Wenn Dinge sich verändern

Transcrição

Wenn Dinge sich verändern
Mitarbeiterhilfe
3.2010
Wenn Dinge
sich verändern
Ihr gedachtet es böse zu machen … >>>
Wie im richtigen Leben! >>>
Brüche inklusive >>>
Eine Frage der Ver-Bindung >>>
Zum Scheitern programmiert? >>>
Mitarbeiterhilfe
Inhalt
1
Brief der Schriftleiterin
>>> biblisch
2
Norbert Held
Ihr gedachtet es böse zu machen …
1.Mose 37–50
6
Dr. Harald Jung
Das Weizenkorn, das in die Erde fällt …
Johannes 12,20–26
12
Doris Reichmann
Wie im richtigen Leben!
Lukas 15,11–32
>>> grundsätzlich
16
Holger und Nicolas Noack
Brüche inklusive
21
Florian Karcher
Eine Frage der Ver-Bindung“
>>> informativ
24
Dr. Jürgen Schott
Die fünf Säulen der Identität
29
Cornelia Götz-Kühne
Zum Scheitern programmiert?
34
Wiebke Buff und Martin Drogat
Vom Umgang mit Brüchen und Abschieden
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
>>> praktisch
38
Maren Schob
Erwachsen werden im Glauben
42
Dr. Beate M. Weingardt
Mit Brüchen leben – über Brüche reden
45
Jan-Paul Herr
Wie halten wir die Spannung aus?
49
Gabriele Hunold
Wenn Dinge sich gewaltsam verändern
Vo r w o r t
>>> Liebe Mitarbeiterinnen
und liebe Mitarbeiter,
zu viel der Krisen, zu viele Brüche!
Diese Ausgabe ist übervoll geworden – statt
eines Vorwortes, ein Segenswort:
In die Lichtblicke deiner Hoffnung
und in die Schatten deiner Angst,
in die Enttäuschungen deines Lebens
und in das Geschenk deines Zutrauens
lege ich meine Zusage:
ICH bin da.
In das Dunkel deiner Vergangenheit
und in das Ungewisse deiner Zukunft,
in den Segen deines Wohlwollens
und in das Elend deiner Ohnmacht
lege ich meine Zusage:
Ich bin da.
In die Enge deines Alltags
und in die Weite deiner Träume
und in die Kräfte deines Herzens
lege ich meine Zusage:
Ich bin da.
In das Glück deiner Begegnungen
und in die Wunden deiner Sehnsucht,
in das Wunder deiner Zuneigung
und in das Leid deiner Ablehnung,
lege ich meine Zusage:
Ich bin da!
Mit freundlicher Genehmigung
In die Fülle deiner Aufgaben
und in deine leere Geschäftigkeit,
in die Vielzahl deiner Fähigkeiten
und in die Grenzen deiner Begabung
lege ich meine Zusage:
Ich bin da.
© Paul Weismantel, Domvikar, Bistum Würzburg
Mit herzlichen Segenswünschen – auch im
Namen des Redaktionskreises
Ihre / Eure
Gudrun Meißner
Redakteurin der Mitarbeiterhilfe
[email protected]
>>>>>>>
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
In das Spiel deiner Gefühle
und in den Ernst deiner Gedanken,
in den Reichtum deines Schweigens
und in die Armut deiner Sprache
lege ich meine Zusage:
Ich bin da.
1
biblisch
Ihr gedachtet es böse zu
machen ...
Die Josefsgeschichte: 1. Mose 37–50
Der Satz „Gott lässt dich nicht fallen“ löst bei den Menschen sehr unterschiedliche
Reaktionen aus. Je nach den Erfahrungen, die ein Mensch gemacht hat, fällt das Echo aus:
von „na und“ über „hoffentlich“, „wirklich?“ bis zu „bestimmt“ sind die verschiedensten
Kommentare denkbar. Offensichtlich verläuft das Leben in der Gegenwart Gottes nicht
gradlinig. Auch nicht bei Josef.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
>>>>>>
2
Leben auf dem Boden der Verheißung
– aber: Wo ist Gott?
Die Geschichte des Josef beginnt in einem
„christlichen Elternhaus“. Er wächst auf als
Sohn Jakobs und seiner Mutter Rahel, die dann
aber schon bald bei der Geburt Benjamins stirbt.
Jakob ist einer der „Großen“ Israels. Sein Name
wird immer mit genannt, wenn von Gott gesprochen wird: „Es ist der Gott Abrahams, Isaaks
und Jakobs.“ Jakob ist einer, an den Gott sich
bindet, mit dem zusammen er genannt wird,
mit dem er Geschichte macht. Jakob kämpft mit
Gott um einen besonderen Segen (1.Mose 32)
und erhält von Gott als Zeichen dieses Segens
einen neuen Namen: Israel. Dieser, sein neuer
Name, wird dann später sogar der Name des
ganzen Volkes.
Die Segenslinie geht offensichtlich auf Josef
über. Er hat im Herzen von Jakob und dann
auch im alltäglichen Umgang eine besondere
Stellung. Seine Träume deuten sein besonderes
Selbstbewusstsein und seine Berufung an.
Die Erwartung, dass der Segen Gottes auch
in seinem Leben sichtbar wird – in Glück und
Wohlstand – ist mit Händen zu greifen.
biblisch
Aber in seinem Leben ist nichts davon zu
sehen. Was schief gehen kann, geht schief.
Sein Leben und sein Verhalten erscheinen
wie eine Horrorvorstellung für das „christliche
Elternhaus“ und die Segenslinie Gottes.
> Josef petzt die Bosheiten der Brüder bei
Jakob (37,2)
> Die besondere Liebe des Vaters zu Josef erzeugen Eifersucht und Hass der Brüder (37,4)
> Josef wird von der Arbeit als Hirte verschont
und bleibt zu Hause, während die Brüder auf
dem Feld sind (37,12–13)
> Die Brüder schmieden Mordpläne und
verkaufen Josef schließlich als Sklaven an
durchreisende Kaufleute (37,18.27)
> Gegenüber dem Vater täuschen die Brüder
einen Unfall vor und betrügen Jakob (37,31–33)
Von einer Segensspur Gottes, seinem Handeln,
ist in dieser Geschichte nichts zu sehen. Im
Gegenteil: Gott spielt keine Rolle. Er kommt
in dieser Geschichte nicht vor. Im ganzen
Kapitel 37 wird Gott nicht erwähnt. Im Haus
der Verheißung und trotz einer besonderen
Berufung geht im Leben des Josef alles bergab
– und Gott scheint abwesend und unbeteiligt.
Leben auf der Achterbahn – aber Gott
Die Geschichte geht so weiter, wie sie begonnen hat – allerdings mit einigen auffälligen
„Aber“.
Das erste „Aber“ geht schief. Ruben, als ältester
Bruder plant er die heimliche Rettung aus der
Hand der Brüder – aber sie kommen ihm zuvor
(37,22).
Ein zweites „Aber“ (37,36) deutet an: „Es hätte
schlimmer kommen können.“ Joseph wird
von den Kaufleuten in Ägypten an Potifar,
den Kämmerer des Pharao verkauft. Bestimmt
gab es deutlich unattraktivere Einsatzorte für
hebräische Sklaven.
Ab Kap. 39 spielt plötzlich auch Gott wieder
eine Rolle. Er verbirgt sich hinter dem „Aber“.
Gleich viermal taucht jetzt die Wendung „denn
der Herr war mit Josef“ auf (2.3.21.23). Dennoch:
Auch dieses „Aber“ bügelt das Leben des Josef
nicht glatt. Die Achterbahnfahrt geht weiter.
In Potifars Haus:
Dass Gott mit Josef ist, hat spürbare Auswirkungen für ihn und seine Umgebung. Er bekommt
eine Vertrauensstellung, steigt vom Sklaven zum
Diener Potifars auf. Das Leben gelingt wieder;
was er anpackt, glückt ihm. Aber die Frau Potifars
ist gegen ihn. Auch wenn Gott mit ihm ist, gibt
es für Josef jetzt kein sorgen- und versuchungsfreies Leben. Er muss Entscheidungen treffen
und die Konsequenzen tragen. Gott nimmt ihm
diese Last nicht ab. >>>
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Für den späteren Beobachter ist dies eine
spannende Lebensgeschichte mit Happy End.
Aber wie geht es Jakob und Josef mit Gott?
Wie geht es Menschen in ähnlichen Situationen
ohne das Überblickswissen bis zum Ende der
Geschichte? Kann man an das Handeln Gottes
glauben, wenn man von allen verraten und
verkauft ist?
3
biblisch
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
4
Im Gefängnis:
Sogar über seinem Gefängnisaufenthalt steht,
dass Gott mit ihm war. Und es wiederholt sich,
was wir schon kennen: Die Nähe Gottes und die
Probleme des Alltags schließen sich nicht aus.
Fast scheint es, als schlössen sie Freundschaft
miteinander. Josef erhält wieder eine Vertrauensstellung; er steigt vom Gefangenen zum Mitarbeiter mit Aufseherfunktionen. Er wird für zwei
seiner Mitgefangenen zum Glücksfall. Aber „der
oberste Schenk dachte nicht mehr an Josef“ (40,21).
Für zwei weitere Jahre ist Josef vergessen und
abgeschrieben.
bei Potifars Frau (39,9) und im Gefängnis (40,8)
– seine Entscheidungen mit der Gegenwart Gottes.
Auch wenn seine bisherige Lebensgeschichte
etwas ganz anderes auszusagen scheint: Josef
rechnet auch jetzt noch mit der Wirklichkeit
und Nähe Gottes.
Beim Pharao
Nach zwei Jahren in der Vergessenheit bringt
Verzweiflung im Haus des Pharao plötzlich und
unerwartet Licht in Josefs Zelle. Der Pharao hat
geträumt und niemand kann ihm seine Träume
deuten. Da erinnert sich der Schenk wieder an
die Erfahrung mit Josef im Gefängnis. So wird
er gerufen und dem Pharao als bewährter Traumdeuter präsentiert. Doch der zögert und rückt
die Maßstäbe zurecht: „Das steht nicht bei mir;
Gott wird jedoch dem Pharao Gutes verkündigen“ (41,16). Der Vergessene hat auch jetzt Gott
nicht vergessen. Trotz der bisherigen Lebenserfahrungen begründet Josef erneut – wie schon
Das Leben deuten – mit Gott
Gott wird in der Tiefe erfahren. Er ist ein
Alltags-Gott. Deshalb kommt auch der
Sonntagsglaube schon mal ins Schwimmen.
Viele wünschen sich mehr Tiefe und weniger
Oberflächlichkeit im Leben. Aber: Mehr Tiefe
gewinnt das Leben in der Tiefe.
Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat
es einst so formuliert: „Das Leben muss nach
vorn gelebt werden – aber man kann es nur
im Rückblick verstehen.“
Alles Erleben unterliegt unserer Deutung.
Was ist ein glückliches Leben? Was ist Fürsorge,
Bewahrung? Wann bin ich gesund? Wann war
ich erfolgreich? Es gibt keine allgemein und
allzeit gültigen Maßstäbe für die Beantwortung
dieser Fragen. Wir bewerten und deuten unser
Leben.
Wie aber deuten wir unser Leben?
Josef deutet und erklärt sein Leben aus
der Perspektive Gottes:
Bei der Geburt seiner Söhne
Josef nutzt die Namensgebung seiner beiden
Söhne, um sein eigenes
bisheriges Leben zu beschreiben. Seinem Erstgebornen gibt er den Namen
Manasse; denn, so sagt er,
„Gott hat mich vergessen
lassen all mein Unglück“
(41,51). Dem zweiten Sohn
gibt er den Namen Ephraim;
und zwar mit der Begründung: „Gott hat mich
wachsen lassen in dem
Land meines Elends“
(41,52).
Leben ohne Schatten · Text: Jürgen Werth · Melodie: Johannes Nitsch
© 1988 SCM Hänssler, 71087 Holzgerlingen
Die Versöhnung
Noch ist die Unsicherheit bei den Brüdern
nicht weg. Nach dem Tod ihres Vaters befürchten sie die Rache des jetzt mächtigen
und berühmten Bruders. Noch einmal stellt
Josef klar: „Ich bin unter Gott. Ihr gedachtet
es böse zu machen, aber Gott gedachte es gut
zu machen“ (50,20).
biblisch
Vor seinen Brüdern
Als er sich vor seinen Brüdern zu erkennen
gibt, deutet Josef sein bisheriges Leben nicht
als eine Folge der Bosheit seiner Brüder, sondern als Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes:
„… um eures Lebens willen hat mich Gott vor
euch hergesandt“ (45,5).
Die Lebensgeschichte des Josef hilft, die Umwege
und Irrwege des Lebens zu sehen. Sie müssen
nicht verschwiegen oder verharmlost werden.
Sie können benannt und ausgesprochen werden
(„ihr gedachtet es böse zu machen“). Aber Josef
gelingt es, diese Wege im Licht Gottes als Wege
seiner Führung anzunehmen. Die Verheißung
Gottes über seinem Leben hatte Bestand, ohne
dass dadurch jedoch sein Leben sanft und glatt
wurde. Brüche, Irrwege und Umwege sind Teil
dieses Lebens. Eigene und fremde Schuld bleiben
nicht ohne Folgen, aber stellen das Ziel und die
Gegenwart Gottes nicht in Frage.
• Norbert Held
56 Jahre, verheiratet, fünf Kinder, seit August 2009
Inspektor des Evangelischen Gemeinschaftsverbandes Hessen-Nassau; vorher Bildungsreferent und
Generalsekretär im CVJM-Landesverband
Sachsen-Anhalt
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Seine Träume
Bei der ersten Begegnung mit den Brüdern in
Ägypten erinnert sich Josef doch noch einmal
an seine Träume (42,9). Überrascht stellt Josef
fest, dass Gott die Träume doch noch verwirklicht – selbst nachdem das Leben jahrelang in
eine ganz andere Richtung gelaufen ist und
Josef keine Chance hatte, bei der Verwirklichung der Träume nachzuhelfen.
5
biblisch
Das Weizenkorn, das in die
Erde fällt ...
Vom Umgang mit Krisen · Johannes 12,20–26
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
1. Die Herrschaft Gottes – zum Greifen
nah?
6
Gott wird sein Reich neu aufrichten, in Jerusalem!
Das große Ziel ist unmittelbar vor Augen – es liegt
zum Greifen nah. – Die Texte der Evangelien sind
uns schon lange so vertraut, wir kennen längst
den weiteren Verlauf der Ereignisse, sodass wir
leicht in der Gefahr stehen, den Blick zu verlieren
für die außergewöhnliche Dramatik der Geschehnisse.
Wie anders muss der atemberaubende Gang
der Ereignisse sich im unmittelbaren Erleben
der Menschen dargestellt haben, die mit ihrem
eigenen Leben mitten im aktuellen Geschehen
standen. Versuchen wir für einen Augenblick,
uns etwa die Perspektive des Philippus zu vergegenwärtigen.
>>>>>>
Er war ein Mann der ersten Stunde, einer der
ersten Freunde des Mannes, der zur Hoffnung
Israels geworden war. Seine erste Begegnung
mit Jesus liegt dabei noch gar nicht sehr lange
zurück. Durch den „Täufer“ Johannes, die charismatische Prophetengestalt, dem er in die
Wüstengegend am Jordan gefolgt war, war er
auf Jesus aufmerksam geworden. Es war um die
Zeit, als Johannes verhaftet wurde. Was hatten
sie seitdem gemeinsam erlebt!
Sie hatten den gefunden, „von dem Mose und
die Propheten“ geredet hatten, so hatte er seinem Freund Nathanael berichtet. Sie hatten
Skepsis und Unglauben erlebt – und Wunder
und Zeichen. Nach bescheidenen Anfängen im
entlegenen Galiläa war eine große Bewegung
gewachsen! Die Mächtigen in Jerusalem waren
Krisen – das sind schmerzhafte Prozesse. Projekte
scheitern, Träume – sterben. Das sind keine Kleinigkeiten.
Ganz sicher nicht dann, wenn wir durch sie
hindurchgehen; nicht für den, der sie durchlebt.
Sicher haben wir die Erfahrung gemacht, dass sich
manches im Rückblick anders darstellt. Wir sind
gewachsen an Krisen, sind gereift. Wir sind durch
schmerzhafte Erfahrungen hindurch, durch Verluste und Abschiede stärker geworden. Wir haben
tiefere, wertvolle Verständnisse gewonnen, können dankbar sein für Erfahrungen, die wir uns
vorab sicher nicht gewünscht hätten. Ja, wir wären wohl ohne diese,
>>> Wir sind
vielleicht ohne gerade diese schwie- gewachsen
rigen Abschnitte in unserem bisan Krisen,
herigen Leben, wären auch ohne
sind gereift.
die schweren Aspekte, die uns bis
tief in unsere Persönlichkeit treffen, uns in unserem Innersten erreichen und berühren, nicht die
geworden, die wir sind.
Waren sie nötig für unser Werden? Jedenfalls sind
sie Teil geworden unserer Geschichte und unserer
Identität.
Sind Krisen also das: schmerzhafte aber notwendige, letztlich wertvolle Durchgangsstationen
unseres Lebens hin zu Größerem, Reiferem,
Bleibendem? Müssen wir uns von Altem, von
Vergangenem oder doch Vergehendem trennen
– auch schweren Herzens vielleicht, aber doch
entschlossen – um zu Neuem aufbrechen zu
können? Gilt es, hinter uns zu lassen, wo möglich auch in Dankbarkeit, aber doch mit mutigem
Blick nach vorn, was seine Zeit hatte, um uns
öffnen zu können für das, was werden soll und
was uns aufgegeben ist? >>>
biblisch
2. Krisen und Chancen
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
aufmerksam geworden, die religiösen Autoritäten der „Priester-Aristokratie“ am Tempel,
der „König“ Herodes und sein Hof. Aber auch
ihre Feindschaft hatte ihnen nicht geschadet,
ihre Mordkomplotte würden Jesus (und sie mit
ihm) nicht aufhalten können. Sie hatten Tote
auferstehen sehen, und nun war Jesus unter
dem Jubel der Volksmenge in der geheiligten
Hauptstadt eingezogen – als den König Israels
hatten sie ihn gefeiert, den, den Gott selbst
eingesetzt hatte! Eine neue Epoche brach an –
und sie waren mittendrin! Gott würde sein
Reich aufrichten in diesen Tagen – eine „Große
Zeit“!
Und jetzt war der Ruhm des Mannes aus der
galiläischen Provinz hinausgedrungen in die
Weite der zivilisierten – hellenistischen – Welt.
