalcämie oder Dehydration entwickeln,
besteht die Gefahr eines Nierenversagens. Dies gilt vor allem für Patienten, die nichtsteroidale
Antiphlogistika oder Kontrastmittel bekommen. Daher ist die Gabe nichtsteroidaler Antiphlogistika
oder Kontrastmittel bei Patienten mit multiplem Myelom mit einer Nierenbeteiligung relativ
kontraindiziert.
2. Ausscheidung von Leichtketten
Die Art der Nierenerkrankung läßt sich dabei anhand der biochemischen Charakteristika der
individuellen Leichtkette erkennen.
1) Myelomniere (“cast Nephropathie“)
Pathophysiologie: Filtration von Leichtketten .Verbindung von Leichtketten mit Tamm-HorsfallProtein → intratubuläre Ausfällung von Proteinzylindern (siehe Abb. 23) und toxische Schädigung der
Tubuluszelle → distale tubuläre Obstruktion und/oder Tubulusfunktionsstörungen.
Klinik: Akutes Nierenversagen mit oder ohne tubuläre Dysfunktion. Seltener ist die langsame
Abnahme der GFR. Die tubuläre Dysfunktion kann sich in einem sogenannten Fanconi-Syndrom
äußern:
Tubuläre Azidose, Phosphatverlust mit der Folge der Hypophosphatämie und Osteomalazie.
Im Labor fällt dabei auch eine Hypourikämie auf.
Eine Dehydratation ist ein wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung einer Myelomniere.
Abbildung 24: Lichtmikroskopisches Bild eines Tubulus
bei einer Myelomniere. Der Tubulus ist mit einem
geteilten Eiweißzylinder ausgefüllt.
Der Pfeil weist auf einen in das Tubuluslumen einwandernden
Makrophagen hin.
35
2) Leichtkettennephropathie („Light chain deposition disease (LCDD)
Pathogenese und Klinik ähnlich der AL-Amyloidose. Im Gegensatz zur AL-Amyloidose formen aber
die Leichtketten bei der Leichtkettennephropathie keine Fibrillen und die Ablagerungen sind nicht mit
Kongo-Rot anfärbbar (Kongo-Rot negativ).
3) AL-Amyloidose
Pathophysiologie: Bei der AL-Amyloidose werden die zirkulierenden Leichtketten von Makrophagen
aufgenommen, metabolisiert und sezerniert. Die dabei entstehenden Fragmente präzipitieren in erster
Linie im Glomerulus und lagern sich als charakteristische (mit Kongo-Rot anfärbbare) positive βFibrillen ab (Abb. 24).
Klinik: Nephrotisches Syndrom, chronische Niereninsuffizienz
Abbildung 25:
Glomeruläre Amyloidose:
Nodulär amorphes Material, das
sich vom Mesangium bis ins
Kapillarlumen erstreckt
Elektronenmikroskopische Aufnahme
der ca. 10 nm großen Fibrillen im Mesangium
Therapie: Wichtig ist die Prävention: Gute Hydrierung, keine Kontrastmittel, keine nichsteroidalen
Antiphlogistika, Behandlung von Hyperurikämie und Infektionen.
Bei Hypercalcämie: Hydrierung + Schleifendiuretika, Prednison, Calcitonin, Bisphosphonate (ab einem
Serumcalcium von 4 mmol/l: Hämodialyse)
KM Transplantation möglich: 4 Zyklen Lenalidomid und Dexamethason
KM Transplantation nicht möglich: 12 Zyklen Melphalan, Prednison, Thalidomid
Bei Nierenversagen:
Zunächst: Hydratation, ggf. Behandlung der Hypercalcämie
Bei Myelomniere: zusätzlich zur Chemotherapie:
Entfernung der Leichtketten mit einem speziellen Dialysefilter (“High-Cut-Off”). Dadurch lässt sich der
Anteil von chronisch dialysepflichtig bleibenden Patienten reduzieren.
Falls notwendig: Dialysetherapie
V. Das Hämolytisch-Urämische Syndrom (HUS). Das HUS ist eine Erkrankung, die unbehandelt zu
akutem Nierenversagen, chronischer Dialysepflichtigkeit oder Tod führen. Eine frühzeitige
Diagnosestellung ist wichtig, da die Erkrankung in der Regel beherrschbar ist. Es bestehen
Gemeinsamkeiten zur Thrombotisch-Thrombozytopenischen Purpura (TTP), deren Erstbeschreiber
Moschowitz war und die sich vorwiegend durch Symptome des Zentralnervensystems manifestiert.
Der zentrale pathologische Befund bei HUS und TTP ist die Thrombotische Mikroangiopathie.
Hierbei finden sich Endothelschäden, glomeruläre Mikrothromben, Nekrosen und Leukozyteninfiltrate.
In den Nieren sind Glomeruli und Arteriolen betroffen. Subendotheliale Schwellungen entstehen durch
Fibrinablagerungen. Diese Veränderungen werden jedoch auch bei Eklampsie, dem AntiphospholipidSyndrom, Sklerodermie, maligner Nephrosklerose und chronischer Transplantatabstoßung sowie
selten auch bei Calcineurin-Toxizität beobachtet.
Klinik: Kardinalbefunde, die nicht immer alle vorliegen, sind: 1. Thrombozytopenie, 2. Nichtimmunogene hämolytische Anämie, 3. Fragmentozyten (Schistozyten) >1 %), 4. Neurologische
Veränderungen, 5. Akutes Nierenversagen.
36
90% der Patienten haben Purpura mit oder ohne Blutungen (z.B. Nasenbluten, Hämoptysis). Oft
haben die Patienten transiente neurologische Symptome (Konfusion, Kopfschmerz, Parese, Aphasie,
Visusstörungen). Anamnestische Fragen sollten einbeziehen: Blutige Diarrhoe im sozialen Umfeld,
Medikamente (Thrombozytenaggregationshemmer, Cytostatika, Ovulationshemmer, Chinin),
Tumorerkrankung, Transplantation, Lupus erythematodes und Schwangerschaft. Besondere Sorgfalt
gebührt der Chinin-Anamnese.
Abbildung 26: Links: Blutausstrich bei HUS: Fragmentozyten (große schwarze Pfeile), Schistozyten
(schmale schwarze Pfeile), Mikrosphärozyten (blaue Pfeile). Rechts: Subintimale Fibrin Deposition in
einer Interlobulararterie bei HUS. Die Einengung des Lumens führt zur Ischämie und ggf. zur Nekrose.
Eine scharfe Trennung von HUS und TTP ist bis heute nicht sicher möglich. Beim Überwiegen
neurologischer Symptome findet der Terminus Thrombotisch-Thrombozytopenische Purpura (TTP)
Anwendung. Bei der TTP kann oft eine starke Aktivitätsminderung der Metalloproteinase ADAMTS13
nachgewiesen werden, und dies wird zunehmend als führender und charakteristischer Befund bei der
TTP genannt. ADAMTS13 steht für A Disintegrin-like And Metalloproteinase With ThromboSpondin
Type 1 Repeats. Die TTP kommt angeboren durch Mutationen des ADAMTS13 Gens oder erworben
bei Antikörperbildung gegen ADAMTS13 vor. Führend sind neurologische Symptome wie
Kopfschmerzen, Benommenheit, epileptische Anfälle oder Koma, seltener fluktuierende fokale
Defizite. Aus nephrologischer Sicht wird vom Hämolytisch-Urämischen Syndrom (HUS) gesprochen,
wenn eine Nierenfunktionseinschränkung vorliegt.
Das Hämolytisch-Urämische Syndrom (HUS) wird üblicherweise eingeteilt in HUS bei Kindern und
HUS bei Erwachsenen. Im Kindesalter geht der Erkrankung in der Regel eine Darminfektion mit
Diarrhoe voraus; hiervon leitet sich der Zusatz D+ (mit Diarrhoe) ab. Dieser Erkrankung geht auf
Infekte mit Verotoxin- (oder Shiga-Toxin-) bildenden Bakterien zurück, wobei Infektionen mit
enterohämorrhagischen E. coli (EHEC) Typ 0157:H7 dominieren. Das D+ HUS des Kindesalters,
assoziiert mit einer Infektion Shiga-Toxin-bildender Bakterien, wird auch klassisches HUS genannt.
Den Gegenpart bildet das atypische HUS (aHUS), das HUS des Erwachsenen, das in der Regel nicht
mit Diarrhoe (D-) einhergeht und serologisch keine Hinweise für eine vorausgehende Darminfektion
aufweist. Die Erkrankungsgruppe ist inhomogen und ist entweder durch Medikamenteneinnahmen
verursacht (Chinin, Ticlopidin, Clopidogrel, orale Antikonzeptiva, Chemotherapeutika, Cyclosporin A,
Tacrolimus und andere). Zudem ist das aHUS mit anderen Erkrankungen, mit genetischer Disposition
oder mit einer Schwangerschaft assoziiert.
HUS und TTP können auch familiär vorkommen. Beschrieben sind autosomal-dominante und
autosomal-rezessive Erbgänge. Vier verschiedene Gene sind bis dato identifiziert: Das Gen von
Faktor H (FH1, auch Complement factor H (CFH) genannt), das ADAMTS13 Gen, das Membran
Cofactor Protein Gen und das Complement Factor I Gen (CFI).
Pathogenese: Der Von Willebrand Faktor wird von Endothelzellen produziert und ins Plasma
sezerniert, wo Multimere, sog. Ultra Large Von Willebrand Faktor (ULVWF) Multimers, nachweisbar
sind. Diese werden durch die spezifische Metalloproteinase ADAMTS13 degradiert. Erniedrigung oder
Fehlen der ADAMTS13 Aktivität führt zu Akkumulation von ULVWF Multimeren, mit Aggregation von
Thrombozyten und Mikrothrombenbildung. Bei erworbener Reduktion von ADAMTS13 Aktivität liegen
inhibierende Autoantikörper vor, die sich im Plasma nachweisen lassen. Patienten mit stark
verminderter oder fehlender ADAMTS13 Aktivität zeigen in der Regel das Bild einer TTP.
Komplement: Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass die alternative Komplementaktivierung bei
Patienten mit HUS gestört ist (Erhöhung des C3d Serumspiegels, Erniedrigung der Serumspiegel von
C3, CH 50 und Faktor B). Der alternative Weg des Komplementsystems wird stetig aktiviert und
bedarf einer kontinuierlichen Inhibition, wobei die Komplementregulatoren Faktor H, MCP und Faktor I
eine zentrale Rolle spielen. Dem Faktor H (CFH) kommt die Rolle des zentralen Regulators bei der
Bildung von C3b zu. Dieses Plasmaprotein reguliert die Stabilität des C3bBb Komplexes (Anlagerung
37
von Faktor B an C3b), agiert gleichzeitig als Kofaktor für die Serin Proteinase Faktor I (CFI) bei der
Inaktivierung von C3b zu iC3b. Die Aktivität der C3bBb Konvertase wird reguliert durch das
Plasmaprotein Faktor H, das auch an Endothelzellen bindet sowie durch das integrale MembranRegulator-Protein MCP und den Serin-Protease Faktor I. Durch diese komplexe Situation wird
verständlich, daß genetische Veränderungen in den Genen für Faktor H, MCP und Faktor I (vgl.
Genetik) sowie erworbene Autoimmunantikörper zu einer Deregulation der alternativen KomplementAktivierung führen. Eine lokale Deregulation der Komplementaktivierung führt dann zur Schädigung
der Endothelzellen der Niere.
Shiga Toxine: Shiga Toxine sind Toxine, die durch E. coli-Stämme (vornehmlich 0157:H7) oder
Shigella dysenteriae gebildet werden und beim klassischen (D+) HUS die wesentliche
pathophysiologische Komponente sind. Der Mechanismus, der zur Endothelzellschädigung führt, ist
nicht ganz geklärt und bezieht direkte Toxinwirkung, Granulozytenakkumulation mit
Endothelinfreisetzung sowie die Wirkung anderer Zyto- und Chemokine mit ein.
Therapie: Vor Therapiebeginn sollte EDTA-Blut und Serum resp. Plasma für die Bestimmung des
Komplementstatus, der ADAMTS13 Aktivität (sofern TTP erwogen), für molekulargenetische Analysen
der Kandidaten-Gene und für eine E. coli-Serologie asserviert werden. Die Bestimmung der
ADAMTS13 ist aber nicht von zentraler diagnostischer und prognostischer Relevanz.
Eine Nierenbiopsie ist in der Regel nicht notwendig und geht mit einem deutlich erhöhten
Blutungsrisiko einher. Beim klassischen HUS im Erwachsenenalter, die eine Rarität unter den ohnehin
raren HUS Erkrankungen ist, wird ein Plasmaaustausch nicht empfohlen. Eine antibiotische Therapie
ist kontraindiziert.
Von zentraler Bedeutung für eine erfolgreiche Therapie von TTP und aHUS ist der Plasmaaustausch.
Der Plasmaaustausch soll das ein- bis anderthalbfache des Plasmavolumens des Patienten betragen.
Tägliche Behandlungen sollten etwa 7 Tage lang erfolgen, mindestens aber zwei Tage nachdem
Normalisierung von Blutbild und Hämolyse erzielt worden sind. Nach Einleitung einer Plasmatherapie
sollte die diagnostische Differentialdiagnose fortgesetzt werden, da in bis zu 10% der Patienten die
Diagnose HUS / TTP revidiert werden muss. Ca. 10-20% der Patienten sprechen aus unklaren
Gründen nicht auf eine Plasmaaustauschtherapie an. Eine Erhöhung auf 2 Austauschbehandlungen
pro Tag ist in solchen Fällen zu erwägen. Cortison wird unter der Annahme, daß viele HUS / TTP –
Erkrankungen durch Autoantikörper vermittelt sind, empfohlen. Die Dosen sind 1-2mg Prednison / kg
Körpergewicht bis zur Remission oder initial an 3 Tagen 1g Methylprednisolon.
Bei Patienten, die nicht auf eine Plamapherese/Kortison-Therapie ansprechen, ist die Gabe von
Rituximab (CD20-Antikörper) möglich.
Patienten mit einem genetisch bedingten atypischen HUS können mit dem Eculizumab therapiert
werden. Eculizumab wirkt, indem es C5 Komplement bindet und die sog. terminale Aktivierung
blockiert.
Ca. ein Viertel der Patienten entwickelt eine chronische Nierenerkrankung. Nicht erfolgreich und somit
nicht
indiziert
sind
Plasmaaustauschbehandlungen
beim
HUS
nach
Zytostatika,
Stammzelltransplantationen oder Ganzkörperbestrahlung.
Eine Schwangerschafts-assoziierte Thrombopenie sollte differentialdiagnostisch gegenüber
Präeklampsie und HELLP Syndrom abgegrenzt werden, bevor die Diagnose HUS und damit die
Indikation zur Plasmaaustauschbehandlung gestellt wird.
Thrombozytentransfusionen sind nur bei lebensbedrohlichen Blutungen indiziert, da sie das
Krankheitsbild dramatisch aktivieren und verschlechtern können.
HUS nach Nierentransplantation: Nach Nieren-Transplantation kommt das HUS entweder als
Rekurrenz einer Erkrankung der Prädialysephase oder als De Novo Erkrankung vor.
Nach Auftreten des HUS wird die Immunsuppression reduziert oder verändert, wobei derzeit
Rapamycin favorisiert wird. Plasmaaustauschbehandlungen sind sinnvoll.
VI.
Das hepatorenale Syndrom
Prinzipiell können 3 Krankheitsgruppen differenziert werden, bei denen die Leber und die Niere
geschädigt sein können.
1. a. Toxische oder infektbedingte Schädigung von Leber und Niere:
Intoxikationen (z.B. Tetrachlorkohlenstoff, Halothan)
b. Sepsis bei Cholangitis, Leptospirose, Mononukleose
2.
Glomerulopathien durch Immunkomplexablagerungen bei Hepatitis C oder B
3.
Das sogenannte Hepatorenale Syndrom
38
Als Hepatorenales Syndrom (HS) wird die bei Patienten mit Leberzirrhose oder fulminant
verlaufender Hepatitis auftretende progrediente Abnahme der glomerulären Filtrationsrate
bezeichnet.
Das HS ist eine Ausschlussdiagnose. Auszuschließen sind andere Ursachen einer GFR-Abnahme wie
akute Tubulusnekrose infolge nephrotoxischer Medikamente, gastrointestinale Blutung, Schock und
Sepsis (spontan bakterielle Peritonitis) bzw. eine prärenale Niereninsuffizienz infolge einer
Hypovolämie.
Pathogenese: Unklar. Mit zunehmender Leberdysfunktion fällt der systemische vaskuläre Widerstand
im Splanchnikusgebiet. Vasoaktive Hormone werden vermehrt ausgeschüttet mit der Folge einer
Erhöhung der renalen Vasokonstriktion mit kortikaler Minderperfusion und einer vermehrten tubulären
Natriumrückresorption (Abb. 27).
Abb. 27: Pathogenese des hepatorenalen Syndroms:
Periphere Vasodilatation ↑
Onkotischer Druck ↓
Portale Hypertension ↑
Reabsorption
von Lymphe
Splanchnische
Extravasion
GesamtBlutvolumen ↑
Renale
Vasokonstriktion ↑
GFR ↓
+
Renale Na -Retention
Aszites
Effektives
Blutvolumen ↓
Hepatorenales
Syndrom
Refraktärer
Aszites
Renin-Aldosteron ↑
Sympathikus ↑
Klinik: Sämtliche folgenden Hauptkriterien sollten zur Diagnose eines HS erfüllt sein.
Hauptkriterien des HS:
1. Eine verminderte GFR
Kreatininkonzentration > 1,5 mg/dl oder Kreatininclearance < 40 ml/min
2. Fehlen von Schocksymptomen
Bakterielle Infektion
Flüssigkeitsverlust
Keine nephrotoxischen Medikamente
3. Keine Verbesserung der GFR nach Absetzen der Diuretika +
Expansion des Plasmavolumens mit 1,5 l Plasmaexpander
4. Proteinurie < 500 mg/Tag
5. Sonographie: Normale Nieren
Nebenkriterien sind verminderte Diurese (< 500 ml/Tag) und eine Urinnatriumkonz. < 10 mmol/l. Die
Nebenkriterien müssen aber nicht erfüllt sein.
39
Abbildung 28: Diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf ein HS:
Akute Niereninsuffizienz
Differenzialdiagnose:
- Prärenale Niereninsuffizienz
- Akute Tubulusnekrose
- HS
Urinnatrium (Spot)
< 10 mmol/l
Volumenzufuhr
Anamnese:
Schock, Blutung,
nephrotox. Medikamente?
> 30 mmol/l
Akute Tubulusnekrose
Keine Diurese
Konservative Therapie
ggf. Dialyse
Diurese
Prärenale Niereninsuff.
HS
Korrektur der Hypovolämie
Prophylaxe: Meidung nephrotoxischer Medikamente, frühzeitige Therapie einer spontan bakteriellen
Peritonitis (z. B. mit Cefotaxim) und Albumin (1 g/kg), Vermeidung von Volumendepletion (z.B. keine
Diuretika bei nur gering ausgeprägtem Aszites).
Therapie:
Die Lebertransplantation ist die Therapie der Wahl bei Patienten mit HS (3-Jahres Überleben: 60%)
Zur Überbrückung beim HS:
A Pharmakologische Therapie: Effizienz nicht vollständig gesichert. Möglicherweise ist eine
Kombinationstherapie mit folgenden Substanzen sinnvoll.
1. Midodrin, ein Alpha-1-Rezeptor-Agonist erhöht arteriolären und venösen Tonus, der Blutdruck
wird erhöht. Dosierung: 3 x 5 - 10 mg/Tag oral
2. Terlipressin, Somatostatin Analog, 2 – 3 x 2 mg s.c.. Cave: Ischämie, Angina pectoris
3. 50 -100 ml 20% Humanalbumin/Tag für 20 Tage
B Transjugulärer intrahepatischer portosystemischer Shunt (TIPS): Bei Patienten mit
therapierefraktärem Aszites ergibt sich damit ein günstiger Einfluss auf die Prognose des HS.
Mögliche Komplikationen eines TIPS: Blutung, hepatische Enzephalopathie
C ggf. Hämodialyse
D MARS (Molecular adsorbents recirculation system). Extrakorporales Verfahren, das Albumin
gebundene Substanzen entfernt. Kontrollierte Studien zur Effektivität von MARS werden zurzeit
durchgeführt.
40
8. Autosomal dominante polyzystische Nierenerkrankung
Ansprechpartner: Prof. Dr. Pavenstädt, [email protected]
Nierenzysten sind häufig, ihre Inzidenz nimmt mit dem Alter zu, z. B. haben ca. 30% (14%) aller
Menschen, die älter als 70 Jahre sind, einseitige (beidseitige) Nierenzysten. Im Ultraschall imponieren
Nierenzysten als runde, scharf begrenzte, echofreie Raumforderungen mit akzentuierten
Rückwandreflexen. Normalerweise zeigen sich bei einer Nierenzyste keine Symptome.
Autosomal dominante polyzystische Nierenerkrankung (ADPKD)
Inzidenz: Ca. 10% aller Dialysepatienten. Die terminale Niereninsuffizienz tritt typischerweise im Alter
von 50 - 60 Jahren auf.
Pathogenese: Die Erkrankung wird durch Mutationen im PKD1-Gen (Polycystin-1) (85%) und
PKD2-Gen (Polycystin-2) (10 - 15%) hervorgerufen. Patienten mit einer Mutation im PKD2-Gen haben
generell einen milderen Verlauf und erkranken meist erst im Alter von 70 Jahren.
Pathologie: ADPKD ist eine Systemerkrankung mit Zysten in Nieren, Leber und Pankreas, zerebralen
Aneurysmen (4 - 10% aller Patienten), Herzklappenveränderungen (Mitralklappenprolaps, Aorten- und
Mitralinsuffizienz), Kolondivertikel, Nabel- und Leistenbruch. Charakteristisch ist eine massive
Größenzunahme der Niere (und gelegentlich auch der Leber), welche durch die flüssigkeitsgefüllten
Zysten verursacht wird (Abbildung 29).
Symptome: Initial Hämaturie, Schmerzen, Blutungen (Zysten), Harnwegsinfektionen, Nephrolithiasis,
Hypertonie, Konzentrationsdefekt, mäßige Proteinurie, gelegentlich Polyglobulie. Progrediente
Nierenfunktionsverschlechterung (terminale Niereninsuffizienz in der Regel ca. 10 Jahre nach
Diagnose), jährlicher GFR-Verlust ca. 5 ml/min. Besonders rasche Progredienz bei früher Diagnose
(< 30 Jahre), Männern, schlecht kontrollierter Hypertonie, > 4 Schwangerschaften, Rauchen und
Makrohämaturie, Aneurysmenblutung (plötzliche Kopfschmerzen, häufig positive Familienanamnese
für zerebrale Blutung).
Diagnose: Die Diagnose einer autosomal dominanten polyzystischen Nierenerkrankung (ADPKD)
kann einfach gestellt werden bei Patienten mit einer positiven Familienanamnese, Flankenschmerzen
oder Niereninsuffizienz und großen Nieren mit multiplen bilateralen Zysten. Ca. 25 - 40% der
Patienten mit ADPKD haben keine positive Familienanamnese (Neumutation, Auftreten der
Niereninsuffizienz im späten Alter). Differentialdiagnostisch sollte eine ADPKD bei Zutreffen folgender
Kriterien erwogen werden:
Zwei Zysten (uni- oder bilateral) bei Patienten < 30 Jahre.
Zwei Zysten in jeder Niere bei Patienten zwischen dem 30. und 59. Lebensjahr.
Vier oder mehr Zysten in jeder Niere bei Patienten > 60 Jahre
Ultraschall: Multiple renale Zysten
bei einem Patienten mit ADPKD
Leber- und Nierenzysten von einem
Patienten mit ADPKD
J.A. Brown, New Eng J Med, 2002
Abbildung 29: ADPKD-Ultraschall und Pathologie
Therapie: Keine kausale Therapie möglich. Hypertonie-Einstellung, rechtzeitige Diagnose von
Komplikationen (Zystenblutung bzw. –infektionen) Dialyse bzw. Nierentransplantation bei terminaler
Niereninsuffizienz.
41
9. Der Patient mit akutem Nierenversagen (ANV)
Ansprechpartner: Prof. Dr. Pavenstädt, [email protected]
Das akute Nierenversagen ist sowohl bei stationär behandelten Patienten (Inzidenz: 2 - 5 %) als auch
in der ambulanten Patientenversorgung ein häufiges Krankheitsbild. Mehr als 20 % aller
internistischen Intensivpatienten entwickeln ein akutes Nierenversagen mit einer Mortalität von bis zu
50 %.
Beim akuten Nierenversagen (ANV) handelt es sich um eine abrupte und anhaltende, jedoch
prinzipiell reversible Verschlechterung der Nierenfunktion. Dadurch kann sich eine Urämie entwickeln.
Bleibt eine direkte Beseitigung bzw. Therapie der potentiell behandelbaren Ursache des akuten
Nierenversagens aus (z. B. eine Volumensubstitution, Absetzen der nephrotoxischen Medikation oder
Beseitigung der postrenalen Abflussstörung), kommt es zu einer zunehmenden Verschlechterung der
Nierenfunktion bis hin zur Dialysepflichtigkeit. Dies hat eine starke Verschlechterung des
Patientenüberlebens und eine deutliche Verlängerung der Krankenhausverweildauer zur Folge.
2004 wurden in einer internationalen Konsensuskonferenz die bis dahin bestehenden 30
unterschiedlichen Definitionen des akuten Nierenversagens durch eine einheitliche Definition und
Stadieneinteilung ersetzt, die RIFLE-Kriterien. RIFLE ist ein Akronym und steht für Risk – Injury –
Failure – Loss - ESRD (End Stage Renal Disease), übersetzt etwa: Risiko – Schädigung – Versagen
(der Nieren) – Verlust (der Nierenfunktion) - Terminales Nierenversagen.
Um dem breiten Spektrum des Krankheitsbildes gerecht zu werden, wurde 2007 der Begriff akutes
Nierenversagen (Acute Renal Failure, abgekürzt ARF) in einer weiteren Konsensuskonferenz durch
den Begriff akute Nierenschädigung ersetzt.
Entscheidend für die Diagnose des akuten Nierenversagens und das weitere Vorgehen ist der
Nachweis eines Anstiegs der Serum-Kreatininkonzentration innerhalb von Stunden bis Tagen.
Es werden in der Praxis anurische < 100 ml/Tag, oligurische (< 400 ml/Tag) und nichtoligurische
Formen unterschieden.
Definition der akuten Nierenschädigung durch das Acute Kidney Injury Network
(AKIN-Definition)
Abrupte (innerhalb von 48 Stunden) Abnahme der Nierenfunktion, definiert durch
•
einen absoluten Anstieg des Serum-Kreatinins ≥ 0,3 mg/dl,
•
einen prozentualen Anstieg des Serum-Kreatinins ≥ 50% (das 1,5-fache des Ausgangswertes)
oder
•
eine Verminderung der Urin-Ausscheidung < 0,5 ml/kg/h über mehr als 6 Stunden.
Stadieneinteilung der akuten Nierenschädigung
RIFLEStadium
Risk
AKINStadium
1
Serum-Kreatinin
1,5- bis 2-facher Kreatininanstieg
(RIFLE/AKIN) oder
Urin-Ausscheidung
<0,5 ml/kg/h für 6 h
Kreatininanstieg ≥ 0,3 mg/dl (AKIN)
Injury
2
2- bis 3-facher Kreatininanstieg
<0,5 ml/kg/h für 12 h
> 3-facher Kreatininanstieg oder
<0,3 ml/kg/h für 24 h oder
Serum-Kreatinin > 4 mg/dl mit einem
akuten Anstieg ≥ 0,5 mg/dl
fehlende Urinausscheidung
(Anurie) für 12 h
Failure
3
Loss
*
Dauerhaftes Nierenversagen für > 4
Wochen
ESRD
*
Dauerhaftes Nierenversagen für > 3
Monate
42
Abbildung 30: Ursachen des ANV
Sepsis
Ischämisch
Postrenal
Toxine
RPGN
Prärenal
Andere
Erste Frage bei einem Patienten mit ANV: Besteht ein akutes oder chronisches
Nierenversagen?
