akklimatisation
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HUNDESPORT AKKLIMATISATION Wie 30 Minuten die Beziehung zu deinem Hund verändern können Text: Chrissi Schranz D as Wort Akklimatisation oder Akklima tisierung ist dir vielleicht schon im biolo gischen Kontext begegnet – etwa die Akklimatisation des Organismus an den Höhenunterschied. Wer schon einmal auf Meeresniveau in ein Flugzeug und auf 3.500m Seehöhe wieder ausgestiegen ist, hat Akklimatisation im physischen Sinne sogar schon am eigenen Körper erfahren: Plötzlich ist dir schwindlig, jeder Schritt ist anstrengend, und die ersten paar Tage möchtest du eigentlich nur schlafen. Dennoch wird es mit jedem Tag, den du in den Bergen verbringst, besser, und schließlich fühlst du dich so fit wie eh und je: Dein Körper – genauer gesagt dein Atem- und Herzminutenvolumen, der Sauerstoffaustausch deiner Alveolen und Lungenkapillaren und deine Hämoglobin-Bindungskurve – hat sich an die veränderten Bedingungen, in diesem Fall einen niedrigeren O2-Partialdruck, angepasst, also akklimatisiert. Psychologische und emotionale Akklimatisation Wir können aber auch im psychologischen und emotionalen Sinne von Akklimatisation sprechen – und diese Art der Akklimatisation interessiert uns heute. Sie findet zum Beispiel jedes Mal statt, wenn wir auf einer Fortbildungsveranstaltung einen unbekannten Seminarraum voller fremder Menschen betreten: Manchen von uns reichen die 10 Sekunden, die wir brauchen, um vom Eingang bis zu einem noch freien Sessel im vorderen Drittel des Seminarraums zu 58 YOUR DOG MAGAZIN 05/2016 gehen, und schon fühlen wir uns in dieser für uns neuen Umgebung wohl. Andere wiederum kommen gern zehn Minuten früher, um die anderen SeminarteilnehmerInnen aus sicherem Abstand zu taxieren, festzustellen, wo das nächste WC ist, und sich einen Sessel in der Nähe des Ausgangs zu sichern. Sie brauchen diese 10 Minuten Vorlaufzeit, um sich in einem neuen Raum voller neuer Menschen wohlzufühlen. Wieder andere kommen ebenfalls 10 Minuten früher, aber nicht etwa, um sich mit den Bedingungen des Raumes vertraut zu machen, sondern um die eigene Neugier zu stillen, mit neuen Menschen ein Gespräch zu beginnen, sich einen gratis Fruchtsaft zu holen und möglichst viele Freebies – ganz gleich ob Kugelschreiber, Hundefutter-Proben oder DVDs – einzustreifen. Wie dem auch sei, nach unserem jeweiligen Vorlauf-Ritual sind jedenfalls alle von uns bereit, dem Vortrag zu lauschen und sich das eine oder andere zu merken. Wir sind entspannt, konzentriert und aufnahmefähig. Während wir uns selbst ganz selbstverständlich Zeit zum Akklimatisieren geben, ist nur wenigen bewusst, dass auch unsere Hunde enorm von einer solchen Vorlaufzeit profitieren können. Wenn sie an einen neuen oder auch vertrauten Ort kommen, an dem sie schon länger nicht gewesen sind – etwa ein Trainings-Gelände, wo du mit ihnen üben willst – strömt eine Vielzahl an Eindrücken auf sie ein. Da vorne hat jemand einen Zaunpfahl markiert, hier hinten ist vor ca. 2 Stunden eine läufige Hündin durchgegangen, dort ist ein Maulwurfshügel, vor der YOUR DOG MAGAZIN 05/2016 59 HUNDESPORT häufig für ihr Interesse an der Umwelt gestraft wurden, dass sie sich nicht mehr trauen, es zu zeigen – sie sitzen mit leicht geduckter Körperhaltung schicksalsergeben neben ihren Menschen. Und da sind jene anderen Hunde, die am Ende der Leine hängen, kläffen oder ziehen und mit dem Kopf überall sind, nur nicht beim Menschen am anderen Ende der Leine, der sich vergeblich bemüht, seinen Hund mit „Sitz! Sitz! Sitz! Sitz! Na geh, jetzt sitz doch endlich! Sitz! Sitz!