„Griechen“, interessierte Nicht-Juden, von
irgendwo aus dieser Welt zwischen Marseille
und dem fernen Indus, waren nach Jerusalem
gepilgert – und sie wollten diesen Jesus sehen!
Sie wenden sich an Philippus. Hierher hatte
sie ihr Freund Jesus geführt, in den Mittelpunkt
des Weltinteresses! Nun würde es losgehen,
Jesus würde seine Herrschaft antreten als der
Erwählte und Gesalbte Gottes – und sie waren
mitten im Geschehen. Die Zeit ist reif! „Völker
der Welt – schaut auf diese Stadt ...“
Es wird nicht ganz deutlich, ob Philippus
die „Griechen“ zu Jesus bringt, wie damals
(vor vielleicht zwei oder drei Jahren) Nathanel,
ob es zu der Begegnung kommt oder ob das,
was folgt, Jesus nur an seine Jünger richtet.
Jedenfalls ist es nicht der Sieg seines neuen
Friedensreichs, das in diesen Tagen von
Jerusalem aus anbricht, von dem Jesus
nun redet – sondern er spricht: vom Sterben!
„Wir aber hofften, er sei es, der Israel ...“
(Lk 24) – verwirrende Wendung.
Ja, die Zeit ist reif! Reif, wie das Weizenkorn,
das nun in die Erde fallen soll, „begraben“
werden wird und sterben, damit es seiner
Bestimmung folgend Leben hervorbringt
– neues Leben.
7
Krisen und Stufen nach E. H. Erikson
biblisch
Stufe 1: Oralsensorische Phase; Urvertrauen
vs. Urmisstrauen (1. Lebensjahr)
Stufe 2: Muskuläranale Phase; Autonomie
vs. Scham und Zweifel (2. bis 3. Lebensjahr)
Stufe 3: Lokomotorisch-genitale Phase (Nach
Freud: Phallische Phase); Initiative vs.
Schuldgefühl (3. bis 6. Lebensjahr)
Stufe 4: Latenzphase; Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät)
Stufe 5: Pubertät und Adoleszenz; Identität
vs. Identitätsdiffusion (Jugendalter)
Stufe 6: Intimität vs. Isolierung (Frühes Erwachsenenalter)
Stufe 7: Generativität vs. Stagnation (Mittleres
Erwachsenenalter)
Stufe 8: Ich-Integrität vs. Verzweiflung (Hohes
Erwachsenenalter/Reife)
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Vielleicht auch das. Ja, darin ist wohl einiges
Wahre, meine ich: Unser Wachstum geht durch
Krisenprozesse hindurch, Entwicklungsphasen
beinhalten schmerzliche Abschiedsprozesse,
nicht immer leicht, aber notwendig und wertvoll.
Psychologische Entwick>>> Unser Wachstum lungstheorien haben den
geht durch Krisenganzen lebensgeschichtprozesse hindurch.
lichen Reifungsweg unseres
individuellen menschlichen
Lebens als ein immer neues
Hindurchgehen und Überwinden von Krisen
nachgezeichnet. Erik Erikson etwa beschreibt
das Leben als eine Abfolge zu durchlaufender
Entwicklungskrisen auf dem Weg zur stufenweisen Ausbildung unserer Identität von der frühen
Kindheit bis ins Alter, zwischen Urvertrauen und
-misstrauen, Autonomie und Zweifel, Initiative
und Schuld usw.
8
Altes müssen wir lernen, zurückzulassen, damit
Neues wachsen kann – nur so können wir leben
und nicht erstarren und ersticken.
Wer sein Leben – so wie es ist und wie er es kennt,
so, wie es bisher war – zu sehr liebt, wer es festhalten will und zu sehr daran hängt, um es loszulassen – der wird es verlieren.
Im dauernden Blick zurück – wird das Leben
zum Museum, erstarrt zur „Konserve“, die es
gerade nicht bewahrt. Das ist, so wahr und
nötig es ist, wenn wir es durchleben, und oft
auch, wenn wir uns wirklich daran erinnern,
keine Kleinigkeit! Wer es bagatellisiert – vielleicht weiß er nicht wirklich, wovon er redet,
oder er hat es sich vielleicht selbst im eigenen
Leben so verharmlost, um seiner besser Herr
zu werden.
Und doch ist das Teil unseres Lebens.
An vielen Stellen begegnen wir dem „Echo“
dieses Phaenomens. Unser Wirtschaftsleben
geht durch Krisen „schöpferischer Zerstörung“
(Schumpeter), die „Struktur wissenschaftlicher
Revolutionen“ (Th. S. Kuhn) geht durch die
Krisen überkommener, lange erfolgreicher
Paradigmen hin zu ganz neuen Modellen des
Verstehens. Pädagogen, Sozialpsychologen
und Ökonomen wissen davon, Unternehmensberater begleiten das „Change Management“
in Abteilungen und Konzernen. Es gilt: Krisen
als Chancen begreifen!
Und, wenn wir es philosophischer mögen,
findet nicht schon der „gelernte Theologe“
G. W. Hegel auf dem Höhepunkt des Philosophischen Idealismus, eben diese Dialektik
wieder auf dem Grund allen Lebens und Seins,
als ein Grundgesetz des Werdens und des
Geistes.
Und das Weizenkorn? Wenn es reif ist, wird es
in die Erde gelegt und begraben – damit eine neue
Pflanze aus ihm keimt und wächst. Sie bringt eine
Ähre voller neuer Weizenkörner hervor, reift – und
stirbt – erneut.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und
gesunde!
Hermann Hesse (1942)
aus: Hermann Hesse, sämtliche Werke, Bd. 10:
Gedichte © Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main
2002. Mit freundlicher Genehmigung.
„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe – bereit
zu Abschied sein und Neubeginne“, schreibt
Hermann Hesse in einem seiner bekanntesten
Gedichte. Leicht ist das sicher nicht. Es ist ein
ernster Schmerz, der die Hoffnung des Lebens
begleitet. Und doch wohnt, schreibt er tröstend, jedem Anfang auch „ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben“.
„Wohlan denn Herz, nimm Abschied – und
gesunde.“
3. „Krankheit zum Tode“
„Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe – bereit
zum Abschied sein und Neubeginne, um sich
in Tapferkeit und ohne Trauern - in andre, neue
Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt
ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns
hilft zu leben.“ Wirklich?
biblisch
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Ist das denn wahr?
Ist wirklich jeder Abschied auch ein Neubeginn,
birgt jedes Sterben, jeder Tod wirklich schon aus sich
heraus den Keim zu neuem, tiefrem Leben in sich?
Ich selbst bin da nicht ganz so sicher. Es ist schon
wahr, dass es zum Leben gehört, in Krisen zu reifen und zu wachsen. Es ist wahr, dass es in manchem Abschied, in mancher Krise gilt, den Blick
nicht zu verlieren für die Chancen, die darin
liegen – mutig den Augenblick zu ergreifen für
Neues.
Und auch das ist richtig, dass wir nicht selten
in Gefahr stehen, festhalten zu wollen, was sich
nicht festhalten lässt. Dass wir manches Mal –
schmerzlich aber auch heilsam – werden lernen
müssen, etwas aus der Hand zu geben, um frei
zu sein für Neues. Und auch umgekehrt, manche
Freiheit, manche Ungebundenheit in der Vielfalt
der Optionen, einer Welt voller Möglichkeiten,
aufzugeben, eine konkrete Möglichkeit zu ergreifen und damit all die andern zu verwerfen, hinter
sich zu lassen, damit eine wirklich Wirklichkeit
wird.
Und auch das kann schmerzvoll sein, voller Ungerechtigkeit gegen
die ausgeschlagene
>>> Es gibt die Erfahrung,
Möglichkeit. Eine
dass wir durch den Verlust
Erfahrung von Verhindurch müssen, um zu
lust und – ja – von
gewinnen.
„Sterben“. Und doch
unvermeidlich, um
des Lebens willen.
Es gibt die Erfahrung, dass wir durch den Verlust
hindurch müssen, um zu gewinnen, dass wir das
Leben durch das „Sterben“ hindurch erlangen
müssen – und es ist nicht irgendeine, zufällige
Erfahrung, es birgt eine tiefe Wahrheit. Und es
kann einen richtigen Trost bieten und einen
wichtigen, hilfreichen Hinweis: Übersieh nicht
das Neue! >>>
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
9
biblisch
Aber ist das die ganze Geschichte – holt das
schon all den Verlust, all das „Sterben“ ein,
dass wir erleben?
Gibt es nicht auch das andere in unserem Leben?
Den schrecklichen, sinnlosen Verlust, in dem
kein neues Leben liegt. Was ist mit der schweren
Krankheit eines hoffnungsvollen kleinen Kindes,
die wie aus dem Nichts hereinbricht, und durch
Lebensgefahr hindurch schwere Behinderung als
Belastung des jungen Lebens zurücklässt? Was ist
mit einem geliebten Menschen, den wir viel zu
früh durch einen grotesken Unfall verlieren?
Ist jeder unwiderrufliche Abschied, jede zerbrochene Familie und auch jedes Unrecht wirklich
„vor allem Chance“?
Ist es tatsächlich so vergleichsweise „harmlos“
mit unserem Sterben und Scheitern, mit Schuld,
Verlust und Tod – alles nur ein „Wachsen“?
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
4. „Ich habe den Tod überwunden“
10
Manches haben Menschen „überlebt“. Da wird
ein naher Mensch in einem absurden Amoklauf
von einem anderen mit in den Tod gerissen.
Da verunglückt erst der Mann in jungen Jahren
– und dann, nach den ersten Narben die gemeinsame Tochter. Ein anderer erfährt, wie sein
Partner in einer tückischen Demenzerkrankung
versinkt, sich mehr und mehr verliert. Es gibt
viele Verlusterfahrungen, die Menschen – vielleicht – tragen und ertragen können, aber eine
Verletzung bleibt, eine offene Frage. Da geht es
nicht darum, den Verlust „als Chance zu begreifen“, sich zu öffnen für neues Leben, das darin
keimt.
Es gibt jedenfalls, meine ich, begründete Zweifel
daran, ob wirklich jeder Abschied auch zugleich
umstrahlt wird vom „Zauber eines neuen Anfangs“, ob wirklich schon im Sterben selbst die
Kraft verborgen liegt zu neuem Leben. Der Tod
selbst ist, glaube ich, nicht schon die Quelle und
das Geheimnis des Lebens. Und wie ist es mit
dem Weizenkorn, von dem Jesus spricht?
Sagt er uns das nicht zu, dass, wer sein Leben
festzuhalten versucht, es verlieren wird, dass
aber der, der es verliert und aufgibt, dass der
es wirklich gewinnt, neu und unzerstörbar?
(V. 25) Ja, das sagt er uns zu. – ER.
Nicht der Tod ist die Quelle des Lebens, nicht
unser Verlust verbürgt den Gewinn von Neuem.
Und auch der Tod des Weizenkorns – er ist
nicht immer fruchtbar. Jesus gebraucht auch
dieses Bild ja öfter. Und wenn wir an den Sämann denken (Mt 13,1 ff.; Mk 4, 1 ff.; Lk 8, 4 ff.)
– manches kann auch unter die Dornen fallen,
oder auf felsiges Land – und Weizenkörner
können auch zermahlen und gegessen werden.
Aber in allem Sterben und in allem Verlust
ist ER uns vorausgegangen. Sein Sterben war
nicht „unfruchtbar“. Der so unerwartete, für
Philippus und die anderen Jünger so schockierende Tod ihres Freundes Jesus Christus hat
nicht das letzte Wort behalten – und auch
in unserem Leben darf und wird er es nicht.
Auch da nicht, wo es uns so scheint. Nicht,
weil es das Geheimnis allen Sterbens wäre,
dass wir mutig hindurchmüssen zum Leben.
Auch, wenn uns das durchaus begegnet! Auch
da, wo es uns diese Antwort verschlägt, ist auch
unser Verlust von IHM getragen – in einer Weise,
die wir noch nicht wirklich verstehen – die wir
vielleicht nur ahnen können, und manchmal
auch das überhaupt nicht.
Was Jesus uns hier sagt, in der „Krise“ seines
Lebens in Jerusalem, das ist mehr als ein Dialektisches Prinzip allen Lebens. Das ist selbst
Noch ein paar Fragen für die eigene
Bearbeitung:
> Erinnern Sie sich, wo sie den Tag des Falls der
Mauer erlebt haben? Können Sie sich erinnern,
wie Sie das damals wahrgenommen haben?
Können Sie sich vorstellen, wie Sie es erlebt
hätten, wenn die Ereignisse plötzlich eine
erschreckende Wendung genommen hätten,
etwa wie wenige Monate vorher in China?
> Wo und wie haben Sie die Nachricht vom
Anschlag in New York am 11. September 2001
erfahren?
> Können Sie sich vorstellen, dass große, wichtige
neue Aufbrüche, von denen Sie vielleicht wissen
– und die Sie vielleicht beeindruckt oder bewundernd vor Augen haben – als erschreckende Krisen
und schlimme Verlusterfahrungen begonnen
haben?
> Kennen Sie Verluste, vor deren Anblick Sie
lieber schweigen würden, wo Ihre Deutungen
und Lösungen nicht zu etwas Gutem und Fruchtbaren führen?
biblisch
der Anfang neuen Lebens! Wir sehen es nicht
immer. Manchmal bleibt es tief verborgen – auch
in unserem Leiden, im Verlust, in Abschied und
Sterben. Wir können
dankbar sein, wo wir
>>> Gott sagt uns zu,
es sehen. Wir müssen
dass wir vieles sehen
werden, was uns noch nichts verbiegen, wo
uns das nicht gelingt.
verborgen ist.
Gott sagt uns zu, dass
wir vieles sehen werden, was uns noch verborgen ist, dass auch dort neues Leben sein wird,
wo wir nichts davon verstehen. Sein Leben
trägt und umgreift uns auch da, wo wir das
Leben verloren haben.
Diese große Krise steht allem, was ist, noch
bevor.
> Können Sie sich – ohne darüber reden zu müssen – Situationen vorstellen, in denen Sie eigene
Schuld erfahren (haben), die sich nicht korrigieren lässt – die Sie sich nur vergeben lassen können
im Blick auf eine Heilung, die jenseits Ihrer Möglichkeiten liegt und die Sie nicht sehen können?
Stufen, aus: Hermann Hesse, sämtliche Werke, Bd. 10: Gedichte,
© Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 2002. Mit freundlicher
Genehmigung.
• Dr. Harald Jung
Ökonom und Theologe, promovierte an der
Univ. Neuchâtel (Schweiz). Ab 2002 war er
Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie
und Ethik in Jena und arbeitet heute als Dozent
in Bad Liebenzell und in der Personalentwicklung
> Gibt es vielleicht auch solche Situationen,
die Sie gar nicht als das wahrgenommen
haben? Könnten Sie von daher ein anderes
Licht gewinnen?
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
> Erinnern Sie sich, dass Ihnen Krisen begegnet
sind, in denen für Sie wichtige neue Aufbrüche,
Anfänge, Chancen verborgen waren, sodass
sich die Krise im Rückblick v. a. als ein wichtiger Gewinn darstellt – bei Ihnen selbst, oder im
Leben anderer?
11
biblisch
Wie im richtigen Leben!
Das Gleichnis vom verlorenen, älteren Sohn
Lukas 15,11–32
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
>>>>>>
12
Das kommt mir bekannt vor!
Im Fokus diesmal: der ältere Sohn.
Ansprüche stellen und Beziehungsbruch, schuldig
werden und Versöhnung, vergleichen und über
andere urteilen, Leistung und Einsatz, weiße Weste
und Selbstgerechtigkeit, eingeladen werden und
sich ausschließen … Die Liste ließe sich fortsetzen.
Der Text nimmt uns in eine Geschichte hinein,
die von zwei Menschen in Krisen berichtet.
Jesus erzählte das Gleichnis „Vom verlorenen
Sohn“ in der Hoffnung, dass die Hörer sich selbst
in der einen oder anderen Szene entdecken. Ob
es damals gelang? Ob es heute gelingt?
Zu dieser „Geschichte vom barmherzigen
Vater“, wie ich sie lieber nenne, gibt es im
Neuen Testament mehrere Parallelen, z. B. das
Gastmahl, zu dem Levi in seinem Haus einlädt
in Mk 2,15–17 oder in Lk 18,9–14 das Gleichnis
vom Pharisäer und Zöllner, die zum Beten in
den Tempel gehen.
In allen drei Texten geht es um die Liebe Jesu
zu den Sündern und die Gefahr, für seine
eigene Bedürftigkeit und Schuld blind zu sein.
So sind die eigentlichen Adressaten die „älteren
Söhne“, die „Rechtgläubigen“, die Pharisäer
und Schriftgelehrten, die sich schwer tun mit
der Botschaft Jesu.
Hat der Ältere nicht allen Grund, auf den jüngeren Bruder und auf den Vater sauer zu sein?
Wie konnte der Vater nur so schnell „alles gut
sein lassen“? War die Reue des Bruders denn
echt? Wollte er sich wirklich ändern? Sollte er
das nicht erst einmal zeigen?
Und dann das Fest. Das hatte der Jüngere nicht
verdient.
Der Vater schien vergessen zu haben, dass er
auch noch einen älteren Sohn hatte.
Solche und ähnliche Gedanken mögen dem
Älteren durch den Kopf gegangen sein.
Der Neid des Älteren ist so gut zu verstehen.
Er ist so menschlich.
Hätte der Vater ihn nur mal vor dem Fest aufgesucht
und gefragt! Was möchte der ältere Sohn dem Vater
sagen? Der Vater setzt sich in die Mitte des Kreises.
Er hört still zu, was die TN (als älterer Sohn) ihm
sagen.
Für den Älteren „ist nicht alles gut“.
Er wird zornig und greift den Vater an.
Seine Worte sind voller Selbstgerechtigkeit.
Im Gespräch mit dem Vater nennt er seinen
Bruder „dein Sohn“. Damit bringt er zum
Ausdruck, dass er sich nicht nur von seinem
Bruder, sondern auch vom Vater distanziert.
Er stellt sich selbst außerhalb der Familie hin.
Die Vorwürfe treffen den Vater. Der Schuldige
ist gefunden. >>>
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Um die Geschichte in ihrer Tiefe zu verstehen,
brauchen die TN Zeit, sich die Gefühle des älteren
Bruders zu vergegenwärtigen.