Akutes Nierenversagen
Chronisches Nierenversagen
Kreatininverlauf
Ultraschall
Anstieg rasch
Normal große Nieren
Konstant, langsam
Oft verkleinerte Nieren,
verschmälerter Parenchymsaum
Anämie
Nur im Rahmen der
Grunderkrankung
Kein HPT
Renale Anämie
Sek. Hyperparathyreoidismus (HPT)
Sek. HPT, Parathormon↑,
knöcherne Veränderungen
Abbildung 31: Wichtig: Die Einteilung in prä-, intra- und postrenale Schädigungen ist eine gute
Orientierungshilfe für den klinischen Alltag. Akute Tubulusnekrose und prärenale Perfusionsstörung
sind die Hauptursachen für eine plötzliche Verschlechterung der Nierenfunktion
Prärenal
Interstitielle Nephritis
Intrarenal
Postrenal
Akute Tubulusnekrose
Toxisch
Rapid progr. GN
Ischämisch
Basisdiagnostik beim ANV:
Anamnese: Familienanamnese? Vorerkrankungen, insb. KHK, pAVK, Insult, Diabetes mellitus,
Hypertonie, Plasmozytom. Schwangerschaft? Frühere Nierenerkrankungen, Kreatininwerte?
Gewichtsverlauf? Medikamentenanamnese (NSAR, ACE-Hemmer), Kontrastmittel, Dysurie, Algurie,
Flankenschmerz
Untersuchung, RR, Puls, Vorhofflimmern, Ödeme, Pleuraergüsse, Herztöne, Perikarderguss,
Klopfdolenz Nierenlager; Hautturgor
+
+
Urin: Status mit Stix, Sediment, Kreatinin, Na -Konz., Fraktionelle Na -Exkretion (FENa)
43
Blut: Blutbild (BB), Kreatinin, Harnstoff, Elektrolyte, Blutgase, Calcium, Phosphat, Creatinkinase
(CK), Laktatdehydrogenase (LDH), Lipase, Elektrophorese, Blutkultur
Ultraschall Abdomen, EKG, Thorax Röntgen
Anhand der Klinik und der Urinelektrolyte kann man häufig ein prärenales von einem intrarenalen
Nierenversagen unterscheiden.
Prärenales ANV
< 25
<1
> 1,1
Urinnatrium (mol/l)
FE Na (%)
Urin/Plasma-Osmol.
Intrarenales ANV
> 40
>2
< 1,1
Beachten sie bitte, dass es Überlappungsbereiche gibt
+
Die fraktionelle Natriumexkretion (FENa ):
+
Reflektiert die prozentuale Menge des filtrierten Na , die ausgeschieden wird. Sie erlaubt die
Abschätzung der Natriumausscheidung ohne den störenden Effekt der Wasserreabsorption.
+
Eine ENa unter 1% besagt, dass mehr als 99% des filtrierten Natriums resorbiert wurde.
+
Menge an ausgeschiedenem Na
FE Na =
+
x 100
Menge an filtriertem Na
UNa x UV
=
x 100
PNa x (UKrea x UV) / PKrea
UNa = Urin Natriumkonz.
UV = Urinvolumen
PNa = Plasma Natriumkonz.
PKrea = Plasma Kreatininkonz.
Ukrea = Urin Kreatininkonz.
UNa x PKrea
=
x 100
PNa x UKrea
Beim prärenalem ANV liegt ein funktionelles Nierenversagen vor, die Niere ist intakt. Der Tubulus
versucht hierbei möglichst viel Wasser und Natrium zu resorbieren. Daher ist die Natriumkonzentration
bzw. die fraktionelle Natriumexkretion klein (< 1%).
Beim intrarenalen Nierenversagen kommt es zu einer Tubulusschädigung, der Tubulus kann nicht
mehr genug Natrium resorbieren. Daher ist die Natriumkonzentration bzw. die fraktionelle
Natriumexkretion groß (> 2%).
Der Urinteststreifen und das Urinsediment geben weitere Rückschlüsse auf die Ätiologie des ANV:
Urinstatus und ANV
Proteinurie
Hämaturie
Prärenales ANV
∅
∅
Tubuläre Nekrose
∅
∅
Glomerulonephritis
+++
+++
Sediment
∅
granuläre „braune“
Zylinder
Erythrozytenzylinder
Dysmorphe Ery.
44
I
Das prärenale Nierenversagen
Ursachen für das prärenale ANV
•
•
•
•
•
•
Vermindertes Intravasalvolumen (Verlust von Blut)
Verlust von Extrazellulärflüssigkeit (Erbrechen, Schwitzen)
Flüssigkeitsverlust in den dritten Raum (Ileus, Peritonitis)
Inadäquate Flüssigkeitszufuhr
Verminderung des effektiven Blutvolumens (Herzinsuffizienz)
Hypoproteinämie
Pathophysiologisch steht bei den Erkrankungen eine Verminderung des effektiven Blutvolumens im
Vordergrund. Das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System, die Ausschüttung von Catecholaminen und
ADH werden dadurch aktiviert. Mit Hilfe dieser Hormone will die Niere Natrium und Wasser retinieren
und dadurch das Blutvolumen stabilisieren. Das prärenale ANV ist prinzipiell reversibel, es kann aber
bei längerem Fortbestehen auch zu einer Tubulusschädigung und damit zu einem intrarenalen ANV
übergehen.
Klinik des prärenalen ANV
• Erniedrigtes effektives zirkulierendes Volumen
Blutdruck ↓, Hautturgor ↓, Schleimhäute trocken
• Urinnatrium < 25 mmol/l, FENa+ < 1 %
• Quotient Harnstoff- / Kreatininkonz.: normal 10 - 15 : 1,
prärenal > 20:1, erhöhte Reabsorption von Harnstoff
• Normales Urinsediment
Therapie: Volumensubstitution, Therapie der Grunderkrankung
II
Das intrarenale Nierenversagen
a. Die akute Tubulusnekrose
(Hauptursache des intrarenalen Nierenversagens)
Pathophysiologisch kommt es zu einer Schädigung der proximalen Tubuluszelle durch Ischämie,
Medikamente, Toxine und Entzündungsmediatoren. Die Polarität der Zelle geht verloren, es kommt
zum Zelltod. Die toten Zellen verlegen das Tubuluslumen. Die übriggebliebenen proximalen
Tubuluszellen können sich regenerieren und proliferieren (Abb. 32).
Abbildung 32: Urinsediment
bei ANV mit Tubulusnekrose:
“Braune, schmutzige“ Zylinder
45
Ursachen für eine akute Tubulusnekrose
1. Zirkulatorisch-septisch
2. Toxisch
Postischämisches ANV
Sepsis
Medikamente, Kontrastmittel
Mikrozirkulationsstörungen
Makrozirkulationsstörungen
Hepatorenales Syndrom
Medikamente
Kontrastmittel
Hämolyse, Rhabdomyolyse
Hypercalcämie
Prognose: Die Mortalität hospitalisierter Patienten steigt nach Auftreten eines ANV mit
Tubulusnekrose von 7% auf 34% an!
Therapie des ANV mit Tubulusnekrose:
Es gibt bisher keine etablierte kausale Therapie des ANV. Daher ist Prophylaxe wichtig. Die Prognose
des ANV wird nicht durch Diuretika oder Dopamin beeinflusst!
Wichtig ist eine Prophylaxe des ANV vor allen Dingen bei Riskopatienten (ältere Patienten,
dehydrierte Patienten, Patienten mit nephrotischen Medikamenten. Vor Antibiotikagabe
Nierenfunktion berechnen und Antibiotikadosis bei eingeschränkter Nierenfunktion anpassen).
Wichtiges Beispiel für ein ANV mit Tubulustoxizität:
Die Kontrastmittelnephropathie: Nach Gabe von Kontrastmittel kann es durch renale
Vasokonstriktion und direkte Tubuluszellschädigung innerhalb von 1 - 3 Tagen zu einem ANV mit
guter Prognose kommen.
Risikofaktoren für das Auftreten einer Kontrastmittelnephropathie sind:
• Kreatininkonz. > 1,5 mg/dl
• Diabetische Nephropathie
• Niedriges intravasales Volumen (z. B. Herzinsuffizienz)
• Gleichzeitige Gabe nephrotoxischer Substanzen
• Hohe Kontrastmittelmenge > 135 ml
• multiples Myelom
Bei Patienten mit diesen Risikofaktoren sollten prophylaktisch folgende Maßnahmen getroffen
werden:
• Strenge Indikationsstellung
• Volumendepletion und NSAR vermeiden
• 0,9% NaCl, 1 ml/kg/h 2-6 h vor bis 6-12 h nach Untersuchung
• Möglichst wenig und iso-osmolares Kontrastmittel
• Acetylcystein, 2 x 600 mg, am Tag vor und am Tag der Untersuchung
• Bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung im Stadium 3 (GFR: 30
und 59 mL/Min) und 4 (GFR: 15-29 ml/Min): Keine prophylaktische
Dialyse nach Kontrastmittelgabe.
Bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung im Stadium 5 (GFR <
15 ml/min): Prophylaktische Dialyse nach Kontrastmittelgabe
Differentialdiagnostisch kann es nach einer Angiographie zu einem Atheroemboliesyndrom, d.h.
subtotaler Okklusion renaler und anderer Arterien, kommen. Ein ANV tritt dabei meist ca. 1 – 4
Wochen nach der Angiographie auf. Begleitsymptome hierbei sind unter Umständen Livedo reticularis
und digitale Nekrosen. Die Prognose der Erkrankung ist schlecht, > 70% der Patienten werden
dialysepflichtig.
46
b. Die interstitielle Nephritis
Die interstitielle Nephritis ist eine entzündliche Erkrankung des Interstitiums und der Tubuli, die durch
zahlreiche Noxen und Erkrankungen verursacht werden kann. Sie ist in 10 - 15% Ursache eines
akuten Nierenversagens.
Ursachen:
Pharmaka:
Infektionen:
Elektrolytst.:
Andere:
Antibiotika (Methicillin, Ampicillin)
Diuretika
Nichtsteroidale Antirheumatika
Andere: Allopurinol, Cimetidin
Protozoen, Bakterien, Rickettsien, Viren
Hypercalcämie, Hypokaliämie, Uratnephropathie
Sarkoidose, Strahlen
Klinik:
1. Akutes Nierenversagen 2-3 Wochen nach Medikamentenexposition
2. Möglicherweise Hypersensitivitätsreaktion:
Fieber, Exanthem, Arthralgie, Eosinophilie, Eosinophilurie
3. Ausfall tubulärer Partialfunktionen
Labor- und Urinbefunde:
1. Labor: Kreatininanstieg, ggf. Eosinophilie, IgE-Erhöhung
Selten: Renal tubuläre Azidose Typ I und II
2. Urinbefunde:
Erythrozyten, Leukozyten, Leukozytenzylinder, Eosinophile
24-h-Sammelurin: Tubuläre Proteinurie > 1 - 2 g
Glukosurie, Phosphaturie, Aminoazidurie
Fraktionelle Natrium Exkretion > 1%
Histologie: Interstitielle Infiltrate bestehend aus Lymphozyten, Plasmazellen und Eosinophilen,
interstitielles Ödem, normale Glomerula (Abbildung 33).
Abbildung 33: Histopathologie der
interstitiellen Nephritis mit interstitiellen
Infiltraten
Therapie der interstitiellen Nephritis
Beseitigung der auslösenden Faktoren bzw. Absetzen der Medikamente. Prednison, 1 mg/kg/Tag über
14 Tage (nicht gesichert), Symptomatische Therapie des akuten Nierenversagens
c. Die rapid progrediente Glomerulonephritis (RPGN)
ist ein klinisches Syndrom, das durch verschiedenste glomeruläre Erkrankungen ausgelöst werden
kann.
Einteilung der RPGN
I. RPGN durch Antibasalmembran-AK (sehr selten, ca. 5%)
mit oder ohne Lungenblutung
II. RPGN mit Immunkomplexen (40 - 50 %)
a. Infektiös (z.B. Poststreptokokken Glomerulonephritis)
b. Autoimmun (Lupusnephritis)
c. Primäre GN (IgA, membranöse GN, etc.)
III. RPGN ohne Immunfluoreszenzoptische Befunde (40 - 50%)
(Pauci Immun-GN, meist ANCA positiv)
a. systemische Vaskulitiden (z.B. M. Wegener)
b. Idiopathisch
47
Ka
Abbildung 34: RPGN
Lichtmikroskopie: Die zirkulär
angeordnete halbmondförmige
Nekrose (Pfeil) komprimiert die
Kapillare (Ka)
Leitsymptome der RPGN sind:
•
•
•
•
•
•
Rascher Anstieg der Kreatininkonz., ggf. Hypertonie, Ödeme
Nephritisches Sediment: Dysmorphe Erythrozyten, Erythrozytenzylinder, Proteinurie
Normal große Nieren
ggf. Allgemeinsymptome: Müdigkeit, Gewichtsabnahme, Gelenkbeschwerden, Fieber
ggf: Antikörper (ANA, ANCA, Anti-GBM-AK)
Histologie: Lichtmikroskopisch erkennbare extrakapilläre Proliferation mit Halbmondbildung (Abb.
33)
• Geringe Spontanheilungstendenz: Notfall!
Therapie der RPGN: Bei den nicht-infektiösen Formen:
Methylprednisolon, 1 g /Tag i.v. für 3 Tage, gefolgt von Prednison, 1 mg/kg Körpergewicht/Tag, nach
einem Monat reduzieren auf 0,5 mg/kg Körpergewicht/Tag, sehr langsam über 6 Monate
ausschleichen
2
und Cyclophosphamid i.v. 500 – 750 mg/m Körperoberfläche, einmal im Monat für 6 – 12 Monate
und
bei
Lungenblutung
oder
Antibasalmembran-Glomerulonephritis:
Plasmapherese
(Austauschmenge: 50 ml/kg Körpergewicht/Tag für 7 Tage )
III
Das postrenale Nierenversagen
Ursachen: Obstruktion der Urethra, Harnblasenkarzinom, gynäkologische Neoplasien,
Obstruktion beider Ureteren durch Steine, Papillennekrosen, Blutung,
Kompression beider Ureteren durch Tumore, Entzündungen,
Intrarenale Obstruktion: Erhöhte Harnsäurekonzentration (vor allem nach Chemotherapie), Myelom,
Calciumphosphat
Klinik: Die Obstruktion kann asymptomatisch sein (normales Urinvolumen!)
Urinuntersuchung unspezifisch, häufig Leukozyturie oder/und nichtglomeruläre Erythrozyturie.
Die Sonographie ist wichtig zum Ausschluss einer Stauung in den Nierenbecken.
Therapie: Beseitigung der Obstruktion
Verlauf des akuten Nierenversagens: Der klassische Verlauf des akuten Nierenversagens lässt sich
in vier Stadien einteilen: Initialphase: der überwiegend tubulären Läsionen kann Minuten bis Tage
dauern, abhängig davon wie suffizient die prophylaktischen, diagnostischen und therapeutischen
Maßnahmen erfolgen. Die oligo- bis anurische Phase kann bis zu 6 Wochen dauern und eventuell
bei schwerster Schädigung in ein terminales Nierenversagen übergehen. Am Anfang der oligoanurischen Phase steht eine meist eine Reduktion des Harnzeitvolumens mit einer Oligurie oder
Anurie, begleitet von einem Anstieg der Serum-Kreatinin- und Serum-Harnstoffkonzentrationen,
Störungen des Säure-Basen- und Elektrolyt-Haushaltes bis zum Vollbild der Urämie. In der
polyurischen Phase (Dauer 1-2 Wochen), die der Erholungsphase vorausgeht, können die
Harnzeitvolumina stark ansteigen, wodurch die Gefahr der Dehydratation und einer Elektrolytstörung
für den Patienten besteht. In der Erholungsphase (Dauer einige Monate) erfolgt die Regeneration
eines intakten Tubulusepithels und das Wiedererlangen der Fähigkeit Wasser und Salz zu
konservieren, die Normalisierung der täglichen Urinmengen, der Anstieg der glomerulären
Filtrationsrate und die Verbesserung der Retentionswerte.
48
Die Visite bei einem Patienten mit akutem Nierenversagen:
Bei jedem Patienten mit ANV sind zu beachten
1. Reversible Faktoren (Hypovolämie, Nephrotoxine?)
2. Urämiesymptome (Perikarditis, Übelkeit, Somnolenz)
3. Abschätzung des Flüssigkeitsstatus
4. Hyperkaliämie, Azidose, Hyperphosphatämie?
5. Absetzen aller nicht notwendigen Medikamente
6. Dosisanpassung, Antibiotika
Management der Komplikationen des ANV
Überwässerung
Flüssigkeitsbilanz:
Einfuhr = Urinmenge + 500 ml/Tag
ggf. Furosemid, Hämodialyse
Hyperkaliämie
Pseudohyperkaliämie? K -Zufuhr? EKG?
+
2+
K > 6,5 mmol/l: Ca -Glukonat, 10 ml, 10%ig
50 ml 40% Glucose, hiernach Bolus von 10 Einheiten Insulin
Albuterol 20 mg in 4 ml NaCl, vernebelt oder 0,5 mg i.v.
Natriumbicarbonat, 50 mmol i.v.
Ionenaustauschharz:
Einlauf: 50 g in 200 ml, oral 3 x 20 g
Furosemid, 40 mg
+
Hämodialyse bei K > 6 - 6,5 mmol/l
Hyperphosphatämie
Phosphatarme Diät, Phosphatbinder
+
Metabolische Azidose Natriumbicarbonat
Perikarditis
Hämodialyse
Enzephalopathie
Hämodialyse
Gastrointestinal
Protonenpumpenblocker
Anämie
Transfusion
Infektionen
Hygienische Maßnahmen
Kontrolle der Zugänge
Indikationen für eine Dialysetherapie beim ANV
Urämiesymptome
(Perikarditis, Übelkeit, neurolog. Symptome)
Hyperkaliämie > 6,0 - 6,5 mmol/l
Diuretikaresistente Überwässerung
Therapierefraktäre metabolische Azidose
Harnstoffkonz. > 150 mg/dl?
49
Zusammenfassung: Management des ANV
1. Anstieg der Kreatininkonz. ≥ 0,3 mg/dl: akutes Nierenversagen
2. Prä- und postrenale Ursachen ausschließen
3. Urinstatus
4. Urinelektrolyte
5. Bilanzierung beachten
6. Hypotonie vermeiden, keine agressive Therapie einer Hypertonie
7. Anpassen der Dosierung der Medikamente, insb. der Antibiotika
8. Dialyseindikation rechtzeitig stellen
Weiterführende Literatur:
http://www.thieme-connect.com/ejournals/html/dmw/doi/10.1055/s-2007-993100#fg
oder UpToDate
50
10. Die chronische Nierenerkrankung
Ansprechpartner: Prof Dr.
[email protected]
Gabriëls,
[email protected],
Prof.
Dr.
Brand,
Eine Nierenschädigung, die mehr als 3 Monate anhält, wird als chronische Nierenerkrankung
bezeichnet. Man unterscheidet 5 Schwere-Stadien. In Abhängigkeit von der Schwere der
Niereninsuffizienz treten sekundäre Komplikationen wie sekundärer Hyperparathyreoidismus, renale
Anämie, metabolische Azidose und Elektrolyt- und Wasserstörungen auf. Zudem haben ca. 80% der
Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz eine Hypertonie. Im Endstadium der chronischen
Nierenerkrankung kann es zu Urämiesymptomen kommen. Aufgrund der Komplexität der Erkrankung
sollte jeder Patient mit einer Niereninsuffizienz im Stadium 2 einem Nephrologen vorgestellt werden.
Wichtig ist die neuere Erkenntnis, dass Patienten mit einer schon leicht eingeschränkten
Nierenfunktion ein höheres kardiovaskuläres Risiko haben. Dies liegt nur zum Teil daran, dass
viele dieser Patienten Risikofaktoren wie eine Hypertonie, Diabetes oder ein metabolisches Syndrom
haben. Eine aggressive Reduktion der Risikofaktoren für kardiovaskuläre Ereignisse bei Patienten mit
chronischer Niereninsuffizienz sollte daher angestrebt werden (Nikotinabstinenz, RR <130/80 mmHg,
LDL- Cholesterin < 100 mg/dl, Therapie der Anämie und des sekundären Hyperparathyreoidismus).
Siehe auch: http://www.springerlink.com/content/w8h56675r4822240/fulltext.pdf
Stadien der chronischen Nierenerkrankung und geschätzte Häufigkeit in Deutschland
Glomeruläre
Filtrationsrate
2
ml/min/1.73 m
<15
Stadium
Prävalenz
Geschätzte
Anzahl der
Patienten
5 - Dialysepflichtig
0.1%
60,000
15-29
4 - schwere Schädigung
0.2%
120,000
30-59
3 - moderate Schädigung
4.3%
2.5 Million
60-89
2 - leichte Schädigung
3.0%
1.9 Million
>90
1 - normale GFR und
Proteinurie
2.8%
2.1 Million
Ursachen der chronischen Niereninsuffizienz sind: Diabetes mellitus (ca. 30%),
Glomerulonephritis (20%), renovaskuläre Erkrankungen (13%), polyzystische Nierenerkrankungen
(10%), Refluxerkrankungen (10%), chronische Infektionen, andere Ursachen (17%)
Klinik:
I. Wasser-, Elektrolyt-, Säure-Basen-Haushalt
a. Eine gestörte Ausscheidung von NaCl und Wasser tritt meist erst im späten Stadium der
Niereninsuffizienz auf und kann dann zu peripheren und zentralen (Lungen-)Ödemen führen.
Management: Schleifendiuretika: bis zu 500 mg Furosemid/Tag. Bei Diuretika-resistenter
Überwässerung: Hämodialyse.
b. Hyperkaliämien.
Management: Bei einer Hyperkaliämie sollte eine konservative Therapie angewandt werden:
Kaliumarme Kost, Schleifendiuretika, Kaliumentzug durch Ionenaustauschharze: 3 x 15 – 25 g,
(NW: Obstipation, dann zusätzliche Therapie mit Sorbitol), eine Azidose wird durch orale Gabe von
Bicarbonat korrigiert. Lebensbedrohliche Hyperkaliämien (K> 6.5 mmol/l) werden mittels Hämodialyse
behandelt.
c. Eine metabolische Azidose tritt mit Abnahme der Bicarbonatkonzentration auf (meist ab einer
Kreatininclearance < 59 ml/min). Auswirkung der metabolischen Azidose sind: vermehrte
Ammoniumbildung, vermehrter Calciumverlust aus den Knochen und vermehrte Degradation von
verzweigtkettigen Aminosäuren mit gesteigertem Proteinabbau. Die Bicarbonattherapie senkt
Morbidität und Mortalität bei der chronischen Nierenerkrankung.
51
Management: Sinkt die Serumbicarbonatkonzentration unter 18 mmol/l, sollte mit einer oralen
Bicarbonatsubstitution durch Gabe von Puffersubstanzen (v.a. Na-Bicarbonat, Tris-Puffer), 0,5 – 1
mmol/kg, begonnen werden.
II. Renale Anämie
Ab einer Kreatininclearance < 60 ml/min kann eine sogenannte renale Anämie auftreten. Bereits im
Stadium 3 der chronischen Niereninsuffizienz haben ca. 48% der Patienten eine Anämie, die primär
durch eine verminderte Bildung von Erythropoetin (EPO) in der Niere verursacht wird. Deshalb:
- erst Abklärung der Anämie durch: Blutbild, Erythrozyten-Index, Retikulozytenzahl, Vitamin-B12,
Folsäure, Eisen, Transferrin, Ferritin, Stuhl auf okkultes Blut untersuchen (keine ErythropoetinSpiegel bestimmen)
- danach Berechnung der Transferrinsättigung (TSAT) ⇒ Eisen / Transferrin x 100 = TSAT [%].
Management: Vor der EPO-Gabe muß der Eisenstatus kontrolliert werden.
Ist TSAT < 20 und Ferritin < 100 ng/dl liegt ein Eisenmangel vor (Therapie mit Eisen, p.o. oder i.v.).
Ist TSAT > 20 und Ferritin > 100 ng/ml liegt eine ausreichende Eisenversorgung vor.
Eine EPO-Therapie wird begonnen, wenn die Hämoglobin (Hb) -Konz.: < 11 g/dl ist. Anfangsdosis der
Therapie: 100 U/kg 1x/Woche subkutan (nicht Epoetin alpha, da Gefahr der Erythroblastopenie),
abgestimmt auf die Reaktion die Dosis bzw. Frequenz der Gabe steigern. Blutdruck kontrollieren.
Ziel Hb: 10-12 g/dl, nicht höher.
Fehlendes Ansprechen auf EPO durch: Eisenmangel, Infektionen, Entzündungen,
Hyperparathyreoidismus, Aluminium-Intoxikation, Folat/Vitamin B12-Mangel, Malignome (Multiples
Myelom, Myelofibrose, -dysplasie), Malnutrition, Hämolyse, Medikamente, Urämie (inadäquate
Dialyse), Erythroblastopenie (EPO-Antikörper).
III. Hyperphosphatämie / sekundärer Hyperparathyreoidismus (HPT)
In den proximalen Tubuluszellen der Niere wird aus 25-Vitamin-D3 durch 25-Hydroxyvitamin-D31alpha-Hydroxylase das biologisch aktive 1,25-Dihydroxyvitamin-D3 (Calcitriol) gebildet. Mit
zunehmender Niereninsuffizienz bzw. unter einer Kreatininclearance von ca. 60 ml/Minute wird
weniger Calcitriol gebildet (siehe Abbildung 35). Daher sollte bei Patienten mit einer
Kreatininclearance von unter 60 ml/Minute die Serumspiegel von Calcium, Phosphat und intaktem
Parathormon bestimmt werden. Die Kombination von Hyperphosphatämie, Hypocalciämie und
erniedrigtem Calcitriolspiegel führt in der Nebenschilddrüse zur Stimulation der Parathormon (PTH)Bildung. Dabei wird die vermehrte PTH-Bildung durch die Hypocalciämie über den Calcium-SensingRezeptor vermittelt. Erhöhte PTH-Konzentrationen in Kombination mit einer Niereninsuffizienz,
Hyperphosphatämie und normal bis niedrige Calciumwerte sprechen für einen sekundären HPT.
Die erhöhten PTH-Spiegel führen zu einer kompensatorischen Freisetzung von Calcium aus den
Knochen; gleichzeitig wird vermehrt Phosphat mobilisiert, welches nicht mehr in ausreichendem Maße
ausgeschieden werden kann.
Abbildung 35: Pathogenese des sekundären Hyperparathyreoidismus
VDR= Vitamin D-Rezeptor
Klinik:
1. Osteoporose
2. Osteomalazie (gleichzeitiger Vitamin-D3-Mangel)
3. Osteitis fibrosis (ausgeprägte Knochenveränderungen beim sekundären HPT)
52
Symptome bei 5 - 10% der Patienten: Progrediente Muskelschwäche, Knochenschmerzen (untere
Wirbelsäule, Becken, untere Extremität), Spontanfrakturen (insbes. Rippenfr. bei Osteomalazie),
periarthritische Beschwerden (Pseudogicht), Calciphylaxie mit extraossärer Verkalkung der kleinen u.
mittleren Arterien (Ulcera), Pruritus. Wahrscheinlich spielt bei Patienten mit chronischer
Niereninsuffizienz der sekundäre HPT eine Rolle bei der raschen Entwicklung einer Atherosklerose.
Management:
Der Serum-Phosphatspiegel sollte zwischen 2,7 und 4,6 mg/dl liegen. Das wird bewirkt durch:
♦ Phosphatarme Diät (800 – 1000 mg/Tag, z.B. kein Käse, keine Schokolade, Cola).