“ in die gewünschte Position zu manövrieren, sodass sie ihm dann ein Leckerli ins Maul stopfen können. Manchen von ihnen gelingt es vielleicht, den Hund mit Leckerli vor der Nase dazu zu bewegen, seinen Hintern zu senken - aber wenige Sekunden später steht er wiederum und ist mit dem Kopf ganz woanders. Ja, und dann gibt es die Hunde – die wirklich seltenen! –, die aus dem Auto aussteigen und sofort bereit sind, für ihren Menschen zu arbeiten. Lass mich wiederholen: Das sind Ausnahmen, nicht die Regel, und nur weil dein Hund wesentlich größeres Interesse an der Umwelt zeigt als diese Ausnahme, bist du weder ein/e schlecht/e TrainerIn noch ist dein Hund stur oder gar dumm – er ist ganz einfach ein Hund, der viele Interessen hat. Eins davon bist du, ein weiteres ist die Umwelt. Das ist weder gut noch schlecht, sondern ganz natürlich. Warum wir Hunden nicht erlauben, sich zu akklimatisieren A-Wand hat jemand ein Keks verloren, und da hinten flattert ein Obstsackerl im Wind. Vögel zwitschern, es riecht nach einem Hund, der verdächtig an den Erzfeind erinnert, und dort hinten in der Ecke sitzt ein Mann auf einem Sessel – sehr bedenklich, dass er sich nicht bewegt! Huch, was war das? Der Wind trägt einen Hauch von Katze auf mich zu! Das ferne Rauschen des Verkehrs wird von der Sirene eines Einsatzfahrzeugs unterbrochen. Dort in der anderen Ecke steht eine Hütte. Was da wohl drinnen ist? Und an den Baum hier haben schon mindestens fünf vor mir gepinkelt. Das sollte ich mir näher ansehen ... Akklimatisation von Hunden Hunde, die aus dem Auto steigen und sofort immer und überall bereit sind, mit der Aufmerksamkeit 60 YOUR DOG MAGAZIN 05/2016 ganz bei dir zu sein und für dich zu arbeiten, sind eine Ausnahme – genauso wie die Menschen, die sich immer und überall, in jeder neuen Gruppe und an jedem neuen Ort, auf Anhieb pudelwohl fühlen. Ja, wir Menschen arbeiten hart daran, diesen Eindruck zu erwecken, weil er uns besonders selbstbewusst scheinen lässt – aber wenn wir ganz ehrlich zu uns sind, brauchen selbst die meisten extrovertierten Menschen an neuen Orten und mit neuen Menschen zumindest ein paar Sekunden, um sich zurechtzufinden. Anders als wir haben unsere Hunde keinen Grund, sich zu verstellen – wenn sie das Bedürfnis haben, sich mit ihrer Umgebung zu befassen, sei es aus Neugier oder um sich zu vergewissern, dass von dem am Hang parkenden Rasenmähertraktor keine Gefahr ausgeht, dann tun sie das zumeist ganz einfach, sofern wir sie nicht daran hindern: Sie akklimatisieren sich, denn das ist die natürlichste Sache der Welt. Nun, in der Welt der Hundesports und sogar in der Welt der sanften Erziehung ist es leider so gar nicht üblich, unseren Hunden zu erlauben, ihrem Bedürfnis, erst mal die Lage zu checken, nachzugehen. Ob wir nun Kadavergehorsam erwarten und an der Leine rucken, sobald unser vierbeiniger Gefährte aus dem Auto gesprungen ist, oder als sogenannte positive Trainer einfach nur die Leine kurz nehmen und genervt die Augen verdrehen („Zuhause ist er so brav, und unterwegs ist er immer so schlimm!“) – das Resultat ist in jedem Fall ein Hund, der seinem grundlegenden Bedürfnis nach Akklimatisation nicht nachgehen kann. Wir ziehen den Hund hinter uns her auf den Platz und machen uns an die gemeinsame Arbeit – etwas, das ich zum Beispiel in Hundesportclubs immer wieder sehe. Da sind jene Hunde, die bereits so Die gute Nachricht ist: Auch, wenn dein Hund großes Interesse an der Umwelt zeigt, kannst du einen fleißigen und aufmerksamen Trainingspartner haben – und das ist gar nicht so schwer, wie es vielleicht klingt. Bevor ich dir eine Strategie verrate, die dir zur Aufmerksamkeit deines Hundes verhilft, lass uns erst mal unter die Lupe nehmen, warum es unüblich ist, Hunden zu erlauben, sich zu akklimatisieren, wie wir das selbst machen, indem wir 10 Minuten vor Seminarbeginn eintreffen und erst mal die Lage sondieren. Manche von uns kommen gar nicht auf die Idee, dass unsere Hunde Akklimatisationszeit brauchen könnten. Andere meinen, der Hund müsse immer für uns arbeiten – zumindest immer dann, wenn wir uns am Hundeplatz oder Trainingsgelände befinden. Je nach Persönlichkeit von Mensch und Hund führt das zu einem kleinen oder sogar sehr großen Konflikt: Der Wunsch des Menschen („Konzentrier dich auf mich!