Frage: Welche Sätze über den Bruder gehen dem
älteren Sohn vermutlich durch den Kopf? Danach
die Gefühle zu den Sätzen suchen. Sätze und
Gefühle sichtbar aufschreiben. Möglich: Je zwei
Personen „modellieren“ aus einer dritten Person
ein Standbild zu einem Satz/einem Gefühl.
Oder: In der Mitte des Kreises steht ein leerer Stuhl.
Die TN sagen, was sie über den jüngeren Sohn
denken.
biblisch
Schauen wir den älteren Sohn in der Geschichte
an. Er war dabei, als der Jüngere seine Ansprüche
stellte und der Vater ihn auszahlte. Er blieb zu
Hause. Er arbeitete fleißig, war pflichtbewusst
und gehorsam, er machte lauter Dinge, die gut
und richtig waren. Mit seiner Arbeit wollte er
dem Vater dienen. Er setzte sich ein und das
kostete seine Zeit und Kraft.
Wenn er sich mit dem Jüngeren verglich,
spürte er, dass er besser dastand. Die Schuld
des Jüngeren lag auf der Hand: Es war ungehörig, so mit dem Vater umzugehen, dazu
verschwendete er das Geld, seine Zeit und
sein Leben. Dieses Fehlverhalten hatte etwas
Eindeutiges für ihn.
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biblisch
Was steckt hinter der Anschuldigung
und dem Zorn?
Ein Vater mit zwei verlorenen
Söhnen!
Sieger Köder hat die Geschichte unter dem Titel
„Der verlorene Sohn“ gemalt.
Das Bild eignet sich gut für eine Bildbetrachtung.
Der jüngere Sohn liegt in den Armen des Vaters.
Der Vater hält ihn und er hält sich am Vater.
Der Ältere steht etwas abseits und schaut auf die
Szene. Seine Hände sind verschlossen; es sieht
aus, als würden sie die Verschlossenheit gegenüber dem Bruder und das Ringen in ihm selbst
spiegeln.
Auf dem Bild von Sieger Köder tragen die Söhne
das gleiche blaue Gewand.
Der Jüngere hat erkannt, dass er dem Vater
nichts mehr zu bieten hat als seine gescheiterte
Existenz. Und er spürt nun, dass er es nicht verdient hat, „Sohn im Hause des Vaters“ zu sein.
Der Ältere steht in seiner Selbstgerechtigkeit
noch im Abseits.
Ob sich hinter dem Zorn der Neid auf den jüngeren Bruder verbirgt? Solches Ansehen durch den
Vater zu erleben, das hätte ihm zugestanden,
doch nicht dem jüngeren, gescheiterten Sohn.
Die Freude des Vaters über die Heimkehr des
Sohnes findet bei ihm keine Resonanz. Sein
selbstgerechtes, stolzes und herzloses Wesen
bricht aus ihm heraus. Die Krise konfrontiert
ihn mit einer Seite in ihm, die ihm vielleicht
bisher noch nicht bewusst war.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Kennen wir ähnliche Gedanken, deren wir uns
schämen? In Krisenzeiten können wir uns mit Seiten
in uns konfrontiert sehen, die wir bisher noch nicht
kannten. Je nach TN Zeit zur Besinnung geben, evtl.
leise Musik spielen lassen. Zettel und Stifte bereithalten, wenn jemand etwas für sich aufschreiben
möchte.
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Ob hinter dem Neid auch eine verborgene Sehnsucht liegt? Er versucht ja alles zu tun, um seinen
Stand und Status als Sohn zu rechtfertigen.
Er weiß, wie ein Sohn sich zu verhalten hat und
was er zu tun hat. „Seinen Dienst“ tut er mit aller
seiner Kraft. Er präsentiert sein Leben vor dem
Vater und hofft, dass seine Leistung vom Vater
anerkannt wird.
Dem Jüngeren ist der Vater entgegengelaufen,
als er auf dem Weg nach Hause war. Auch dem
Älteren kommt der Vater entgegen. „Da ging
der Vater heraus zu ihm und bat ihn“ (hereinzukommen). In diesen Worten steckt die ganze
Liebe des Vaters. Er gibt dem Älteren die Chance
zum Aufbruch aus seiner Verschlossenheit.
Er gibt ihm Gelegenheit zum Reden und hört
sich die Anschuldigungen an. Zorn und Neid
kommen ans Licht. Auch der bisher nicht genannte Wunsch nach Feiern und Fülle wird
ausgesprochen.
Keinem der Söhne macht der Vater Vorhaltungen – so ist der Vater. In Liebe lädt er den
Älteren ein, das Fest und die Freude mit dem
Jüngeren zu teilen.
Erst in der Krise wird das Herz des Älteren
offenbar. Es wird sichtbar, dass ihm die Liebe
zum Bruder fehlt und er ihm keine Barmherzigkeit gönnt. Sein Urteilen, Verurteilen, sein
Richten und „gerechter sein wollen als der
Vater“ zeigt sein hart gewordenes Herz. Sein
Nicht-teilnehmen-wollen am Fest macht sichtbar, dass er eigentlich außerhalb steht. So wird
seine Wirklichkeit sichtbar.
Die TN können während der BA ganz in der
Geschichte bleiben. So ist es leichter, seine eigenen
Anteile zu finden und sich ihnen zu stellen.
Auch Jesus hat seinen Hörern diese Chance der
Identifikation über die Beispielgeschichte gegeben.
Zum Abschluss bietet sich eine Blitzlichtrunde an:
Was ist mir aufgefallen/ was ist mir wichtig geworden? Jede/r kann mit einem Satz antworten.
Dabei ist es möglich, in der Geschichte oder bei
sich selbst zu sein.
biblisch
Bisher hat der Ältere sich nichts schenken
lassen. Er war gefangen in seinem Streben nach
Tadellosigkeit und Leistung („So viele Jahre
diene ich dir; noch nie habe ich ein Gebot
übertreten …“). Er wollte sich seinen Stand
verdienen. Er gehörte zur Familie und lebte
doch neben dem Vater her. Er kannte das Herz
des Vaters nicht wirklich. So lebte er auch an
der Fülle, die im Vaterhaus Gottes ist, vorbei.
Der Vater lädt ihn ein, sich beschenken zu
lassen („Alles was mein ist, das ist dein.“).
Literatur:
Artikel von Alex Lefrank SJ, Zwei Weisen der Schuld
aus Korrespondenz zur Spiritualität der ExerzitienHeft
43/44, 1979
Nenri J. M. Nouwen: Nimm sein Bild in dein Herz,
Freiburg im Breisgau 1991, 17. Auflage
• Doris Reichmann
54 Jahre, Ausbildung Gemeindepädagogin,
tätig als CVJM-Kreissekretärin in Lippe
Beide Söhne brauchen die Liebe des Vaters.
Der ältere wie der jüngere leben aus der Barmherzigkeit des Vaters, der sie Sohn sein lässt.
Für beide ist es wesentlich, dass sie eine neue
Identität finden: Ein Leben aus Gnade und
Erbarmen.
Ob die Krise im Leben des Älteren zur Wende
wird? Manche schweren Umstände, manche
mit menschlichem Maßstab wahrgenommene
Ungerechtigkeit enthüllen die geheimen
Regungen (positive wie negative Gefühle)
unseres Herzens. Krisen, in denen wir uns
selbst erkennen, werden so zu Chancen.
Die Wüstenväter wussten: Ohne Selbsterkenntnis ist keine Gotteserkenntnis möglich.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Ein TN setzt sich als älterer Sohn in die Mitte und
die TN gehen in die Rolle des Vaters. Was will der
Vater dem Älteren sagen?
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grundsätzlich
Brüche inklusive
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Ein Plädoyer für ein nur fast perfektes Leben
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„perfekt“ – ein Modewort: ein perfektes
Lächeln, ein perfekter Körper, ein perfekter
Tag. Wünsche klammern sich daran fest,
Hoffnungen, Erwartungen. Ein Wort, wie
für die Werbung geschaffen: anziehend,
unbemerkt manipulierend, wertsetzend.
„perfekt“ – ein bedrohliches Wort:
Es legt fest. Schränkt ein. Verhindert
Entwicklung. Es verführt dazu, nur zu
bewahren, was man erreicht hat. Vorsicht!
Das Streben nach Perfektion kann das Leben
beschädigen, gerade weil das Wort so fesselnd
und die Gefühle so anziehend sind. Das Dunkle
im Leben wird als Abwesenheit von Sinn gedeutet,
das Unvollkommene als Makel empfunden – und
Brüche als Beschädigung des Lebens überspielt.
Was perfekt ist, kann, ja darf sich nicht weiterentwickeln – was sich entwickelt, kann nicht
perfekt sein. Doch das Leben ist nicht eine Linie,
wie mit dem Lineal gezogen, sondern ist durchsetzt von Brüchen, von denen manche gut verheilen und nur als kleine, markante Bruchlinien
erkennbar sind, während andere sichtbar und
manchmal auch schmerzhaft bleiben.
>>>>>>
Die Brüche im Leben zu überspielen, führt
dazu, das Unbequeme
>>> Die Brüche im
zu verdrängen und die
Leben zu überspielen,
Entwicklungsmöglichführt dazu, das Unbekeiten darin zu überqueme zu verdrängen
sehen. Manche Brüche
und die Entwicklungssind dabei unvermeidmöglichkeiten darin
lich, weil sie zum
menschlichen Entzu übersehen.
1. Um-bruch: Leben ist Entwicklung
1.1 Entwicklung ist unvermeidlich – Brüche sind es
auch
Entwicklung findet immer statt. Sie ist kein
Prozess mit Anfang und Ende, sondern ein Teil
unseres gesamten Lebens.1 Trotzdem stellt sie
sich in den verschiedenen Phasen unseres
Lebens immer wieder anders dar. Sie besitzt
Schwerpunkte, wie in der Pubertät, an dem sie
das Leben komplett auf den Kopf stellt – und
Phasen, in denen Entwicklung gar nicht wahrgenommen wird, obwohl sie stattfinden.
>>> Brüche schaffen Veränderungen und sind damit
eine wichtige Möglichkeit
zum persönlichen Wachstum.
Dabei stellen
sich die Situationen mit den
meisten Veränderungen/ den
meisten Brüchen als die für die Entwicklung
einflussreichsten heraus: Nur dort, wo sich
etwas verändert – etwas Altes endet und etwas
Neues beginnt – kann es zu einer Entwicklung
kommen. Entwicklung setzt voraus, dass sich
etwas geändert hat – Brüche schaffen diese
Veränderungen und sind damit eine wichtige
Möglichkeit zum persönlichen Wachstum.
Man muss nur diese Möglichkeiten nutzen:
Wer sich eingesteht, dass es eine Diskrepanz
gibt zwischen früher und jetzt (zwischen den
1.2 Drei Schritte
Zuerst: die Realität erkennen
Der erste, vielleicht wichtigste Schritt ist, den
Bruch als solchen zu erkennen und sich mit ihm
auseinanderzusetzen. Denn nur wer den Bruch
annimmt und sich um eine Lösung der Situation
bemüht, hat die Chance, die sich bietenden
Möglichkeiten zu nutzen. Wer den Bruch ignoriert, hat nicht nur mit den Folgen (Stillstand,
Resignation oder Unzufriedenheit) zu kämpfen,
sondern bleibt unter seinen Möglichkeiten.
grundsätzlich
Auf alle diese Brüche reagieren wir unterschiedlich, und doch wieder typisch: Wir versuchen
die Brüche zu bewältigen, indem wir sie verdrängen oder in unser Leben integrieren. An
drei Bruch-Typen sollen die unterschiedlichen
Brucherfahrungen und unsere typischen
Reaktionen dargestellt werden – wobei sich die
Reaktionen oft in Ritualen verdichten, mit
denen wir die Brüche verarbeiten.
vertrauten und den neuen Lebenserfahrungen,
zwischen den bisherigen und den jetzt möglichen
Lebenskräften) kann sich bewegen und diesen
Lebensbruch als einen Schritt auf den Weg ins
Leben gehen. Jeder Entwicklungsbruch im Leben
hat einen Einfluss auf uns, aber dennoch ist
unser Verhalten in diesen Bruch-Erfahrungen ein
entscheidendes Kriterium dafür, wie wir diesen
Um-bruch bewältigen.
Dann: die Notwendigkeit akzeptieren
Der zweite Schritt: Diese Brüche sind notwendige
Ereignisse in diesem Lebensabschnitt. Die erste
eigene Wohnung z. B. schafft neue Freiräume,
bringt aber auch neue Pflichten mit sich. Um
ein unabhängiges Leben zu führen, sollte dieser
Bruch als entscheidende Erfahrung nicht ausbleiben. Wir brauchen diesen Bruch, der uns zwingt,
Selbstständigkeit zu lernen.
Schließlich: die Angst bewältigen
Doch trotz dieser Einsichten werden Brüche
immer auch Angst machen: die Angst vor dem
Neuen, die Angst, etwas zu verlieren, die Angst
vor dem Übergang. Diese Angst zu überwinden,
sich vom Status Quo zu lösen, ist der nächste,
wichtige Schritt. Wer akzeptiert, dass es nicht
so bleiben wird, wie es jetzt ist, sondern anders
wird, hat die Möglichkeit, das Neue zu gestalten
und für sich selbst zu nutzen. >>>
1 Die neuere Entwicklungspsychologie sieht das ganze
Leben als Abfolge von Entwicklungsschritten, während die
frühere Entwicklungspsychologie sich vor allem auf die Zeit
bis zum „Erwachsenwerden“ konzentrierte.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
wicklungsprozess gehören. Andere Brüche sind
nicht vorhersehbar, sondern brechen als
Probleme oder gar als Katastrophen in unser
Leben ein. Und es gibt Brüche, die durch uns
selbst entstehen – sie gehen von uns aus und
fallen, gleichsam von außen, wieder auf uns
zurück.
17
grundsätzlich
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
18
1.3 Übergänge sind hilfreich und gefährlich
Jeder Bruch bietet neue Möglichkeiten, die sich –
wie auch die Angst – aus dem Fehlen von Regeln
und Erfahrungen in dieser Situation ergeben.
Jeder Bruch ist anders und muss auf andere Weise
gelöst werden. Diese Freiheit schafft Kreativität,
die neue Wege aufzeigen kann und neue Verhaltensweisen fördert. Genau das macht aber Entwicklung aus: Etwas nicht so machen zu müssen
wie immer! Nicht mit altbewährten, angepassten
Methoden den immer gleichen Weg zu gehen
– sondern sich auf neue, überraschende Wege
zu wagen. Dabei kann man an sich neue Fähigkeiten entdecken und sich
>>> Jeder Bruch ist entwickeln.
anders und muss
auf andere Weise
gelöst werden.
Dabei bietet ein neuer Weg
nicht immer die Aussicht auf
Erfolg. Er kann zum Umweg
oder sogar zum Irrweg werden. Der erhoffte
Fortschritt entpuppt sich dann als Rückschritt.
Auch das wird durch die Freiheit der Situation
gefördert. Deshalb ist es umso wichtiger, diese
Möglichkeit zu akzeptieren und mit einzukalkulieren. Auch das bereitet Angst, aber es sollte uns
nicht entmutigen. Wir erleben Brüche, um zu lernen2. Wir lassen Altes hinter uns, um Neues zu
erhalten. Das macht Entwicklung aus.
1.4 Übergangsriten: Übergänge erleben
An den Um-brüchen unseres Lebens feiern wir
Rituale, die uns helfen, diese Um-brüche bewusst
zu erleben und sie zugleich als Teil unseres Lebens
zu integrieren. Diese Übergangsriten (rites des
passage) bestehen aus drei Phasen: der Ablösungsphase, in der wir uns deutlich von dem Alten,
Vertrauten trennen; der Zwischenphase, in der
wir sozusagen „in der Schwebe“ sind und in der
die Verunsicherung der Veränderung aufgefangen
wird; und schließlich die Integrationsphase, in
der das Neue angenommen und die neue Identität zugeeignet wird. Charakteristische Übergangsriten sind z. B. Konfirmation, Ehe, Taufe,
Verabschiedungen oder Aufnahmen in Gruppen.
2 Im Film „Batman begins“ fasst der Butler Alfred Bruce
Wayne (Batman) gegenüber diese Haltung pointiert zusammen: „Wir fallen, damit wir lernen, wieder aufzustehen“
Die Dreiteilung ist dabei der Schlüssel, denn
durch sie wird der Um-bruch markiert und
zugleich relativiert: Er wird zu einem erlebnisintensiven, aber auch in sich abgeschlossenen
Teil des Lebens.
2. Ein-bruch: kleine Dramen und
große Katastrophen.
2.1 Die kleinen „Dramen“
Der Streit unter Freunden, durch den die Freundschaft zerbricht. Der komplette Datenverlust
durch einen Virus. Der Verlust des Arbeitsplatzes durch die Wirtschaftskrise. Manche Brüche
– auch wenn sie unterschiedlich schwerwiegend sind – widerfahren uns gleichsam „von
außen“. Wir haben sie nicht direkt verursacht,
aber werden von ihnen bestimmt und oft auch
verletzt.
Solche Brüche gehören zu unserem Leben. Jeder
erlebt sie. Sie belasten uns, unabhängig davon,
ob sie sich angekündigt und wir uns darauf
eingestellt haben, oder ob sie völlig unerwartet
über uns hereinbrechen. Trotzdem sind wir
oft in der Lage, den Blick wieder nach vorn
zu richten.
2.2 Die größeren „Katastrophen“
Doch nicht alle Brucherfahrungen, die wir
machen, sind gleich Schritte auf dem Weg
unserer Entwicklung. Es gibt Brüche, für die
es keine Notwendigkeit, keinen Grund und
keine Lösung gibt. Solche Ein-brüche in unser
Leben zeigen uns unsere Grenzen auf: eine
Krebsdiagnose, ein Verkehrsunfall, eine Naturkatastrophe.
In unserem Leben werden wir mit solchen
Schicksalsschlägen konfrontiert. Sie hinterlassen Narben, aber sie geben uns auch einen
Einblick in uns selbst. In einer Situation der
Grenzenlosigkeit zeigen sich unsere eigenen
Grenzen. Aber bis wir diesen Punkt erreicht
haben, zeigen sie vor allem unsere Fähigkeiten
und Möglichkeiten, die durch unsere bisherige
vertraute, aber auch begrenzte Wahrnehmung
unseres Lebens verdeckt waren.