♦ Phophatbinder (z.B. Calciumacetat 500 - 1000 mg zu jeder Mahlzeit, nicht mehr als 1500 mg/Tag).
Nebenwirkung: Hypercalcämie
♦ Bei Patienten mit vaskulären Calcifikationen, Hypercalcämie oder sehr hohen Phosphatkonz.
(> 7 mg/dl) wird die Therapie mit dem calciumfreien Phosphatbinder Sevelamer oder
Lanthanumcarbonat (calciumfreie Phosphatbinder) empfohlen.
♦ Kontrolle der Calcium- und Phosphatwerte alle 3 Monate.
♦ Sollte der Serum-Phosphatspiegel im Normbereich liegen, wird bei Patienten mit erhöhten PTHSpiegeln (PTH > 70 pg/mL im Stadium 3 (GFR 30 - 59 ml/min) oder PTH > 110 pg/mL im Stadium
4 (15 -29 ml/min) der Niereninsuffizienz, die Gabe von Vitamin-D empfohlen.
z.B. Alfacalcidol (1-Hydroxyvitamin-D, wird in der Leber zu Calcitriol hydroxyliert), 0,25 - 1,0 µg
3x/Wo. Engmaschige Kontrolle vom Serumcalcium nach Einleitung einer Vitamin-D-Therapie.
CAVE: keine Vitamin-D-Therapie bei hohem Phosphatwert (Gefahr der CalciumphosphatPräzipitation im Gewebe bei einem Calciumphosphat-Produkt größer 60: (Calcium [mmol/l] x
Phosphat [mg/dl] x 4).
Zurzeit wird die Therapie mit Vitamin-D allerdings diskutiert, da mit Cinacalcet, ein Medikament,
dass die Sensitivität des Calcium-Sensing-Rezeptors für Calcium erhöht (sog. Calcimimetikum), in
der Klinik zur Verfügung steht. Cinacalcet supprimiert den PTH Spiegel und erniedrigt sowohl das
S-Calcium wie auch das S-Phosphat und ist daher besser als Vitamin D für die Therapie des
autonomen Hyperparathyreoidismus geeignet.
♦ ggf. Parathyreoidektomie: Stark erhöhte persistierende PTH-Spiegel mit progressiver
Knochenerkrankung, schwerer Hypercalcämie oder extraskelettalen Calcifikationen
IV. Urämie
Unspezifische und spezifische Urämie-Symptome treten in der Regel bei einer GFR < 10 - 25 ml/min
auf. Zu den unspezifischen Symptomen gehören Müdigkeit (aufgehobener Tag-Nacht-Rhythmus),
Leistungsknick, Luftnot, Appetitlosigkeit, Übelkeit/Erbrechen, Gewichtsverlust, Juckreiz, metallischer
Geschmack, Abneigung gegen Fleisch. Im fortgeschrittenen Stadium kommt es dann zu einer
urämischen Gastritis, Perikarditis/-erguss, Pleuritis/Pneumonitis, Enzephalopathie/Polyneuropathie.
Untersuchungsbefunde: Anämieanzeichen, Kratzspuren, Überwässerung (Lungenödem, periphere
Ödeme), Zeichen der Perikarditis / Perikardtamponade, urämischer Foetor, Hypertonie.
Diagnose: Kreatininkonz. häufig > 5 - 10 mg/dl, Harnstoffspiegel > 150 - 250 mg/dl, reduziertes
Urinvolumen. In diesem Stadium sind im Ultraschall häufig Schrumpfnieren zu diagnostizieren
(Nierengröße < 9 cm).
53
11. Nierenersatztherapien inkl. Nierentransplantation
Ansprechpartner: Prof. Dr. Gabriëls, [email protected] und Frau Prof. Dr. Suwelack,
[email protected] (Transplantation)
In Deutschland gibt es zurzeit ca. 70.000 dialysepflichtige Patienten. Die Kosten für die Behandlung
betragen dabei pro Patient ca. 40.000 – 50.000 Euro/Jahr.
Der terminalen Niereninsuffizienz liegen verschiedene Ursachen zugrunde:
Die Abbildung 36 zeigt die Diagnoseverteilung der in Deutschland im QuaSi-Niere-Register
gemeldeten Patienten bei Dialysebeginn im Jahr 2008.
Abbildung 36: Diagnoseverteilung der Patienten bei Therapiebeginn im Jahre 2008 (QuaSi-Niere)
Haupttodesursache bei Dialysepatienten sind kardiovaskuläre Erkrankungen und Infektionen
(Abbildung 37)
Abbildung 37: Todesursachen der im Jahr 2004 verstorbenen Dialysepatienten (QuaSi Niere-Bericht
2004/2005)
Indikationen zur Dialysetherapie: Bei urämischer Perikarditis, Gastroenteritis, Übelkeit, Erbrechen,
diuretikaresistenter Überwässerung, therapierefraktärer Hyperkaliämie oder/und Azidose, rasche
Gewichtsabnahme, ist die Einleitung einer Dialysetherapie indiziert. Eine relative Indikation besteht
ab einer Kretininclearance von < 15 ml/Minute. Meist wird in der Praxis dieser Wert aber
unterschritten, da die Patienten sich oft noch relativ wohl fühlen.
54
Im Prinzip stehen 3 unterschiedliche Arten der Nierenersatztherapie zur Verfügung:
Terminale Niereninsuffizienz
Hämodialyse
Peritonealdialyse
Nierentransplantation
Aufgaben der Nierenersatztherapie: Entfernung von
1. Wasser (ca. 0.5 - 1.0 l/Tag),
2. Harnstoff (als Marker für Urämie-Gifte; Harnstoff selbst ist nur in höchsten Konzentrationen toxisch
und kann dann zu Kopfschmerzen, Erbrechen und Müdigkeit führen),
3. Phosphat (Akkumulierung führt zur Stimulation von PTH und renaler Osteodystrophie, Präzipitation
von Calcium bei Überschreiten des Calcium-Phosphat-Löslichkeitsproduktes)
4. Kalium (die tägliche Aufnahme liegt bei ca. 70 mmol/Tag),
5. sog. Mittelmoleküle, (Urämietoxine des Proteinstoffwechsels mit einem Molekulargewicht zwischen
0.5 und 12 kDalton).
I. Prinzip der Hämodialyse (HD)
Das Standardverfahren, mit dem in Deutschland ca. 90%
der Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz behandelt
werden, ist die intermittierende Hämodialyse
(Abbildung 38). Hierbei wird über eine Kanüle Blut mit
einem Blutfluss von ca. 200-300 ml/min über einen
Dialysator geleitet. Die Dialysemembran des Dialysators
ist die eigentliche „künstliche Niere“. Im Dialysator sind
semi-permeable Hohlfasern (1000 - 15000
Einzelkapillaren) in einem Gehäuse parallel angeordnet.
Diese Kapillaren werden vom Blut durchströmt. Das
sogenannte Dialysat, das im Gegenstrom zum Blut läuft,
umfließt die Kapillaren (Zusammensetzung des Dialysats:
Natriumchlorid- (130 - 140 mmol/l), Calcium- (z.B. 1,5
mmol/l), Bicarbonat- (z.B. 35 mmol/l), Magnesium(1 mmol/l) und Kaliumkonzentration (z.B. 2 mmol/l).
Abbildung 38: Prinzip der Hämodialyse
Urämietoxine (einschließlich Harnstoff und Kreatinin)
verlassen das Blut und treten per diffusionem entlang eines Konzentrationsgradienten in das
Dialysat über, während die Bicarbonat-Konzentration im Blut während der Dialyse-Behandlung
ansteigt (= Ausgleich der metabolischen Acidose). Das Blut wird dann über eine Pumpe in die venöse
Kanüle zuruckgeleitet. Es kann gleichzeitig eingestellt werden, wieviel Flüssigkeit dem Patienten
während der Behandlung entzogen wird (sog. Ultrafiltration). Die typische Behandlung dauert 4 - 5
Stunden und es werden (je nach Flüssigkeitsaufnahme) 2 - 3 l Flüssigkeit entzogen. Damit das Blut
nicht gerinnt, wird der Patienten für die Dauer der Dialysesitzung systemsich mit Heparin
antikoaguliert.
Hämodialyse-Behandlung (typisches Protokoll):
Dauer der Behandlung: 4,5 Stunden, 3x/Woche, Blutfluss (beeinflusst die Clearance) 250 - 300
2
ml/min, Dialysatfluss in der Regel 500 ml/min, Dialyse-Membran (Polysulfon mit ca 1,2 – 1,8 m
Oberfläche), Heparin z.B. 2000 U Bolus, dann 1000 U/h. Kalium i. Dialysat 2 mmol/l, Ultrafiltration 2 –
3 l. Gefäßzugang: Damit eine ausreichende Clearance erzielt werden kann, sind Blutflüsse zwischen
200 – 300 ml/min notwendig. Hierzu muss ein spezieller Gefäßzugang angelegt werden, z.B. eine
End-zu Seit-Anastomose der V. cephalica mit der A. radialis proximal vom Handgelenk oder im
Bereich der Ellenbeuge (Cimino-Fistel). Bevor diese Gefäßanlage benutzt werden kann, muss die
arterialisierte Vene “reifen” (4 - 6 Wochen), so dass in der Zwischenzeit nicht selten ein zentraler
Zugang in die V. jugularis interna als Dialysezugang eingebracht wird. Bei jedem Patienten mit
55
eingeschränkter Niereninsuffizienz sollte der potentielle Shuntarm im Vorfeld geschont werden
(keine Venenpunktionen, Blutabnahmen).
Praktischer Ablauf: Vor Beginn der Dialyse wird der Patient gewogen. Das Gewicht, das er über dem
von seinem Arzt festgelegten Trockengewicht auf die Waage bringt, muss ihm als Wasser während
der Dialyse entzogen werden. Der Patient nimmt in einem Krankenstuhl oder im Bett Platz. Eine kurze
Anamnese wird erhoben. Der Blutdruck wird gemessen. Die Punktionsstellen werden desinfiziert, die
arterielle sowie venöse Kanüle werden eingebracht und durch Pflaster gegen Verrutschen und
versehentliches Herausziehen gesichert. Blutproben (Elektrolyte) können jetzt entnommen werden.
Die arterielle Kanüle wird mit dem arteriellen Schlauchsystem verbunden, die Blutpumpe mit einem
Fluss von zunächst ca. 100 ml/min gestartet. Ist das Blut durch das gesamte Schlauchsystem
geflossen, wird das venöse Schlauchsystem mit der venösen Kanüle verbunden; der Kreislauf ist
geschlossen. Der Patient bekommt eine Initialdosis Heparin oder Fragmin und die Heparinpumpe wird
auf den vorgegebenen Wert eingestellt. Der zu Beginn ermittelte Wert für den Wasserentzug wird am
Gerät eingestellt, der Blutfluss auf ca. 200 ml/min. erhöht. Es wird der Blutdruck des Patienten
gemessen und in einem Dialyseprotokoll zusammen mit allen anderen Daten, wie
Dialysebeginn/ende, Blutfluss, Heparingabe, Gewicht usw. eingetragen.
Cave: Die ersten Dialysesitzungen sollten nur 2-2,5 Stunden dauern, da sonst die Gefahr eines
Dysäquilibriumsyndroms (Symptome: Unruhe, Erbrechen, Verwirrtheit, cerebrale Krämpfe) durch zu
schnellen Harnstoffentzug besteht.
Nebenwirkungen/Komplikationen
der
Dialysetherapie:
Hypotension,
Krämpfe
und
Bewusstlosigkeit bei übermäßiger Ultrafiltration, Kopfschmerzen, Juckreiz, Infektionen des Zugangs
(Shunt, Diaylsekatheter) mit Fieber und Schüttelfrost; Shuntthrombose
56
II. Die Peritonealdialyse (PD)
Prinzip: Austausch von Flüssigkeit und Soluta über das Peritoneum, welches in diesem Fall als
semipermeable Dialysemembran dient. Die CAPD ist die Abkürzung für »continuous ambulatory
peritoneal dialysis«. Die sterile Dialyseflüssigkeit, die über einen Katheter in den freien Bauchraum
eingeführt wird, verbleibt in der Regel 4-6 Stunden in der Bauchhöhle und wird anschließend
abgelassen und durch neue Dialyseflüssigkeit ersetzt, so dass sich kontinuierlich (24/7) Flüssigkeit in
der Bauchhöhle befindet (Abb. 39). Dabei werden durch Diffusionsvorgänge »harnpflichtige
Substanzen« und durch Osmose überschüssiges Wasser aus dem Körper entfernt. Die Therapie wird
nach einer Trainingszeit von einigen Tagen durch den Patienten selbst zuhause durchgeführt. Der
Patient muss lernen die Beutel steril zu wechseln. Hauptkomplikation der CAPD ist die Peritonitis.
Die Diaylsierflüssigkeit enthält als osmotische Substanz Glukose, die durch Ihre Konzentration einen
bestimmten "osmotischen Druck" ausübt. Auf diesem Wege wird Wasser aus den Peritonealkapillaren
in die Bauchhöhle gezogen. Durch die Wahl der Glukosekonzentration kann der osmotische Druck
verändert werden. So wird man bei einem Patienten mit minimaler Urinausscheidung mit höherer
Glukosekonzentration oder, als neueste Entwicklung, mit anderen osmotisch wirksamen
Zuckerverbindungen (z.B. das Glukosepolymer Icodextrin 7.5%) arbeiten.
Abbildung 39A: Prinzip der CAPD:
Über einen speziellen Katheter, z.B.
Tenckhoff-Katheter, werden ca. 2
Liter
Dialysatflüssigkeit
(meist
glukosehaltige Lösung) in die
Bauchhöhle eingelassen. Nach
einer Verweildauer von 4 - 6 h wird
die Flüssigkeit gegen frische
Flüssigkeit ausgetauscht.
Subkutane Muffe
Muffe der
Bauchwandmuskulatur
Abbildung 39B: Links: Tenckhoff-Katheter bei einem Patienten. Rechts: Eigenschaften des Katheters
Beziehung Molekular-Gewicht (MG) und Clearance
Substanz
Harnstoff
Kreatinin
Glukose
Inulin
ß2-Mikroglobulin
Albumin
MG(Dalton)
60
113
180
5500
11800
69000
Clearance (ml/min/1,73 qm)
29
23
16,5
2,8
1,3
0,12
57
Das bedeutet: Die Clearance ist umso größer, je kleiner das Molekül ist.
Abbildung 40: Diffusionsraten verschiedener Soluta bei PD
Verhältnisse der Konzentrationen von Harnstoff, Kreatinin, Inulin und Protein im Dialysat und im
Plasma (1 bedeutet komplette Äquilibrierung) während einer 8-stündigen Verweildauer.
1,0
Harnstoff
Dialysat / Plasma
Konzentrationsverhältnis
0,8
Kreatinin
0,6
0,4
Inulin
0,2
Proteine
0
120
240
360
480
Verweildauer (min)
Dialysat-Plasma-Verhältnis
Harnstoff
Kreatinin
Die Harnstoff-Äquilibriertung ist so schnell, dass
sich nach 90-120 min ein Diffusionsgleichgewicht einzustellen beginnt, das nach 240 min
komplett ist. Also maximieren kurze Verweilzeiten die Rate der Entfernung des kleinen
Moleküls Harnstoff.
Im Vergleich dazu zeigen größere Moleküle eine
progressive Abnahme der Diffusionsraten. Die
Inulin-Diffusion nimmt mit der Zeit linear zu, da
der limitierende Konzentrationsgradient nicht
erreicht wird. Das bedeutet, dass ein Verlängern
der Gesamtdialysezeit die Clearancerate dieser
größeren Moleküle steigert.
2h 4h
0,70 0,90
0,50 0,65
Abbildung 41: Ultrafiltration in Abhängigkeit von der Glukose-Konzentration (in%) des
Dialysats
80
4,25 %
60
40
20
2,3 %
0
2
-
4
6
8
1
Verweilzeit (h)
1
1,5 %
Glukose wird in den meisten Fällen als das
osmotische
Agens
im
Peritonealdialysat
verwandt. Es wird umso mehr Flüssigkeit aus
dem Blut in das Peritoneum gelangen, je höher
die Glukose-Konzentration des PeritonealDialysates ist.
Abbildung 42: Beziehung zwischen Dialysatfluss-Rate und Clearance verschiedener Teilchen
bei der PD
30
Clearance (ml/min)
Harnstoff
Kalium
20
Kreatinin
10
Inulin
0
0
15
30
Die Clearance von Soluta nimmt mit dem
Dialysatfluss zu, da das frische Dialysat keine
entsprechenden Teilchen enthält und so ein
günstiger
Konzentrationsgradient
für
die
fortlaufende Diffusion erhalten bleibt.
Der Dialysatfluss ist für größere Teilchen wie
Insulin weniger wichtig, da die Clearance zu
niedrig ist, einen limitierenden Konzentrationsgradienten zu erreichen.
45
Das Peritoneum verschiedener Patienten kann
unterschiedliche
Eigenschaften
aufweisen.
Wichtig sind die Transporteigenschaften des
Peritoneums. Man differenziert daher die Patienten in „schnelleTransportierer“ und „langsame
Transportierer“.
Dialysatfluss (ml/min)
58
„schnelle Transportierer“ / hohe Transportkapazität
hohe Transportkapazität bedeutet:
- schnelle Einstellung des Gleichgewichtes der gelösten Teilchen zwischen Blut- und Dialysat
- schnelle Glucoseaufnahme aus dem Dialysat
- schnelles Einsetzen der Rückresorption von Wasser aus dem Dialysat ins Plasma
Dies hat zur Folge, dass nach langer Verweilzeit in der Summe nur geringe Volumina ultrafiltriert
werden.
„langsame Transportierer“ / niedrige Transportkapazität
niedrige Transportkapazität bedeutet:
- langsame Einstellung des Gleichgewichtes der gelösten Teilchen zwischen Blut- und Dialysat
- langsame Glucoseaufnahme aus dem Dialysat
- kaum Rückresorption von Wasser.
Das heißt: mit zunehmender Verweilzeit werden in der Summe größere Volumina ultrafiltratriert.
So kann also mit der Variation folgender Faktoren eine Änderung der Ultrafiltration erreicht werden:
Häufigkeit der Wechsel
Verweildauer
Volumina
Dialysat-Konzentration
Große / schwere Patienten benötigen typischerweise große Dialysatvolumina, vor allem wenn sie
“langsame Transportierer” sind und überhaupt keine eigene Nierenfunktion mehr haben.
Verfahrenstypen:
1. kontinuierliche ambulante PD (CAPD) (Abb. 43)
2. intermittierende PD (hohe Austauschfrequenz während des Tages, meistens in einem
Dialysezentrum) (IPD),
3. nächtliche intermittierende PD (NIPD) mit einem Cycler
4. continuierliche Cycler-gestützte PD (CCPD) mit nächtlichem Cycler und zusätzlichem
Austausch während des Tages. Vorteile: gute Clearance von Urämie-Toxinen, peritonealer
Zugang, Mobilität und Unabhängigkeit des Patienten, “biokompatibles” Verfahren (Abb 44).
Liter
Abbildung 43: CAPD
Bei CAPD sind die Füllvolumina
üblicherweise 2 Liter und einige
Patienten benötigen statt vier
Beutelwechseln fünf.
2
2,0 l
2,0 l
7.00
2,0 l
17.00
2,0 l
22.00
7.00
Abbildung 44: CCPD
Liter
Bei der continuierlichen Cyclergestützten PD (CCPD) muss der
Patient sich oft 12 bis 14 Stunden
mit dem Cycler und großen
Dialysatmengen behandeln. Eine
Alternative ist eine kürzere Zeit am
Cycler (9 bis 11 Stunden) plus 1 bis
2 Dialysat-Wechsel am Tag.
2
2,5 l2,5 l 2,5 l2,5 l2,5 l 2,5 l
2,0 l
7.00
17.00
22.00
7.00
Komplikation der CAPD: Peritonitis (0.23 Episoden pro Patientenjahr). In 80% Bakterien (meist
gram-positiv)
Klinik: Bauchschmerz. Fieber. Übelkeit. Trüber Beutel.
59
Labor: Leukozytose >100 Zellen /µl in der Peritonealflüssigkeit (ist nicht immer vorhanden!)
Diagnostik: Leukozyten und Zelldifferenzierung im Auslauf, Gram Färbung, Kultivierung der
Peritoneallösung, Blutkultur. Sammeln: Dialysat (10 ml Spritze) für Kammerzählung
6 Blutkulturflaschen (4x aerob, 2x anaerob) mit je 10 ml Dialysat (Bakteriologie) Raumtemperatur
50 ml Dialysat für Kultivierung und Gram-Direktpräparat (Bakteriologie) Kühlschrank
3 Blutkulturflaschen (2x aerob, 1x anaerob) mit je 10 ml Dialysat (Mikrobiol./Hygiene) RT
50 ml Dialysat für Kultivierung und Gram-Direktpräparat (Mikrobiol. / Hygiene) Kühlschrank
10 ml Dialysat für Zelldifferenzierung (Zytopathologie) Kühlschrank
Inspektion des sog. Exit-Points des Katheters
Abstrich von der Exit-site, Bestimmung von Amylase (> 50 U/ml sprechen für zusätzliche
intraabdominelle Erkrankungen als Ursache der Peritonitis), ggf. Abdomen Übersicht, CT.
Therapie: Zunächst empirisch: Vancomycin + Ceftazidim intraperitoneal, bei jedem Beutelwechsel.
Ceftazidim (Fortum: Erstdosis: 500 mg/l i.p. Erhaltung: 125 mg/l i.p.)
Vancomycin (Erstdosis: 1000 mg/l, Erhaltungsdosis: 15 mg/l i.p.),
dann Therapie weiter nach Antibiogramm. Spätestens innerhalb von 1-3 Tagen muss es eine
deutliche Besserung der klinischen Symptomatik und ein Rückgang der Zellzahlen geben.
Ist dies nicht der Fall: erneute Kulturen gewinnen, Leukozyten erneut differenzieren, Ursache der
Peritonitis reevaluieren, z.B. intraabdominelle Pathologie bei multiplen Darmkeimen,
Katheterexplantation erwägen
Vorteile der CAPD gegenüber der Hämodialyse: Mehr Unabhängigkeit/Mobilität, Restdiurese bleibt
länger erhalten, liberalere Trinkmengen, schonenderer Volumenentzug, bessere Kontrolle einer
Anämie, weniger Arrhythmien, geringeres Hepatitisrisiko
Nachteile der CAPD: geringere Clearance für Harnstoff und Kreatinin (kleine Moleküle), hohes
Infektionsrisiko (Peritonitis, Exit-site-Infektionen). Limitierend sind Restausscheidung und
Körpergewicht / - größe.
Es wurde nachgewiesen, dass unter den Dialysepatienten diejenigen am besten überleben, die
zunächst einige Jahre Peritonealdialyse und erst anschließend mit Hämodialyse behandelt werden.
Dialysequalität und adäquate Dialyse
Basiskriterien für eine adäquate Dialyse sind: Keine Urämiesymptome, Wohlbefinden, guter
Ernährungszustand (Serumalbumin > 3,5 g/dl), ausgeglichene Flüssigkeitsbilanz, Normotension,
Hämatokritwert > 33%, optimale Behandlung des Hyperparathyreoidismus.
Als weiteres Dialysequalitätskriterium kann die wöchentliche Verteilungsvolumen-bezogene
Harnstoffelimination herangezogen werden. Die Formel Kt/V ist ein Index für die exponentielle
Harnstoffabnahme im Verlauf einer Hämodialysesitzung. K = Harnstoffclearance des Dialysators, t =
Behandlungszeit, V = Verteilungsvolumen von Harnstoff.
Richtwerte für eine adäquate Hämodialyse sind: Kt/V > 1,3 pro Sitzung bzw. > 3,9 pro Woche
Richtwerte für eine adäquate Peritonealdialyse: > 2,0 pro Woche. Das entspricht einem
Dialysatvolumen von 50-60 l/Woche.
Die wichtigste variierbare Größe ist dabei die Dauer der Dialysebehandlung, dass heißt mit
zunehmender Dauer steigt natürlich auch die Effektivität.
60
III. Die Nierentransplantation (Ntx)
Zurzeit werden ca. 58.000 Patienten mit einer Hämodialysetherapie (70%), 3000 Patienten mit einer
CAPD Therapie (4%) und 21.000 Patienten durch eine Nierentransplantation (26%) behandelt. Etwa
80% aller transplantierten Nieren stammen von hirntoten Spendern und 20% von Lebendspendern
(~50% in USA, Schweden). 2010 wurden in Deutschland 2.272 Nieren nach postmortaler
Nierenspende und 665 nach Lebendspende transplantiert. Zurzeit warten dennoch mehr als 8.000
Dialysepatienten in Deutschland auf ein Spenderorgan
Voraussetzungen:
1. ABO-Blutgruppenkompatibilität (Rhesus-Identität wird nicht berücksichtigt).
Neuerdings werden aber auch ABO- Blutgruppeninkompatible Spenden mit vergleichbarem Erfolg
i.R.der Lebendnierenspende durchgeführt.
2. HLA-Typisierung
3. % PRA (panel reactive antibodies) Screening – Grad der Immunisierung
4. Cross-match (CDC)
HLA-System: Es werden im Wesentlichen drei transplantationsrelevante MHC-Loci auf dem
Chromosom-6 berücksichtigt, aus der Klasse I – HLA-A , HLA-B und aus der Klasse II – HLA-DR. Für
das HLA A, B und DR existieren jeweils zahreiche Allele, die in der Bevölkerung in unterschiedlicher
Häufigkeit vorkommen. Durch die Entwicklung der molekularbiologischen Gewebetypisierung wächst
die Zahl der nachgewiesenen Allele und Splits ständig (HLA-A*: 458, HLA-B*: 782, HLA-DR*: 440).
Jeder Mensch besitzt zwei Chromosome-6 und vererbt jeweils eines (Haplotyp) weiter. Bei der
Lebendspende von Geschwistern besteht damit eine 25%ige Wahrscheinlichkeit für ein “Full House”
(beide Haplotypen sind identisch), 50% für einen identischen Haplotyp und in 25% findet sich keine
Übereinstimmung. Cross-over und andere Formen der Rekombinationen führen zum Abweichen von
diesem Vererbungsmodus. Die HLA-Übereinstimmungen haben einen wichtigen Einfluss auf die
Überlebensraten: bei HLA-identischen Lebendspendern beträgt die Halbwertszeit der
Nierentransplantate 24 Jahre, bei zufällig gematchten Leichennieren 9 Jahre.
% PRA (panel reactive antibodies) es handelt sich um infolge Sensibilisierung gegen fremde
Antigene präformierter cytotoxischer HLA- Antikörper der Empfänger gegen ein Panel verschiedener
Testlymphozyten. >80% PRA % gilt als hochimmunisiert (hi).
Transplantationsvorbereitung: Ca. 36% der nierentransplantierten Patienten versterben mit
funktionierendem Transplantat an kardiovaskulären Komplikationen, 18% an einer Infektion und 9%
an einem Malignom. Daher müssen im Rahmen der Transplantationsvorbereitung insbesondere diese
Risikofaktoren ausgeschlossen werden.
Absolute Kontraindikationen: nicht saniertes oder systemisches Tumorleiden, nicht ausgeheilte
Infektion, Inoperabilität, schwerste nicht behandelbare Herzerkrankung, Non Compliance, Unfähigkeit
zur Kooperation.
Liegen die Ergebnisse der Untersuchungen vor und bestehen keine Einwände gegen eine
Transplantation, meldet das Transplantationsbüro den Patienten bei Eurotransplant an. Organisation
der Lebendspende über die Transplantationszentren.