“) steht dem Wunsch des Hundes („Ich muss mir dieses Plastiksackerl aus der Nähe ansehen!“) entgegen. Egal, welche Entscheidung der Hund YOUR DOG MAGAZIN 05/2016 61 HUNDESPORT Den Weg zum Miteinander finden Vielleicht sagst du jetzt: „Schön und gut – aber mein Hund ‚will‘ ja nicht mit mir arbeiten! Er findet die Umwelt viel spannender!“ An dieser Stelle kommt das Prinzip der Akklimatisation ins Spiel. Deinem Hund Gelegenheit zu geben, sich seine Trainingsumgebung in Ruhe anzusehen, bevor du Konzentration und Aufmerksamkeit verlangst, kann Wunder wirken – genau wie alle oben beschriebenen Menschentypen aufnahmefähig sind, wenn der Vortrag beginnt, wird das auch dein Hund sein, wenn du ihm ausreichend Gelegenheit bietest, sich zu akklimatisieren, bevor du Konzentration von ihm verlangst. Je nach Hundepersönlichkeit und den Gegebenheiten vor Ort sieht die geeignete Akklimatisationsstrategie unterschiedlich aus. In einem späteren Beitrag wollen wir uns mit unterschiedlichen Persönlichkeiten befassen – vorerst aber schlüssle ich die Akklimatisationsstrategien anhand unterschiedlicher Situationen auf. 1. Am eingezäunten Hundeplatz Sollte vor deiner Stunde kein anderer Kurs stattfinden, kannst du versuchen, mindestens (!) 30 Minuten früher zu kommen und deinen Hund einfach am Trainingsplatz frei laufen zu lassen. Du forderst ihn nicht auf, sich mit dir zu beschäftigen, du rufst ihn nicht und lenkst ihn nicht mit Futter oder Spielzeug 62 YOUR DOG MAGAZIN 05/2016 In diesem Fall kannst du deinen Hund schlecht selbstständig das Gelände erforschen lassen. Trotzdem gibt es Möglichkeiten, ihn zu akklimatisieren. Wiederum kommst du mindestens 30 Minuten vor Kursbeginn. Wandere mit deinem Hund in seinem Tempo um den Kursplatz. Wo er stehen bleiben und schnüffeln will, bleibt ihr stehen. Will er weitergehen, geht ihr weiter. Will er die Hunde im Platz beobachten, lässt du ihn sie beobachten. Visuelle Typen werden eher schauen, nasengesteuerte Typen eher schnüffeln, geräuschsensible Hunde den Kopf in die Richtung der runterknallenden Wippe drehen. All das ist okay. Dein Hund entscheidet, worauf er sich konzentrieren will. Du folgst ihm nur. Wann immer er Blickkontakt zu dir sucht, lobst du ihn und lässt ihn gleich darauf wieder entscheiden, wie er weitermachen will. Zeigt er dir, dass er bereit zur Arbeit ist, indem er mit seiner Konzentration bei dir bleibt, kannst du bereits erste einfache Übungen abfragen und reich belohnen, bevor der Kurs begonnen hat. Wenn er, nachdem ihr den Platz schließlich betreten habt, wiederum von der Umwelt abgelenkt ist, erlaube ihm, ein wenig rund um dich zu schnüffeln oder die Welt und die Kurskollegen zu betrachten. Gib ihm die Zeit, die er braucht, bis er sich selbstständig von der Umgebung ab- und dir zuwenden kann – erst dann verlangst du Aufmerksamkeit von ihm. ab. Du bist sein stummer Begleiter; beobachte ihn einfach nur dabei, wie er den Platz erkundet. Wenn er dir Augenkontakt schenkt oder kurz vorbeiläuft, sag ihm, dass er ein guter Hund ist. Hab Geduld. Der Platz ist eingezäunt. Früher oder später hat dein Hund alles erkundet, was es zu erkunden gibt, und wird zu dir zurückkommen, vor dir sitzen oder dich sonstwie zur Interaktion auffordern. Jetzt bist du bereit, die eigentliche Trainingseinheit zu beginnen. Dein Hund hat seine Neugier gestillt oder seine Sorgen beruhigt und ist jetzt an einem Punkt angekommen, an dem er bereit ist, dir seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist gut möglich, dass du, indem du ihm die Möglichkeit gegeben hast, die Arbeit einzufordern statt dazu „gezwungen“ zu werden, einen wesentlich enthusiastischern, kooperativeren Partner hast als üblich. 