Der Anker kann sein Leben – und das der anderen – retten, weil der „Held“ nicht den bequemen, direkten Weg des „Schurken“ wählt, sondern bereit ist, für das, was ihn hält und was in
der Krisensituation herausbricht, einzutreten,
ja sogar dafür auch sein Leben einzusetzen. Die
Brüche, die der Film in Bilder und Geschichten
umsetzt, bewegen den Helden zu seinen Taten
– und schließlich auch den Zuschauer, sich mit
dieser Situation zu identifizieren.
3. Ab-bruch: Schuld und Vergebung
grundsätzlich
Dabei verlässt sich der Held oft auf einen Anker:
Werte und Moralvorstellungen, an die er sich
immer gehalten hat und die ihm geholfen haben.
Wie der Kriegsheld, der Menschlichkeit und
Kameradschaft über sein eigenes Wohl stellt.
Und wenn ich schuld bin? Wenn der Bruch in
meinem Leben nicht ein Um-bruch ist, der durch
die Lebensentwicklung ausgelöst wurde? Und
auch kein Ein-bruch äußerer Umstände und
Einflüsse? Was ist, wenn durch mein Verhalten
der Kontakt zu den anderen ab-bricht, ich mich
>>> Die Möglichkeit,
von ihnen isoliere, sie
schuldig
zu werden,
verletze – an ihnen
ist
der
Preis
der
schuldig werde? >>>
2.3 Als Beispiel: der Held in Filmen
In Filmen werden solche „Katastrophen“ oft
als Ausgangspunkt der Entwicklung gezeigt:
In diesen Situationen, in denen das Leben „auf
der Kippe steht“ entscheidet sich, wer ein Held
wird und wer nur Opfer ist. Denn es ist der
„Held“, der mit der Brucherfahrung am besten
umgehen kann. Oft macht er selbst gerade
einen Bruch in seinem Leben durch oder führt
ein von Schicksalsschlägen gebeuteltes Leben.
Es ist daher ein „Bruch-Experte“, der solche
Situationen kennt und sich anpassen kann.
Er ist damit vertraut, dass plötzliche, tragische
Ereignisse in der Lage sind, das ganze Wertesystem zu kippen: Sie schaffen Chaos ohne
Regeln und Ordnung; die typische Bruchsituation.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Gemeinschaft.
19
grundsätzlich
3.1 Wir können schuldig werden
Die Möglichkeit, schuldig zu werden, ist der Preis
der Gemeinschaft. Was wir tun – oder auch unterlassen – wirkt sich auf andere aus, beeinflusst ihr
Leben, beschränkt auch ihre Lebensmöglichkeiten. Gerade weil Gemeinschaft bedeutet, zu geben
und zu empfangen, wirke ich nicht immer nur
hilfreich auf andere ein, sondern auch schädigend
und bedrängend. Eine Gemeinschaft, die bestehen will, muss, in welcher Form auch immer,
die Problematik der Schuld und die Möglichkeit
der Vergebung thematisieren.
Schuld bedeutet immer auch, dass ich, wenn
ich andere verletze, selbst verletzt werde, wenn
ich andere schädige, nicht selbst unbeschadet
weiterleben kann, wenn ich die Beziehung abbreche, selbst isoliert werde.
Jeder Bruch mit dem ande>>> Jeder Bruch mit
ren wird zu einem Bruch
dem anderen wird
in meinem Leben.
zu einem Bruch in
meinem Leben.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
3.2 Rituale der Vergebung
Deshalb gibt es in allen
Kulturen Rituale der Vergebung. Gottesdienste,
in denen die Schuld zwischen den Menschen
auf Gott hin geöffnet wird und von ihm aus
Vergebung zugesprochen wird, die dann wieder
die Gemeinschaft erneuert.
20
Diese Rituale haben meist einen reinigenden
(kathartischen) oder ausstoßenden (elimina-torischen) Charakter3, d. h. die Schuld wird symbolisch „weggewaschen“ (durch Wasser oder auch
durch Blut), bzw. symbolisch aus der Mitte der
Gemeinschaft entfernt (durch einen wie auch
immer dargestellten Träger, wie den Sündenbock).
Schuld muss bewältigt werden, damit die Gemeinschaft erhalten bleibt. Unvergebene Schuld
lässt die Gemeinschaft – und letztlich auch den
Einzelnen – zerbrechen.
3 Im AT sind diese beiden Grundrichtungen sehr gut
im Ritual des großen Versöhnungstages (3.Mose 16) zu
erkennen. Das gesamte Ritual besteht aus zwei Teilen:
Zuerst wird das Heiligtum „gereinigt“ und anschließend
wird die Sünde des Volkes auf einen (Sünden-)Bock übertragen und anschließend mit ihm in die Wüste ausgestoßen.
4. Fazit: Auf-bruch – Leben reift durch
Brüche
Unser Leben ist auch von Brüchen bestimmt.
In ihnen bricht unser Leben auf – im doppelten
Sinne: die vertraute, bergende Form unseres
Erlebens bekommt Risse, die Geradlinigkeit,
die wir uns so gerne vorstellen, zerbricht.
Manches lässt sich wieder integrieren, anderes
bleibt bruchstückhaft und fragmentarisch.
Zugleich aber bricht unser Leben auch auf,
indem es sich weiterentwickelt, Neues sieht
und annimmt, Weite gewinnt und Perspektive
– und manchmal auch Tiefe.
• Nicolas Noack
Nicolas Noack, 20 Jahre, studiert Psychologie
in Köln, mag Filme und Filmmusik
• Holger Noack
52 Jahre, verheiratet, drei Kinder, nach dem
Theologiestudium Gemeindepfarrer, seit
1994 Bundesekretär für Mitarbeiterbildung
beim CVJM-Westbund
grundsätzlich
Eine Frage der „Ver-Bindung”
Brüche in der Biografie Jugendlicher aus sozialwissenschaftlicher Sicht
Ein Bruch im Leben
Julia ist 15 Jahre und lebt jetzt in Frankfurt. Ihr
Vater hat dort eine neue Arbeit bekommen und
die Familie ist umgezogen. Die Freunde, die
vertrauten Orte, die Klassenkameraden musste
sie mehrere hundert Kilometer zurücklassen
und steht jetzt ganz allein da.
>>>>>
Die Jugendlichen mussten Brüche in ihrem Leben
erfahren. Solche und andere Situationen verändern das Leben schlagartig. Was machen solche
Brüche mit Jugendlichen? Wie wirken sie sich
auf ihre Entwicklung aus und wie können sie
damit umgehen?
Auch für Ben (17 Jahre) ist jetzt alles anders.
Er ist mal gerne zur Schule gegangen und war
ein guter Schüler. Dann ist er ein Opfer von
Mobbing geworden und von Klassenkameraden
seelisch gequält worden. Nun hat er zwar die
Schule gewechselt, aber jeden Morgen ist wieder die Angst da und für gute Noten muss er
jetzt richtig kämpfen.
Modernes Leben fordert Flexibilität – gerade auch
von jungen Menschen. Sie müssen Veränderungen
aushalten und bereit sein, Gewohntes aufzugeben.
Dies gilt nicht nur für den Bereich von Ausbildung
und Beruf, sondern auch für soziale Bezüge und
emotionales Erleben. Zum einen sind es Wohnort- und Schulwechsel, Veränderung der familiären Situationen oder instabile Freundschaften
und Beziehungen, die Jugendliche aushalten
müssen. Zum anderen machen sie Erfahrungen,
die den eigenen Selbstwert in Frage stellen und
so eine emotionale Krise auslösen. Dies kann
sowohl die Erfahrung von körperlicher oder
seelischer Gewalt sein, aber auch das Versagen
in Schule und Beruf. >>>
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Flexibilität ist gefordert
Eine Veränderung musste auch der 13-jährige
Pascal erleben. Seit sich seine Eltern getrennt
haben, ist alles anders. Früher hat er seine
Mutter und seine Schwester täglich gesehen,
jetzt muss er zu Besuchen an das andere Ende
der Stadt fahren.
21
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
grundsätzlich
Diese „Brüche“ in der Biografie junger Menschen
gehören zum Leben dazu. Der Bruch ist Teil der
„Normalbiografie“ Jugendlicher. Flexibilität heißt in
>>> Brüche in der
diesem Zusammenhang,
Biografie junger
die Fähigkeit mit Brüchen
Menschen gehören umzugehen und sich mögzum Leben dazu.
lichst schnell auf die veränderte Situation einzustellen.
22
Brüche verändern die Normalität
Veränderungen sind von jeher typisch für die
Jugendphase und Pubertät. Körper, Denken, Umfeld und die eigene Persönlichkeit verändern sich
in dieser Zeit. Was jedoch unterscheidet einen Bruch
in der Biografie von normalen Veränderungen?
Der Bruch zeichnet sich dadurch aus, dass er in
die Normalität eines Menschen einbricht und
sie unwiderruflich verändert. Er ist dabei eine
einschneidende Veränderung der emotionalen
und sozialen Bindungen. Er ist in der Regel nicht
gewollt, wird als von außen plötzlich auf das Leben
einwirkend empfunden und stellt eine seelische
Belastung dar, die verarbeitet werden muss.
Jugendliche erleben Brüche in der Regel zunächst
als eine tiefe Krise, der sie hilflos gegenüberstehen.
Sie befinden sich in einer Phase, wo sie selbst
schon für sich und das eigene Leben verantwortlich sein wollen und
>>> Jugendliche erleben teilweise auch sollen,
Brüche in der Regel
es aber noch nicht
zunächst als eine tiefe
können. Daher führt
Krise, der sie hilflos
der Bruch insbesondere
gegenüberstehen.
Jugendliche die eigene
Hilflosigkeit vor Augen, was die emotionale
Belastung in einer solchen Situation verstärkt.
Die subjektive Wahrnehmung der einschneidenden Veränderung ist daher in der Regel deutlich
bedrohlicher, als eine Betrachtung der Sache
von außen. Sätze wie „Das haben andere Kinder
in deinem Alter auch geschafft“, kommen daher
nicht an und sind wenig hilfreich. Der Bruch
ist in der Wahrnehmung der Jugendlichen eine
Katastrophe.
Chance und Gefahr
Er erzeugt daher auch eine Situation von
Labilität und Instabilität der Persönlichkeit.
Die Flut oft widerstrebender Gefühle, das
Erleben von Hilflosigkeit, der Verlust von
Sicherheit und die Anforderung die neue
Situation zu beherrschen, erzeugen eine
Anfälligkeit und Verletzlichkeit bei jungen
Menschen. Der Bruch ist
>>> Entscheidend
daher zum einen eine
ist,
wie Jugendliche
Chance, gestärkt aus der
den Bruch in ihrer
Situation hervorzugehen,
Biografie verarbeisich weiter zu entwickeln
ten können.
und ein gereiftes Selbstbewusstsein zu bilden. Er kann aber auch eine
negative Entwicklung hin zu mehr oder weniger
schwerwiegenden Problemen (z. B. Selbstbewusstseinsprobleme, psychische Störungen, Aggressivität u. a.) nehmen. Entscheidend dafür ist,
wie Jugendliche den Bruch in ihrer Biografie
verarbeiten können.
Bindung im Jugendalter
Ein wichtiger Faktor bei der Verarbeitung eines
Bruches, der vor allem den Verlust von Sicherheit bedeutet, ist die Bindung. Unter Bindung
versteht man eine dauerhafte und stabile Verbindung zu ganz bestimmten Personen (insbesondere zu den Eltern), die nicht ohne weiteres
auswechselbar sind und deren Nähe und Unterstützung gesucht werden, wenn z. B. Furcht,
Trauer, Verunsicherung und Krankheit erlebt
werden. Die Bindungstheorie (nach deren Begründer John Bowlby) geht davon aus, dass
eine stabile Bindung ausschlaggebend für eine
gesunde psychosoziale Entwicklung des Menschen ist. Obwohl Bindung vor allem im (frühen)
Kindesalter entsteht, ist sie auch für die Jugendphase ein wichtiger Faktor. Neuere Forschungen
dazu zeigen z. B. auf, dass in der Phase der frühen und mittleren Pubertät Veränderungen des
Bindungssystems junger Menschen stattfinden
können.
Es kann also davon ausgegangen werden, dass
die Bindungserfahrung eines jungen Menschen
(die Bindungstheorie unterscheidet hier grob
zwischen sicher und unsicher gebundenen
Jugendlichen) entscheidend für den Umgang
In Zeiten, in denen – vermutlich unwiderruflich – Brüche zur „Normalbiografie“ von jungen Menschen gehören, brauchen Kinder und
Jugendliche stabile Beziehungen mehr denn je.
Nur solche Verbindungen ermöglichen eine
sichere Bindung und befriedigen ihr Grundbedürfnis nach Sicherheit, Annahme und
Stabilität. An erster Stelle sind hier sicherlich
die Eltern oder andere Erziehungspersonen zu
sehen. Aber auch die Jugendarbeit im CVJM
und der Kirche können helfen, dass Jugendliche für Krisenzeiten gefestigt sind:
1. Jugendarbeit braucht feste Bezugspersonen
Jugendarbeit vor Ort ist in erster Line Beziehungsarbeit. Jugendliche fühlen sich hier u. a.
deshalb wohl, weil sie hier in Beziehung zu
anderen stehen. Oftmals ist es auch der oder
die Hauptamtliche oder ein/e Gruppenleiter/in,
die eine wichtige Bezugsperson für Jugendliche
ist. Bei diesen Bezugspersonen ist es wichtig,
den Jugendlichen eine Kontinuität und Konstanz
zu bieten. Sie brauchen feste Ansprechpartner
und Bezugspersonen, die ihnen das Gefühl von
Sicherheit und Annahme vermitteln können.
2. Jugendarbeit hilft bei der Ver-Bindung zu Jesus
Christus
Im Glauben bietet Gott den Menschen eine
einmalige Chance zu einer lebenslangen,
stabilen und verlässlichen Beziehung, die
junge Menschen für das Leben stark macht.
Die Erfahrung vieler Christen ist, dass gerade
in Zeiten von Krisen und Brüchen diese
3. Jugendarbeit fördert Beziehungsfähigkeit
Viele junge Menschen erleben heute gescheiterte
Beziehungen. Darunter leidet oftmals die eigene
Beziehungsfähigkeit. Jugendarbeit ist darum
bemüht, Jugendlichen zu zeigen, was echte
Beziehungen sind und übt diese mit ihnen ein.
Auf Freizeiten, in Gruppen, in der Seelsorge oder
im alltäglichen Miteinander können sie erfahren,
worauf es in Beziehungen ankommt: Vertrauen,
Verbindlichkeit, Ehrlichkeit u. v. m. Für diese
Werte steht Jugendarbeit ein und lebt sie vor.
In der Begegnung mit der Bibel kann hier von
Gottes Ideen für gelingende Beziehungen profitiert werden.
grundsätzlich
Jugendliche brauchen stabile
Beziehungen
Ver-Bindung sich als besonders tragfähig erweist.
Jugendarbeit im CVJM und der Kirche hilft jungen Menschen, diese Beziehung zu erleben, sie
aufzubauen und zu gestalten.
Brüche gehören zum Leben Jugendlicher dazu.
Sie dürfen deshalb nicht unterschätzt werden.
Aus Sicht der Jugendlichen selbst ist jeder Bruch
eine ernste Lebenskrise. Durch stabile Bindungen
und Beziehungen werden Jugendliche stark, Brüche
auszuhalten und verarbeiten zu können.
Verwendete Literatur:
Krüger/Marotzski: Handbuch erziehungswissenschaftliche Biografieforschung, Wiesbaden 2006
Seiffge-Krenke/Lohaus: Stress und Stressbewältigung
im Kindes- und Jugendalter, Göttingen 2007
• Florian Karcher
28 Jahre, verheiratet, Dipl. Sozial- und
Religionspädagoge, promoviert zurzeit im
Fach Erziehungswissenschaften,
Jugendreferent beim CVJM Gütersloh
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
mit Brüchen ist. Die grundsätzliche Erfahrung
von Sicherheit und Annahme eines sicher gebundenen Jugendlichen wird ihm in der Phase
der Unsicherheit und des Umbruchs helfen
können, den Bruch in seiner Biografie zu verarbeiten. Bei Jugendlichen, die Defizite im
Bereich dieser grundlegenden Erfahrungen
haben, können (es darf an dieser Stelle nicht
verabsolutiert werden) diese dazu führen, dass
der Bruch eine problematische Entwicklung
nimmt.
23
informativ
Die fünf Säulen der Identität
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
>>>>>>
24
Je älter ich werde, umso wohler fühle ich mich
in alten, manchmal etwas ausgefahrenen, aber
berechenbaren Geleisen. Ich will wissen, was auf
mich zukommt, will Sicherheit. Ich kann auf Lebensumbrüche verzichten, versuche mich sogar
dagegen abzuschirmen durch Versicherungen,
Kapitalplanungen, Vorsorgeuntersuchungen und
dergleichen mehr. Ich mag keine einschneidenden Lebensumbrüche mehr. Und doch, sie lassen
sich nicht ganz vermeiden. Die Erdbeben in Haiti
und Chile haben uns das neu gelehrt. Irgendwo
im Untergrund gibt es tektonische Verschiebungen
und alles, was uns lieb und wert ist, wackelt, wird
rissig, bricht zusammen und bedroht unser Leben.
„Unsere Mutter Erde“, von Kindesbeinen an vertraut, auf die wir uns so selbstverständlich verlassen konnten, lässt uns plötzlich im Stich: Unser
Urvertrauen wird erschüttert. Was ist noch sicher
in diesem Leben?
Zum Leben gehören Umbrüche, manchmal zerstörerische Umbrüche, und erst nach Jahren sehen
wir, dass sie not-wendig waren, Voraussetzung
für neue Entwicklungen.
Es ist wichtig, dass wir für Krisen und Lebensumbrüche gewappnet sind. Dazu können
„Sanierungsmaßnahmen“ an den „Fünf Säulen
der Identität“ – vielleicht könnte man in diesem Zusammenhang auch von „Fünf Säulen
der Stabilität1“ sprechen – hilfreich sein.
Was versteht man unter den „Fünf Säulen
der Identität“? Sie gehen auf Hilarion Petzold
(Integrative Therapie, Gestalttherapie) zurück.
Er führt fünf Bereiche auf, die für unser Wohlergehen wesentlich sind. Sie werden von verschiedenen Autoren etwas modifiziert dargestellt:
> Körper und Leiblichkeit
> Beziehungen, soziales Netz
> Arbeit und Leistung
> Heimat / materielle Sicherheit
> Normen und Werte
1 (Stand)festigkeit, Beständigkeit
passieren: dass mein Leib oder der des Partners
zum Objekt meiner (oder meines Partners) Begierde wird und so in der Veräußerlichung landet.