Kriterien für die Zuteilung einer Niere sind:
1. Blutgruppe
2. Grad der Übereinstimmung der HLA-Merkmale
3. Missmatch Wahrscheinlichkeit
4. Wartezeit
5. Entfernung zur Donorregion
6. Hochimmunisierte Patienten
7. Hohe Dringlichkeit
8. Alter (European senior „old for old“ Programm Nieren von Spendern > 65 J für Empfänger >65J)
9. Kinderbonus
61
Untersuchungen vor einer Nierentransplantation
Anamnese, körperliche Untersuchung
Blutgruppe, HLA-Typisierung, HLA-Antikörper, Cross-Match
HIV, Hepatitis-, CMV, EBV-Status, Impfstatus
klin. Chemie, Gerinnungsanalysen
Röntgen von Thorax, NNH
Ultraschall des Abdomens, ggf. Gastroskopie, Koloskopie
Fokussuche (HNO, Zahn)
Urologische und gynäkologische Untersuchung
Kardiovaskuläre Erkrankung?
EKG, Echokardiogramm, Ergometrie, z.B.StressEchokardiogramm,
ggf. Koronarangiographie (Diabetiker!)
Doppler Sonographie, Gefäßstatus, pAVK?
Durchführung: Vor der Transplantation müssen spenderspezifische Antikörper durch eine
Kreuzprobe (cross match) und Antikörperdiagnostik ausgeschlossen werden. Das Nierentransplantat
wird extraperitoneal im Bereich der linken oder rechten Fossa iliaca End-zu-Seit an die A./V. iliaca
externa anastomosiert.
Immunsuppression: Die Immunsuppression nach Nierentransplantation besteht aus einer
Kombination mehrerer Medikamente, die das Immunsystem auf verschiedenen Ebenen beeinflussen.
Die zur Prophylaxe d.h. zur Verhinderung einer Abstoßungsreaktion heute eingesetzte
Standardimmunsuppression (Tripleimmunsuppression) besteht aus 1.Prednisolon, 2.Cyclosporin A
(CsA) oder Tacrolimus (Tac) und 3.Mycophenolat (MMF/MPS) alternativ Azathioprin (Aza). Zusätzlich
werden initial bei Transplantation Antikörper gegen den IL-2-Rezeptor (auf T-Zellen) gegeben (sog.
Induktionstherapie). Sie reduzieren die Rate der akuten Abstoßung im ersten Jahr. Bei Risikopatienten
(z.B. ≥ Zweittransplantation, hohe präformierte Antikörper (PRA%) etc.) werden auch polyklonale TLymphozyten Antiköper (ATG) als Induktionstherapie eingesetzt. Die Langzeitimmunsuppression wird
durch eine Kombination aus niedrig dosiertem Prednison, CsA oder Tac und MMF erzielt. Manche
Zentren setzen nach einem Jahr nach Transplantation auch auf eine duale Immunsuppression um
(z.B. Prednison und Cyclosporin A). Die Immunsuppression soll verhindern, dass T-Zellen aktiviert
werden und eine akute Abstoßung auftritt. T-Zellen werden kontinuierlich aus den primären
lymphatischen Organen freigesetzt und wandern auf der Suche nach Antigenen zu den sekundären
lymphatischen Organen, also Milz und Lymphknoten. Wird ein Organ, beispielsweise eine Niere
transplantiert, so treten dendritische Zellen, sog. passagere Leukozyten aus dem Organ aus und
treffen in den lymphatischen Organen auf die Empfänger-T-Zellen. Gleichzeitig wandern dendritische
Zellen des Empfängers in das Organ ein und nach Beladung mit Antigenen ebenfalls in die
sekundären lymphatischen Organe. Hier treffen sie dann im Parakortex des Lymphknotens auf die TZellen. In dieser Region können dendritische Zellen mit einer Vielzahl von T-Zellen in Wechselwirkung
treten, bis sie einen T-Zellrezeptor mit einer ausreichenden Affinität gefunden haben.
Der T-Zell-Rezeptor bindet das körperfremde Antigen, das in Verbindung mit Molekülen des HauptHistokompatibilitätskomplexes (MHC) auf der Zelloberfläche der dentdritischen Zelle präsentiert wird.
Über spezialisierte Venolen, sog. high endothelial venules, können die durch die Erkennung
aktivierten T-Zellen das lymphatische Organ verlassen, sich teilen, und durch die Sezernierung von
Lymphokinen andere Elemente des Immunsystems aktivieren.
Diese Interaktion führt zur Aktivierung verschiedener Proteinkinasen, deren Aktivität u.a. zu einem
Calciumeinstrom führt. Die Bindung von Calcium an Calcineurin (und v. a. Calmodulin, einen Aktivator
von Calcineurin) führt zu einer Aktivierung der Phosphataseaktivität von Calcineurin. Calcineurin
dephosphoryliert den Transkriptionsfaktor NFAT, welcher durch diese Dephosphorylierung in den
Zellkern gelangt und unter Mitwirkung anderer Proteine die Transskription der an der T-ZellAktivierung beteiligten Gene initiiert, die für Cytokine kodieren (z. B. Interleukin-2).
Die Calcineurininhibitoren (CNI) CsA und Tac binden an Cyclophilin bzw an das FK binding protein
(FKBP). Dieser Komplex bindet an den Calcineurin/Calmodulin-Komplex, inhibiert dessen
Phosphataseaktivität und verhindert damit die Translokation von NFAT in den Zellkern. Mycophenolat
ist ein Antimetabolit, welcher die DNA-Synthese von T –und B- Lymphozyten hemmt.
62
Zu den wichtigsten Nebenwirkungen von CNI gehören: Nephrotoxizität, Neurotoxizität, Hypertonie,
Hyperlipidämie, Diabetes, Hepatotoxizität, Leuko-/ Thrombozytopenie, Hyperkaliämie, B-ZellLymphome. CsA Spiegelbestimmungen sollten regelmäßig erfolgen. Gingivahyperplasie, Hirsutismus
werden unter CsA, Alopezie unter Tac beobachtet. Diarrhoe, Anämie, Thrombopenie sind typische
MMF Nebenwirkungen.
Neuere Immunsuppressiva: mTor-Inhibitoren (Sirolimus, Everolimus) können alternativ eingesetzt
werden. Die immunsuppressive Wirkung entsteht über Hemmung der Signaltransduktion der
Cytokinrezeptoren und infolge Hemmung der cytokinabhängigen T-u. B-Lymphozytenproliferation und
der Gefäßmuskelzellen. (NW: Anämie, Magen-Darmprobleme, Ödeme, Hyperlipidämie. Sowie
Wundheilungsstörung und Lymphozelenbildung besonders in Kombination mit MPA,)
Postoperative Komplikationen:
1. chirurgische Komplikationen (Thrombose der Transplantatarterie bzw. –vene, sekundäre
Wundheilung, Ureterundichtigkeiten, Lymphozele, Hämatom)
2. Akute Rejektionen: akute humorale oder zelluläre Rejektion, interstitielle oder vaskuläre Rejektion
3. Infektionen (1. Monat: Harnwegsinfektionen, bakterielle Pneumonie, Wundinfektionen,
Legionellen, Pneumocystis Candida; >1. Monat: + CMV, EBV, BKV Aspergillus, Nocardien,
Listerien, Tbc, Toxoplasmose, Cryptococcus).
Klinik der akuten Abstoßungsreaktion (AR):
-Anstieg des Serumkreatinins >20 %
-Abnahme der Urinausscheidung
-Blutdruckanstieg
-Schwellung, Druckschmerz Transplantat
-Fieber
-alle Symptome nicht spezifisch!
Diagnostik: Duplex-Sonographie + Transplantatbiopsie!
Histologie verschied. Formen der AR: nach Banff-Kriterien
Therapie: richtet sich nach der Histologie (
-primär: hochdosiert Corticosteroide
- ggf. polyklonale oder monoklonale Lymphozyten Antikörper
-Intensivierung/ Umstellung der Immunsuppression
Langzeitkomplikationen: Tumore (Haut, lymphoproliferative Neoplasien, Nierentumore), Infektionen.
Hauptursachen für das Transplantatversagen im Langzeitverlauf sind:
1. Tod des Empfängers bei funktionierendem Transplantat (hauptsächlich durch kardiovaskuläre
Ereignisse), ca. 50%
2. chronisches Transplantatversgen (ca. 40 %)
3. Rekurrenz oder Neuauftreten einer glomerulären Erkrankung und
späte akute Abstoßung (<10%)
Ergebnis: Nach einem Jahr sind noch 90% der Transplantate funktionsfähig, nach Lebendspende
noch mehr als 95%. Hier wirkt sich die kurze kalte Ischämiezeit zwischen Entnahme und
Transplantation günstig aus. Die Compliance der Patienten beeinflusst das Transplantatüberleben.
Nach 5 und 10 Jahren funktionieren noch 70 bzw. 50% der Transplantate (~85 bzw 70% nach
Lebendspende). Nach Nierentransplantation verbessert sich die Lebensqualität und Lebenserwartung
der Patienten im Vergleich zur Dialyse. Unten stehende Tabelle vergleicht die Lebensqualität von
Patienten (in %), welche mit einer Hämodialysetherapie, CAPD oder Transplantation behandelt
wurden.
HD
•
•
•
Körperliches Wohlbefinden
Zufrieden mit Gesundheit
Zufrieden mit Therapie
Seelisches Wohlbefinden
Soziales Wohlbefinden
67
64
70
63
63
CAPD
69
86
90
71
65
NTX
83
84
96
80
74
63
Lebendspende (LNS)
Prinzipiell ist die Nieren Lebendspende aufgrund der Organpaarigkeit möglich. 2010 betrug der Anteil
der in 38 Zentren durchgeführten Nierentransplantationen nach Lebendspende ca 23 % Prozent aller
Nierentransplantationen. Neben der Lebendspende für Kinder hat v.a. die LNS für (ältere) nicht
verwandte Erwachsene (Ehe-/ Lebenspartner) zugenommen. Voraussetzungen für die Lebendspende
sind der gute Gesundheitszustand des Spenders und die Freiwilligkeit der Spende, die durch eine
unabhängige Lebendspende-Kommission geprüft wird. Als Spender in Frage kommen nahe
Verwandte und Personen, die dem Empfänger persönlich eng verbunden sind.
Die Lebendspende setzt eine intensive Untersuchung des Spenders vorraus, der lt Gesetz nicht über
das mit der OP verbundene Risiko hinaus gefährtdet werden darf. Das Risiko für einen gesunden
Spender selbst nach LNS eine terminale Niereninsuffizienz zu erleiden unterscheidet sich nicht von
der Normalbevölkerung. Es besteht nach mehreren Jahren ein Langzeitrisiko für die Entwicklung einer
art Hypertonie und einer eingeschränkten Nierenfunktion.
64
12. Säure-Basen-Störungen
Ansprechpartner: Prof. Dr. Pavenstädt, [email protected]
+
Der pH-Wert: Die H -Ionen-Konzentration wird aus historischen Gründen als pH (puissance hydrogen)
+
ausgedrückt. Der pH ist der negative dekadische Logarithmus der H -Ionen-Konzentration und aus
diesem Grunde auch für klinische Zwecke denkbar ungeeignet. Klinisch viel praktischer ist die Arbeit
+
mit der H -Ionen-Konzentration. Daher wird für die Ermittlung von Säure-Basen-Störungen der pH in
+
der Klinik häufig in eine H -Ionen-Konzentration umgerechnet. Dies kann mit Hilfe von
Normogrammen oder mit einfachen Hilfsformeln erfolgen (Abbildung 45).
+
[H ] (nmol/l)
+
Abbildung
45:
Verhältnis
zwischen
HIonenkonzentration und pH-Wert. Ein pH-Wert von 7,40
+
entspricht einer [H ]-Konzentration von 40 nmol/l. Für pHWerte zwischen 7,20 und 7,50 besteht praktisch eine
+
lineare Korrelation zwischen pH und H -Konzentration. In
+
diesem Bereich kann die H -Ionenkonzentration in etwa
errechnet werden, indem man die Zahl hinter der
+
Kommastelle von 80 abzieht. Beispiel: bei pH 7,48 ist [H ] =
80 - 48 = 32 nmol/l
pH
Zur Bestimmung von Störungen des Säure-Basen-Haushalts benötigen Sie folgende Parameter:
1. Blut pH-Wert
2. CO2-Konzentration
3. Bicarbonatkonzentration
4. Natrium und Chlorid-Konzentration
In Einzelfällen werden zusätzliche Parameter (z.B. Urin-Elektrolyte, Urin-pH, Serum-Osmolalität, UrinOsmolalität) benötigt. Aufgrund des dekadischen Logarithmus ist die Henderson-HasselbalchGleichung für den klinischen Gebrauch unbequem zu benutzen, die Henderson-Gleichung (siehe
unten) aber hervorragend geeignet. Für sie gilt:
[H+] =
24 x pCO2
_________
-
[HCO3 ]
+
Wichtig ist, dass die H -Konzentration durch den Quotienten pCO2 zu [HCO3] bestimmt wird. Es
herrscht ein Säure- Basen-Gleichgewicht.
Beispiel: Sie haben eine Blutprobe gezogen und wollen im Ionometer eine Säure-Basen-Analyse
vornehmen. Sie erhalten folgende Werte:
-
pH 7.2, pCO2 = 30 mmHg, HCO3 = 12 mEq/l
+
Sie können nun zunächst die Qualität Ihrer Probe überprüfen. Die Umrechnung des pH in eine H Konzentration ergibt 80-20 ~ 60 mEq Protonen. Demnach muss gemäß der Henderson-Gleichung
weiter gelten:
60 = 24 x 30 : 12 , d.h. 60 = 60
Ihre Probe war korrekt entnommen und das Ionometer misst korrektl. Als Faustregel gilt, dass die
rechte Seite der Gleichung nicht mehr als 10 % von der linken Seite der Gleichung abweichen sollte.
65
Zusammenspiel von Lungen und Nieren bei Säure-Basen-Störungen:
Lunge und Nieren sind die beiden wesentlichen Regulative zur Aufrechterhaltung eines
ausgeglichenen Säure-Basen-Haushaltes. Grundsätzlich gilt, dass primär metabolische Störungen
(erkennbar an veränderten HCO3 -Konzentrationen) respiratorisch kompensiert werden, primär
respiratorische Störungen (erkennbar an veränderten pCO2-Konzentrationen) metabolisch
kompensiert werden. Dies veranschaulicht die folgende Abbildung:
pH 7,4
[H+] 40
nmol/l
Abbildung 46: Gleichgewicht des Säure-BasenHaushalts
Beispiel:
Ein Anstieg des pCO2 auf 60 mmHg im Rahmen
eines akuten Asthmaanfalls führt zu einer
respiratorischen Azidose mit pH 7.2. Bei anhaltender
respiratorischer Azidose führt die kompensatorisch
vermehrte Rückresorption von Bicarbonat durch die
Niere zu einer Reduktion der Protonenkonzentration,
zur Normalisierung des pH und zum Anstieg der
Bicarbonatkonzentration im Blut.
pH 7,6
[H+] 20 nmol/l
pH 7,2
[H+] 60 nmol/l
o
o
o
pCO2 40 mmHg
Respiratorische Schale
O
o
o
o
[HCO3-] 24 mmol/l
Metabolische Schale
Der respiratorischen Kompensation sind natürliche Grenzen gesetzt. Eine Hyperventilation im
Rahmen einer metabolischen Azidose kann nicht beliebig gesteigert werden, da sonst die
Totraumventilation unverhältnismäßig zunimmt, der Sauerstoffverbrauch durch die gesteigerte
Atemarbeit annähernd exponentiell steigt und bei Atemfrequenzen > 30/min rasch eine muskuläre
Erschöpfung der Atemmuskulatur eintritt (Versuchen Sie bitte im Sitzen 1 Minute mit einer
Atemfrequenz von 40/min zu atmen). Umgekehrt kann eine metabolische Alkalose nur begrenzt durch
Hypoventilation kompensiert werden, da sowohl CO2–Retention als auch Hypoxygenation potente
Stimulatoren des Atemantriebs sind. Ähnliches gilt für die metabolische Kompensation einer
respiratorischen Störung, da auch die kompensatorischen Möglichkeiten der Niere begrenzt sind.
Beispiel: Sie sehen in der Notaufnahme eine Patientin im ketoazidotischen Koma mit einer
Atemfrequenz von 40/min. Ihre arterielle Blutgasanalyse ergibt folgende Werte:
-
pH 7.1, pCO2 = 10 mmHg, HCO3 = 3 mEq/l (Probe korrekt?)
Welcher pH würde sich ergeben, wenn das pCO2 aufgrund respiratorischer Erschöpfung auf 20 mmHg
ansteigen würde? Gemäß der Henderson-Gleichung gilt:
+
H = 24 x 20 : 3 = 160 nmol/l ~ pH 6.2
Dies ist mit dem Leben nicht vereinbar. Diese relativ einfachen Berechnungen helfen, um
beispielsweise die Intubationspflichtigkeit eines Patienten abschätzen zu können.
-
Cave: Patienten mit pCO2 <20 mmHg und HCO3 <10 mEq/l dekompensieren rasch
Das Prinzip der Anionenlücke
Die Anionenlücke (AL) repräsentiert im Blut vorhandene säurewirksame Anionen, die nicht ohne
größeren Aufwand messbar sind (nicht-messbare Anionen). Die Anionenlücke spielt bei der
Differenzierung von Säure-Basenstörungen eine wichtige Rolle, da sie auch dann sichtbar bleibt,
wenn andere Säure-Basenstörungen die HCO3 Konzentration verändern (dies ist einer der wenigen
klinischen Gründe ein Serum-Chlorid zu bestimmen und ein echtes Hindernis, wenn dieses zur
Blutgasanalyse fehlt). Sie errechnet sich aus:
66
+
-
-
Anionenlücke = [Na – (Cl + HCO3 )]
[normal 10 ± 2 mEq/L]
Die (nicht-messbaren) Anionen welche die Anionenlücke repräsentieren setzen sich wie folgt
zusammen:
1. Anionische Proteine
[~ 2.0 mEq/L]
hauptsächlich Albumin
α-Globuline
β-Globuline
2. Organische Anionen
3PO4
[~ 2.0 mEq/L]
2SO4
[~ 1.0 mEq/L]
Laktat und Rest
[~ 5.0 mEq/L]
Summe
10 mEq/L
Beispiel: Durch Retention von Urämiegiften entsteht bei den meisten chronisch niereninsuffizienten
Patienten eine metabolische Azidose. Eine kleine Laboruntersuchung ergibt beispielsweise folgende
Werte:
pH 7.3, pCO2 = 32 mmHg, HCO3 = 16 mEq/l
+
Na 135 mEq/L, Cl 95 mEq/L
Die Anionenlücke errechnet sich wie folgt:
AL = 135 – (95 + 16) = 24, d.h. es handelt sich um eine AL positive metabolische Azidose.
Würde man die Blutprobe aufwändig untersuchen, würde man erhöhte Werte für inorganische
Anionen messen können, die für die Vergrösserung der AL veranwortlich sind. Typische
säurewirksame Anionen, welche die Anionenlücke vergrössern, sind inorganische Anionen (Phosphat,
Sulfat), organische Anionen (Laktat, Ketone, Urämietoxine) und exogene Anionen (Salicylat,
Paraldehyd, Ethylenglykol, Methanol).
Differentialdiagnose der erhöhten Anionenlücke:
1. Ketoazidose
2. Urämie, Salizylsäure, Methanol, Äthylenglykol, Urämie (zweimal), Lactat. Merkhilfe: KUSSMAUL
Abbildung 47: Flussdiagramm zur Diagnostik der metabolischen Azidose
-
[HCO3 ] niedrig
Respiratorische Alkalose?
AL normal
Renal tubuläre Azidose oder
gastrointestinale Verluste
AL errechnen
AL hoch
Prof. Kussmaul fragen
I. Ketoazidose
Ursachen: Diabetes, Hunger, Alkohol. Hauptanion: Acetoacet-β-hydroxy-butyrat.
Klinik: Kussmaul, Atmung, Koma
67
Therapie: z.B. bei Diabetes mellitus: Insulin, Kochsalz, Kaliumsubstitution, nur bei pH > 7,1 Gabe von
Bicarbonat
II. Urämie
Ursachen: Akutes-, chronisches Nierenversagen. Hauptanion: Sulfat, Phosphat, organische Säuren
Klinik: Kreatinin ↑, Oligurie?
Therapie: Dialyse
III. Salizylsäure
Ursachen: Intoxikation
Klinik: Kinder: Fieber, ZNS-Symptome. Erwachsene: Metabolische Azidose mit großer Anionenlücke +
respiratorische Alkalose (starker Abfall von [CO2]).
Screening: 1 ml 10% FeCl3-Lösung zu 3 ml Urin ⇒ Lilafäbung.
Therapie: Magenentleerung, Aktivkohle, 1,5 l einer Bikarbonatlösung (150 mmol/l) über 4 Stunden.
Schwere Vergiftung: Dialyse.
IV. Methanol, Äthylenglykol
Ursachen: Vergiftung, Hauptanion: Glyoxalsäure
Klinik: Methanol: Zerebrale Symptome, Erblindung, Pankreatitis.
Äthylenglykol: Einlagerungen von Oxalat im ZNS, Niere und anderen Organen: Zerebrale Symptome,
Nierenversagen. Metabolische Azidose mit großer Anionenlücke + Osmotische Lücke: Zwischen
gemessenem und errechnetem osmotischen Druck besteht eine Differenz > 10 mosm/kg.
Therapie: Ethanolgabe (größere Affinität zur Alkoholdehydrogenase), Dialyse + Bicarbonatgabe
V. Laktatazidose:
Ursachen: Typ A mit Gewebeischämie und/oder Hypoxie: Kardialer Schock, Embolie.
Typ B ohne Hypoxie und ohne Hypotension: Metformin, Leberversagen, Tumore.
Therapie: Therapie der Grunderkrankung. Ob die Gabe von Bicarbonat die Prognose verbessert, ist
nicht gesichert.
5 einfache diagnostische Schritte zur Analyse von Säure-Basen-Störungen
Eine Analyse von Säure-Basen-Störungen ist komplex aber mit einigen einfachen Schritten relativ
leicht durchführbar. Die Blutgasanalyse venöser und arterieller Blutgase sollte möglichst sofort
durchgeführt werden um Fehler durch Gasdiffusion zu vermeiden.
Schritt 1:
Schritt 2:
Die Unterscheidung von Azidose (pH<7.38) und Alkalose (pH>7.42) ist einfach
Die Unterscheidung respiratorische vs. metabolische Störung ist ebenfalls nicht
schwer. Bei metabolischen Störungen sind alle Werte gleichsinnig verändert.
pH
pCO2
HCO3-
weitere Analyse bei
Resp. Azidose
⇓
⇑
⇑
Schritt 3
Resp.Alkalose
⇑
⇓
⇓
Schritt 3
Meta. Azidose
⇓
⇓
⇓
Schritt 4
Meta. Alkalose
⇑
⇑
⇑
Schritt 4
Schritt 3: Determination der metabolischen Kompensation bei primär respirat. Störungen
In Abhängigkeit von der Dauer der respiratorischen Störung kommt es zu einer mehr oder minder
starken metabolischen Kompensation durch die Niere. Dies kostet Zeit. Daher kann aufgrund des
Ausmaßes der Kompensation auf die Dauer der Störung rückgeschlossen werden. Grundsätzlich gilt
für respiratorische Störungen, dass Abweichungen vom normalen pH (∆ pH) in Relation zum
veränderten pCO2 mit zunehmender renaler Kompensation (Dauer) kleiner werden. Dies kann man bei
68
bekanntem pCO2 abschätzen und mit den gemessenen Werten vergleichen. Für die Abschätzung gilt
näherungsweise folgendes:
zu erwartendes ∆ pH bei
akuter Störung
zu erwartendes ∆ pH bei
chronischer Störung
Respiratorische Azidose:
∆ pH ~ 0.08 x ∆PaCO2/10
∆ pH ~ 0.03 x ∆PaCO2/10
Respiratorische Alkalose:
∆ pH ~ 0.07 x ∆PaCO2/10
∆ pH ~ 0.02 x ∆PaCO2/10
Beispiel: Sie sehen in der Notaufnahme einen Patienten mit starker Dyspnoe und vermuten einen
akuten Asthmaanfall. Ihre arterielle Blutgasanalyse ergibt folgende Werte:
-
pH 7.25, pCO2 = 60 mmHg, HCO3 = 28 mEq/l
(Probe korrekt?)
Sie sehen ein ∆PaCO2 [PaCO2 akut - PaCO2 Standard] von 60 mmHg – 40 mmHg = 20 mmHg.
Aufgrund Ihrer Abschätzung erwarten Sie für eine akute Störung ein ∆ pH von 0.16 (0.08 x [20 : 10]),
d.h. einen pH von ~ 7.26, für eine chronische Störung ein ∆ pH von 0.06 (0.03 x [20 : 10]). Der
gemessene pH Wert von 7.25 zeigt ein ∆ pH von 0.15 (normaler pH von 7.4 – gemessener pH von
7.25) an, d.h. es liegt eine akute (nicht kompensierte) respiratorische Störung im Rahmen eines
akuten Asthmaanfalles vor.
Jetzt bitte anschnallen:
Schritt 4: Determination der respiratorischen Kompensation bei primären metab. Störungen
Ähnlich wie unter Schritt 3 gezeigt, erfolgt auch bei metabolischen Störungen eine respiratorische
Kompensation. Diese kann analog zu den respiratorischen Störungen durch Bestimmung der pCO2Veränderungen abgeschätzt werden (zur Erinnerung, metabolische Azidosen führen zur
Hyperventilation, metabolische Alkalosen zur Hypoventilation). Hierfür gilt näherungsweise:
zu erwartendes PaCO2
bei akuter Störung
primär metabolische Störung
-
(1.5 x HCO3 ) + 8 (± 2)
zu erwartendes PaCO2 bei
chronischer Störung
-
(0.7 x HCO3 ) + 20 (± 1.5)
Beispiel: Sie sehen in der Notaufnahme einen Patienten mit rezidivierendem Erbrechen unklarer
Dauer. Bei der klinischen Untersuchung fällt eine Atemfrequenz von 8/min auf. Sie führen eine
arterielle Blutgasanalyse durch und erhalten folgende Werte:
-
pH 7.48, pCO2 = 45 mmHg, HCO3 = 32 mEq/l
(Probe korrekt?)
Wie erwartet finden Sie eine metabolische Alkalose (pH > 7.42 und alle Werte gleichsinnig verändert).
Zur Abschätzung der Dauer der Störung berechnen Sie die zu erwartenden Werte. Für akute
Störungen erwarten Sie ein pCO2 von ~ 56 mmHg (1.5 x 32 + 8) für chronische Störungen ein pCO2
von ~ 43 mmHg (0.7 x 32 + 20). Das Erbrechen muss also schon seit einigen Tagen bestehen, es
besteht eine kompensierte (chronische) metabolische Alkalose.
Gelegentlich findet man gemessene pCO2 Werte, die außerhalb des nach obigen Formeln zu
erwartenden Bereiches liegen. Dies bedeutet, dass eine sekundäre respiratorische Störung vorliegen
muss. Hierfür gilt:
Gemessener PaCO2 > zu erwartender PaCO2: ⇒ zusätzliche respiratorische Azidose
Gemessener PaCO2 < zu erwartender PaCO2: ⇒ zusätzliche respiratorische Alkalose
Beispiel: Sie sehen auf der Intensivstation einen beatmeten Patienten mit parenteraler Ernährung,
Sepsis und hohen Laktatspiegeln. Der Patient wird mit einer Atemfrequenz von 12/min beatmet. Die
neue Intensivschwester zeigt Ihnen die letzte arterielle Blutgasanalyse mit folgenden Werten:
69
-
pH 7.12, pCO2 = 35 mmHg, HCO3 = 10 mEq/l
(Probe korrekt?)