2. Trainingsgelände ohne Zaun Ist dein Trainingsgelände nicht eingezäunt, zieh deinem Hund Geschirr und eine 3-5 m lange Leine an. Ja, jetzt darf er auch ziehen. Wir sind nicht im Arbeitsmodus, sondern im Akklimatisationsmodus. Wiederum empfehle ich dir, mindestens 30 Minuten vor Kursbeginn am Trainingsgelände zu sein. Du gehst vor wie in Punkt 1 beschrieben, nur dass du diesmal deinem Hund an der Leine folgst. Wieder ist deine Aufgabe, deinem Hund die Führung zu überlassen, ihn nicht zu rufen oder abzulenken. Wenn er sich nach dir umdreht oder Blickkontakt sucht, lobst du ihn kurz und folgst ihm dann wieder. Erlaube ihm, das gesamte Trainingsgelände ausführlich zu erkunden, stoppe ihn aber an der Grenze. Du hast also ein klar definiertes Akklimatisations- und Erkundungsgebiet, innerhalb dessen dein Hund alles erforschen darf, was er will. Da du verhinderst, dass er aus dem Trainingsgelände rausspaziert, wird ihm auch bei dieser Methode früher oder später langweilig werden. Er hat alles erforscht, was ihn interessiert, festgestellt, das hier keine Monster lauern, und ein wenig aufgestaute Energie abgebaut, indem er sich frei bewegen durfte. Setzt er sich vor dich hin oder bleibt in deiner Nähe und sieht dich an, sagt er dir, dass er bereit zum Arbeiten ist. Jetzt erst beginnt dein Training, und wie in Beispiel 1 kann es gut sein, dass du diesmal einen ganz besonders tollen Partner an der Seite hast – einen, der sich von sich aus für das Training entschieden hat. 3. Am Trainingsgelände findet vor deiner Einheit ein anderer Kurs statt 4. Du nimmst an einem Hundesport-Event teil Fotos: www.istockphoto.com/yourdog trifft – er kann gar nicht gewinnen: Entweder arbeitet er für den Menschen, kann aber sein eigentliches Bedürfnis, nämlich die eigene Neugier zu stillen bzw. die eigene Unsicherheit zu besiegen, indem er feststellt, dass das unheimliche Ding kein Monster ist, nicht befriedigen. Oder er versucht, zu der Ablenkung hinzulaufen, und erntet Widerstand und Missbilligung seitens seines Menschen. Das Problem dabei? Ein Hund, der mit dir arbeitet, weil er muss, wird niemals sein volles Potenzial ausschöpfen. Indem du einen Konflikt zwischen dem Wunsch des Hundes und deinem Wunsch schaffst, erodierst du eure harmonische Arbeitsbeziehung und verbindest das gemeinsame Training mit Stress. Ein Hund, der mit dir arbeitet, weil er will, ist andererseits eine helle Freude. Du und dein Hund, ihr wollt beide dasselbe – miteinander trainieren. Und indem ihr diesem gemeinsamen Wunsch nachgeht, schaffst du positive Assoziationen zur gemeinsamen Arbeit und baust eine noch bessere Beziehung auf, als ihr sie ohnehin schon habt. Hier gilt dasselbe wie unter Punkt 3 beschrieben: Komm frühzeitig und gibt deinem Hund die größte am entsprechenden Veranstaltungsort mögliche Freiheit, euren Turnierplatz selbstständig zu erkunden, bevor du strukturierte Verhaltensweisen verlangst. Für Hunde, die besonders großes Interesse an der Umwelt haben, bietet es sich sogar an, ihnen im eigenen Garten ein wenig Zeit zu geben, sich zu akklimatisieren, bevor du zu üben beginnst: In der Nacht sind Katzen, Eichhörnchen, Igel und Mäuse durchs Gras gehuscht, ein Nachbar hat eine leere Bierdose über deinen Zaun geworfen, am Komposthaufen liegen frische Eierschalen und im Morgentau riecht das feuchte Gras besonders toll ... All das ist okay. Wenn du morgens ins Büro kommst und plötzliche neue Bilder an den Wänden hängen, würdest du diese auch erst in Ruhe betrachten, bevor du dich vor den Computer setzt. Gib deinem Hund die Zeit, die er braucht, um sich zu akklimatisieren. Und dann arbeite mit einem Partner, der mit dir üben will, statt das zu müssen! Du wirst sehen – es fühlt sich ganz anders an! YOUR DOG MAGAZIN 05/2016 63