Krisen ergeben sich in Umbruchzeiten: Pubertät,
Wechseljahre, Alter und besonders in schweren
oder gar unheilbaren Krankheiten, wenn mein
Leib „mich im Stich lässt“ ... „und ich davon
muss.“2
2. Beziehung und soziales Netz
Auf Martin Buber geht die Formulierung: „Der
Mensch wird am Du zum Ich“ zurück. Das ist
einleuchtend. Von Geburt an sind wir von einem
Gegenüber, von unserer Mutter abhängig. Ihr
Wohlwollen signalisiert uns Lebensberechtigung,
ihre Ablehnung macht uns manchmal lebenslang
zu schaffen. Ihre Bejahung bildet das Fundament
unseres Selbstwertgefühls: Das Ich wird am Du.
Wir sind in eine Familie hineingeboren.
Familiaritas (lat.) heißt „der vertraute Umgang“.
Noch „im reifen Alter von 67 Jahren“ merke ich,
wie der Familienclan mütterlicherseits mich mit
seinen Werten, Vorstellungen geprägt hat und
wie er mir bis heute eine gewisse Geborgenheit,
ein Gefühl der Zugehörigkeit und Akzeptanz vermittelt. Und nun lebe ich in meiner Familie mit
Frau, Kindern und Enkeln, eine Säule, die ich
nicht missen möchte.
Welche Beziehungen sind noch wichtig?
Die Beziehung zu Frau oder Mann, zum anderen
Geschlecht. Dreht man sich nach mir um, werde
ich begehrt, geliebt oder verkümmere ich als
„Mauerblümchen“? Begehrt werden tut gut und
noch mehr geliebt werden. „Ich bin wer!“
Das stabilisiert mein Selbstwertgefühl. – Und was
ist, wenn man sich nicht nach mir umdreht?
Wer oder was tröstet mich dann?
Freunde sind wesentlich. Freundschaft heißt:
gemocht sein um seiner selbst willen. Sie ist
eingebettet in Sympathie und Vertrauen.
Lebe ich in einer Gemeinschaft? Ich war bis zu
meinem Ruhestand in einer Gemeinschaftspraxis
als Arzt tätig. Wir kannten uns aus unserer Zeit in
der Studentenmission und bauten gemeinsam die
Praxisgemeinschaft auf. >>>
2 Psalm 39,5
informativ
Ich wähle statt Körper den Begriff Leib. Damit
ist mehr gemeint als der „biologische Apparat“.
Vielleicht drückt Johannes 1,14 am besten aus,
was damit gemeint sein könnte: „Und das Wort
ward Fleisch ...“ Ich bin leibhaftig da ... in meinem Körper. Im Begriff Leib ist ein Spannungsbogen enthalten: Ich bin Leib und ich habe
einen Leib („Ich bin krank“ – „Mein Körper lässt
mich im Stich“).
Ist mein Leib eine stabile Säule, dann fühle ich
mich in meiner Haut wohl.
Folgende Fragen gehen mir in diesem Zusammenhang durch den Sinn: Was braucht mein
Leib an Essen und Trinken, Bewegung, Ruhe
und Entspannung, Sinnesreizen und Genuss?
Was schadet ihm? Wo sollte ich Maß halten,
ihm nicht zu viel zumuten? Höre ich auf
Signale meines Leibes wie Ermüdung, Erschöpfung, Schmerz etc. und respektiere sie?
Mein Leib ist mein Freund, nicht mein Feind.
(Bei Magersüchtigen z. B. wird er zum Feind).
Bin ich mit meinem Aussehen zufrieden?
Wünschte ich mir „mehr Muckies“, eine
ansprechendere Figur, eine idealere Nase?
Ich denke an eine Frau mit einer – ihrer Meinung
nach – zu kleinen Brust. Dieses Problem beschäftigte sie eine Zeit lang Tag und Nacht,
es quälte sie. Sie empfand sich „unansehnlich“.
Besondere Schwierigkeiten bereiten uns Körperbehinderungen. Und doch kann ich nur in
meinem Leib zu Hause sein, wenn ich seine
Mankos akzeptiere. Ein oberflächliches Ja,
„weil sich das für einen Christen so gehört“,
hilft da wenig. Oft ist – wie bei anderen Verlusten – ein langer Weg unumgänglich: Auf
anfängliche Verleugnung folgen Auflehnung,
Resignation und Depression und schließlich
Akzeptanz. Auf diesem dornenreichen Weg
kann ein geduldiger Begleiter Balsam sein.
Zum Sich-in-seiner-Haut-Wohlfühlen gehört
eine erfüllte Sexualität, die Freude an einer
leibhaftigen Begegnung mit einem Gegenüber,
aus der, womöglich, neues Leben entspringt.
Ein lustvoller und konfliktbeladener Bereich:
Wie lebe ich meine Sexualität als „Single“, als
Homosexueller oder wenn mein(e) Partner(in)
nicht so will wie ich? (Ich habe da keine Patentantworten.) Eines allerdings sollte nicht
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
1. Leib
25
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
informativ
Ich fühlte mich da – trotz Unterschiedlichkeit
unserer Charaktere, trotz Auseinandersetzungen
– zu Hause, akzeptiert. Das gab Sicherheit, Rückenwind in mancher beruflichen Auseinandersetzung.
Brüche, Krisen sind auch in unseren Beziehungen
nicht zu vermeiden. Schulz von Thun formulierte:
„Menschen, die zusammen schaffen, machen einander zu schaffen!“ In Krisen wird deutlich, ob
„ein Ich am Du geworden ist“, ob ich alleine leben
kann oder nur in symbiotischer Abhängigkeit,
quasi als Parasit, ob ich am andern hänge wie
eine Klette. Besonders im Alter und bei schweren,
unheilbaren Krankheiten kommt es zu Beziehungsabbrüchen. Jakob Levy Moreno formulierte:
„Im Alter stirbt man von außen.“
26
3. Arbeit
Arbeit und Leistung sind ein wesentlicher Pfeiler
der eigenen Stabilität. Wer längere Zeit arbeitslos
war, erlebt das am eigenen Leib: Arbeitslosigkeit
ist dann oft gleichbedeutend mit wertlos sein,
nichts vorweisen können, anderen und sich selbst
gegenüber. Man will wirken, werken oder zumindest „werkeln“. Selbst in meinem Ruhestand stehe
ich vor der von mir gestrichenen Hauswand und
betrachte sie mit Zufriedenheit, wenn das Streichen
einigermaßen erfolgreich war.
Unser Status (Stand) ist – zumindest in Deutschland – eng an unsere berufliche Tätigkeit gekoppelt.
Frauen stehen im Blick auf Arbeit häufig einer
Doppelbelastung gegenüber. Häusliche Arbeit
wird kaum honoriert, also bleibt nur die Doppelbelastung mit Kindern, Haushalt und Beruf, ein
Spagat. Den kann man nur durchstehen, wenn
der Mann der Frau bei der Hausarbeit unter die
Arme greift.
Arbeit haben heißt für die meisten materielle3
Sicherheit, meinen Lebensunterhalt verdienen:
ohne Arbeit kein Geld. Bei der MASLOWschen
Bedürfnispyramide bilden physiologische Bedürfnisse (s. Leib) und Sicherheit (ein festes Einkommen, ein Dach über dem Kopf, Recht und
Ordnung) die Basis, auf die soziale Bedürfnisse,
individuelle Bedürfnisse, Selbstverwirklichung aufbauen. Materiell nicht abgesichert sein heißt,
3 Materiell kommt von mater(lat.) – Mutter
mir fehlt die Lebensgrundlage. Das ist eine Qual,
die mit einem leicht dahergesagten Spruch
wie: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!“
nicht hinreichend gelindert wird. Und doch
hat dieser Satz seine Berechtigung. Bei Albert
Camus, „Der Mythos von Sisyphos“, heißt es:
„Aufstehen, Straßenbahn, Büro, Essen, Arbeit,
Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch,
Donnerstag, Freitag,
immer derselbe Rhythmus – das ist sehr lange ein
bequemer Weg. Eines Tages aber steht das Warum
da, und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an.”
Was fängt da an? Fragen kommen hoch: Kann
ich mich mit meiner Arbeit identifizieren, hat
sie mit mir zu tun oder bin ich nur Sklave?
Kann ich da etwas gestalten, fließt in sie etwas
von mir hinein oder vergewaltigt und verformt
sie mich (Déformation professionelle)?
Im Englischen bringt eine Redewendung das
Problem auf den Punkt: „Love it, change it or
leave it.“
4. Heimat
Als vierte Säule habe ich mich für „Heimat“
entschieden. Diesen Bereich lernte ich als vierte
Säule im Rahmen der Fortbildung des Arbeitskreises „Kommunikation und Klärungshilfe”
(Schulz von Thun) kennen (Alternativ kommt
„Materielle Sicherheit“ in Betracht. Heimat wird
dann als „milieu-ökologischer Bezug“ dort
eingeordnet). Heimat, das ist neben meiner Ursprungs-Familie der Bereich, in dem ich verwurzelt, zu Hause bin. Ich bin Schwabe. Ich spreche
und denke schwäbisch. Es heimelt mich an,
wenn ich Sebastian Blau schwäbische Gedichte
aufsagen höre und dort Grundeinstellungen
und Eigentümlichkeiten begegne, die ich als
zu mir gehörig empfinde. In ähnlicher Weise
sind andere Menschen mit den Regionen verbunden, aus denen sie stammen. Die Begegnungen mit ihnen erweitern meinen Horizont
und bereichern mich. Als Schwabe bin ich
„selbstverständlich“ Deutscher. Menschen,
die ihre Heimat zwangsweise verlassen mussten
(Flucht, Vertreibung), leiden darunter und haben
doch Heimat, Sitten und Gebräuche in sich
auf- und mitgenommen. Wie bedeutend
Heimat und Sprache für unsere Identität sind,
5. Werte
Was meint Werte? Wert ist nach Kröner,
Philosophisches Wörterbuch, „ein von den
Menschen gefühlsmäßig als übergeordnet
Anerkanntes, zu dem man sich anschauend,
anerkennend, verehrend, strebend verhalten
kann“. Was soll für mich als Grundlage meines
Sinnens und Trachtens, meines Verhaltens und
Handelns gelten? Was gibt mir da Orientierung.
Und wer vermittelt mir das, was mir Wert-voll
ist? Ist es die Familie, die Gemeinschaft, die
Auf der oberen Ebene stehen positive Werte in
einem Spannungs- und Ergänzungsverhältnis.
Wird dieses Spannungsverhältnis aufgegeben,
landet man in den senkrecht darunter stehenden
entwertenden Übertreibungen.
Krisen in unserer „Wertesäule“ gibt es, wenn
unsere Wertvorstellungen bröckeln, wenn wir
sie als lebensuntauglich über Bord werfen, wenn
Werte missbraucht wurden, um uns für Machtinteressen gefügig zu machen, so beispielsweise
in der Zeit vor den beiden Weltkriegen.
Das sollen einige Anregungen zu den „Fünf
Säulen der Identität“ sein. >>>
informativ
Bibel, eine innere Stimme, mein Gewissen,
der Heilige Geist?
Werte können sein: Ehrlichkeit, Liebe, Treue,
Geborgenheit und Harmonie, Dankbarkeit,
Hilfsbereitschaft, Toleranz, Recht und Ordnung,
Freiheit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit oder auch
Geld, Macht, Ehre und Ansehen, Fleiß, Eigenständigkeit etc.
Sind meine Werte stabil oder fragil? Welche
Werte passen zu meinem Menschenbild?
Von Schulz von Thun stammt die Äußerung:
„Im Wertehimmel der Psychologie gibt es nur
Paarlinge, Gegensatzpaare von Werten, die einander brauchen und bedingen.“
Er greift das Wertequadrat von Helwig (1967) auf.
Ein Wert degeneriert zur entwertenden Übertreibung, wenn er sich nicht in „ausgehaltener
Spannung“ zu einem positiven Gegenwert, einer
„Schwestertugend“ befindet.
Ein Beispiel:
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
wird in Begriffen wie „Muttersprache“ und
„Vaterland“ deutlich.
Wenn jedoch jeder „deutsch sein muss“, wenn
ich meine Heimat für alle verbindlich mache
und verabsolutiere, wird es bedrohlich.
Dahinter steckt die Angst, die Heimat zu
verlieren, das heißt: Ich habe „eine unsichere,
bedrohte Heimat“.
Heimat können auch Landschaft und „Natur“
sein, soweit ich mich in ihnen zu Hause fühle.
In einem Gedicht von Leonore Gauland („Lobgesang der Bäume“) kommt dies anschaulich
zum Ausdruck:
„Freunde sind uns oft die Bäume,
breiten uns die Zweige weit,
steh’n in Leid und Glück bereit,
schenken uns Geborgenheit,
rauschen sanft in uns’re Träume –
Freunde sind uns oft die Bäume ...“
Andererseits kann Natur, eh ich mich versehe,
bedrohlich, feindlich und damit fremd für mich
werden.
Ein Stück Heimat bedeuten
die sozialen Netze, in denen
ich zu Hause bin: meine
Familie, meine Clique,
meine Jugendgruppe,
mein Bläser-Verein, meine
Kirchengemeinde, meine
Religionszugehörigkeit.
Krisen treten auf beim
Verlust von Heimat oder
wenn meine Vorstellungen
von Heimat sich ändern, wenn sie mir „zu eng“
wird, zu engstirnig, wenn die Einbindung in
„Heimat“ meine Freiheit und Individualität
bedrohen, wenn sie mir zum Gefängnis wird.
27
informativ
Es bleiben einige Fragen: Müssen alle Säulen
gleich stabil sein? (Das wird bei keinem der Fall
sein.) Wie „repariere“ ich Risse in den Säulen?
Kann man bei „brüchigen“ Säulen die Stabilität
durch Stärkung anderer Säulen erreichen?
Während der Vorbereitungszeit zu diesem Artikel
wurde mir klar, dass die fünf Säulen allein hinsichtlich meiner Stabilität „unzureichend“ sind.
Ich kann mit Erschütterungen und Rissen in den
Säulen besser umgehen, wenn ich ein stabiles
Fundament habe. Mit Fundament meine ich
Selbstvertrauen, Urvertrauen. Dieses Urvertrauen
basiert wesentlich auf meinen „Urerfahrungen“
am Ursprung meines Lebens: Schwangerschaft,
frühe Kindheit etc. Positive Erfahrungen mit Mutter
und Vater sind die Grundlage für Selbstannahme:
„Ich mag mich!“ Möglicherweise, und das glaube
ich, reichen aber meine Urerfahrungen noch weiter zurück, sie gründen in der Gottesebenbildlichkeit „Und Gott schuf den Menschen ihm
zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und
schuf sie einen Mann und ein Weib“4.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
4 1.Mose 1, 27
5 Friedrich Weinreb,
Das Markus-Evangelium,
Bd 2, S.634, Weiler, 1999.
6 Psalm 139,5
28
Friedrich Weinreb schreibt: „Hebräisch „dam“,
„Blut“, ist vom Stamm „gleichen“, Gott gleichen. Adam kann man auch übersetzen mit
„ich gleiche“,...“5 Der „Hauch Gottes in mir“
schafft eine Grundlage jenseits meines
Machens, Könnens, „Alles-in-den Griff-kriegenMüssens“. Und dann gibt es auch noch den
Heiligen Geist. Von allen Seiten bin ich von
Gott umgeben: „Von allen Seiten umgibst du
mich und hältst deine Hand über mir.“6
Das Bild unten soll das veranschaulichen.
Schließen will ich mit einer Strophe aus einem
Gedicht von Hanns Dieter Hüsch, das seit mehr
als einem Jahr auf meinem Schreibtisch steht:
„Was macht, dass ich so furchtlos bin
an vielen dunklen Tagen?
Es kommt ein Geist in meinen Sinn,
will mich durchs Leben tragen.“
• Dr. Jürgen Schott
67 Jahre, verheiratet, sechs erwachsene Kinder,
Arzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie,
tätig in einer christlichen Praxisgemeinschaft in
Uelzen, jetzt im Ruhestand, Mitarbeiterschule
des Missionsseminars in Hermannsburg
informativ
Zum Scheitern programmiert?
Resilienz bei Jugendlichen – Gedeihen trotz widriger Lebensbedingungen und
Erfüllung im Leben finden
Arnold Schwarzenegger hatte es als Kind schwer:
Sein Vater, ein Tyrann, prügelte ihn regelmäßig,
versuchte seinen Willen zu brechen. Bill Clintons
Stiefvater war Alkoholiker und Spieler, das Familienleben ein Drama. Ray Charles wuchs ohne
Vater in größter Armut auf und erblindete früh.
Doch trotz der schlechten Startbedingungen
haben sich alle drei zu erfolgreichen und belastbaren Persönlichkeiten entwickelt, während
andere mit ähnlichen Voraussetzungen im Leben
scheitern (SWR.Beitrag zu Resilienz v. 22.10.09).
Es beschreibt, wie Menschen oder Systeme
erfolgreich mit belastenden Situationen
z. B. einem Unglück, einer Notsituation,
Misserfolg, Risikosituationen oder traumatischen Erfahrungen umgehen können bzw.
umgehen lernen können.
>>>>>>
In ihrer 1955 auf der Insel Kauai (Hawaii) gestarteten Langzeitstudie beobachtete Emmy E. Werner
während der letzten 40 Jahre die Entwicklung
von 700 Kindern. Dabei konzentrierte sie sich auf
das Drittel der Kinder, denen es trotz gehäufter
Risikofaktoren (z. B. chronische Armut, kranke
Eltern, dauerhafte Disharmonie) gelang, sich
zu lebenstüchtigen Erwachsenen zu entwickeln.
Hierbei stellte sich die Frage nach Eigenschaften,
die den Kindern geholfen haben, Resilienz zu
entwickeln und ihr Leben zu meistern. >>>
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Resilienz – ein Begriff, der ursprünglich
aus der Physik stammt, beschreibt die
Eigenschaft bestimmter Materialien, nach
einer Belastung wieder in den Ursprungszustand zurückzukehren. Aber auch die
Psyche des Menschen kann resilient sein.
Dieses Thema ist in den in den letzten
Jahren ein spannendes Forschungsgebiet.