Sie finden eine metabolische Azidose (pH < 7.38 und alle Werte gleichsinnig verändert). Zur
Abschätzung der Dauer der Störung berechnen Sie auch jetzt die zu erwartenden Werte. Für akute
Störungen erwarten Sie ein pCO2 von ~ 23 mmHg (1.5 x 10 + 8) für chronische Störungen ein pCO2
von ~ 27 mmHg (0.7 x 10 + 20). Offensichtlich handelt es sich hier um eine chronische metabolische
Azidose, dennoch liegt das gemessene pCO2 über den zu erwartenden Werten einer chronischen
metabolischen Azidose. Daraus kann man schließen, dass eine zusätzliche Störung im Sinne einer
respiratorischen Azidose vorliegen muss. Der Patient hat eine kombinierte metabolische und
respiratorische Azidose.
Schritt 5:
Determination tertiärer Störungen
Wie oben bereits gesagt, spielt die Anionenlücke bei der Differenzierung von Säure-Basen-Störungen
eine wichtige Rolle, da sie auch dann sichtbar bleibt, wenn andere Säure-Basen-Störungen pH und
HCO3 Konzentration verändern. Demzufolge kann bei vergrößerter Anionenlücke immer auf eine
metabolische Azidose geschlossen werden, egal welche Werte Sie für pH oder HCO3 erhalten. Das
Prinzip des Delta-Delta hilft bei kombinierten Störungen gelegentlich weiter. Es wird definiert als:
-
Delta-delta: [(AL – 12) + HCO3 ]
[normal: = 24 ± 1]
Das Prinzip wird einfach klar, wenn man eine Störung mit normaler Anionenlücke annimmt. In diesem
Fall ergibt sich folgendes: [(12 – 12) + HCO3 ] = [0 + HCO3 ]. D.h., dass pH und HCO3 unmittelbar
voneinander abhängen. Umgekehrt führen zusätzliche Störungen welche das Verhältnis von AL zu
HCO3 beeinflussen zu einer Veränderung des Delta-Delta. Es gilt daher:
Anionenlücke > 20
⇒ zugrundeliegende metabolische Azidose
Delta-delta > 30
⇒ zugrundeliegende metabolische Alkalose
Delta-delta < 23
⇒ zugrundeliegende AL-negative metabolische Azidose
Aufgabe: Sie sehen in der Notaufnahme einen chronischen Alkoholiker mit akuter Pneumonie und
mehrfachem schweren Erbrechen. Sie führen eine arterielle Blutgasanalyse durch und erhalten
folgende Werte:
-
pH 7.31, HCO3 29 mEq/L, PaCO2 55 mmHg
+
Na 135 mEq/L, CL 80 mEq/L, K 2.8 mEq/L
Analyse nach dem 5-Punkte-Prinzip:
1) Schritt 1: Es handelt sich um eine Azidose (pH<7.38)
2
2) Schritt 2: Es handelt sich um eine respiratorische Störung (pH und pCO gegensinnig
verändert)
3) Schritt 3: Determination der metabolischen Kompensation bei primär respiratorischen
Störungen: Es errechnet sich hier (wie im Skript dargestellt!) ein zu erwartendes ∆pH bei
akuter Störung von: ∆pH ≈ 0.08 x ∆PaCO2/10=0.12, bei chronischer Störung: ∆pH ≈ 0.03 x
2
∆PaCO /10=0.045 Wenn Sie nun von einem normalen pH-Wert von 7.40 ausgehen und
dieser Patient einen pH-Wert von 7.31 hat, so sehen Sie, dass es sich hier um eine akute
Störung handelt. Allerdings liegt hier der tatsächliche pH (7.31) etwas höher als für eine
chronische Kompensation bei alleiniger, kompensierter respiratorischer Azidose errechnet (pH
errechnet: 7.40-0.12=7.28) Sie sollten daher nun an die Möglichkeit einer kombinierten
Störung denken! Denken Sie daran, dass ja zusätzlich bei komplexen Krankheitsbildern und
Komorbidität (Sie haben die Information, dass der Patient als akute Krankheit eine Pneumonie
hat und dass er Alkoholiker ist!) auch kombinierte Störungen vorliegen können. Hier „riecht“ es
sozusagen danach! Hier hilft Ihnen nun Schritt 5!
70
4) Schritt 4: Diesen Schritt können Sie sich aktuell sparen! Wir hatten ja gesehen, dass die
primär vorliegende Störung die respiratorische Azidose ist. Daher besteht hier keine primär
metabolische Störung.
5) Schritt 5: Hier ermitteln Sie das sogenannte Delta-delta für die vorliegende Störung: Deltadelta: [AL – 12) + HCO3]; sie müssen also zunächst die Anionenlücke ermitteln: AL = [Na+ (Cl + HCO3 )] also [135 – (80 + 29)] = 26; damit liegt eine vergrößerte Anionenlücke vor.
Diese zeigt (siehe Skript) immer eine beteiligte metabolische Azidose an. Diese ist hier sicher
durch den chronischen Alkoholgenuss bedingt. Ethanol macht eine AL-positive metabolische
Azidose. Nun können wir zusätzlich das Delta-delta bestimmen: Nach obiger Formel ergibt
sich [(26 – 12) + 29] = 43. Wie Sie aus dem Skript ersehen können, deutet ein Delta-delta >30
auf einen zugrundeliegende metabolische Alkalose hin. Hier ist sicher das Erbrechen beteiligt.
Denken Sie an die Vorlesung: Erbrechen macht eine hypochlorämische metabolische
Alkalose.
Sie sehen also, dass dieser Patient eine wirklich komplexe Störung hat!
Die Anwendung des 5-Punkte-Prinzips zeigt das Vorliegen von drei Störungen an:
1) respiratorische Azidose (Pneumonie!); 2) metabolische, AL-positive Azidose (Alkohol!), und 3)
metabolische Alkalose (Erbrechen!).
71
13. Die Harnwegsinfektionen (HWI)
Ansprechpartner: Prof. Dr. Pavenstädt, [email protected]
Einteilung: Je nach Lokalisation der Infektion werden Urethritis (Infektion der Urethra), Zystitis
(Blaseninfektion) und Pyelonephritis (Infektion des Nierenbeckens mit Invasion von Bakterien in das
Interstitium der Niere) unterschieden. Bis zum Schulalter erleiden ca. 1,6% aller Jungen und 7,8%
aller Mädchen einen HWI. Dann nimmt die Inzidenz ab, steigt aber bei Mädchen mit beginnender
sexueller Aktivität um ca. 0,5% pro Jahr. Bei Männern sind HWI extrem selten (ca. 5 – 8 / 10.000 pro
Jahr) und steigen erst in höherem Alter.
Klinisch (anhand von Symptomen, Risikofaktoren und Komplikationen) werden häufig die
unkomplizierte HWI (Urethritis, Zystitis der jungen Frau), die komplizierte HWI (Zystitis +
Risikofaktoren, Pyelonephritis), die rezidivierende HWI (Zystitis) und die asymptomatische Bakteriurie
unterschieden.
5
2
Urinbefunde: Leukozyturie, Hämaturie, Bakteriurie (10 Keime/ml, bei Symptomen: 10 Keime/ml).
Sterile Leukozyturie bei
1. Nierentuberkulose
2. Tumor, meist vaginal
3. Steinen
4. Interstitieller Nephritis
5. Reiter-Syndrom
Unkomplizierter Harnwegsinfekt: Harnwegsinfekt der Frau im gebärfähigen Alter
Klinik: Dysurie, Pollakisurie, suprapubischer Schmerz, Hämaturie
Erreger: In ca. 80% E. coli.
Management: Keine Diagnostik. Unkomplizierter HWI: empirische Therapie (ohne Urinkultur) mit
Fosfomycin, 3000 mg einmalig oder Nitrofurantoin, 3x 100 mg für 7 Tage. Alternativ: Ciprofloxacin 2 x
250 mg für 3 Tage.
Komplizierter Harnwegsinfekt:
Die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen beim HWI ist bei folgenden Konstellationen besonders
groß:
HWI beim Mann
HWI beim Kind
HWI in der Schwangerschaft
HWI bei Diabetes mellitus
HWI bei immunsupprimierten Patienten
HWI bei Anomalien der Harnwege, Urolithiasis
HWI vor operativen Eingriffen der Nieren
HWI bei neurogener Blasenentleerungsstörung
5
Diagnostik: Nachweis von 10 Keimen im Mittelstrahlurin (Verwerfen der ersten 100 ml Urin), bei
2
symptomatischen Frauen sind 10 Keime schon signifikant.
Eventuell zusätzlich: Prostataexprimat bei Männern, Urinteststreifen, Differentialblutbild
(Linksverschiebung), Blutkulturen, Ultraschall zum Ausschluss einer Obstruktion oder von
Nierensteinen.
Therapie: nach Antibiogramm. Cotrimoxazol, 2 x 1 Tabl., Amoxicillin, 3 x 500 mg oder Norfloxacin, 2 x
400 mg für 10 - 14 Tage
Vorgehen beim Harnwegsinfekt des Mannes:
1. Urinkultur:
> 3 verschiedene Keime ⇒ Kontamination
3
2. Kultur positiv (>10 Keime/ml): Antibiotische Therapie
2
3. Kultur negativ (< 10 Keime/ml):
Urinkultur auf schwer kultivierbare Erreger
Urethralabstrich auf Gonorrhoe, Clamydien
4. Weitere Diagnostik: Ultraschall, i.v. Pyelogramm, CT
72
Pyelonephritis: Aszendierende Infektion mit E. coli (70 - 90%), Klebsiellen, Proteus, Pseudomonas,
Serratia, Enterokokken, Staphylokokken
Klinik: Fieber, Schüttelfrost, Flankenschmerzen (fakultativ: Dysurie, Algurie, Pollakisurie,
suprapubischer Schmerz, Hämaturie)
Management: Bei Patienten mit Übelkeit, Erbrechen, Dehydratation und schweren
Allgemeinsymptomen ⇒ Stationäre Aufnahme
Sonst wie bei kompliziertem Harnwegsinfekt
Komplikationen:
Urosepsis,
paranephritischer
Niereninsuffizienz bei rezidivierenden Infektionen
Abszess,
Hydronephrose,
progressive
Therapie: Ciprofoxacin: 2x 750 mg für 7 – 10 Tage
Asymptomatische Bakteriurie:
Screeningbefund, Bakteriurie ohne Symptome
Management: Nur bei folgenden Konstellationen ist eine antibiotische Therapie erforderlich:
- Schwangerschaft
- Patienten vor urologischen Eingriffen und Nierenbiopsie
- Kinder mit vesikoureteralem Reflux
- Patienten mit Nierensteinen
- Patienten nach Nierentransplantation
Therapie: wie bei unkompliziertem HWI. Bei Schwangerschaft: Amoxicillin (3 x 500 mg)
Rezidivierender HWI: Ungefähr 20% der jungen Frauen erleiden ein Rezidiv der HWI.
Rezidivierende
Zystitis
Abbildung 48:
Vorgehen bei rez.
Harnwegsinfekten
Bei Gebrauch eines
Diaphragmas oder
Spermizids:
Alternative
Antikonzeption?
Urinsediment,
Urinkultur
≥3
HWI/Jahr
≤3
HWI/Jahr
Postkoitale
Häufung?
Selbsttherapie
wie bei unkompliziertem
HWI
Nein
Ja
Tägliche Dauerprophylaxe,
z.B. Cotriomoxazol 200
mg/Tag
Postkoitale Prophylaxe,
z.B. Cotrimoxazol 200
mg/Tag
73
14. Der hypertensive Patient
Ansprechpartner/in: Frau Prof. Dr. Dr. Brand, [email protected]
Primäre (essentielle) Hypertonie
1. Epidemiologie
In einer erst kürzlich veröffentlichten groß angelegten multinationalen Studie konnte gezeigt werden,
dass 44% der Bevölkerung aus 6 europäischen Ländern an Bluthochdruck (Hypertonie) leidet, wobei
Deutschland – 55% aller 35- bis 64-Jährigen hatten eine Hypertonie – den höchsten Anteil an
Hypertonikern im Gesamt-Ländervergleich hatte [Wolf-Maier et al, JAMA 2003;289:2363-2369].
Ab dem 65. Lebensjahr sind 60-80% der Bevölkerung hyperton. Ca. 30% der erwachsenen deutschen
Bevölkerung sind Prähypertoniker (s.u.). Es zeigt sich, dass der Bluthochdruck nur bei ca. 50% der
Betroffenen bekannt ist, nur bei ca. 25% behandelt wird und letztlich nur bei 10% auch ausreichend
kontrolliert ist (Prugger et al, Herz 2006;4: 287-293; Kotseva et al, Lancet 2009;373:929-940)!
Fatale Folgeerkrankungen erhöhter Blutdruckwerte, welche erheblich zur Gesamt-Morbidität und Mortalität in Deutschland beitragen, sind Schlaganfall, Herzinfarkt, Nieren-/Herzinsuffizienz,
progressive Atherosklerose und vaskuläre Demenz. Blutdruck-Höhe und Hypertonie-Dauer korrelieren
linear mit dem kardiovaskulären Risiko, was durch eine rechtzeitige und gezielte Behandlung
erheblich verringert werden könnte; dennoch bleibt die Hypertonie-Behandlung in Deutschland bislang
insgesamt defizitär [Gasse et al, J Clin Epidemiol 1999; 52:695-703].
2. Definition und Klassifikation der Hypertonie
Sowohl systolisch (SBD) als auch diastolisch (DBD) erhöhte Blutdruckwerte gehen mit einem
steigenden kardiovaskulären Risiko für Schlaganfall und koronare Herzkrankheit einher [MacMahon et
al, Lancet 1990; 335:765-774; Prospective Studies Collaboration, Lancet 2002; 360:1903-1913]. Es
konnte gezeigt werden, dass der Pulsdruck als erhöhte Blutdruckamplitude (SBD minus DBD) ein
besserer Prädiktor des kardiovaskulären Risikos darstellt als SBD oder DBD allein [Millar et al, J
Hypertens 1999; 17:1065-1072].
Die amerikanischen Leitlinien fassen die normalen und hoch-normalen Blutdruckwerte als
Prähypertonie zusammen, um zu verdeutlichen, dass Patienten mit diesen Blutdruckwerten verglichen mit Patienten, die optimale Blutdruckwerte haben - bereits ein erhöhtes kardiovaskuläres
Risiko aufweisen. Innerhalb von 10 Jahren werden 60% der Prähypertoniker zu Hypertonikern (Vasan
et al, N Engl J Med 2001; 345:1291-1297; Schunkert H. N Engl J Med 2006; 354:1742-1744).
Die lineare Beziehung zwischen Blutdruckhöhe und kardiovaskulärem Risiko macht jede numerische
Klassifikation der Hypertonie willkürlich. Die praxisgerechten Leitlinien betrachten die Schwellenwerte
(Tablelle 1) als flexible Richtwerte, die je nach vorliegendem Gesamtrisiko des Patienten adaptiert
werden sollten.
Tabelle 1. Klassifikation von Blutdruckwerten
Kategorie
SBD (mmHg)
DBD (mmHg)
Optimal
<120
<80
Normal
120-129
80-84
Hoch-normal
130-139
85-89
Hypertonie Grad 1 (leicht)
140-159
90-99
Hypertonie Grad 2 (mittel)
160-179
100-109
Hypertonie Grad 3 (stark)
≥180
≥110
Isolierte systolische Hypertonie
≥140
<90
SBD, systolischer Blutdruck; DBD, diastolischer Blutdruck. Wenn der SBD und DBD in
unterschiedliche Kategorien fällt, so gilt die höhere Kategorie. Der systolische Blutdruck entspricht
dem maximalen arteriellen Druck in der Systole und wird hauptsächlich durch die linksventrikuläre
Pumpleistung und die Elastizität der großen, arteriellen Gefäße bestimmt. Der diastolische Blutdruck
entspricht dem minimalen arteriellen Druck in der Diastole und wird von der Abflussgeschwindigkeit
des Blutes, mithin vom total peripheren Widerstand bestimmt, zu dem die Arteriolen zu ca. 50%
74
beitragen (Widerstandsgefäße). Mit Pulsdruck wird der Unterschied zwischen systolischem und
diastolischem Blutdruck (z. B. 120 mmHg – 80 mmHg = Pulsdruck 40 mmHg) bezeichnet.
Hypertensive Krise: Krisenhafter Blutdruckanstieg in Stunden bis Tagen auf Werte >230/130 mmHg
ohne erkennbaren Organschäden.
Hypertensiver Notfall: Krisenhafter Blutdruckanstieg auf Werte z.B. >230/130 mmHg mit
erkennbaren Organschäden bzw. vitaler Bedrohung. Der Begriff „hypertensive Krise“ beinhaltet keine
Information über die Geschwindigkeit des Blutdruckanstiegs (z.B. paroxysmaler plötzlicher RR-Anstieg
vs. chronischer, rapid akzeleriert verlaufende Hochdruckerkrankung). In der Akutsituation ist nicht die
absolute Blutdruckhöhe entscheidend, der Notfallcharakter ergibt sich vielmehr aus dem
Vorhandensein gefährdender Symptome, Komplikationen oder Begleiterkrankungen: Hier können z.B.
Anzeichen einer Hochdruckenzephalopathie (Sehstörungen, Schwindel, Bewusstseinsstörungen,
neurologische Ausfallserscheinungen [die Differentialdiagnostik zu Schlaganfall ist nicht immer
einfach]), intrakranielle Blutungen, frische Blutungen, Papillenödem, Lungenödem, instabile Angina
pectoris, Myokardinfarkt oder ein disseziierendes Aortenaneurysma vorliegen.
3. Pathogenese
Beim Bluthochdruck unterscheidet man zwischen der primären bzw. essentiellen Hypertonie (ca.
90% der Fälle) und der sekundären Hypertonie (ca. 10% der Fälle).
Die primäre Hypertonie ist multifaktorieller Genese. Prädisponierende genetische Faktoren spielen
ebenso eine Rolle wie Umweltfaktoren bzw. individueller Lebensstil, insuffiziente BlutdruckKontrollmechanismen
oder
funktionelle
bzw.
strukturelle
Gefäßveränderungen
(z.B.
Endotheldysfunktion, Atherosklerose). Bis zu 50% aller Hypertoniker (25-33% aller Normotoniker) sind
salzsensitiv, d.h. eine erhöhte Kochsalzzufuhr führt zu einer deutlichen Blutdruckerhöhung.
Übergewicht stellt einen wesentlichen Risikofaktor dar, da es zu einer gesteigerten
Sympathikusaktivität, zu einer Erhöhung des Plasma- Aldosterons, zu Strukturveränderungen der
Widerstandsgefäße sowie zu einer erhöhten Salzsensitivität führen kann. Stress führt u.a. durch
Katecholaminfreisetzung über noradrenerge Aktivierung von postsynaptischen alpha1-Rezeptoren zur
Vasokonstriktion. Bei etwa 10% der Hypertoniker ist ein Alkoholkonsum >30-40 g/Tag Ursache des
Bluthochdrucks. Der zugrunde liegende Mechanismus ist derzeit noch nicht klar.
Bewegungsmangel kann auf verschiedenen Ebenen zur Entwicklung oder Aufrechterhaltung einer
arteriellen Hypertonie beitragen. Diese pathogenetischen Aspekte ergeben Ansatzpunkte für wirksame
Allgemeinmaßnahmen. Die Frühphase der primären Hypertonie ist gekennzeichnet durch funktionelle
Aspekte, es folgen Strukturveränderungen mit Fixierung der Hypertonie, die dann in der Schädigung
von Endorganen münden.
Den sekundären Hypertonieformen liegen isolierte, identifizierbare Ursachen zugrunde (wird später in
diesem Kapitel behandelt).
4. Folgeerkrankungen
Die arterielle Hypertonie ist ein wichtiger Morbiditäts- und Mortalitätsfaktor. Das kardiovaskuläre Risiko
steigt mit dem syst. und diast. Blutdruck nahezu linear an. Folgende Komplikationen der Hypertonie
sind im Verlauf zu erwarten:
75
Organ
Herz
Arteriosklerotische
Komplikationen
Angina pectoris
Herzinfarkt
Rhythmusstörungen
Direkte
Hypertoniefolge
Linksherzhypertrophie
Herzinsuffizienz
Niere
Sek. Arteriosklerose
der Nierengfäße
Gehirn
TIA
Hirninfarkt
Hämorrhagie
Enzephalopathie
Augen
Sklerose der Arterien
Retinopathie, Papillenödem
Gefäße
Verschlusskrankheit
Nephrosklerose
Aneurysmen
Einen Schwellenwert im engeren Sinn gibt es nicht. Folgeerkrankungen führen zu einer deutlichen
Verkürzung der Lebenserwartung, die bei jüngeren Patienten mit längerer Lebenserwartung
entsprechend stärker ausgeprägt ist. Während etwa bei einem 55jährigen Pat. ein art. Blutdruck von
150/100 vs. 120/80 mmHg zu einer Verkürzung der Lebenserwartung um ca. 6 Jahre führt, beträgt
diese bei einem 35jährigen Pat. bei gleichem Blutdruckunterschied ca. 17 Jahre!
Häufige Todesursachen bei unbehandelter Hypertonie sind Herzinsuffizienz (30%), Schlaganfall
(20%), Herzinfarkt (15%) und Nierenversagen (10%).
Einer adäquaten Blutdruckeinstellung kommt damit eine herausragende Bedeutung zu. Dies gilt
insbesondere dann, wenn der Pat. noch an weiteren Erkrankungen wie z.B. Diabetes mellitus leidet.
Klinische Symptomatik: Abgesehen von Beschwerden bei fortgeschrittener Erkrankung bieten
Patienten mit primärer Hypertonie selten Symptome. Hypertoniker fühlen sich stattdessen i.d.R.
gesund. Wenn Symptome auftreten, sind diese zudem unspezifisch und wenig diagnoseweisend
(Kopfschmerz, Belastungsdyspnoe, Nervosität, Schwindel, Nasenbluten). Entsprechend besitzt die
Blutdruckmessung eine hohe Wertigkeit.
5. Risikostratifizierung zur Abschätzung des kardiovaskulären Gesamtrisikos
Die hier beschriebenen Empfehlungen zur Diagnostik und nicht-medikamentösen Therapie der
essentiellen Hypertonie basieren auf den aktuellen Leitlinien der European Society of Hypertension
(ESH) / European Society of Cardiology (ESC) [Mancia et al, J Hypertens. 2007;25:1105-1187] und
®
der
Deutschen
Hochdruckliga
e.V.
DHL
Deutschen
Hypertonie
Gesellschaft
[www.hochdruckliga.de].
Die Stratifizierung des kardiovaskulären Gesamtrisikos erfolgt anhand der nachfolgenden Tabelle 2.
Die Gruppierungen in leicht erhöhtes, mäßig erhöhtes, stark erhöhtes oder sehr stark erhöhtes Risiko
werden verwendet, um ein ungefähres absolutes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen über die
folgenden 10 Jahre von <15%, 15-20%, 20-30% bzw. >30% (Kriterien der Framingham-Studie)
[Anderson et al, Circulation 1991;83:356-362] oder ein absolutes Risiko für eine tödliche
kardiovaskuläre Erkrankung von <4%, 4-5%, 5-8% bzw. >8% (SCORE-Projekt) abzuschätzen [Conroy
et al, Eur Heart J 2003;24:987-1003].
76
Tabelle 2. Risikostratifizierung zur Beurteilung von Prognose und Therapieindikation
Blutdruck (mmHg)
Risikofaktoren (RF)
Begleiterkrankungen
Endorganschäden
Normal
SBD 120-129 oder
DBD 80-84
Durchschnittliches
Risiko
Hoch-normal
SBD 130-139
oder
DBD 85-89
Durchschnittliches
Risiko
HT Grad 1
SBD 140-159
oder
DBD 90-99
Leicht erhöhtes
Risiko
HT Grad 2
SBD 160-179
oder
DBD 100-109
Mäßig erhöhtes
Risiko
Keine anderen RF
Stark erhöhtes
Risiko
1-2 RF
Leicht erhöhtes
Risiko
Leicht erhöhtes
Risiko
Mäßig erhöhtes
Risiko
Mäßig erhöhtes
Risiko
Sehr stark
erhöhtes Risiko
≥3 RF oder
Endorganschäden
oder DM oder MS
Mäßig erhöhtes
Risiko
Stark erhöhtes
Risiko
Stark erhöhtes
Risiko
Stark erhöhtes
Risiko
Sehr stark
erhöhtes Risiko
Sehr stark
erhöhtes Risiko
Sehr stark
erhöhtes Risiko
Sehr stark
erhöhtes Risiko
Sehr stark
erhöhtes Risiko
Klinisch manifeste
Sehr stark erhöhtes
kardiovaskuläre/renale Risiko
Erkrankung
HT Grad 3
SBD ≥180 oder
DBD ≥110
SBD, systolischer Blutdruck; DBD, diastolischer Blutdruck; HT, Hypertonie; DM, Diabetes mellitus;
MS, Metabolisches Syndrom.
Berücksichtigung eines Metabolischen Syndroms:
Mindestens 3 von 5 Kriterien (NCEP-ATP-III)
Taillenumfang
♂ ≥102 cm, ♀ ≥88 cm
Blutdruck
SBD ≥130 mmHg oder DBD ≥85 mmHg*
Triglyzeride nü.
≥150 mg/dl (1,7 mmol/l)*
HDL-C
♂ <40 mg/dl (1 mmol/l), ♀ < 50 mg/dl (1,3 mmol/l)*
Glukose nü.
≥100 mg/dl (5,6 mmol/l)*
*oder medikamentöse Therapie
NCEP-ATP-III National Cholesterol Education Programm – Adult Treatment Panel III
Grundy SM et al. Circulation 2005;112:2735-2752
Die der Risikostratifizierung zugrunde liegenden
Begleiterkrankungen sind in Tabelle 3 zusammengefasst.
Risikofaktoren,
Endorganschäden
und
77
Tabelle 3. Prognose-beeinflussende Faktoren
Risikofaktoren für
kardiovaskuläre
Erkrankungen
Endorganschäden
Diabetes mellitus
Klinisch manifeste
kardiovaskuläre/renale
Erkrankung
Höhe des SBD und DBD
Linksventrikuläre
Hypertrophie (EKG:
Sokolow-Lyons >38 mm,
Cornell >2440 mm* ms,
Echokardiographie: LVMI M
≥125, W ≥110 g/m2)
Nüchtern-Blutzucker >7
mmol/l (126 mg/dl)
Zerebrovaskuläre
Erkrankungen:
ischämischer Schlaganfall,
zerebrale Blutung,
transitorisch ischämische
Attacke
Erhöhter Pulsdruck (bei
älteren Patienten)
Männer >55 Jahre
Frauen >65 Jahre
Rauchen
Dyslipidämie
(Gesamtcholesterin >5.0
mmol/l, >190 mg/dl oder
LDL-Cholesterin >3.0
mmol/l, >115 mg/dl oder
HDL-Cholesterin M <1.0,
W <1.2 mmol/l, M <40, W
<48 mg/dl oder
Triglyceride >1.7 mmol/l,
>150 mg/dl)
Karotis IMD ≥0.9 mm oder
atherosklerotischer Plaque
Serum-Kreatinin leicht
erhöht ( M 115-133, W 107124 µmol/l, M 1.3-1.5, W
1.2-1.4 mg/dl)
Mikroalbuminurie (30-300
mg/24h; Albumin-KreatininQuotient M ≥22, W ≥31
mg/g; M ≥2.5, W ≥3.5
mg/mmol
Familienanamnese
frühzeitiger
kardiovaskulärer
Erkrankungen (M <55
Jahre, W <65 Jahre)
Erniedrigte
Kreatininclearance (<60
ml/min) oder erniedrigte
glomeruläre Filtrationsrate
(<60 ml/min/1.73 m2)*
Adipositas (Bauchumfang
M ≥102 cm, W ≥88 cm)
Erhöhte
Pulswellengeschwindigkeit
(A. carotis – A. femoralis
>12 m/s)
Plasmaglucose nüchtern
5.6-6.9 mmol/l (102-125
mg/dl) oder
pathologische
Glucosetoleranz
Postprandialer
Blutzucker >11.1 mmol/l
(198 mg/dl)
Herzerkrankungen:
Myokardinfarkt, Angina
pectoris, chronische
Herzinsuffizienz
Nierenerkrankung:
diabetische Nephropathie,
chronische
Niereninsuffizienz (SerumKreatinin M >133, W >124
µmol/l, M >1.5, W >1.4
mg/dl), Proteinurie (>300
mg/24h)
Periphere
Gefäßerkrankungen
Fortgeschrittene
Retinopathie: Hämorrhagie
oder Exsudate,
Papillenödem
Verminderter Knöchel-ArmBD-Index <0.9
Beachten: Ein metabolisches Syndrom liegt vor, wenn drei oder mehr der folgenden Risikofaktoren
nachgewiesen wurden: Bauchfettleibigkeit, pathologischer Wert für Plasmaglucose, Blutdruck >130/85
mmHg, erniedrigtes HDL-Cholesterin, erhöhte Triglyceride.