29
informativ
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
30
Bei den Beobachtungen wurde deutlich, dass die
Kinder schützende Faktoren in sich selbst trugen,
aber auch die der Familie oder des erweiterten
Umfelds spielten eine wesentliche Rolle. Diese
Kinder waren zum Beispiel aktiv in der Suche
nach Lösungen, hatten ein gewinnendes Temperament und konnten so auch Erwachsene außerhalb ihrer Familie als wichtige Bezugspersonen
gewinnen. S. M. Rutter (1955) betont, dass es
um die individuelle Art und Weise geht, in der
Menschen auf Risiken reagieren – ob sie beispielsweise eine Erfahrung als Herausforderung oder
Bedrohung erleben und die Reaktion darauf als
Bewältigung von Problemen betrachtet wird oder
in einer Resignation endet.
In der neueren Forschung geht man davon aus,
dass Resilienz kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal eines Kindes bezeichnet, sondern dass
es sich um eine Kapazität handelt, die im Verlauf
der Entwicklung im Kontext der Kind-UmweltInteraktion erworben wird, also eine Mischung
aus Veranlagung und Umwelteinflüssen.
Allerdings kann Resilienz in einem spezifischen
Lebensbereich nicht automatisch auf alle anderen
Lebens- oder Kompetenzbereiche übertragen werden. So können Kinder, die chronischen elterlichen Konflikten ausgesetzt sind z. B. hinsichtlich ihrer schulischen Leistungsfähigkeit resilient,
hinsichtlich ihrer sozialen Kontakte und Beziehungen dagegen nicht resilient sein. Aus diesem
Grund wird heute nicht mehr von einer universellen allgemeingültigen, sondern von einer
situations- und lebensspezifischen Resilienz
ausgegangen.
Resilienzforschung ist für alle Bereiche der sozialen
Arbeit deshalb von so großer Bedeutung, weil sie
einen wichtigen Gegenpol zu der langjährig pessimistischen oder kritischen Einschätzung der Zukunft von
sozial benachteiligten Menschen herausarbeitet. Das
Konzept der Resilienz ist nicht defizitorientiert, sondern richtet sich auf die Fähigkeiten, Potenziale und
Ressourcen jeder einzelnen Person, ohne dabei
Probleme zu ignorieren oder zu unterschätzen.
Diese Betrachtungsweise kann uns allen helfen,
das langjährig defizit-orientierte Förderverständnis
zu überwinden und stattdessen eher nach individuellen kreativen Lösungsmöglichkeiten zu
suchen. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder
Mensch, auch wenn er unter schwierigen
Umweltbedingungen lebt, über schützende
Qualitäten und Ressourcen verfügt, können
Erziehungs- oder Hilfsmaßnahmen wesentlich
mehr als bisher auf positive und individuelle
Stärkung von Menschen ausgerichtet sein,
insbesondere auch dann, wenn selbstregulative
Potenziale mit berücksichtigt werden. Dieser
Perspektivenwechsel trägt wesentlich dazu bei,
pädagogische Herausforderungen mit einer
optimistischen Grundeinstellung unter dem
Motto „Das Schwere leichter machen“ einzugehen. Trotzdem ist natürlich klar, dass gerade
Kinder sich nicht selbst dauerhaft „resilient“
machen können, sondern hierzu auch Hilfe
und Unterstützung durch andere brauchen,
vor allem deshalb, weil sie mehr von ihrer
Umwelt abhängig sind als Erwachsene.
Zur Verdeutlichung sollen an dieser Stelle Schutzfakoren oder protektive Faktoren vorgestellt
werden, die für eine erfolgreiche Bewältigung
von Lebensbelastungen förderlich sind und zur
Entwicklung von Resilienz beitragen:
Günstige Schutzfaktoren von Kindern
und Jugendlichen:
> Positive Temperamenteigenschaften (flexibel,
aktiv, offen), die aktive soziale Unterstützung
und Aufmerksamkeit bei den Betreuungspersonen hervorrufen
> Intellektuelle Fähigkeiten
> Erstgeborenes Kind
> Problemlösefähigkeiten
> Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, positives
Selbstkonzept/Selbstvertrauen/hohes
Selbstwertgefühl
> Fähigkeit zur Selbstregulation
> Hohes Bildungsniveau der Eltern
> Hohe Sozialkompetenz: Empathie/Kooperations- und Kontaktfähigkeit (verbunden mit
guten Sprachfertigkeiten)/Verantwortungsübernahme/Humor
> Harmonische Paarbeziehung der Eltern
> Aktives und flexibles Bewältigungsverhalten
(z. B. die Fähigkeit, soziale Unterstützung zu
mobilisieren, Entspannungsfähigkeiten)
> Hoher sozioökonomischer Status
> Sicheres Bindungsverhalten
> Klare, transparente und konsistente Regeln und
> Unterstützendes familiäres Netzwerk
(Verwandtschaft, Freunde, Nachbarn)
In den Bildungsinstitutionen
Strukturen
> Lernbegeisterung/schulisches Engagement
> Wertschätzendes Klima (Wärme, Respekt und
Akzeptanz gegenüber dem Kind)
> Angemessener Leistungsstandard
> Religion/Glaube/Spiritualität
> Talente, Interessen und Hobbys
> Zielorientierung
> Positive Verstärkung der Leistungen und
Anstrengungsbereitschaft des Kindes
informativ
> Optimistische, zuversichtliche Lebenseinstellung
> Positive Peerkontakte/positive Freundschaftsbeziehungen
> Körperliche Gesundheitsressourcen
> Förderung von Basiskompetenzen (Resilienzfaktoren)
Günstige Schutzfaktoren innerhalb
der Familie:
> Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und
anderen sozialen Institutionen
> Mindestens eine stabile Bezugsperson, die
Vertrauen und Autonomie fördert
Im weiteren sozialen Umfeld sind natürlich
kompetente und fürsorgliche Erwachsene, die
Vertrauen fördern, Sicherheit vermitteln und die
positive Rollenmodelle vermitteln können wie
z. B. ErzieherInnen, LehrerInnen, SozialpädagoInnen, aber auch Ehrenamtliche, Nachbarn
und Freunde von extrem großer Bedeutung;
insbesondere in Zeiten der Pubertät oder der
Adoleszenz, in denen eine altersgemäße Ablösung
von der Familie stattfindet. >>>
> Demokratischer Erziehungsstil (emotional
positives, unterstützendes und strukturierendes
Erziehungsverhalten, Feinfühligkeit und
Einfühlsamkeit
> Zusammenhalt, Stabilität und konstruktive
Kommunikation in der Familie
> Enge Geschwisterbindungen
> Altersangemessene Verpflichtungen des
Kindes im Haushalt
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
> Kreativität
31
Hierbei ist es mir wirklich wichtig zu unterstreichen, dass jede und jeder Erziehende mit seinem
Handeln im alltäglichen Umfeld dazu beitragen
kann, dass Menschen Vertrauen in die eigene
Kraft und die eigenen Fähigkeiten gewinnen, dass
sie sich selbst als wertvoll erleben und durch ihre
eigenen Handlungen Veränderungen bewirken
können.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
informativ
An dieser Stelle ist es hilfreich, sich selbst folgende
Fragen zu stellen: „An welchen Punkten kann ich
zukünftig in meiner eigenen pädagogischen Praxis
Kinder und junge Menschen bei der Entwicklung
32
dieser wichtigen Lebenskompetenzen unterstützen?
Wie trage ich mit meinem eigenen Verhalten dazu
bei, dass diejenigen, mit denen ich arbeite, Verantwortung für sich und ihr Handeln übernehmen und
Problemlösungsmöglichkeiten entwickeln können?
Belegt wurde auch, dass Menschen an Widerständen wachsen, solange sie damit nicht völlig
überfordert werden. Nicht nur positive, sondern auch negative Erfahrungen, die bewältigt
werden konnten, stärken die Kräfte und ermuntern, sich widrigen Situationen positiv zu stellen.
Hierzu einige Beispiele wie durch resiliente Verhaltensweisen Fähigkeiten
gefördert werden können:
Resiliente Verhaltensweisen können gefördert
werden, indem man ...
Gefördert wird:
das Kind ermutigt, seine Gefühle zu benennen
und auszudrücken
Gefühlsregulation/Impulskontrolle
das Kind konstruktiv lobt und kritisiert
positive Selbsteinschätzung/Selbstwertgefühl
dem Kind keine vorgefertigten Lösungen
anbietet (vorschnelle Hilfeleistungen vermeidet)
Problemfähigkeit/Verantwortung,
Selbstwirksamkeit
das Kind bedingungslos wertschätzt und
akzeptiert
Selbstwertgefühl/Geborgenheit
dem Kind Aufmerksamkeit schenkt
(aktives Interesse zeigt, sich Zeit nimmt)
Selbstwertgefühl/Selbstsicherheit
dem Kind Verantwortung überträgt
Selbstwirksamkeit/Selbstvertrauen/
Selbstmanagement
das Kind ermutigt, positiv und konstruktiv
zu denken
Optimismus/Zuversicht
dem Kind zu Erfolgserlebnissen verhilft
Selbstwirksamkeit/Selbstvertrauen/
Kontrollüberzeugung
dem Kind hilft, eigene Schwächen und Stärken
zu erkennen
positive Selbsteinschätzung/Selbstvertrauen
Sozialkompetenz/Kooperations- u.
Kontaktfähigkeit
dem Kind hilft, sich erreichbare Ziele zu setzen
Kontrollüberzeugung/Zielorientierung/
Durchhaltevermögen
dem Kind Zukunftsglauben vermittelt
Optimismus/Zuversicht
das Kind in Entscheidungsprozesse mit einbezieht
Kontrollüberzeugung/Selbstwirksamkeit
Routine in den Lebensalltag des Kindes bringt
Selbstmanagement/Selbstsicherheit
das Kind nicht vor Anforderungssituationen bewahrt
Problemlösungsfähigkeit/Mobilisierung
sozialer Unterstützung
dem Kind hilft, Interessen und Hobbys zu
entwickeln
Selbstwertgefühl
ein „resilientes“ Vorbild ist und dabei
authentisch bleibt
Effektive Bewältigungsstrategien
Erziehungsmaxime zur Förderung von Resilienz in der Erzieher-Kind-Interaktion In: C. Wustmann, Resilienz,
Weinheim und Basel 2004.
Die o. a. Auflistung, die in erster Linie die
pädagogische Arbeit mit Kindern betrifft, ist
auch gut auf andere Bereiche übertragbar.
Auch Erwachsene können Resilienz erwerben.
Literatur:
Ergänzend hierzu soll noch eine Empfehlung der
American Psychological Association von 2009
mit zehn Möglichkeiten zum Aufbau von Resilienz
vorgestellt werden:
Conen, M.-L. (2004): Wo keine Hoffnung ist, muss man sie
erfinden. Carl Auer (2. Aufl.)
Soziale Beziehungen pflegen, Krisen nicht als
unüberwindbar ansehen, Veränderungen als
Teil des Lebens akzeptieren, eigene Ziele anstreben, aktiv werden, Belastungen als Gelegenheit zum Wachstum ansehen, ein positives
Selbstbild pflegen, eine breite Perspektive
behalten, optimistisch und hoffnungsvoll
bleiben und für sich sorgen. Insbesondere
der letzte Aspekt sollte bei allem Engagement
nicht vergessen werden.
Wustmann, C. (2004):Resilienz: Widerstandsfähigkeit von
Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Belz,
informativ
dem Kind hilft, soziale Beziehungen aufzubauen
Antonovsky, A. (1979): Helth, Stress and Coping: New perspectives on mental and physical will-being. San Fransico
Welter-Enderlin, R. (2008): Resilienz- Gedeihen trotz widriger Umstände. Carl Auer (2. Aufl.)
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in
Melsungen, Schwerpunkt Traumatherapie und
Essstörungen. Systemische Paar- und Familientherapeutin, Lehrtherapeutin (SG) am Kasseler Institut
für Systemische Therapie und Beratung, Traumatherapeutin für Kinder- und Jugendliche (DeGPT)
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
• Cornelia Götz-Kühne
33
informativ
Vom Umgang mit Brüchen
>>>>>>
und Abschieden
Wer bin ich eigentlich?
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Das ist unter der Überschrift „Umgang mit
Brüchen und Abschieden” vielleicht eine unerwartete Frage. Aber Keine Sorge – wir haben uns
nicht im Thema vertan. Im Gegenteil: Die Frage
nach meiner Identität stellt sich, verborgen
vielleicht, immer wieder: in Trauer und Verlust,
in Abschied und Übergang, an jeder Bruchstelle
meines Lebens. Wer bin ich? Wer war ich – vor
dem Verlust? Wer werde ich sein? Vielleicht nie
wieder ganz der, der ich war ...
34
William James, einer der Gründerväter der „modernen” Psychologie, weist bereits vor 120 Jahren
den Weg: ... Ich bin keine Monade (Einzelwesen).
Ich bin nicht an sich und nur aus mir heraus.
Ich bin nur denkbar in meinen Lebensbezügen.
Meine Beziehungen machen mein Leben aus.
Mein Beruf und meine Fähigkeiten gehören zu
meiner Identität ebenso wie meine Geschichte.
Der Psychiater Jakob Moreno prägte den Begriff
des „sozialen Atoms”. Er meint damit das unteilbare Netzwerk wichtiger, prägender Beziehungen.
Dieses Netz erstreckt sich nicht nur um mich
herum – es reicht in mich hinein. Das Netz
meiner Beziehungen und äußeren Bezüge trage
ich als innere Landkarte mit mir herum, es macht
meine Identität mit aus. „Ich” bin nur denkbar
im Netzwerk meiner Beziehungen. „Der Mensch
wird am Du zum Ich” formuliert der Religionsphilosoph Martin Buber1 diese identitätsstiftende
Kraft von Beziehungen. Er meint damit nicht
zuletzt auch die Gottesbeziehung, an der der
Mensch sich selbst erkennen und finden kann.
Ein schwarzes Loch
Zerbricht nun eines dieser Elemente, die zu
meinem Selbstbild gehören, verliere ich gar
einen Menschen aus meinem „sozialen Atom”,
dem Kern meines Beziehungsnetzwerkes, dann
verliere ich nicht nur „etwas” oder „jemanden”. Es geht viel tiefer. Der äußere (Ab-)Bruch
kann etwas in meinem Selbst zerbrechen. Der
äußere Verlust hinterlässt ein schwarzes Loch
in meinem Inneren, ein Vakuum, das sich
Phasen und Aufgaben
Trauer ist keine Krankheit und keine Störung,
sondern ein gesunder und wichtiger Bewältigungsprozess. Auch wenn ein trauernder
Mensch sich zurückzieht, manche Aufgaben
nicht mehr bewältigt, sich manchmal „unangemessen” zu verhalten scheint, auch wenn seine
Gefühle an eine depressive Episode erinnern:
Trauer ist Bewältigung. Trauer ist ein Heilungsprozess. Trauer ist die beschwerliche Reise zu
einem Neubeginn. Die Trauerarbeit, wie Sigmund
Freud sie nannte, muss geleistet werden. Wer
die Trauer abkürzen oder verleugnen will, muss
mit psychosomatischen Folgen rechnen, die oft
erst viel später auftreten.
Der Prozess der Trauer wird heute oft in Phasen
beschrieben. Das bekannteste Modell stammt
von der Schweizer Psychoanalytikerin Verena
Kast2 und umfasst vier Phasen, auf die wir gleich
zu sprechen kommen. Die Phasen werden keineswegs nur linear durchlaufen – es sind durchaus „Schritte zurück” zu beobachten, die notwendig sind, wenn in einer scheinbar zurückliegenden Phase ein Teilaspekt noch nicht bewältigt ist. Die Phasen machen sehr schön den
Prozesscharakter von Trauer deutlich – Trauer
braucht Zeit, umfasst ganz unterschiedliche
Gefühle und Zustände. Gleichzeitig ist das
Phasenmodell missverständlich. Es könnte
nahelegen, dass die Trauerphasen einfach
„über mich kommen”, dass es genügt, gleich1 Martin Buber: Ich und Du. 1923
2 Verena Kast: Zeit der Trauer. Phasen und Chancen des
psychschen Prozesses. Freiburg (4) 2009
Erste Phase: Nicht-Wahrhaben-Wollen. Erste
Aufgabe: Die Realität des Verlustes akzeptieren.
„Das kann nicht wahr sein!” Im ersten Schock
wird der Verlust oft geleugnet. „Das ist bestimmt
ein Missverständnis. Er kommt sicher zurück!
Das ist nur ein Alptraum!” Trauernde fühlen sich
erstarrt, empfindungslos, können nicht weinen.
Oft „funktionieren” sie gleichzeitig erstaunlich
gut, wirken geschäftig, tapfer, organisiert. Der
Verlust wird zunächst abgespalten. Dies ist ein
wichtiger Schutzmechanismus: Den vollen
Umfang des Verlustes kann die Seele noch nicht
verkraften. Die Aufgabe der ersten Phase ist es,
den Verlust nicht auf Dauer zu verleugnen,
sondern sich ihm Schritt für Schritt zu stellen.
Verleugnung geschieht zum Beispiel, wenn das
Zimmer eines Verstorbenen über Jahre unberührt
und unverändert bleibt. Die Bedeutung des Verlustes wird aber auch verleugnet, wenn alles, was
an den Verstorbenen erinnert, sofort „entsorgt”
wird.
Zweite Phase: Aufbrechende Emotionen.
Zweite Aufgabe: Den Trauerschmerz erfahren.
Trauer, Wut, Angst, Zorn, Aufregung, oft Schlaflosigkeit und Schuldgefühle: Zur zweiten Phase
gehört Gefühlschaos. Oft werden andere beschuldigt, noch häufiger lähmt eigenes Schuldgefühl:
Die Endgültigkeit des Verlustes macht die Endgültigkeit von Versäumnissen bewusst. „Hätte
ich doch nur noch ...” Oft kommt auch Wut
hoch.
Menschen, die den Trauerschmerz verdrängen
oder verleugnen, haben es schwer, wirklich die
nächste Phase zu erreichen. >>>
3 William Worden: Beratung und Therapie in Trauerfällen:
Ein Handbuch. Bern (3)2006
informativ
Trauerarbeit
sam in einem Sessel sitzen zu bleiben, „bis es vorbei ist”. Trauer hat aber auch ganz aktive Komponenten, beinhaltet eigene Auseinandersetzung
mit dem Verlust, den auftretenden Gefühlen,
der notwendigen Neuorientierung. Darum wird
heute oft das vierphasige Modell der Entwicklungsaufgaben der Trauer nach William Worden3 in das
Trauerphasen-Modell integriert.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
nicht ohne weiteres durch einen „Ersatz” füllen
lässt. Ob ich nun einen geliebten Menschen
verliere durch Tod oder Trennung oder vielleicht eine berufliche Rolle, die mir sehr viel
bedeutet hat: Ich habe eine Lücke zu füllen.