*mittels Cockroft-Gault-Formel berechnete Kreatininclearance, mittels MDRD-Formel berechnete
glomeruläre Filtrationsrate
M, Männer; W, Frauen; LDL, Low Density Lipoprotein; HDL, High Density Lipoprotein; LVMI,
linksventrikulärer Massenindex; IMD, Intima-Media-Dicke.
6. Diagnostik der essentiellen Hypertonie
Die Diagnostik der Hypertonie umfasst (a) die Bestimmung der Blutdruckhöhe (Tabelle 1), (b) den
Ausschluss sekundärer Formen der Hypertonie (s. Thema sekundäre Hypertonie) und (c) die
Festlegung des kardiovaskulären Gesamtrisikos durch die Determinierung weiterer Risikofaktoren,
Endorganschäden und Begleiterkrankungen (Tabelle 2, Tabelle 3).
Der Ablauf wird bestimmt durch (a) wiederholte Blutdruckmessungen, (b) Anamnese, (c) körperliche
Untersuchung, (d) Laboruntersuchungen und (e) apparative Diagnostik.
78
6.1. Blutdruckmessung
Die Diagnose Hypertonie basiert auf mehreren Blutdruckmessungen. Die konventionelle Messung
sollte nach einigen Minuten Ruhe im Sitzen mit einer Standardmanschette (12-13 cm breit, 35 cm
lang; für dickere bzw. dünnere Arme größere bzw. kleinere Manschette), die auf Herzhöhe angelegt
wird, durchgeführt werden. Beim ersten Besuch sollte der Blutdruck an beiden Armen gemessen
werden und zusätzlich 1 und 5 Minuten nach dem Aufstehen des Patienten in aufrechter Position, um
orthostatische Reaktionen zu erkennen.
Die Selbstmessung und das Führen eines Blutdruckpasses durch den Patienten etabliert die
Bedeutung der Hypertonie für den Patienten und erhöht seine Compliance.
Abbildung 49: Die korrekte Blutdruckmessung
♥ Erste Messung an beiden Armen: Weitere
Messungen am Arm mit dem höheren Wert
♥ Arm in Höhe des Herzens
♥ Kein Kaffee oder Nikotin 30 min vor der Messung
♥ 5 Minuten Ruhe vor der Messung
♥ Geeignete Blutdruckmanschette
♥ 30 mmHg höher als Radiuspuls aufpumpen
♥ Langsames Ablassen der Luft (2-3 mmHg/Sek)
♥ 2 Messungen im Abstand von 2 Minuten mitteln
Die 24-Stunden-Blutdruckmessung ist als zusätzliche diagnostische Maßnahme einzustufen, die
besser mit dem Ausmaß der Endorganschäden korreliert und besser das kardiovaskuläre Risiko
abschätzen lässt als die konventionelle Blutdruckmessung [Mancia et al, Circulation 1997;95:14641470; Staessen et al, JAMA 1999;282:539-546]. Ausserdem können Weißkittel-Effekte
(Praxishypertonie) vermieden und fehlende Nachtabsenkung als möglicher Hinweis auf das Vorliegen
einer sekundären Form der Hypertonie determiniert werden (normaler Blutdruckabfall während des
Nachtschlafs: ↓ SBD 10%-15%, ↓ DBD 15-20%; <10% abklärungswürdig mit Frage nach Vorliegen
einer sekundären Hypertonie). Ein fehlender Blutdruckabfall oder ein Blutdruckanstieg während des
Nachtschlafs (sog. „Non-Dipping“) und therapeutische Wirkung antihypertensiver Maßnahmen können
besser erfasst werden.
Ein Praxisblutdruck von 140/90 mmHg entspricht ungefähr einem 24-Stunden-Mittelwert von 130/80
mmHg. Als Richtwert für die Tagphase gilt ein Mitteldruck von <135/85 mmHg und für die Nachtphase
von <120/70-75 mmHg (Tabelle 4).
Tabelle 4. Blutdruckgrenzwerte (mmHg) zur Definition von Hypertonie mit unterschiedlichen
Messverfahren
Praxis / Klinik
24-Stunden (MW, gesamt)
Tagphase (MW)
Nachtphase (MW)
Selbstmessung (zu Hause)
SBD
140
130
135
120
135
DBD
90
80
85
70
85
SBD, systolischer Blutdruck; DBD, diastolischer Blutdruck; MW, Mittelwert
6.2. Anamnese und Familienanamnese
Bei der Anamneseerhebung spielt auch die Familienanamnese, die das Auftreten einer Hypertonie,
Diabetes mellitus, Dyslipidämie, koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und Nierenerkrankungen
umfasst, eine besondere Rolle. Dabei sehen die Leitlinien folgende Erhebungen vor:
1. Dauer und Höhe des Bluthochdrucks
2. Hinweise für das Vorliegen einer sekundären Form der Hypertonie:
• familiäre Belastung für Nierenerkrankungen (polyzystische Nierenerkrankung)
• andere Nierenerkrankungen, Harnwegsinfekte, Hämaturie, Analgetika-Missbrauch
79
•
3.
4.
5.
6.
Einnahme von Blutdruck-steigernden Medikamenten: orale Kontrazeptiva, Lakritze,
Nasentropfen, Kokain, Amphetamine, Steroide, nicht-steroidale antiinflammatorische
Medikamente, Erythropoietin, Cyclosporin
• Schweißausbrüche, Kopfschmerzen, Angstzustände, Herzrasen (Phäochromozytom)
• Muskelschwäche, Tetanie (Hyperaldosteronismus)
• Symptome der Schlafapnoe: Schnarchen, Atempausen, Tagesmüdigkeit
Risikofaktoren:
• Familienanamnese und persönliche Anamnese zur Hypertonie, kardiovaskulären
Ereignissen, Hyperlipidämie, Diabetes mellitus
• Nikotinabusus
• Ernährung (tierische Fette, Salz, Alkoholkonsum)
• Adipositas, Gewichtsverlauf, körperliche Aktivität
• Persönlichkeitsstruktur
Symptome der Endorganschädigung:
• Gehirn und Augen: Kopfschmerzen, Schwindel, Sehstörung, transitorisch ischämische
Attacke, sensorische oder motorische Defizite
• Herz: Herzrasen, Brustschmerz, Kurzatmigkeit
• Niere: Durst, Polyurie, Nykturie, Hämaturie
• periphere Arterien: kalte Extremitäten, Claudicatio intermittens
Bisherige antihypertensive Therapie
• Tabletteneinnahme, Wirksamkeit, Nebenwirkungen
Persönliche, familiäre und Umweltfaktoren (Schichtarbeit, anhaltende Konflikte)
6.3. Körperliche Untersuchung
Die körperliche Untersuchung umfasst (a) die Blutdruckmessung, (b) die Suche nach zusätzlichen
Risikofaktoren und (c) Hinweisen einer sekundären Form der Hypertonie sowie (d) Zeichen der
Endorganschädigung.
Hinweise für das Vorliegen einer sekundären Form der Hypertonie:
• Phänotyp des Cushing-Syndroms
• Kutane Zeichen einer Neurofibromatose (Phäochromozytom)
• Palpatorischer Nachweis vergrößerter Nieren (polyzystische Nierenerkrankung)
• Auskultatorischer
Nachweis
eines
abdominellen
Strömungsgeräusches
(Nierenarterienstenose)
• Auskultatorischer Nachweis eines präkordialen oder thorakalen Geräusches (Aortakoarktation,
Herzklappenfehler)
Hinweise für Endorganschäden:
• Gehirn: Strömungsgeräusch über den Carotiden, motorische/sensorische Defekte
• Retina: auffälliger funduskopischer Befund
• Herz:
Verlagerung
des
Herzspitzenstoßes,
Herzrhythmusstörung,
pulmonale
Rasselgeräusche, Ödeme
• Periphere Arterien: abgeschwächter/fehlender Puls, kalte Extremitäten, ischämische
Hautläsionen
Abdominelle Adipositas:
• Gewicht
• Erhöhter Bauchumfang (Messung in stehender Position), M >102 cm, F >88 cm
2
2
• Erhöhter BMI, Übergewicht ≥25 kg/m , Adipositas ≥30 kg/m
6.4. Labor und apparative Untersuchungen
Folgende Routineuntersuchungen sollten durchgeführt werden:
• Blutzucker (nüchtern)
• Lipidstatus: Serum-Cholesterin, HDL- und LDL-Cholesterin, Triglyceride
• Kalium
• Kreatinin, Harnsäure, Hämoglobin/Hämatokrit
• Urinanalyse: Teststreifen, möglichst Sediment
• Mittels Cockroft-Gault-Formel berechnete Kreatininclearance oder mittels MDRD-Formel
berechnete glomeruläre Filtrationsrate
• Elektrokardiogramm
80
MDRD-Formel:
2
-1.154
-0.203
GFR (mL/min/1.73 m ) = 186 X (SKrea)
X (Alter)
X 0.742 [falls weiblich]; X 1.210 [falls Afroamerikaner]
Cockcroft-Gault-Formel:
CCr: Kreatinin-Clearance (ml/min); SCr: Serum-Kreatinin in mg/dl; Alter: Alter in Jahren; Gewicht:
Körpergewicht in kg.
Nachfolgende weitere Untersuchungen werden empfohlen:
• Echokardiogramm
• Abdomensonographie
• Dopplersonographie der Carotiden (Intima-Media-Dicke)
• CRP
• Mikroalbuminurie (insbesondere bei Diabetikern)
• Quantitativer Eiweißnachweis im Urin (falls positiver Sticksnachweis)
• Funduskopie bei schwerer Hypertonie
• Pulswellengeschwindigkeits-Messung (falls möglich)
• Knöchel-Arm-BD-Index
• 24h-BD-Messung
Weiterführende Untersuchungen durch Spezialisten:
• Bei komplizierter Hypertonie: zusätzliche Bildgebung/Funktionstests von Gehirn, Herz, Niere
• Abklärung sekundärer Formen der Hypertonie: Renin, Aldosteron, Kortikosteroide,
Katecholamine, Arteriographie, Ultraschall der Nebennieren, CT, NMR-Untersuchung des
Gehirns
6.5. Abklärung von Endorganschäden
Die Determinierung von Endorganschäden ist für die Evaluierung des kardiovaskulären Risikos von
entscheidender Bedeutung (Tabelle 2, Tabelle 3). Ohne eine sonographische Abklärung des Herzens
und der Gefäße wird das kardiovaskuläre Risiko von ca. 50% der Hypertoniker als zu niedrig
eingeschätzt [Cuspidi et al, J Hypertens 2002; 20:1307-1314.]. Eine Echokardiographie
(Determinierung einer linksventrikulären Hypertrophie u.a.) und sonographische Untersuchung der A.
carotis (Determinierung der Intima-Media-Dicke u.a) sowie Untersuchung des Urins auf das Vorliegen
einer Mikroalbuminurie (sensitiver Marker für die Schädigung der renalen Mikrozirkulation) wird
empfohlen. Neu in die Leitlinien aufgenommen wurde die Pulswellengeschindigkeits-Messung, die
Bestimmung des Knöchel-Arm-BD-Index und der Kreatininclearance bzw. der glomerulären
Filtrationsrate.
Kardialer Endorganschaden. Bei allen Hypertonikern sollte ein Routine-EKG durchgeführt werden.
Ziel ist die Erfassung von Ischämien, Rhythmusstörungen und der linksventrikulären Hypertrophie
(LVH). Die LVH gilt als unabhängiger kardiovaskulärer Risikoprädiktor. Bei vergleichbarer Spezifität
(95%) ist die Sensitivität (21% vs. 93%) des EKGs vs Echokardiographie zur Entdeckung einer LVH
niedrig [Reichek et al, Circulation 1981;63:1391-1398]. Dabei gilt ein positiver Sokolow-Lyons (SV1 +
RV5-6 >38 mm) oder ein modifizierter positiver Cornell-Index (>2440 mm *ms) als positiver LVHNachweis. Die Echokardiographie erlaubt die Messung des interventrikulären Septums, der
Hinterwanddicke und des enddiastolischen linksventrikulären Durchmessers. Außerdem sollte die
linksventrikuläre Masse berechnet werden. Obwohl eine lineare Beziehung zwischen
linksventrikulärem Massenindex (LVMI) und kardiovaskulärem Risiko besteht, geht man erst bei einem
2
2
LVMI ≥125 g/m (Männer) bzw. ≥110 g/m (Frauen) von dem Vorliegen einer LVH aus.
Vaskulärer Endorganschaden. Die sonographische Determinierung einer zunehmenden IntimaMedia-Dicke und der Nachweis von Gefäßplaques geht mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten
von Schlaganfall und Myokardinfarkt einher [Bots et al, Circulation 1997;96:1432-1437] und ermöglicht
neben der durchgeführten echokardiographischen Untersuchung eine präzisere Risikostratifizierung
des Hypertonikers [Cuspidi et al, J Hypertens 2002; 20:1307-1314]. Obwohl eine lineare Beziehung
zwischen der Intima-Media-Dicke und dem kardiovaskulären Risiko besteht, gilt eine Intima-MediaDicke von 0.9 mm der A. carotis (Messpunkt 2 cm unterhalb der A. carotis communis Bifurkation) als
pathologisch. Der Nachweis von Plaques ist von wesentlich höherer prognostischer Bedeutung.
Zur Bestimmung der arteriellen Steifigkeit wird die Messung der Pulswellengeschwindigkeit
(pathologisch erhöhte Pulswellengeschwindigkeit (A. carotis – A. femoralis) >12 m/s) empfohlen
[Laurent et al, Hypertension 2001;37:1236-1241].
81
Renaler Endorganschaden. Eine erniedrigte (gemessen oder errechnet) glomeruläre Filtrationsrate
(GFR), ein erhöhtes Serum-Kreatinin und/oder eine erhöhte Eiweißexkretion im Urin sind Nachweise
einer Hypertonie-induzierten Nierenschädigung. Dabei wird eine “leichte” Nierenschädigung angezeigt
durch Serum-Kreatinin-Werte von 115-133 µmol/l (1.3-1.5 mg/dl, Mann) bzw. 107-124 µmol/l (1.2-1.4
mg/dl, Frau). Die GFR kann ohne eine 24-Stunden Sammelurin-Analyse durch eine validierte
-1,154
-0,203
Kalkulationsmethode abgeschätzt werden: MDRD-Formel: eGFR = 186 x Cr
x Alter
x (0,742
falls weiblich) x (1,210 falls Schwarzamerikaner) [Levey et al, Ann Intern Med 1999;130:461-470]. Als
2
Endorganschaden wird eine erniedrigte glomeruläre Filtrationsrate <60 ml/min/1.73 m in die
Risikostratifizierung des Patienten aufgenommen. Neuere Studien zeigen, dass fallende GFR mit
einem steigenden kardiovaskulären Risiko einhergeht [Anavekar et al, N Engl J Med 2004;351:12851295; Go et al, N Engl J Med 2004;351:1296-1305]. Im Falle einer Eiweißexkretion im Urin wird die
Mikroalbuminurie (30-300 mg/24h) von der Makroalbuminurie (>300 mg/24h) abgegrenzt. Die
verstärkte Albumin- bzw. Eiweißausscheidung ist Hinweis auf eine Störung der glomerulären
Filtrationsbarriere. Die Mikroalbuminurie ist ein wesentlicher Prädiktor der diabetischen Nephropathie
bzw. kardiovaskulärer Ereignisse [Gerstein et al, JAMA 2001;286:421-426]. Daher gilt die Empfehlung
bei jedem Hypertoniker das Serum-Kreatinin mit nachfolgender Abschätzung der GFR und die
Albumin-/Eiweißexkretion im Urin zu bestimmen.
Retinaler Endorganschaden. Es existieren 4 Grade der hypertensiven Retinopathie, wobei Grad I
und II bei ca. 75% aller Hypertoniker nachgewiesen werden und es zweifelhaft ist, ob diese beiden
Grade als Kriterien eines Endorganschadens zur Risikostratifizierung genutzt werden können. Grad III
und IV weisen einen schweren Endorganschaden nach.
Zerebraler Endorganschaden. Die Computertomographie (CT) ist das Standardverfahren zur
dignostischen Abklärung eines Schlaganfalls. Mittels Magnetresonanztomographie (MRT) können
stumme Hirninfarkte (insbesondere kleine, tief gelegene Läsionen, sog. lakunäre Infarkte) besser
nachgewiesen werden [Price et al, Stroke 1997;28:1158-1164]. Es wird empfohlen Hypertoniker mit
neurologischen Funktionsstörungen, insbesondere Störungen der Merkfähigkeit, mittels MRT zu
untersuchen. Außerdem sollten bei älteren Hypertonikern häufiger kognitive Funktionstests (z.B. MiniMental-Status-Test) zur frühzeitigen Erfassung zerebraler Hypertonie-bedingter Schädigungen
durchgeführt werden.
Anhand der dargestellten Risikostratifizierung zur Beurteilung der kardiovaskulären Prognose des
Patienten erfolgt die Einleitung einer individuellen Risiko-adaptierten Therapie (siehe Therapie).
7. Empfehlungen zum Zielblutdruck
Das Hauptziel bei der Behandlung von Hypertonikern ist die Reduktion des kardiovaskulären
Gesamtrisikos. Dies erfordert sowohl die Senkung des Blutdrucks als auch die Therapie aller
zusätzlichen Risikofaktoren.
Bei allen Hypertonikern sollte der Blutdruck mindestens auf Werte unter 140/90 mmHg gesenkt
werden.
Der Zielblutdruck sollte kleiner als 130/80 mmHg sein bei Hypertonikern mit hohem oder sehr hohem
kardiovaskulären Risiko (Schlaganfall, Myokardinfarkt, renaler Dysfunktion, Proteinurie). Bei
Diabetikern gilt der Zielkorridor von 130-139/80-85 mmHg (ACCORD-Studie).
Bei Patienten mit Niereninsuffizienz und einer Proteinurie >1 g/Tag wird ein Zielblutdruck von kleiner
als 125/75 mmHg als erforderlich angesehen.
8. Therapie
Am Anfang einer dauerhaft erfolgreichen antihypertensiven Therapie steht eine intensive Aufklärung
des Patienten bezüglich der Erkrankung, der sich bei Nichtbehandlung ergebenden ernsten
gesundheitlichen Konsequenzen sowie des Ziels therapeutischer Maßnahmen. Wichtigstes
therapeutisches Ziel ist die Reduktion der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität. Einsicht
ist eine wesentliche Basis für die unabdingbar notwendige Patienten-Compliance. Das Therapieziel
kann nur in vertrauensvoller Zusammenarbeit von Arzt und Patient erreicht werden. Die
nachfolgenden Aspekte können nur allgemeine Prinzipien vermitteln. Die Einzelmaßnahmen der
antihypertensiven Therapie werden durch das kardiovaskuläre Gesamtrisiko bestimmt. Eine adäquate
Blutdruckeinstellung kann i.d.R. nur durch eine Kombination verschiedener therapeutischer Ansätze
erreicht werden. Die Einschätzung des Gesamtrisikos erfolgt auf der Basis besonders bedeutsamer
Risikofaktoren und hängt zusätzlich vom Vorliegen von Endorganschäden ab. Basierend auf der
Risikostratifizierung wird z.B. entweder zunächst mit nichtmedikamentösen Allgemeinmaßnahmen
82
oder direkt mit einer Pharmakotherapie begonnen. Folgende nichtmedikamentöse Maßnahmen
werden empfohlen:
Nicht-medikamentöse Therapieansätze
Der Veränderung des Lebensstils kommt als Grundlage der antihypertensiven Therapie eine wichtige
Rolle zu. Dieses betrifft nicht nur Patienten vor dem Beginn der medikamentösen Therapie, sondern
auch Patienten, die bereits antihypertensive Medikamente erhalten. Das Ziel der
Lebensstilveränderungen ist es, den Blutdruck zu senken und andere Risikofaktoren günstig zu
beeinflussen. Veränderungen des Lebensstils, welche den Blutdruck senken und das kardiovaskuläre
Risiko beeinflussen, sind:
1. Beendigung des Rauchens
2. Gewichtsreduktion bei Übergewicht (ca. bis 2,5 / 1,5 mmHg pro kg erreichte Gewichtsabnahme)
3. Verminderung des Alkoholkonsums; ≤20-30 g/Tag (Mann) bzw. ≤10-20 g/Tag (Frau)
4. Körperliche Bewegung und Sport; 30-45 Min mindestens 3 x/Woche; besser täglich, mittlere
Intensität. Ausdauersport wird empfohlen. Kraftsport darf - wenn überhaupt - nur in leichter Intensität
betrieben werden; Kraftsport in maximaler Intensität ist kontraproduktiv.
5. Reduktion des Kochsalzkonsums; <5g/Tag NaCl (<85 mmol/Tag)
+
Die aktuelle Kochsalzzufuhr kann aus der Na -Ausscheidung im Urin approximiert werden:
+
[Na ] mmol/l x Urinvolumen im 24 h x 58 / 100. Bsp: 102 mmol/l x 2,6 l x 0,058 = 15,38 g/Tag
6. Eine Ernährung reich an Obst und Gemüse und wenig tierischen und gesättigten Fetten.
7. Weitere nicht-medikamentöse Therapieoptionen liegen im Stressmanagement.
Eine gesunde Ernährung sollte immer Teil der Therapie sein. Einschränkend muss gesagt werden,
dass bislang keine prospektiven Studien zur Wirkung von Lebensstiländerungen auf die
kardiovaskulären Komplikationen durchgeführt wurden. Veränderungen des Lebensstils können
deshalb eine frühzeitige medikamentöse Therapie (s. Thema „medikamentöse Therapie“)
insbesondere bei Patienten mit höherem Risiko nicht ersetzen [www.hochdruckliga.de].
Medikamentöse Therapie
Unten sind die Empfehlungen der Deutschen Hochdruckliga für die medikamentöse Therapie der
arteriellen Hypertonie aufgeführt. Prinzipiell sind zu Beginn der Therapie eine Monotherapie oder eine
niedrig dosierte Kombinationstherapie mit 2 Medikamenten möglich. Zu den Monotherapeutika der
ersten Wahl zählen: ACE-Hemmer, AT1-Antagonisten, Beta-Blocker, Kalzium-Antagonisten und
Diuretika. Nicht jedes bei einem Patienten zuerst angewandte Präparat ist auch das für ihn
wirksamste. In der Initialphase der medikamentösen Einstellung macht es daher Sinn,
unterschiedliche Stoffklassen auf ihre individuelle Wirksamkeit hin zu überprüfen. Hierbei ist zu
berücksichtigen, dass die maximale Wirkung erst nach 2-6 Wochen erreicht wird. Ca. 25-30% der
Patienten sprechen andererseits auf eine Monotherapie nicht ausreichend an.
Bei vielen Patienten ergibt sich aufgrund von Begleiterkrankungen oder Zusatzkriterien ein
bevorzugter Einsatz bestimmter Substanzgruppen, die sogenannte „Differenzialtherapie“.
Zusätzlich zu den oben aufgeführten Aspekten zeigen entsprechende Untersuchungen, dass
Betablocker und ACE-Hemmer eine deutlichere Blutdrucksenkung bei Jüngeren, Diuretika und
Calciumantagonisten eine deutlichere Blutdrucksenkung bei Älteren bewirken. ACE-Hemmer und
AT1-Rezeptor-Antagonisten besitzen besondere Bedeutung für die Prävention und Behandlung der
diabetischen Nephropathie.
83
Differenzialtherapie der Hypertonie
Pro
Kontra
Asthma
AV Block
Diabetes
pAVK
Beta Blocker
KHK, LVH
nach Herzinfarkt
Tachyarrhythmien
Migräne
Diuretikum
Herzinsuffizienz
systolische Hypertonie
> 60 Jahre
Myokardinf. < 4 Wo.
Instabile AP
AV - Block
Herzinsuffizienz
CalciumAntagonist
Systolische Hypertonie
> 60 Jahre
Schwangerschaft
Nierenarterienstenose ( beidseits)
Hyperkaliämie
ACE Hemmer
Herzinsuffizienz
nach Myokardinfarkt
Niereninsuffizienz
Diabetische Nephropa.
Gicht
Unten ist das praktische Vorgehen bei der Einstellung einer arteriellen Hypertonie und einige Beispiele
für Antihypertensiva aufgeführt.
Praktisches Vorgehen bei der
Einstellung eines Hypertonus
♦ Beginn der Hypertoniebehandlung mit einer niedrigen
Dosis
eines
Präparates
oder
eines
Kombinationspräparates. Nach 1 Monat ggf.
Erhöhung der Dosis.
♦ ♦ Wenn der Blutdruck nicht gesunken ist oder es
Nebenwirkungen gibt: Absetzen des Präparates und
Gabe eines Antihypertensivums einer anderen Klasse.
♦ ♦ Wenn der Blutdruck unter der Monotherapie etwas
gesunken ist aber noch nicht im Zielbereich (< 140/90)
liegt und das Medikament gut vertragen wird:
Zusätzliche Gabe eines Antihypertensivums einer
anderen Klasse.
♦ Falls der Blutdruck unter einer dualen Therapie noch
nicht im Zielbereich liegt: Zusätzliche Gabe eines
Antihypertonikums einer anderen Klasse und Suche
nach sekundären Ursachen der Hypertonie.
Beispiele von Antihypertensiva
mit Dosierungen
Medikament
Thiaziddiuretikum
z.B. Hydrochlorothiazid
ACE-Hemmer
z.B. Enalapril
AT1-Rezeptor-Antagonist
z.B. Losartan
Dosis
12,5 – 25 mg
5 – 40 mg
50 – 100 mg
Calciumkanal-Antagonist
z.B. Amlodipin
5 – 10 mg
Beta-Blocker
z.B. Bisoprolol
5 - 10 mg
Zum Erreichen der Zielblutdruckwerte benötigen die meisten Hypertoniker mehr als ein
Antihypertensivum. Zahlreiche wirksame und gut verträgliche Kombinationen stehen zur Verfügung.
84
Kombinationen unterschiedlicher Gruppen von Antihypertensiva. Synergistische Kombinationen sind
mit Hilfe grüner Linien, mögliche Kombinationen durch rote Linien gekennzeichnet. * Nur sinnvoll für
Dihydropyridin-Calciumantagonisten
Bei manchen Patienten gelingt es auch mit Hilfe von Zweierkombinationen von Antihypertensiva nicht,
den Zielblutdruck zu erreichen. Dies trifft insbesondere für Hypertoniker mit Nierenerkrankungen zu.
Dann müssen Kombinationen von drei oder mehr Antihypertensiva eingesetzt werden. Für
Dreierkombinationen kommen insbesondere in Frage:
- Diuretikum + ACE-Inhibitor + Calciumantagonist
- Diuretikum + AT1-Antagonist + Calciumantagonist
- Diuretikum + Beta-Blocker + Vasodilatator*
- Diuretikum + zentrales Antisympathotonikum + Vasodilatator*
* hier subsummiert: Calciumantagonisten, ACE-Hemmer, AT1-Antagonisten, Alpha 1-Blocker,
Dihydralazin
Neuere Studien zeigen, dass auch ältere Patienten >80 Jahre von einer antihypertensiven Therapie
profitieren (HYVET-Studie; Beckett et al, N Engl J Med. 2008;358:1-12). Die isoliert systolische Form
der Hypertonie, die häufig gerade bei älteren Patienten (erhöhte Gefäßsteifigkeit, erhöhter Pulsdruck)
vorliegt, sollte genauso streng wie die kombiniert systolisch-diastolische Form der Hypertonie
eingestellt werden.
Die hypertensive Krise
Therapieziel ist hier das Erreichen von Blutdruckwerten um 160 - 180 mmHg systolisch und 90 - 105
mmHg diastolisch innerhalb von 24 h. Dies kann bei Fehlen von Organsymptomen durchaus erreicht
werden durch orale Gabe eines längerwirksamen Antihypertensivums in üblicher Dosierung unter
regelmässigen RR-Kontrollen.
Der hypertensive Notfall
Bei deutlich hypertensiven Werten und klinischen Zeichen für einen hypertensiven Notfall (vgl. oben)
muss die Behandlung umgehend außerhalb der Klinik begonnen werden und eine unverzügliche
Klinikeinweisung erfolgen. Primäres Therapieziel ist das Absenken des Blutdrucks um maximal 25%.
In der Anfangsphase sollte der Blutdruck nicht unter 160/100 mmHg abgesenkt werden. Wenn der
Blutdruck über 240/120 mmHg liegt, ist in den ersten 6 h eine i.v.-Therapie angezeigt. Generell
geeignete Pharmaka für den hypertensiven Notfall sind 0,4-1,2 mg Glyceroltrinitrat, 25 mg Urapidil
oder 0,075 mg Clonidin, kurz wirksame Dihydropyridine sind ungeeignet.
85
Hausarzt
Klinik
Nitroglycerin-Spray /-Kapsel 1,2 mg
Mittel der Wahl bei Lungenödem,
instabiler Angina pectoris, MI !
Urapidil (Ebrantil®) 5-25 mg/h
Nitroglycerin 1-5 mg/h
Furosemid (Lasix®) 20-40-500 mg
Clonidin (Catapresan®) 0,05-0,2 mg/h
Dihydralazin (Nepresol®) 6,25-25 mg/h
Urapidil 25 mg i.v.
Clonidin 0,075 mg langsam i.v.
Cave: Antihypertensive Therapie nach einem Apoplex: In 50% der Fälle ist der Blutdruck reaktiv
erhöht und normalisiert sich bei 2/3 der Patienten innerhalb von 24-48h.
Vorsichtige Blutdrucksenkung da ansonsten Gefahr der Vergrößerung des Ischämieareals mit
Prognose-Verschlechterung ! Am ersten Tag erfolgt hier nur bei Blutdruckwerten > 200/110 mmHg
eine antihypertensive Therapie. Am 2. und 3. Tag liegt das Blutdruckziel bei 180/100 mmHg.
10. Hypertonie in der Schangerschaft
10% aller Schwangeren, bes. jüngere Erstgeb.; 1% Präeklampsie; 0.1% Eklampsie
Man unterscheidet folgende Formen:
Schwangerschaftsbedingte Hypertonie:
a. Gestationshypertonie: Hypertonie ohne Proteinurie im 3. Trimenon. Remission 12 Wochen
postpartal
b. Präeklampsie: Hypertonie und Proteinurie >300 mg/die, meistens nach 20. SSW
Komplikation: HELLP-Syndrom (hemolysis, elevated liver enzymes, low platelet count)
Eklampsie mit neurologischen Symptomen (Augenflimmern, Krämpfe)
Schwangerschaftsunabhängige Hypertonie:
RR >140/90 mmHg vor der 20. SSW und Persistenz der Hypertonie >20 Wochen postnatal
Indikationen zur antihypertensiven Therapie in der Schwangerschaft
generelle Behandlungsindikation ≥170/110 mmHg
bei vorbestehender Hypertonie, Diabetes, Nierenerkrankung ≥160/100 mmHg
Endorganschäden, LV-Hypertrophie, Niereninsuffizienz,
Hypertensive Krise/Notfall,
Präeklampsie/Eklampsie, HELLP-Syndrom
Ziel-RR 140-160 / 90-100 mmHg
Ziel der Behandlung ist die Blutdrucksenkung auf Werte zwischen 140-160/90-100 mmHg. Zur
Langzeittherapie kann Alpha-Methyldopa als Mittel der Wahl eingesetzt werden. Bei der weiterhin
möglichen Anwendung von selektiven Beta-Blockern (Mittel der Wahl Metoprolol) ist allerdings zu
beachten, dass unter Atenolol Wachstumsstörungen beschrieben worden sind, wahrscheinlich bedingt
durch eine hoch dosierte Beta-Rezeptorenblockade mit Beeinträchtigung der in der Schwangerschaft
physiologischen Hyperzirkulation. Calciumantagonisten werden international ebenfalls häufig
eingesetzt, obwohl ihr Einsatz nicht unumstritten ist. Einerseits sind für Nifedipin und andere
Dihydropyridin-Calciumantagonisten embryotoxische und teratogene Effekte im Tierversuch
beschrieben worden, so dass diese Wirkstoffe im 1.Trimenon nicht indiziert sind. Andererseits wird
Verapamil seit langem bei Schwangeren mit tachykarden supraventrikulären Herzrhythmusstörungen
ohne Bekanntwerden von fetalen Schädigungen eingesetzt. Allerdings ist bei der gleichzeitigen
Verabreichung von Calciumantagonisten und Magnesiumsulfat zu beachten, dass es aufgrund eines
Synergismus in seltenen Fällen zu einer abrupten schweren Hypotonie kommen kann. ACE-Hemmer
und AT1-Antagonisten sind in der Schwangerschaft aufgrund embryo- und fetotoxischer
Effekte kontraindiziert! Bei Präeklampsie ist das Plasmavolumen reduziert, so dass Diuretika nicht
angewandt werden sollten. Die intravenöse Applikation von Magnesiumsulfat hat sich bei einer
86
Präeklampsie zur Prävention und Behandlung von Krampfanfällen als effektiv erwiesen. Insbesondere
nach der 32. Schwangerschaftswoche ist bei einer Präeklampsie und zusätzlichen Warnsymptomen
für die Entwicklung einer Eklampsie oder eines HELLP-Syndroms wie Sehstörungen,
Gerinnungsstörungen und Gefährdung des Kindes die vorzeitige Entbindung häufig die kausale
Therapie der Wahl.
Antihypertensiva in der Schwangerschaft (Deutsche Hochdruckliga):
geeignet
eingeschränkt
geeignet
Medikament
α-Methyldopa (Presinol®)
Besonderheiten
Mittel der 1. Wahl
selektive β-1-Blocker
Metoprolol (Beloc®)
Atenolol (Tenormin®)
potentielle Verstärkung einer
intrauterinen Wachstumsretardierung
Dihydralazin (Nepresol®)
Reflextachykardie, Kopfschmerzen
Nifedipin (Adalat®)
nicht indiziert im 1. Trimenon aufgrund
embryotoxischer / teratogener Effekte im
Tierversuch; keine ausreichenden
Langzeiterfahrungen bei Mutter und Kind
Verapamil
keine ausreichenden Erfahrungen in der
Hypertonie-Behandlung; Anwendung bei
tachykarden supraventrikulären HRST,
Begleitmedikation für Tokolysebehandlung ohne fetale Schäden
Prinzipiell gelangen alle von der Stillenden eingenommenen Antihypertensiva abhängig von ihrer
Plasmaproteinbindung und Lipidlöslichkeit in die Muttermilch, wobei die Konzentrationen der meisten
Substanzen gering sind. Alpha-Methyldopa und Dihydralazin gelten als Mittel der Wahl in der
Stillzeit. Ebenso ist die Anwendung von Nifedipin und Metoprolol möglich. Frauen mit einer
Präeklampsie in der Anamnese haben ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko. In kausalem Zusammenhang damit stehen wahrscheinlich Veränderungen der Endothelfunktion sowie Kohlehydrat- und
Fettstoffwechselstörungen.
87
Sekundäre Hypertonie
Definition: Arterielle Hypertonieform bei der im Gegensatz zur primären bzw. essentiellen Hypertonie
eine auslösende Ursache zugrunde liegt.
Inzidenz: selten, 5 - 10% der Patienten mit arterieller Hypertonie.
Nur bei Patienten mit begründetem Verdacht auf eine sekundäre Hypertonieform ist eine
umfangreiche Abklärung sinnvoll. Bei ca. 18 Millionen Hypertonikern in der BRD und einem Anteil von
90% mit essentieller Hypertonie ist dieses Vorgehen aus ökonomischer Sicht erforderlich.
Andererseits ist es erforderlich, die klinischen Zeichen einer sekundären Hypertonie frühzeitig zu
erkennen, da in vielen Fällen durch eine spezifische Therapie oder Intervention der arterielle
Hypertonus geheilt oder zumindest deutlich gebessert werden kann.
Indikationen zum Ausschluss einer sekundären Hypertonie
♦
♦
♦
♦
♦
♦
♦
Therapierefraktäre Hypertonie
Hypertonie ≥ 180/110
Schwere hypertensive Endorganschäden
Erstmanifestation Hypertonie < 30. LJ
Progression einer bekannten Hypertonie
Fehlende nächtliche Blutdruckabsenkung in 24h-RR Messung („non-dipper“)
Klinische und laborchemische Hinweise auf das Vorliegen einer sekundären
Hypertonie
Renovaskuläre Hypertonie
Die Nierenarterienstenose (NAST) stellt die häufigste Ursache der sekundären Hypertonie dar. Die
Prävalenz im Gesamtkollektiv der Hypertoniker beträgt 1 - 3%. Aufgrund der geringen Häufigkeit ist
eine bildgebende Screening-Diagnostik zum Nachweis einer Nierenarterienstenose nur bei Patienten
sinnvoll, die klinische Zeichen für eine NAST aufweisen.
Klinische Zeichen für eine NAST
- atherosklerotische Begleiterkrankungen (KHK, pAVK, cerebrale Atherosklerose)
- Hypercholesterinämie
- Unklarer Kreatininanstieg (bilaterale NAST !)
- Kreatininanstieg (> 20%) nach ACE-Hemmer / Angiotensin-II-Blocker
- Größendifferenz der Nieren ( > 1 cm)
- paraumbilikales Strömungsgeräusch (diastolisch / systolisch)
- rezidivierendes Lungenödem
Man unterscheidet 2 Formen der Nierenarterienstenose, die atherosklerotische Nierenarterienstenose
(ANAS) (Abb. 51) und die Nierenarterienstenose vom Typ der fibromuskulären Dysplasie (FMD).
Beide Formen gehen meist mit einer schweren arteriellen Hypertonie einher, unterscheiden sich aber
in einigen Punkten grundlegend. Formen der Nierenarterienstenose: Neben der Entstehung einer
renovaskulären Hypertonie kann eine Nierenarterienstenose zu einer progredienten ischämischen
Nephropathie führen. In solchen Fällen liegt meist eine ANAS mit bilateraler Lokalisation, funktioneller
Einzelniere oder vorbestehender Niereninsuffizienz vor.
Formen der Nierenarterienstenose
Atherosklerotisch
Fibromuskuläre
Dysplasie
Pathogenese
Gefäßsklerose, Plaques
Angeborene
Gefäßdysplasie
Lokalisation
Ostial (1 - 2 cm)
Postostial bis peripher
Epidemiologie
Hohes Alter
Jüngere Patienten, oft
Frauen
Gefäßbeteiligung
KHK, pAVK usw.
Aorta, Iliakal, Carotis
Therapieerfolg
Heilung: 15%
Besserung: 60 %
Heilung: 50%
Besserung: 90%
(PTA +/- Stent)
88
Ab einem Stenosegrad > 50% kommt es zu hämodynamischen Veränderungen, der Perfusionsdruck
fällt ab, es kommt zu einer relativen Ischämie. Dies führt zu einer Freisetzung von Renin aus der
Macula densa. Das Renin-Angiotensin-II-System wird aktiviert. Via Aldosteron und Angiotensin II
werden Kochsalz und Flüssigkeit retiniert, Angiotensin II induziert eine Vasokonstriktion. Die Folge ist
ein schwer einstellbarer Hypertonus (Abbildung 50).
Ab einem Stenosegrad von ≥70% kann es auf Dauer zu einer ischämischen Nephropathie mit
Nierenparenchymschädigung / Schrumpfniere kommen.
Abbildung 50: Pathophysiologie der Nierenarterienstenose
Nierenarterienstenose
Progressive Lumeneinengung
Renovaskuläre
Hypertonie
Ischämische
Nephropathie
Progrediente Niereninsuffizienz
kontralaterale
Niere
stenosierte
Niere
Ischämie
Langzeiteffekte:
Aktiviertes sympathisches
Nervensystem
Gestörte NO-Synthese
Gesteigerte Endothelinfreisetzung
Renin Angiotensin II
Aldosteron
Vasokonstriktion
Intrarenale Hämodynamik
Natrium-Retention
Diagnose: Bei begründetem Verdacht auf eine Nierenarterienstenose empfiehlt sich die Durchführung
einer nicht-invasiven bildgebenden Diagnostik mit der Farbduplexsonographie. Nur falls eine
Intervention durchgeführt werden soll, ist eine Angiographie sinnvoll (Abbildung 50).
Therapie: Die renovaskuläre Hypertonie wird meistens medikamentös (ACE-Hemmer, Diuretikum,
Calcium-Antagonist) oder durch eine interventionell-radiologische Revaskularisation (Dilatation mit /
ohne Stent) therapiert.
Mögliche Indikationen für die Dilatation sind: Stenosegrad > 70%. Schwer medikamentös einstellbare
Hypertonie, progrediente Nierenfunktionseinschränkung, rez. pulmonales Ödem, Alter < 60 Jahre. Die
Entscheidung, welche Therapieform angezeigt ist, hängt aber von der klinischen Gesamtsituation des
Patienten ab (Blutdruck einstellbar? Nierenfunktion stabil? Interventionsrisiko hoch?).
Eine im 2010 publizierte große Studie kommt zu dem Schluss, dass Patienten mit einem kontrollierten
Blutdruck und stabiler Nierenfunktion nicht von einer Dilatation profitieren.
Abb. 51: Angiographie mit Stenose der
linken Nierenarterie (Pfeil)
89
Die Therapieziele stabile Blutdruckeinstellung, Stabilisierung der Nierenfunktion und Minimierung von
Nebenwirkungen stehen dabei im Vordergrund.
Primärer Hyperaldosteronismus
Definition: sekundäre Hypertonieform bedingt durch unkontrollierte, autonome Freisetzung von
Aldosteron aus der Nebennierenrinde mit Entwicklung eines meist schweren volumenabhängigen
Hypertonus.
Inzidenz: 1 - 5% im Gesamtkollektiv der Hypertoniker. Ein primärer Hyperaldosteronismus wird in
mehr als 99 Prozent durch ein Aldosteron-produzierendes Adenom oder durch eine idiopathische
beidseitige Nebennierenrindenhyperplasie ausgelöst.
Davon abgegrenzt werden die seltenen monogenetischen Hypertonieformen mit tatsächlichem (GSH)
bzw. augenscheinlichem (AME) Hyperaldosteronismus (siehe Tabelle).
Typ
Conn Adenom
Ätiologie
Aldosteron produzierendes
NN-Adenom
Bilaterale idiopathische Hyperplasie
Gesteigerte Aldosteronfreisetzung
ohne NN-Pathologie
Adrenales Karzinom
Maligner Aldosteron produzierender
Tumor
Glucocorticoid supprimierbarer
Hyperaldosteronismus
Genetischer Enzymdefekt
Aldosteron / Cortisolsynthese
Apparenter Mineralcorticoid Exzess
Genetischer Enzymdefekt
Konversion Cortisol → Cortison
vermindert
Klinik: Typische klinische Hinweise fehlen meist, in machen Fällen berichten die Hypertoniker über
Muskelschwäche und Müdigkeit (Hypokaliämie), Polyurie, Nykturie und vermehrten Durst.
Labor: Hypokaliämie (aber nur 50%), Hyperkaliurie (> 30 mmol/Tag) trotz niedrigem Serum-Kalium,
metabolische Alkalose.
Endokrinologische Befunde: Die Diagnose eines primären Hyperaldosteronismus wird
endokrinologisch gestellt. Die bildgebende Diagnostik (Suche nach NN-Adenom, NN-Hyperplasie oder
NN-Karzinom) erfolgt sekundär. Eine gesteigerte autonome Aldosteronfreisetzung führt zur
Suppression der Reninsynthese. Als valides diagnostisches Kriterium hat sich der
Aldosteron/Renin Quotient (AR-Ratio) bewährt. Dieser Parameter wird nur gering durch
Antihypertensiva verfälscht. Allerdings sollte Spironolacton (4 Wochen vorher), Thiaziddiuretika (1
Woche vorher) und Beta-Blocker (1 Woche vorher) vor dem Test abgesetzt werden.
Eine AR-Ratio > 300 in Kombination mit erhöhten Aldosteronwerten spricht für einen primären
Hyperaldosteronismus. Weitere Kriterien sind eine pathologisch erhöhte Ausscheidung von
Aldosteronmetaboliten im 24h- Sammelurin.
Primärer Hyperaldosteronismus:
Endokrinologische Befunde
Renin (PRA) Aldosteron (PA) PA / PRA Ratio Aldosteron- Metabolite 24h-Urin Eine inadäquate Aldosteronsekretion sollte durch Funktionstests bestätigt werden:
1. Orthostasetest: Unter Orthostasebedingungen scheinbar paradoxer Abfall des Aldosterons, erklärt
durch eine ACTH-Abhängigkeit der Aldosteronsekretion
90
2. NaCl-Belastungstest: Nach Infusion von 2 Litern isotonischer Kochsalzlösung über 4 Stunden
sollte sich der Plasmaaldosteronspiegel beim Gesunden absenken. Erhöhte Werte sprechen für einen
primären Hyperaldosteronismus.
Beim Verdacht auf einen primären Hyperaldosterinismus ist eine weitere Bildgebung (Ultraschall, auf
jeden Fall auch CT oder MR) zur weiteren Differenzierung eines Adenoms von einer Hyperplasie
notwendig (Abbildung 52).
Abb. 52: Adenom im CT des
Abdomen:
Ca. 1,5 cm grosse hypodense
Raumforderung
in
der
rechten
Nebennierenrinde. Das Adenom war
Aldosteron produzierend.
Wenn bei der Diagnostik diskordante Befunde auftreten (Kein Tumor im CT, pathologische
Funktionstests, Tumor im CT, normale Funktionstests), ist es manchmal sinnvoll,
Aldosteronkonzentrationen in der Nebennierenvene zu bestimmen.
Therapie:
1) Adrenalektomie bzw. Adenomresektion bei Conn-Adenom, unilateraler PAH, Karzinom.
2) ACE-Hemmer, AT1-Blocker, Kalzium-Antagonisten, Aldosteronantagonist (Aldactone) oder Amilorid
bei bilateraler PAH oder IHA.
3) Eplerenon (Inspra), in Deutschland noch off label use.
Glucocorticoid supprimierbarer Hyperaldosteronismus (GSH)
Ätiologie: Sehr seltene monogenetische (autosomal dominante) Hypertonieform. Defekt auf
Chromosom 8 im Bereich der Gene, die für Enzyme aus dem Glucocorticoid-(11-desoxycortisol) und
Mineralocorticoidstoffwechsel (Aldosteron-Synthetase) kodieren. Die Folge ist ein chimäres
Genprodukt (Enzym), das durch Corticotropin (ACTH) reguliert wird und Aldosteron synthetisiert.
Daraus resultiert eine falsch regulierte (durch ACTH) und gesteigerte Aldosteronsynthese.
Klinik: Schwerer Hypertonus bereits im Jugendalter, evtl. mit positiver Familienanamnese, früh
hypertensive Komplikationen.
Labor: Wie primärer Hyperaldosteronismus, zusätzlich erhöhte Konzentrationen von 18-OH-Cortisol /
18-Oxo-Corticosteron im 24h-Sammelurin. Nachweis mit Genanalyse möglich.
Therapie: Dexamethason (= Suppression der ACTH-Freisetzung)!
Apparenter Mineralocorticoid Exzess (AME)
Ätiologie: Seltene monogenetische (autosomal rezessive) Hypertonieform mit verminderter Aktivität
bzw. Aktivitätsverlust der 11-ß-Hydroxysteroid-dehydrogenase Typ II. Durch den Aktivitätsverlust
kommt es zur verzögerten Umwandlung von Cortisol in Cortison. Da Cortisol unselektiv den
Aldosteronrezeptor aktivieren kann, wird hierdurch ein Aldosteronexzess imitiert (siehe auch Abschnitt
Hintergrund).
Klinik: Klinische Zeichen des Aldosteronexzesses ab 50%-iger Verminderung der Enzymaktivität.
Labor: wie Hyperaldosteronismus, aber erniedrigte Spiegel von Renin, Aldosteron und
Aldosteronmetaboliten!
Erhöhte Spiegel von Tetrahydrocortisol, Tetrahydrocortison
Therapie: Spironolacton (= Aldosteron-Rezeptorblockade) oder Amilorid (= Hemmung der
+
Na -Rückresorption im distalen Tubulus), Dexamethason (= Suppression der endogenen CortisolProduktion).
Phäochromozytom
Katecholaminproduzierender Tumor mit meist krisenhafter sekundärer Hypertonie.
Inzidenz: selten, ca. 0.2 % aller Hypertoniker
Phäochromozytome sind zu 95% abdominell und zu 90% im Nebennierenmark lokalisiert. Selten
findet man Phäochromozytome auch extraadrenal (paraaortal, Becken, Harnblase) und gelegentlich
91
auch extraabdominell (Thorax, Kopf, Hals). Bei klassischen Leitsymptomen erfolgt primär eine
endokrinologische Diagnostik mit Bestimmung der Katecholamine im angesäuerten 24h-Sammelurin
(Adrenalin, Noradrenalin, Vanillinmandelsäure, Metanephrine).
Klinik des Phäochromozytoms
Episodischer Kopfschmerz (80 - 96%)
Schweißausbruch (67 - 74%)
Tachykardie
Hypertonie labil (63%),
persistierend (33%)
Da 50% der Phäochromozytome symptomlos auftreten und klinisch nicht von einem essentiellen
Hypertonus zu differenzieren sind, ist eine endokrinologische Abklärung zum Ausschluss eines
Phäochromozytoms bei allen Patienten mit komplizierter oder therapierefraktärer Hypertonie indiziert.
Der Nachweis erhöhter Katecholamine (Adrenalin und Noradrenalin mind. 2-fach erhöht,
Vanillinmandelsäure und Metanephrine mind. 2-3-fach erhöht) spricht für ein Phäochromozytom; auch
diskrete Erhöhungen schließen dies nicht aus, daher ggf. Clonidin-Suppressionstest durchführen.
Bei Nachweis von pathologisch erhöhten Katecholaminen erfolgt die bildgebende Diagnostik mit
Kernspintomographie (hyperintense RF in T2-Gewichtung). Mit Hilfe der MIBG-Szintigraphie
(Meta-Iodo-Benzyl-Guanidine)
können
stoffwechselaktive
katecholaminproduzierende
Raumforderungen auch extraadrenal oder extraabdominell lokalisiert werden.
Diagnostik des Phäochromozytoms
Im angesäuerten 24h-Urin:
- Adrenalin (> 2-fach)
- Noradrenalin (> 2-fach)
- Vanillinmandelsäure (> 2-3-fach)
- Metanephrine (> 2-3-fach)
- MRT
- MIBG-Szintigraphie
Als weitere mögliche Bildgebung sind 18F-DOPA-PET sowie Octreotid-Scintigraphie (letzteres v.a. bei
V.a. malignes metastasierendes Phäochromozytom) zu nennen.
Phäochromozytome kommen gehäuft bei hereditären Erkrankungen wie der von-Hippel-LindauErkrankung (Phäochromozytom, retinale Angiome, Pankreas- / Nierenzysten, Nierenzellkarzinom) und
der Multiplen Endokrinen Neoplasie (MEN) 2 (Phäochromozytom, medulläres Schilddrüsenkarzinom,
primärer Hyperparathyreoidismus) vor. Bei klinischem Verdacht oder positiver Familienanamnese ist
eine genetische Diagnostik erforderlich.
Therapie: Adrenalektomie, präoperativ pharmakologische Blockade von alpha- und beta-Rezeptoren,
postoperative Volumengabe und Glukoseinfusion.
92
15. Fettstoffwechselstörungen
Ansprechpartner/in: Frau Dr. Otte, [email protected]
Unter dem Begriff
Fettstoffwechselstörungen finden sich Störungen mit Erhöhung des
Gesamtcholesterins und/oder der Triglyzeride sowie Störungen mit verändertem Lipoproteinmuster.
Da Lipide wasserunlöslich sind, werden sie zum Transport in Blut und Lymphe in mizelläre Strukturen,
sog. Lipoproteine, verpackt, die sich aus Phospholipiden und anderen Lipiden (Cholesterin/ester und
Triglyzeride) sowie Proteinen zusammensetzen. Die Lipoproteine können durch Austausch ihrer
Zusammensetzung in ihrer Dichte stark variieren (s. Tabelle 1). Zur Strukturbildung der Lipoproteine
dienen sogenannte Apolipoproteine, die auch als Liganden für Rezeptoren (z.B. Apo B 100 und Apo
E für LDL-Rezeptor) und als Cofaktoren für lipolytische Enzyme (z.B. Apo C-II für Lipoproteinlipase)
dienen.
Freie Fettsäuren werden zum Transport an Albumin gebunden.
Lipoprotein
HDL
HauptCholesteringehalt t½ im Plasma
Apoproteine
Apo B 48,
5%
wenige Min.
CI-III, Apo A I+IV
Apo B 100, Apo E,
10%
8h
CI-III
Apo A I
20%
4d
IDL
Apo B 100, Apo E
30 %
2-6 h
LDL
Apo B 100
50%
1,5-7 d
Chylomikronen
VLDL
Lipidstoffwechsel (grob vereinfacht)
In Chylomikronen werden die resorbierten Cholesterine und Triglyzeride über die Lymphe – im
sogenannten exogenen Lipidstoffwechsel - in das Blut transportiert und weiter verarbeitet. Der
endogene Stoffwechsel wird über die in der Leber synthetisierten VLDL eingeleitet, die über IDL in
LDL verstoffwechselt werden. Hierüber wird dem Körper Cholesterin zur Produktion von Hormonen,
Membranaufbau von Zellen zur Verfügung gestellt. LDL-Cholesterin wird zu ca. 2/3 über den LDLRezeptor abgebaut, der in unterschiedlicher Zahl auf fast allen Zelltypen, jedoch vor allem der Leber
vorhanden ist. Ca. 20% wird über den sog. Scavenger-Pathway von den Makrophagen in den
Blutgefäßen abgebaut. Dieser Pathway wird insbesondere bei LDL-Cholesterinwerten über 200 mg/dl
verstärkt genutzt und führt bei unvollständigem Abbau des „gealterten“ oxidierten LDL‘s zur
Schaumzellbildung und damit zur Atherogenese. Das HDL-Cholesterin dient zum Rücktransport des
Cholesterins zur Leber, es gilt damit als gefäßprotektiv.
Laborbestimmung:
Für die Beurteilung eines Lipidprofils sollte eine Nüchternkontrolle (12h vorher keine kalorienhaltige
Nahrung oder Getränk wegen der sehr nahrungsabhängigen Triglyzeride) erfolgen:
Gesamtcholesterin, LDL-Cholesterin, HDL-Cholesterin, Triglyzeride und nur bei Pat. mit mittl. bis
hohem Risiko zusätzlich Lp(a) (siehe unten)
Das LDL-Cholesterin wird überwiegend nach Kenntnis der anderen 3 o.g. Parameter nach der
Friedewald-Formel errechnet.