Ich muss mich neu (er-)finden. Ich habe Trauerarbeit zu leisten. Daher beschränken wir uns im
Folgenden auf Phasen und Entwicklungsaufgaben der Trauer; was für den Abschied von
einem geliebten Menschen gilt, hat in angepasster Form auch für andere Brüche und
Abschiede im Leben Gültigkeit.
35
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
informativ
In einer Gesellschaft, in der negative Emotionen
oft nur kurzzeitig toleriert werden, ist es schwer,
die Entwicklungs-aufgaben dieser Phase zu bewältigen. Der Trauernde braucht Menschen, die dieses Gefühlschaos aushalten und wertschätzen. Er
braucht Zeit und Raum, Gefühle auszudrücken.
Begleiter sollten darauf achten, dass ein behutsamer Weg aus den Schuldgefühlen gefunden wird.
36
Dritte Phase: Suchen, finden und sich trennen.
Dritte Aufgabe: Sich anpassen an eine Welt,
in der der Verstorbene fehlt.
Bewusst oder unbewusst wird der Verstorbene/
das Verlorengegangene, gesucht: an gemeinsam
oft besuchten oder an „besonderen” Orten, auf
Fotos, in Musikstücken, auf dem Friedhof ...
Der Trauernde setzt sich der Erinnerung und den
Gefühlen aus, um jedes Mal, wenn der Ort verlassen oder das Fotoalbum zugeklappt wird, einen
kleinen Abschied zu erleben. Der Verstorbene
findet langsam einen neuen Platz in der Seele
des Trauernden, in seiner Erinnerung. Diese wird
zu einem inneren Begleiter, mit dem sich der
Trauernde nun neu den Herausforderungen
der Welt stellen und Dinge dazulernen kann.
Gelingt diese Phase nicht, zieht sich der Trauernde in eine Parallelwelt mit dem Verstorbenen
zurück und entfremdet sich von den Lebenden,
chronifiziert Trauer und Hilflosigkeit.
Vierte Phase: Neuer Selbst- und Weltbezug.
Vierte Aufgabe: Emotionale Energie abziehen,
in andere Beziehungen investieren.
Räume finden, in denen die Erinnerung ihren guten
Platz hat.
Der verlorene Mensch wird zu einer „inneren
Figur”, der Trauernde wendet sich wieder dem
Leben zu und kann sich vielleicht auf eine neue
Beziehung einlassen. Es fällt oft schwer, dies
miteinander zu vereinen: Menschen befürchten,
den Verstorbenen zu entwürdigen oder die vergangene Beziehung herabzusetzen, wenn sie sich
auf Neues einlassen und nicht mehr ständig um
den Verlust kreisen.
Manche Trauer hört nie völlig auf und kann dennoch
gut bewältigt sein. Für gelungene Trauerarbeit
kommt es nicht darauf an, zu vergessen und
keine Gefühle mehr zu haben. Vielmehr geht
es darum, den Schmerz zu durchleben, das ver-
gangene Gute zu integrieren und sich dann
wieder dem Leben zuzuwenden.
Rituale
Freunde und Verwandte zu einer großen
Beerdigungsfeier einladen, ein Jahr schwarz
tragen, den Friedhof besuchen, Kerzen anzünden ... Alte Trauerrituale wirken auf viele
Menschen heute belastend und unzeitgemäß.
Aber die Erfahrung und Forschungsergebnisse
zeigen: Trauer braucht Rituale. Erinnerung
braucht Orte, Gegenstände und Handlungen.
Hinterbliebene brauchen oft die Sicherheit des
Vorgegebenen, um Gefühle und Erinnerungen
ausdrücken zu können. Wer alte Rituale nicht
mag, sollte sie dennoch nicht vorschnell abschaffen, sondern vielleicht behutsam ersetzen
– durch Handlungen und Symbole, die den
Gefühlen, der Zuwendung, der Zusammengehörigkeit und der Erinnerung einen neuen
Raum geben.
Systemische Perspektiven
Noch einmal: Trauer ist keine Krankheit.
Dennoch arbeiten wir als systemische
Familientherapeuten auch mit Menschen,
die Verlusterfahrungen gemacht haben, und
begleiten in Phasen der Trauer und des Abschieds. Ein oft genutzter methodischer Zugang
ist die Externalisierung, in der innere Anteile
eines Menschen nach außen projiziert und
„zum Gespräch eingeladen” werden. Wir
verdeutlichen dieses Vorgehen am Beispiel
einer jungen Klientin, die eine Bruch- und
Verlust-Erfahrung mit Hilfe von „Gefühlstieren” dargestellt hat.
Lena (Name wurde geändert), die 16-jährige
Mutter einer 2-jährigen Tochter, wird gerade
von dem Kindsvater Konrad (Name wurde
geändert) betrogen. Trennung steht im Raum,
darf aber nicht thematisiert werden „... sonst
wird es wahr!“ Um Ordnung in und wieder
mehr Kontrolle über das Gefühlschaos zu
bekommen, wird für jede Emotion ein Tier
gewählt. So bekommt die Angst die Gestalt
eines Igels, die Verzweiflung ist ein riesiger
Elefant, die Gleichgültigkeit eine Maus,
Schluss
Trauer ist Arbeit. Trauer braucht Mut. Trauer
braucht Begleitung – durch mutige Menschen,
die die Arbeit nicht scheuen, sich
schmerzhaften Gefühlen auszusetzen. Trauer
braucht Zeit. Dass ein Trauerprozess nach
einem Jahr abgeschlossen sein muss, ist eine
Legende.
Trauer, Abschied, Brüche, Verlust gehören zum
Leben. Christliche Gemeinschaft, in der Leben
geteilt wird, hat daher auch Trauer und Verlust
einzubeziehen. Schneller frommer Trost erweist
sich in diesem Kontext als Unwille oder Unfähigkeit, sich dem Gefühl der Trauer zu stellen.
informativ
Neben den „Gefühlstieren” gibt es viele weitere
Methoden der Externalisierung. Zum Beispiel
darf die Trauer in Gedanken einmal nach
außen treten und auf einem Stuhl Platz nehmen. Wenn die Traurigkeit eine Gestalt hätte,
wie sähe diese dann aus? Welche Farbe hat sie,
was hat sie an? Wie will sie/er/es angesprochen
werden, gibt es einen Namen? Säße diese
Gestalt gewordene Traurigkeit auf diesem Stuhl
– wie weit müsste dieser weg stehen, damit
man sich wieder wohl fühlen kann? Was tut
die Traurigkeit? Was sagt sie dir vielleicht?
Wie steht sie zu dir? Wie nah steht sie jetzt?
Wofür ist sie wichtig? Was möchtest du ihr
sagen? Wo wird sie in einem Monat stehen?
Wo in einem Jahr? Welche anderen Gefühle
sind ebenfalls gerade wichtig? Wo nehmen
sie Platz? Schau dir dein Bild an: Gibt es etwas,
das du verändern möchtest? Welche Gefühle
dürfen jetzt schon weiter in den Hintergrund,
welche brauchst du noch in deiner Nähe?
Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder
mit;
und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle
Glieder mit.
1.Korinther 12,26
Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den
Weinenden!
Römer 12,15
• Wiebke Buff
• Martin Drogat
Erziehungswissenschaftler, arbeiten als
Familientherapeuten und Dozenten in der
Liehrnhof-Akademie in Homberg/Ohm.
www.liehrnhof-akademie.de
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
die Wut ein Löwe, die Geborgenheit ein Känguru usw. Schon beim Auswählen erlebt Lena
die erste Erleichterung, dass jedes „Gefühlstier“
auch ein „Ressourcentier“ darstellt, das ja
eigentlich vieles von dem vermag, was jetzt
gerade schwierig scheint. Als Tiere lassen sich
die Gefühle leichter anschauen und ertragen,
die Frage der Therapeutin ist gar nicht mehr
so schwer: Wie nahe oder fern ist dir welches
Gefühl gerade jetzt? Nach kurzer Zeit entsteht
ein Bild, eine Skulptur, die die innere Wirklichkeit in die Dreidimensionalität erhebt und
damit bearbeitbar macht. Wie müssten die
Gefühle zu dir und zueinander stehen, damit
sich Wohlbefinden einstellt? Ein neues Bild
entsteht. Welches Gefühl ist am nützlichsten,
um diese Veränderung zu erreichen? Erste
Schritte in Richtung Heilung werden möglich.
37
praktisch
Erwachsen werden im Glauben
Zum Bruchstückhaften, Fragmentarischen stehen
Erwachsen werden bedeutet, da gab es
mal eine Kindheit und eine Teenagerzeit.
Ich möchte bei der Betrachtung des Erwachsenwerdens im Glauben diese vorhergehenden Phasen in Blick nehmen. Ein Abend für
Mitarbeitende oder (junge) Erwachsene lässt
sich anknüpfend an die Entwicklungsphasen
Kindheit, Teenager- und Erwachsenenalter
gestalten. Diese Phasen können durch das
1. Kapitel des Johannesevangeliums
biblisch untersetzt und vertieft werden.
Hierzu müsste überlegt werden, worauf
der Schwerpunkt des Abends gelegt werden soll, sei es mehr auf die theologische
Entfaltung oder mehr auf den Austausch
über persönliche Glaubenserfahrungen.
>>>>>>
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
1. Vertrauen wie ein Kind
38
Kinder haben ein „Urvertrauen“. Bezeichnend ist,
dass das Kind sich seiner Zugehörigkeit von Vater
und Mutter gewiss ist, sich geborgen fühlt und
weiß, dass es versorgt wird. Es findet Raum, um
sich entwickeln und entfalten zu können und es
erfährt Grenzen, um Schutz und Bewahrung zu
erfahren. Übertragen auf das Glaubensleben, beschreibt diese Phase das unerschütterliche Gottesverhältnis, die Zugehörigkeit des Geschöpfes zu
seinem Schöpfer wie wir sie in dem Schöpfungsbericht (1.Mose 1,1–2,4) finden.
Die Verbundenheit von Gott und Mensch ist
unumstößlich. Daraus resultiert ein klares und
konkretes Bekenntnis. Das biblische Wort ist
wahr, vermag unmittelbar in die persönliche
Lebenssituation hineinzusprechen und beschreibt klare ethische Maßstäbe. Das Leben
als überzeugter, frisch bekehrter Christ ist
verheißungsvoll und trägt einen schillernden
Glanz in sich. Ebenso beschreibt der Evangelist
Johannes die Erschaffung der Welt sehr monumental (Joh 1,1–4).
3. Aus Fragmenten entsteht etwas
Neues – Erwachsen werden im Glauben
Lassen wir die Bilder der Widersprüchlichkeiten
des Teenageralters vor unserem inneren Auge
vorüberziehen. Die Frage der Welterschaffung,
die ungelösten Beziehungsfragen und die unerfüllte Sexualität, die Frage der eigenen Herkunft
und Identität oder das Erleben von eigenen Unzulänglichkeiten und Grenzen im seelischen,
körperlichen und geistigen Bereich. Sie gehören
mehr oder weniger zu jedem Leben.
Wie kann ein Umgang mit ihnen gelingen,
ohne sie einfach zu verdrängen oder paranoid
zu werden, sondern daran zu wachsen, erwachsen zu werden im Glauben?
Christus selbst wird darin zum Vorbild. Das
Evangelium selbst ist die Geschichte eines
massiven Bruches mit dem Gottesbild des
Judentums. Jegliche Vorstellung über die königliche Herrschaft des Messias wird mit Jesus,
dem König der Juden durch die Passionsgeschichte, komplett zerschlagen.
Manch eigener Lebensbruch, manche Zeit
des Verlassenwerdens und der Einsamkeit,
der Schmerzen und Trauer bekommt eine neue
Bedeutung, wenn wir uns das Leben und Sterben
Jesu vor Augen führen. Es verleiht uns eine tiefere Erkenntnis über Jesu „Gnade und Wahrheit“
für unser Leben, gerade indem wir es sehr intensiv oder zumindest annähernd selbst durchlebt
haben.
Johannes beschreibt diese Menschwerdung
Gottes in Joh 1,14.17.
Methodische Gestaltung der drei
Phasen:
1. Vertrauen wie ein Kind
praktisch
Ein Teenager fängt an, eigene Wege zu gehen
und sich kritisch zu distanzieren von seinen
Eltern. Er ist hin- und hergerissen zwischen
den Lebenswelten der Gleichaltrigen und den
Meinungen Erwachsener.
Das kindliche Urvertrauen wird erschüttert und
die klaren Glaubensaussagen geraten ins Wanken.
Es schleichen sich Zweifel ein, wie Gott die
Welt doch erschaffen haben kann, wenn die
meisten Menschen sich die Entstehung der
Welt mittels Evolution ganz ohne Gott begründen. Oder wie kann Gott im Bild eines Vaters
verstanden werden, wenn der eigene leibliche
Vater im Alltag gar nicht erlebbar ist oder viel
schlimmer, jeder Gedanke an ihn mit Ekel und
Scham verbunden ist.
So manche Glaubensaussage ist mit der persönlichen Erfahrungswelt nicht mehr unter einen
Hut zu bekommen. Das Johannesevangelium
berichtet von der Ablehnung und Zugehörigkeit zu Gott (Joh 1,10–12).
Jesus selbst lehrt es uns, der eigenen Schwachheit
und Ohnmacht, der persönlichen Unzulänglichkeit ins Gesicht zu schauen, Entwürdigungen
nicht auszuweichen, sondern auszuhalten, Spott
zu ertragen und seinen Schuldnern zu vergeben,
statt sie zu richten. In der Passion Jesu wird das
von ihm verwendete Bild des Weizenkorns, welches in die Erde fällt und stirbt, damit vielfältiges
Leben aus ihm hervorgeht, verstehbar.
Die Gruppe sitzt in einem Kreis, die Mitte ist gefüllt
mit formschönen Vasen und Gefäßen und starken Glaubenszitaten, welche gut leserlich auf
Blättern geschrieben sind. Die Gefäße stellen die
Resultate eines Künstlers dar – im übertragenen
Sinne, den Menschen, welcher von Gott erschaffen ist. Die Zitate beschreiben Glaubensbekenntnisse eines „Kindes“ bzw. eines „Frischbekehrten“. Zitate und Assoziationen können beliebig
von allen ergänzt werden. >>>
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
2. Zwischen „Himmel hoch jauchzend“ und „zu Tode betrübt“ wie ein
Teenager
39
2. Zwischen den Welten wie ein
Teenager
Die Gegenstände in der Mitte werden ausgetauscht durch Vasen und Gefäße, welche deutlich
sichtbare Macken haben, hinzu kommen einige
Scherben.
Noch anschaulicher und eindrücklicher ist es,
wenn die Gegenstände aus der 1. Phase – sofern
sie dafür geeignet sind – durch Gewalteinwirkung
(Hammer o. ä.) gemeinsam kaputt gemacht werden.
Zu sehen sind Gefäße mit Sprung, Macken und
einzelne Scherben.
Exemplarisch werden markante Lebensbrüche
benannt und mit Schlagwörtern oder Symbolen
schriftlich festgehalten.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
praktisch
3. Aus den Fragmenten entsteht etwas
Neues – ein Kreuz
40
Alle sind eingeladen, aus den einzelnen Scherben
ein Kreuz zu gestalten. Dazu werden die Scherben
so aneinander gelegt, dass sie die Form eines
Kreuzes ergeben. Hierzu kann ein gesamter
Abend gestaltet werden, indem ein gemeinsames
„Kunstwerk“ entsteht (Exkurs s. u.). Aus den
zunächst kaputten Gegenständen und unnützlichen Scherben entsteht ein neues Bild, welches
für Versöhnung und Heil steht. Das Symbol des
Kreuzes wird weiter entfaltet:
> Im Kreuz findet jede Scherbe ihren Platz, keine
ist zu unbedeutend oder zu klein, zu schrill oder
zu kaputt.
> Das Kreuz drückt die Verbundenheit in Christus
aus. Individuelle Formen und Farben ergänzen
sich. In der Gemeinschaft sind wir aufeinander
angewiesen und ergänzen einander. Insbesondere
in schwierigen Zeiten erfahren wir, wie wichtig
wir einander sein können, andere auf unsere
Hilfe angewiesen sind und wir von der Unterstützung anderer leben.
> Das Kreuz ist eine neue Form. Formen von einzelnen Teilen, die zu eigenwillig sind, passen teilweise gar nicht in das Gesamtbild, sie müssen
weiter „geschliffen“ und „zerbrochen“ werden,
um Teil des Ganzen und Neuen zu sein. Gerade
die Lebensbrüche sind solche Erfahrungen, die
uns schleifen und zu einem „interessanteren und
vollkommeneren“ Bild formen.
> Die Gestaltung eines Kreuzes braucht Zeit.
Es gleicht einem Puzzle, bei dem die passenden
Teile erst gefunden werden müssen und erst
nach einer gewissen Zeit das Gesamtbild zu erkennen ist. Auch im Glaubensleben braucht es
Zeit, um mit Schicksalsschlägen, persönlichen
Unzulänglichkeiten, schwierigen Beziehungen
etc. umgehen zu können.
> Das Kreuz ist mehr als zwei sich kreuzende
Linien. Es symbolisiert die Heilsgeschichte des
christlichen Glaubens schlechthin. Christus
stirbt stellvertretend für die Menschheit. Dieser
Stellvertreter-Tod ist genug für jede persönlich
erlebte Bruchlandung. Sie lädt uns ein, Gnade,
Vergebung und Heilung zu empfangen und
befreit von allen selbsterlösenden Taten.
Der Praxisentwurf orientiert sich an zentralen
Kernpunkten des christlichen Glaubens wie
Schöpfung, Sündenfall und Kreuz. Erwachsen
werden im Glauben heißt, den Glauben für sich
neu zu formulieren und dabei auf Althergebrachtes zurückzugreifen und daran anzudocken. Dazu
gibt es gute Erfahrungen mit Glaubenskursen für
Erwachsene, die in einem solchen Prozess sehr
hilfreich sein können.
Informationen und Materialien sind zu finden
unter:
http://www.a-m-d.de/glaubenskurse/erwachsen_glauben/
Exkurs: Anleitung zur Gestaltung eines
„Scherbenkreuzes“
Material: verschiedene „alte“ Tontöpfe,
buntes Porzellan, Geschirr etc.; Klebstoff
für Porzellan/Fliesen (Baumarkt-Pistole),
Holzplatte als Untergrund
Gestaltung:
Auf einer Arbeitsfläche werden gemeinsam
die Scherben in eine Kreuzform in gewünschter
Größe gelegt. Dieses Bild muss nun auf einen
eigenständigen Untergrund (Holzplatte o. ä.)