LDL-Cholesterin = Gesamtcholesterin - HDL-Cholesterin - (Triglyzeridwert : 5).
Diese Formel ist aber nur bei Triglyzeriden unter 400 mg/dl anzuwenden, ansonsten muss wegen
Ungenauigkeit der Methode das LDL direkt gemessen werden.
Warum muss neben dem HDL noch ein Anteil (Triglyzeridwert : 5) vom Gesamtcholesterin abgezogen
werden? Hiermit wird überwiegend das VLDL-Cholesterin, das bei gesunden Probanden einem Anteil
am Gesamtcholesterin von < 30 mg/dl entspricht, berücksichtigt. Bei hohen Triglyzeridwerten steigt
dieser Anteil, im Gegensatz dazu fällt der HDL-Cholesterinanteil. Weiterhin verschlechtern sich die
LDL-Untergruppen hin zu oxidierten sog. small dense LDL-Partikeln, die besonders „gefäßaggressiv“,
somit atherosklerosefördernd sind (typisches Beispiel: Pat. mit Diabetes mellitus II). Hierdurch wird
deutlich, dass alle Lipidparameter im Normbereich liegen sollten.
93
Optimale Werte in der Normalbevölkerung wären ein Gesamtcholesterin unter 200 mg/dl, ein LDL
unter 130 mg/dl, ein HDL bei Frauen > 50 und bei Männern > 40 mg/dl, ein Restcholesterin
(überwiegend VLDL) < 30 mg/dl und Triglyzeride < 150 mg/dl. Da diese Werte aber von vielen Teilen
der Bevölkerung nicht erreicht werden, werden in den Leitlinien unter einer Nutzen-Risikoabwägung
LDL-Werte bis 160 mg/dl unter bestimmten Bedingungen als Normwert akzeptiert, um eine
Übertherapie mit Medikamenten zu verhindern.
LDL-Cholesterin ist der Hauptrisikofaktor
In großen epidemiologischen Studien und prospektiven Interventionsstudien konnte das LDLCholesterin als bedeutendster Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse belegt werden, das HDL
hingegen bei hohen Werten als schützender Faktor. Weiterhin zeigte auch das Verhältnis aller
potentiell atherogenen Lipide, die mit der Bestimmung des Apo B 100 erfasst werden (also auch IDL
und VLDL) zu Apo A-I (Marker für das gefäßprotektive HDL), also Apo B/Apo A-I in Studien eine
signifikante Korrelation zu kardiov. Erkrankungen. Kostengünstiger aber nicht direkt vergleichbar ist
die Menge aller Apo B haltigen potentiell atherogenen Lipide auch durch die Bestimmung des
NonHDL-Choletsterins erfasst, indem vom Gesamtcholesterin das HDL abgezogen wird.
Es besteht ein linearer Zusammenhang zwischen LDL-Konzentration und dem relativen KHK-Risiko.
Eine Risikominderung ist umso effektiver, je höher das individuelle Ausgangsrisiko ist. Die
Sekundärpräventionsstudien mit Pat. nach Herzinfarkt zeigten sowohl eine Verringerung der
kardiovaskulären Ereignisse/Todesfälle als auch eine Verringerung der Gesamtsterblichkeit (im Mittel
liegt die relative Risikoreduktion bei ca. 25%).
Da das LDL-Cholesterin als wichtigster Parameter für die Entstehung einer vorzeitigen Atherosklerose
bei kardiovaskulären Erkrankungen identifiziert wurde und mit steigender Tendenz der
kardiovaskuläre Tod weltweit die Haupttodesursache ist (lt. Schätzung der Weltgesundheitsorganisation werden 75% der Todesursachen im Jahr 2030 kardiovaskulärer Genese sein), ist es wichitg,
atherogene Lipidstörungen frühzeitig zu erkennen und leitliniengerechte Zielwerte zu erreichen.
Dabei geben die Leitlinien (National Education Program-Adult Treatment Panel) von 2004 (die
neueste Version ist in Arbeit) klare Zielvorgaben:
Niedriges Risiko
Mittleres Risiko
Hohes Risiko
Ziel-LDL < 160 mg/dl
Ziel-LDL < 130 mg/dl
0-1 kardiov. Risikofaktor, 10Jahresrisiko < 10%
≥ 2 kardiov. Risikofaktoren, 10Jahresrisiko 10-20%
Ziel-LDL < 100 mg/dl (70
mg/dl)
KHK- oder KHK-Äquivalent,
10-Jahresrisiko ≥ 20%
Erläuterungen:
Das 10 Jahres Risiko, ein kardiov. Ereignis zu erleiden, wird durch die Einführung von Risikoscores
(z.B. PROCAM-. Framingham-Score) errechnet. Dabei werden z.B. beim deutschen PROCAM-Score
konventionelle Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht, LDL, HDL, Triglyzeride, Rauchverhalten,
Diabetes mellitus, vorzeitige Familienanamnese für kardiov. Ereignisse und der systolische Blutdruck
berücksichtigt. Der European Score schätzt dagegen das prozentuale Risiko eines tödlichen Ausgang
eines kardiov. Ereignisses. Die Spezifität dieser Scores ist sehr hoch bei jedoch geringer Sensitivität,
so dass das individuelle Risiko nicht gut abgebildet werden kann. Die meisten Infarkte (2/3) treten bei
Pat. aus der mittleren Risikogruppe auf. Deshalb ist es sinnvoll alle bekannten Risikofaktoren des Pat.
mit in die Risikoeinschätzung einzubeziehen und eine Risikostratifizierung mittels Sonographie der
Carotis- und Aortenbifurkation sowie kardiolog. Untersuchung durchzuführen.
Weitere bekannte Risikofaktoren sind auch der diastolische Blutdruck, der Bauchumfang (Frauen < 88
cm, Männer < 102 cm), Bewegungsarmut, der Body-Mass-Index (BMI, Norm < 25 kg/m²), ein
verminderter Gemüse/Obstkonsum, ein erhöhtes Non-HDL-Cholesterin, das Lipoprotein(a).
Ein KHK-Äquivalent ist eine Erkrankung, die ein gleichwertig hohes Risiko für einen fatalen Ausgang
besitzt wie die koronare Herzerkrankung. Dies sind die pAVK, der Diabetes mellitus, höhergradige
Carotisstenosen, ein Apoplex, der Diabetes mellitus und nach den nephrologischen Leitlinien (KDOQI)
auch die chronische Nierenerkrankung.
Ein LDL < 70 mg/dl wird bei denjenigen Pat. angestrebt, die trotz des Erreichens eines LDL-Wertes <
100 mg/dl einen weiteren Gefäßprogress aufzeigten oder so schwere Gefäßprozesse haben, dass
dieser Wert von vorneherein sinnvoll ist oder z.B. eine KHK und ein KHK-Äquivalent haben.
94
Lipidstörungen
Dabei seien zunächst die Sekundären Lipidstörungen zu nennen, die alle weiteren genannten
zusätzlich ungünstig beeinflussen können:
Adipositas, Alkohol, Diabetes mellitus, Schwangerschaft, Hypothyreose, Nephrotisches Syndrom,
Chronische Nierenerkrankung, Cholestatische Lebererkrankungen
Medikamente (z.B. Thiaziddiuretika, ß-Blocker, Oestrogene, Steroide, Immunsuprressiva wie
Cyclosporin A, Tacrolimus, Everolimus), Porphyrie, Anorexie
Primäre Lipidstörungen
• Cholesterin erhöht
Polygene Hypercholesterinämie
Familiäre Hypercholesterinämie
Familiärer Defekt im Apolipoprotein B-100
PCSK-9 Mutation (3% der FH-Fälle)
autosomal rezessive Hypercholesterinämie (ARH-Gen auf Chromosom 1)
• Triglyzeride erhöht
Familäre Hypertriglyzeridämie
Mangel an Apolipoprotein C II (autosomal rezessiv)
Mangel an Lipoproteinlipase (autosomal rezessiv, 1: 1 Mio)
• Cholesterin und Triglyzeride erhöht
Familiär kombinierte Hyperlipidämie
Typ III oder Remnant-Hyperlipidämie
• HDL-Erniedrigung (Apolipoprotein A-Polymorphismus)
• Lipoprotein(a)-Erhöhung
•
Hypercholesterinämien
Mit einem Vorkommen von ca. 20% in der Bevölkerung ist die polygene Hypercholesterinämie die
häufigste atherogene Lipidstörung. Sie betrifft ca. 70-80% aller Lipidstörungen (letzte deutsche
Erhebung im Bundesgesundheitssurvey 2000). Wie bei der essentiellen Hypertonie manifestiert sie
sich meistens erst im mittleren Lebensalter (multifaktorielle Genese, sog. Gen-Umwelt-Mutation),
begünstigt durch Trigger wie Übergewicht, Bewegungsarmut, zu hohe Zufuhr gesättigter Fette. In der
Familie treten in der Regel keine vorzeitigen kardiovaskulären Ereignisse auf. Die Atherogenität ist
hoch. Im Vordergrund der Therapie steht primär ein konsequent guter Lebensstil.
Beispiel: Mann, 70 Jahre, Adipositas I° (BMI 31 kg/m²) erhöhter Bauchumfang 105 cm, Nichtraucher,
art. Hypertonie seit 35 Jahren, 3 x die Woche Radfahren ca. 10 km. Keine positive Familienanamnese für vorzeitige kardiov. Ereignisse, „Cholesterin sei im Erwaschsenenalter immer über 250 mg/dl
gewesen“. Mit 67 Jahren Angina pectoris: 80%-ige RIVA-Stenose, PTCA (spätestens jetzt ist eine
Statintherapie indiziert).
Die Familiäre Hypercholesterinämie ist die häufigste monogenetische Lipidstörung. Sie beruht auf
Mutationen im LDL-Rezeptorgen (> 1000 Mutationen bekannt) und wird autosomal dominant vererbt.
Die heterozygote Anlage ist mit 1:500 in der Bevölkerung vertreten, das LDL variiert um 190-350
mg/dl, das Risiko für eine koronare Herzerkrankung ist sehr hoch und liegt nach den britischen NICEGuidelines bei Männern bis 50 Jahre bei ca. 50%, bei Frauen bis 60 Jahre bei ca. 30%. Eine
Statintherapie ist deshalb neben der Lebensstiltherapie zur Primärprävention indiziert.
Homozygote Träger kommen in einer Häufigkeit von 1:1 Mio. in der Bevölkerung vor, sie haben immer
einen Arcus lipoides corneae und zeigen häufig Xanthome der Sehnen und Haut. Die LDL-Werte
liegen um 600-1000 mg/dl. Unbehandelt kommt es zu meist tödlichen kardiov. Ereignissen vor dem
20. Lebensjahr. Hier ist eine Lipidapherese (ab dem 6. Lebensjahr und einem Gewicht von ca. 30 kg)
indiziert.
Klinisch ist der familiäre Defekt im Apolipoprotein B 100-Gen nicht von der heterozygoten Form der
familiären Hypercholesterinämie zu unterscheiden. Er wird ebenfalls autosomal dominant vererbt und
kommt in Deutschland in einer Häufigkeit von 1:750 vor. Er sollte wie eine familiäre
Hypercholesterinämie behandelt werden.
Weiterhin klinisch nicht zu unterscheiden, aber sehr selten vorkommend ist die PCSK-9-Mutation,
durch Mutation einer Protease wird der LDL-Rezeptor schneller abgebaut.
Beispiel: 38-jährige Patientin, positive Familienanamnese (Mutter 70 J., unter Statintherapie,
unbehandelt LDL 250 mg/dl, Onkel mütterl. mit 54 J. Herzinfarkt, Tante mütterl. mit 70 J. ACVB-OP,
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Schwester mit 46 J. Herzinfarkt), Arcus lipoides corneae, Hypercholesterinämie seit dem 13.
Lebensjahr, damals Labor: Gesamt-C 350 mg/dl, LDL 258 mg/dl, HDL 73 mg/dl, Triglyzeride 113
mg/dl, humangenetischer Nachweis einer typ. LDL-Rezeptorgenmutation, unter gutem Lebensstil und
Simvastatin 40 mg /Ezetrol 10 mg (siehe unten) LDL mit 129 mg/dl im Zielbereich unter 130 mg/dl.
Bei dieser Pat. wurde eine genetische Sicherung der Diagnose durchgeführt, die über 2000 Euro
kostet (ApoB100 und ApoE ca. 200 Euro). Dagegen ist eine klinische Diagnostik meistens
ausreichend. Nach dem „Simon Broome Register“ (unter Verwaltung der Oxford University) liegt eine
familiäre Hypercholesterinämie vor, wenn
Gesamt-C
LDL-C
Kind < 16 J.
> 259
>155
Erwachsener
> 290
> 189
plus Xanthome oder positive Genetik vorliegen.
Eine Familiäre Hypercholesterinämie ist wahrscheinlich, wenn:
o.g. Labor zusätzlich bei Angehörigen oder eine positive Familienamnese vorliegt.
•
Hypertriglyzeridämie
Die familiäre Hypertriglyzeridämie ist primär nicht atherogen. Sie wird autosomal dominant vererbt,
der Genort ist nicht bekannt und kommt in einer Häufigkeit von 1:500 in der Bevölkerung vor und zeigt
im Normalfall eine mäßige Hypertriglyzeridämie, das Gesamt- und LDL-Cholesterin sind meist normal,
das HDL erniedrigt, in der Familie zeigen alle Betroffenen diese Lipidstörung.
Beispiel: 30-jähriger Pat., schlank, keine Risikofaktoren, bei Routineuntersuchung: Gesamtcholesterin
301 mg/dl, LDL-Cholesterin 113 mg/dl, HDL 35 mg/dl, Triglyzeride 1200 mg/dl, „Zucker bedeute für ihn
80% seiner Lebensqualität“, in der Familie keine vorzeitigen kardiov. Ereignisse, Vater 57 J., lebt sehr
gesund, Triathlonläufer, außer Trilgyzeride von 240 mg/dl keine Auffälligkeiten
Extreme Hypertriglyzeridämien zeigen sich sehr selten bei Pat. mit Lipoproteinlipase oder – Apo CIIMangel (primär nicht atherogen), häufig aber auch bei o.g. Pat. mit lebensstilgetriggerter Entgleisung.
Dabei besteht die Gefahr eines Chylomikronämiesyndroms bei Triglyzeriden > 1000 mg/dl mit
möglicher Pankreatitis, aber auch Ischämie des Darms und des Herzens sowie Gedächtnisstörungen.
Häufig zeigen sich erhöhte Triglyzeride als Vorläufer einer beginnenden Insulinresistenz, so dass
insbesondere bei erhöhten Triglyzeriden immer ein Oraler Glukosetoleranztest mit 1h Wert (< 155
mg/dl) und 2 h-Wert (<140 mg/dl) durchgeführt werden sollte. Pat. mit rezidiv. Pankreatitiden können
sekundär durch Verlust der Inselzellen einen Diabetes mellitus entwickeln.
•
Gemischte Hyperlipidämie
Die familiär kombinierte Hyperlipidämie betrifft etwa 1 % der Bevölkerung (Penetranz 30% =
prozentuale Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmter Genotyp den ihm zugehörigen Phänotyp
ausbildet), es kommt zur Überproduktion Apo-B-haltiger Partikel, vor allem kleiner dichter VLDLPartikel, positive Familienanamnese, häufigste Ursache für Herzinfarkt, typisch ist ein wechselnder
Phänotyp intra- und interindividuell (HC, HT, gem. HLP) Für die familiär kombinierte Hyperlipidämie
gibt es noch keine sicheren Gentests, trotz des pirmär autosomal dominant erscheinenden Erbgangs
finden sich zunehmend Hinweise für eine polygene Vererbung.
Beispiel: Patientin 46 Jahre, LDL-Cholesterin 161 mg/dl, sonst o.B., schlank, keine weiteren
Risikofaktoren, jedoch schon beginnende Atherosklerose im Bereich der Carotiden, Vater 69 J.
Hypercholesterinämie, Herzinfarkt mit 59 J., 2 von 4 Kindern unter 20 Jahren haben eine gemischte
Hyperlipidämie mit Triglyzeriden um 250 mg/dl. (Pat. und Vater LDL-Phänotyp, Kinder gem. HL)
Die Remnant- Hyperlipidämie oder familiäre Dysbetalipoproteinämie ist eine sehr seltene Form
der atherogenen Lipidstörung, mit einer Häufigkeit von 1:10.000 in der Bevölkerung, die durch
Mutation im ApoE-Gen in Kombination mit Umwelfaktoren auftritt. Beim ApoE-Genotyp gibt es die
Normvariante E3, weiterhin E2, die normalerweise eher ein niedriges LDL begünstigt sowie die
Variante E4, die eher eine Hypercholesterinämie wegen besserer Resorption des LDL‘s aus dem
Darm begünstigt. Ca. 2 % der Träger der homozygoten Form des sog. ApoE2 Genotyps können unter
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bestimmten Bedingungen (a.e. lebensstilgetriggert z.B. Adipositas, hohe Zufuhr gesättigter Fette und
kurzkettiger Kohlenhydrate) eine vorzeitige Atherosklerose entwickeln. Typisch sind eine negative
Familienanamnese (autosomal rezessiv), ein Quotient von Gesamtcholesterin zu Triglyzeriden (mg/dl)
von ca. 0,8-1,3, vermehrte VLDL-Remnants (entspricht den IDL) und Chylomikronen-Remnants
(Remnants = Restpartikel), Handlinienxanthome. Hier hilft ausnahmsweise die Lipidelektrophorese
nach Fredrickson bei Nachweis eines Typ III, beweisend wäre eine Genuntersuchung.
Beispiel: 55-jähriger Pat., Übergewicht, Bauchumfang 106 cm, art. Hypertonie, Raucher, Eltern (ca. 75
J.), 2 Brüder 57 und 59 J. gesund, Neudiagnose Hinterwandinfarkt bei Gesamt-C 661 mg/dl,
Triglyceride 1618 mg/dl, vor 10 Jahren 10 kg weniger gewogen, viel Sport: Gesamtcholesterin 271
mg/dl, Triglyceride 265 mg/dl (Verhältnis 1.0), HDL 38 mg/dl, LDL 172 mg/dl, Restcholesterin 271-38172=61 mg/dl (s.o. Zielwert Restcholesterin < 30 mg/dl, überwiegend VLDL).
Beim Genotyp E4 ist das kardiov. Risiko ebenfalls insbesondere bei homozygoter Form deutlich
erhöht. Da dieser Genotyp jedoch mit einem vermehrten Auftreten von Alzheimererkrankungen
assoziiert ist, sollten die Pat. über die Tragweite der genetischen Diagnostik gut aufgeklärt werden.
•
Lipoprotein(a)-Erhöhung (Lp(a)-Erhöhung)
Das Lp(a) ist ein dem LDL verwandtes Molekül, dessen ApoB-100-Anteil mit einem dem Plasminogen
ähnlichen Glykoprotein, dem Apolipoprotein(a) verbunden ist. Damit ist das Lp(a) sowohl atherogen
(LDL-Anteil) als auch thrombogen (Plasminogenähnlicher Anteil). Es besteht ein autosomal
dominanter Erbgang. Leider bestehen keine Endpunktstudien für das Lp(a), jedoch konnte in den
epidemiologischen Präventionsstudien gezeigt werden, dass die meisten Pat. von einer Senkung des
LDL unter 100 mg/dl profitierten. Das Lp(a) ist häufig mit anderen sehr atherogenen Lipidstörungen
wie der familiären Hypercholesterinämie assoziiert. Typischerweise findet man bei diesen Pat.
häufiger kurzfristige Stentverschlüsse nach Coronareingriffen, obwohl das LDL unter 100 mg/dl
gesenkt wurde, so dass dies auf die zusätzliche Wirkung des Lp(a) zurückzuführen ist. Als einziges
Medikament kann das Lp(a) um ca. 20-50% durch die Nikotinsäure gesenkt werden. Ansonsten kann
nur eine Lipidapherese die Werte ausreichend senken (siehe unten).
Beispiel: 64-jährige Pat., Eltern im Krieg verstorben, Bruder mit 65 J. ACVB, früh behandelte, gut
eingestellte Hypertonie, Zufallsbefund bds. ca. 50%ige Carotisstenosen bei fehlenden weiteren
Risikofaktoren, (Lipidprofil unauffällig), Ursache a.e. Lp(a) bei 85 mg/dl (Norm < 30 mg/dl)
Therapie
Die wichtigste Primärtherapie bei jeglicher Lipidstörung ist das Einhalten eines gesunden Lebensstils.
Bei reinen Cholesterinstörungen scheint hierdurch in der Regel eine Senkung des LDL-Cholesterins
um 30 mg/dl möglich (nach eigenen Erfahrungen sind manchmal sogar 80 mg/dl möglich),
Triglyzeridstörungen sprechen wesentlich besser auf Ernährung an, bei sehr konsequentem
Lebensstil kann unter unten empfohlener Ernährung möglichst in Kombination mit sportlicher Aktivität
eine Normalisierung der Triglyzeride erreicht werden (meiner Erfahrung nach auch bei Pat. mit
Triglyzeriden über 1800 mg/dl (ca. 20 mmol/l)). Innerhalb eines Tages ist eine 50%ige Trigl.-Senkung
bei Vermeidung von Triggerstoffen (kurzkettige Kohlenydrate, Alkohol, gesättigte Fette) möglich.
o
o
o
o
o
o
o
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o
o
o
o
Strukturiertes Essen (in der Regel 3 Mahlzeiten, max. 4 Mahlzeiten/Tag)
Vollkornprodukte in Form von Brot, Nudeln, Reis
Streichfett aufs Brot mit viel ein- und mehrfach ungesättigten Fettsäuren
viel Gemüse (ohne Sauce, nicht als Auflauf) mit geringer Menge Beilagen (2 mittelgroße
Kartoffeln, 1 flacher Teller Nudeln oder Reis)
Max. 3x/Wo. Fleisch, 150 g = 1 Portion, Geflügel>Lamm>Rind>Schwein
2 Milchprodukte pro Tag 1,5% Fettanteil (z.B. 200 ml Milch, 1 Joghurt, möglichst <48% Käse)
Max. 2 Obstportionen/d, lieber festes Obst als Saft (1 Port.= 200 ml)
Keine kohlenhydrathaltigen Getränke (Alkohol, Apfelschorle, Limonade,...)
Süßigkeiten in Maßen, am ehesten Lakritz, Gummibärchen, Salzstangen, Bitterschokolade
Verwendung von Omega-3 Fettsäuren, tägl. 1 Essl. Rapsöl, 25 g Walnüsse, Fettfisch 12x/Wo.
Fastfood und Fertigprodukte möglichst nur 1 mal pro Monat,
Kalorienzahl sollte dem anzustrebenden Gewicht entsprechen z.B. 70 kg x 25 – 30 kcal,
entsprechend 1750 bis 2100 kcal/Tag
Sport: wetterunabhängig, mindestens 3x pro Woche 30 min.
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Falls dies nach 3-6 Monaten nicht zu den gewünschten Zielwerten geführt hat, sollte eine
medikamentöse Zusatztherapie erwogen werden. Hierfür ist die Einschätzung der Atherogenität
anhand der Familienanamnese und Screeninguntersuchung der Pat. und bei jungen Pat. auch der
betroffenen Angehörigen (Sonographie Carotis-/Aortenbifurkation, Belastungs-EKG unter
Ausbelastung) wichtig. Bei Hochrisikopatienten (z.B. Pat. mit familiärer Hypercholesterinämie,
KHK oder -Äquivalenten) wird die medikamentöse Therapie sofort begonnen.
Medikamentenklasse
LDL ↓
HDL ↑
Triglyzeride ↓
Statine
20-60 %
5-10 %
10-33 %
Goldstandard bei hohem AtheroskleroseRisiko
Ezetimib
20 %
0
0
Nikotinsäure*
10-25 %
15-35%
25-30 %
OmegaIII-Fettsäuren
0
ca. 20%
>30 %
Gallensäurebinder
15-30 %
0
Fibrat
6-20 %
18-33 %
zur Kombination zum Erreichen von
Zielwerten (Monotherapie Kinder ab
10 J.)
zur Kombination zum Erreichen von
Zielwerten, einziges Medikament zur
Senkung des Lp(a)
Bei schweren Hypertriglyzeridämien zur
Verhinderung einer Pankreatitis, bei
Hochrisikopatienten zum Erreichen aller
Lipidzielwerte
zur Kombination zum Erreichen von
Zielwerten, Monotherapie bei Kindern
und Schwangeren
Zur Verhinderung einer Pankreatitis
0 – moderat
41-53 %
Große Endpunkstudien zur Belegung eines Vorteils der Kombinationstherapie von Ezetrol oder
Nikotinsäure zu einem Statin laufen, sind aber noch nicht vollendet. Fibrate konnten sich in größeren
Studien in Kombination mit Statinen zur Verhinderung kardiovaskulärer Ereignisse bisher nicht
bewähren.
Häufigste Nebenwirkungen von Statinen, Ezetimib, Fibraten sind Muskelschmerzen vor allem im
Schulter-Arm- und Beinbereich mit möglicher CK-Erhöhung (in seltenen Fällen bis hin zur
Rhabdomyolyse, das Risiko steigt bei zugrundeliegender Hypothyreose, bei Kombination der
genannten Präparate und mit Dosissteigerung) sowie Leberwerterhöhungen. Bei der Nikotinsäure ist
eine durch Prostaglandinfreisetzung typische Nebenwirkung der Flush, der sich mit Einnahmedauer
und Kombination des Wirkstoffes mit einem selektiven ProstaglandinD2-Hemmer (Laropiprant) fast
immer beherrschen lässt. Weiterhin treten häufiger Leber- und Harnsäurewerterhöhungen auf. Bei den
Gallensäurebindern und höherdosierten Omega-III-Fettsäuren zeigen sich vor allem gastrointestinale
Beschwerden. Die Gallensäurebinder führen häufiger zu einer leichten Triglyzeriderhöhung. Sie
müssen entweder 1 h vor oder 4 h nach anderen Medikamenten eingenommen werden, um diese
nicht durch Bindung an der Resorption zu hindern (Sie sind die einzigen zugelassenen Medikamente
bei Kindern unter 10 Jahren und während der Schwangerschaft und Stillzeit).
Es gibt keine grundsätzliche Statinunverträglichkeit. Deshalb sollten bei Nebenwirkungen ggf. alle
6 bekannten Statine (Simva-, Prava-, Lova-, Fluva-, Atorva- und Rosuvastatin) in primär niedrigster
Dosierung ausprobiert werden, um eine optimale Therapie zur Verhinderung kardiovaskulärer
Ereignisse zu finden. Die Wahrscheinlichkeit für Unverträglichkeiten steigt mit der Dosis. Die stärkste
LDL-Senkung wird mit der niedrigsten Dosis erzeugt, jede Verdoppelung der Dosis führt nur zu einer
weiteren Senkung des LDL um 6% („rule of six“). Eine Kombinationstherapie mit Ezetimib oder
Nikotinsäure sollte in diesem Fall schon bei niedriger Statindosis erfolgen.
Liegt eine homozygote familiäre Hypercholesterinämie vor oder sollte die oben genannte Therapie bei
Pat. mit bekannten kardiov. Ereignissen das LDL nicht in den Zielbereich unter 100 mg/dl (das Lp(a)
nicht unter 60 mg/dl) bringen und eine Progredienz dokumentiert sein, bleibt nur noch die Möglichkeit
das LDL- und/oder das Lp(a) durch eine „selektive Blutwäsche“, die Lipidapherese, zu senken. Da
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dieses Verfahren bei den Pat. alle 7-14 Tage lebenslang durchgeführt werden muss und über 1000
Euro pro Anwendung kostet, bleibt es wirklich nur als letzte Möglichkeit der Therapie.
Bei Chylomikronämiesyndrom mit Triglyzeriden > 1000 mg/dl ist einmalig eine Plasmapherese zur
akuten Senkung der Triglyzeride indiziert.
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