übertragen werden. Dazu wird der Fliesenklebstoff stückweise in gewünschter Breite aufgetragen. Auf die mit Klebmasse präparierte
Fläche wird nach und nach das vorbereitete
Bild übertragen. Es entsteht ein (gemeinsames)
neues Bild. An dieser Arbeit können sich
mehrere Personen gemeinsam beteiligen.
Die freie Fläche um das Kreuz herum kann
mit einer Lasur/Farbe bemalt werden. Dies
sollte eher dezent sein, damit die Scherben
als Bild zum Ausdruck kommen.
• Maren Schob
39 Jahre, verheiratet, Ausbildung am
CVJM-Kolleg, Sozialpädagogin, im CVJM
Landesverband Sachsen zuständig für Offene
Arbeit und TEN SING
praktisch
Ein weiterführendes Referat dazu:
Herbst, Dr. Michael: „Erwachsen glauben“ –
Theologische Weggabelungen
im Missionsland Deutschland. Mission – Bildung
– Gemeindeentwicklung. Zukunftswerkstatt
Kassel 2009
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Das Bild und die Bedeutung des Kreuzes mit
den genannten Aspekten dazu, wollen einen
Weg aufweisen, wie Bruchstückhaftes und
Fragmentarisches seinen Platz im Glaubensleben finden kann. Gerade dadurch gewinnt
der Glaube an Qualität und Tiefe. Ich möchte
dazu einladen, insbesondere die dritte Phase,
die Gestaltung eines Scherbenkreuzes, auszuprobieren. Diese Methode kann hilfreich sein,
um auch persönliches Erleben einander mitzuteilen. In diesem Rahmen kann darüber nachgedacht werden, wer mir in meinem (Glaubens)
Leben hilft, meinen „Scherben“, meinen zerschlagenen Träumen und unerfüllten Gebeten
ins Gesicht zu schauen und trotz und mit
diesen Dingen hoffnungsvoll in die Zukunft
zu blicken. Dazu ist es gut, wenn ausreichend
Zeit vorhanden ist.
Alternativ kann an den Glaubensaussagen
gearbeitet werden. Sie können ergänzt und
neu formuliert werden.
41
praktisch
Mit Brüchen leben – über
Brüche reden
Da standen sie, die Menschen in New York, und schauten entsetzt und wie gelähmt
hinauf zu den brennenden Twin Towers, in die gerade zwei Flugzeuge gerast waren.
Nichts war zu hören außer Schluchzen und „Oh my god!“-Ausrufe. Wer erinnert sich
nicht an diese Bilder und an die Tausende, die angesichts des Schrecklichen einfach
kein Wort herausbrachten.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
>>>>>>
42
Auch wenn die Situation damals einmalig war
– jeder kennt sie, diese Sekunden oder Minuten,
manchmal auch Stunden oder Tage im Leben, wo
man von einem Schicksalsschlag, einem Ereignis
so getroffen ist, dass man nur noch still und ratlos dasitzt und vor sich hinbrütet – oder dass
man einfach nur noch weint. Man ist sprachlos
vor Entsetzen oder Schmerz, auch als nicht unmittelbar Betroffener: „Ich fühlte mich so furchtbar hilflos, mir fiel nichts ein, was ich sagen
konnte!“ Natürlich verschlagen einem auch
erfreuliche Überraschungen die Sprache, z. B.
wenn man plötzlich an völlig ungewohntem
Ort geliebten Menschen gegenübersteht. Das ist
positiver Stress, der uns nur noch jauchzen
oder staunen lässt. Es gibt aber auch negativen
Stress – Belastungen, die wir uns niemals freiwillig gewünscht hätten. Je unverhoffter sie
kommen, desto stressiger sind sie, denn wir
haben keine Zeit, uns innerlich auf sie vorzubereiten oder einzustellen. Oder wir haben
keine Erfahrung mit dem, was auf uns einstürzt. Also fehlt uns auch das „Programm“,
wie wir damit umgehen können oder sollten.
Die erste Erkenntnis lautet deshalb: Erwarte nicht,
dass du in einer akuten Belastungssituation sofort
wohldurchdachte und angemessene Worte findest.
Gehe davon aus, dass dir auf Anhieb nur Banalitäten einfallen, weshalb es in der Regel taktvoller
und klüger ist, erst einmal gar nichts zu sagen
bzw. zu sagen: „Ich weiß nicht, was ich im
Moment sagen soll. Ich bin einfach sprachlos!“
Dann ist wenigstens dies klar signalisiert und
man muss nicht vor lauter Hilflosigkeit und
Überforderung das Weite suchen. Das gilt übrigens nicht nur für das Leid, das anderen widerfährt, es gilt auch für die überraschenden Angriffe
in unserem eigenen Leben, z. B. eine unerwartete
Kritik.
Brüche in unserem Leben sind alle Ereignisse,
die a) unverhofft kommen und b) etwas bisher
Unversehrtes verletzen oder gar zerstören.
Die schlimmsten Brüche sind die, die mit massiven Verlusterfahrungen verbunden sind: Todesfälle, Verletzungen, schwere Krankheitsdiagnosen, Verlust des Arbeitsplatzes oder anderer
uns wertvoller Güter, unerwartetes Verlassenwerden von Menschen, die uns viel bedeuten
und vieles andere. Solche Brüche machen erst
einmal stumm. Dies gilt übrigens für Männer
meist noch mehr als für Frauen. Frauen gelingt
es in der Regel eher als Männern, ihre Gefühle
nach einer ersten Phase des Schreckens oder der
Ratlosigkeit in Worte zu fassen – für die meisten
Männer ist dies hingegen eine extrem schwere
Übung.1 Und weil sie so schwer ist, weichen
Männer ihr gerne aus, sprich: Sie hüllen sich bei
Brüchen in ihrem Leben oder im Leben anderer
Menschen in beharrliches Schweigen. Es ist kein
Schweigen aus Gleichgültigkeit oder mangelnder
Anteilnahme – es ist ein Schweigen aus Hilflosigkeit. Doch irgendwann sollte Mann oder auch
Frau dieses Schweigen beenden, denn auch die
liebevollsten Blicke, die mitfühlendste Umarmung, das freundlichste Schulterklopfen
sind kein Ersatz für Worte, für das MiteinanderSprechen.
1 Näheres dazu in meinem Buch „Ein Mann – (k)ein Wort.
Warum Männer nicht über Gefühle reden und Frauen sich
nicht damit abfinden“ SCM-Brockhaus Verlag 2009.
praktisch
Für Brüche braucht es mehr als Sprüche
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Merke: Stress entsteht immer dann, wenn wir uns
von einer Situation oder Anforderung überfordert
fühlen.
Dies ist vor allem bei unvorhergesehenen Ereignissen der Fall. In dieser Situation wird ein
„Notsignal“ vom Gehirn gesendet, das die seit
der Steinzeit unveränderte sogenannte „Stressreaktion“ im Körper auslöst. Sie soll uns zu
schnellem Reagieren befähigen nach dem
Motto: „Nicht denken, sondern handeln!
Raus aus der bedrohlichen Situation – und zwar
durch Kampf oder Flucht!“ Im Handumdrehen
wird der Körper sofort optimal auf Kampf oder
Flucht vorbereitet: Das Herz schlägt schneller
und arbeitet viel mehr, die Verdauung wird auf
Eis gelegt, die Muskulatur wird besser durchblutet und spannt sich an, Stresshormone werden
ausgeschüttet … Doch zu dieser hochkomplexen Reaktion gehört auch, dass die höheren
Denkregionen kurzfristig „abgeschaltet“ werden, damit das blitzschnelle Reagieren nicht
unnötig verzögert wird. Leider ist das Sprechen
eine der Leistungen, die in diesen höheren
Denkregionen ihren Sitz haben. Die Folge:
Unter Stress verschlägt es uns die Sprache,
wir sind in unserem klaren und analytischen
Denken blockiert. Es fällt uns deshalb meist
nichts wirklich Intelligentes ein. Abgerufen
werden können in dieser Stresssituation allenfalls noch alte „Drehbücher“ und x-mal geäußerte Kommentare wie: „Wer hätte das gedacht!?“ oder: „Das ist ja megakrass!“ oder:
„Da kann man nichts machen.“ Leider haben
solche Äußerungen den Nachteil, dass man
ihnen sofort anhört, wie abgedroschen sie sind.
Dem von einem Schicksalsschlag Betroffenen
kommen sie deshalb ziemlich hohl vor. Nichts
gegen solche Floskeln, die ja in der Regel gut
gemeint sind. Aber meist sind sie halt nur Ausdruck von Ratlosigkeit. Mit solchen „coolen
Sprüchen“ versucht man, sich irgendwie über
den Abgrund der eigenen Sprachlosigkeit drüberzuhangeln!
43
praktisch
Erkenntnis Nummer zwei lautet deshalb: Schweigen
darf nicht die Endstation in unserem Umgang mit
kritischen Lebensereignissen sein. Weder bei uns noch
bei anderen!
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Das Wort,
das dir hilft, kannst du dir nicht selber sagen!“
Deshalb sind alle leidgeprüften oder krisengebeutelten Menschen auf Mitmenschen angewiesen,
die sich nicht ins Schweigen zurückziehen, sondern um angemessene Worte ringen. Ja, ringen,
denn es ist nicht einfach, Gefühle in Worte zu
fassen – genauer gesagt: Es ist harte Arbeit. Und
hier gibt es kein fertiges Rezept, denn jeder Bruch
ist anders und jeder angeknackste oder gebrochene Mensch reagiert anders. Es gibt ja nicht nur
die vielen, die still werden, sich zurückziehen –
manche Menschen machen genau das Gegenteil,
sie reden nach einem schweren Schicksalsschlag
wie ein Wasserfall. Es scheint, als ob sich in
ihrem Inneren entweder ungeheuer viel angestaut
hätte, was jetzt wie nach einem Dammbruch ins
Freie drängt. Doch auch das andere ist möglich:
Dass Menschen durch unaufhörliches Reden den
Schmerz ihrer Seele betäuben (oder ihre Hilflosigkeit kaschieren), so wie andere sich durch Sport
oder pausenlose Arbeit ablenken. Hier sollte man
geduldig eine Weile zuhören, aber irgendwann
auch deutlich machen, dass alles seine Zeit hat
– das Reden ebenso wie das Schweigen.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Erkenntnis Nummer drei: Die Seele hat ihr eigenes
Tempo, um Schweres zu verarbeiten.
44
Und dieses Tempo lässt sich mit pausenlosem
Gequassel nicht beschleunigen.
Doch was ist an Worten angebracht, ohne dass
es unecht und einstudiert klingt?
Drei Gesprächs-„achsen“ halte ich für hilfreich:
> Teile deinem Gegenüber mit, was du selbst
empfindest, wie du das Ereignis erlebst. Jesus
sagte im Garten Getsemane ganz direkt zu seinen
Jüngern: „Meine Seele ist todtraurig.“ Er schwieg
nicht, und er spielte nicht den starken Mann!
Eine solche „Selbstmitteilung“ durchbricht die
Mauer des Schweigens.
> Bitte den anderen, über sein eigenes Empfinden, vielleicht auch seine Gedanken und Erinnerungen, seine Fragen und Zweifel, seine Hoffnungen und Erkenntnisse zu sprechen – und
bewerte oder korrigiere nicht, was er sagt,
sondern respektiere es. Halte auch die Tränen
bei dir und dem/den anderen aus!
> Schau mit deinem Gegenüber zusammen
auch die Gegenwart an: Was können wir jetzt
und heute zusammen tun, was tut uns evtl.
gut? Was können in den nächsten Tagen oder
Wochen gemeinsam anpacken oder anpeilen,
um nicht nur im Schmerz über Verlorenes zu
versinken, sondern auch in der Gegenwart zu
leben?
Alle drei Perspektiven lassen sich sowohl im
Zweiergespräch als auch in einer größeren Gemeinschaft einbringen und umsetzen, wobei
die größere Gemeinschaft den Vorteil hat, dass
sich die Lasten auf mehrere Schultern verteilen.
Alle Beteiligten sollten jedoch erkennen, dass
gerade in diesem Miteinander-Sprechen, das ja
im Grunde ein Miteinander-Teilen von Gefühlen und Gedanken ist, eine große Chance liegt.
Eine Chance zu gemeinsamen Wachstum, zu
mehr Tiefe auch in den Beziehungen, eine
Chance, die eigene Sprachfähigkeit zu trainieren, wenn es um Gefühle geht. Und nicht zuletzt eine Chance, füreinander nicht nur in
guten, sondern auch schlechten Zeiten da zu
sein. Eine Chance, sich gegenseitig Kraft und
Mut zu geben, die Dinge auch mal von einer
anderen Warte aus zu sehen. Denn:
Letzte Erkenntnis: Nur wer Brüche anschaut
und anspricht, kann helfen, dass Wunden heilen.
Wer wegschaut und schweigt, ändert gar nichts.
• Dr. Beate Weingardt
49 Jahre, verheiratet, evangelische Theologin
und Psychologin, arbeitet als Autorin,
Referentin in der Erwachsenenbildung
und psychologische Beraterin
Gründe suchen – Vergeblichkeit der schnellen Antworten und leichten Lösungen
praktisch
Wie halten wir die
Spannung aus?
Streit in der Familie, verletzende Worte in Freundschaften oder in der Partnerschaft,
unausgesprochene Wünsche, unerklärliche Fragen an Gott. Unser Leben ist voll mit
Spannungen, die in unserem Alltag zwangsläufig Platz haben. Ein ablehnender Blick
trifft zwischenmenschlich meistens tiefer, als wir es uns zunächst eingestehen können.
Nachgeben, Fehler eingestehen, Einsicht zeigen, Fehlanzeige. Unser Stolz verhindert
zu oft klärende Worte. Jeder hat ein anderes Rezept, mit einer solchen Spannung
umzugehen. Manche haben sich ein dickes Fell angelegt, andere verzweifeln daran,
wieder andere versuchen spannungsgeladene Situationen zu vermeiden.
>>>>>>
Hiob stand wie kein anderer in der Bibel in
einer Spannung zwischen Leben und Tod,
Freundschaft und Ignoranz, Gott und Teufel.
Er hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt,
geliebte Menschen zu verlieren und keine befriedigende Antwort darauf zu finden. In seinem Leiden wird er mit Anfechtungen seiner
Freunde konfrontiert – schnell dahin gesagte
Antworten und verurteilende Vorwürfe treffen
ihn. Ist er etwa auch noch selbst schuld an seinen Problemen? >>>
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Hiob und die Suche nach den Bruchursachen
45
Hat er selbst sein Glück in der Hand? Hängt
Gottes Wohlgefallen vom menschlichen Gehorsam ab? Muss er seinen Schmerz unterdrücken?
Wieso sagt Gott nichts?
praktisch
Viele unserer zwischenmenschlichen Konflikte
zeigen sich auch in der persönlichen Gottesbeziehung. Wieso fällt es so schwer, Gott das eigene
Leid zu klagen oder Antworten auf zermürbende
Fragen zu fordern? Wir klagen unser Leid, stellen
Fragen, doch verschließen uns vor den Antworten. Im Selbstmitleid kreisen wir um uns selbst.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, schreit Jesus am Kreuz. Haben wir Angst
vor unbequemen Antworten oder Angst, wirklich
alleine gelassen zu werden? Ungewisse Fragen und
ungeklärte Umstände erzeugen eine Spannung.
Wie gehen wir damit um? Wie halten wir diese
Spannung aus?
In vier Schritten, die Bausteine für einen Mitarbeiterkreis sein können, soll in die Thematik
eingeführt werden und einen Einstieg in diese
wichtige Frage für Leben und Glauben bilden.
Das Ziel der Stunde ist es, Hiobs Weg durch
Treue und Selbstzweifel einmal schonungslos
zu betrachten, seine Auseinandersetzung auch
kritisch zu bewerten und sich selbst in der
Geschichte wiederzufinden. In ihr steckt Kraft
und Trost, auch oder gerade weil keine Lösung
erkennbar ist. Gott begleitet, auch wenn wir uns
Lichtjahre entfernt und verlassen fühlen. Gott
hilft mit Spannung umzugehen und stellt sich
in den Dialog mit uns.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Elemente für den Mitarbeiterkreis
46
Schritt 1: Textmeditation – zwischen Verlust und
Dankbarkeit
(ca. 10–15 min.)
Hiob ist ein reicher Mann, dem es an nichts
fehlt. Als der Teufel Einfluss auf sein Leben
nimmt, werden ihm wertvolle Dinge und
Menschen im Leben genommen. Grundpfeiler
seines Lebens werden innerhalb eines Augenblicks eingerissen: Familie, Besitz, wirtschaftliche
Absicherung.
Hiob bewährt sich trotz der Rückschläge:
„Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen;
der Name des Herrn sei gelobt“ (Vers 21). Er zweifelt Gott nicht an, er ist dankbar für alles, was
er bekommen hat.
Als Einstieg dient eine Textmeditation über
Hiob 1,10–22. In der gesamten Gruppe wird
dazu der Text laut vorgelesen. Leitfragen sind:
Was sind in meinem Leben Grundpfeiler?
Wofür bin ich Gott dankbar?
Durch kurze unkommentierte Schlagworte der
Teilnehmer, die in die Gruppe gegeben werden,
wird auf die Unfassbarkeit dieser Situation aufmerksam gemacht und sensibilisiert.
Schritt 2: Quadrat-Methode – Zustimmung und
Empörung
(ca. 15–20 min.)
Um eine geordnete Auseinandersetzung mit
diesem emotionalen Thema zu schaffen, wird
die Gruppe in Vierergrüppchen geteilt. Die
Teilnehmenden werden bei dieser Methode
besonders dazu ermutigt, sich eine Meinung
zu bilden und diese auch zu vertreten.
Im Austausch mit anderen können bisherige
Sichtweisen überdacht werden und es hilft,
eigene Erfahrungen einzuordnen.
Diese Anfänge beinhalten entweder Zustimmung
oder Ablehnung für die These, jeweils mit Einschränkung oder Begründung. Die Teilnehmenden überlegen sich im Stillen, welche Haltung
sie zu der These einnehmen wollen und schreiben ihre Argumente auf einen leeren Zettel und
legen diesen verdeckt an die entsprechende Seite
des großen quadratischen. Das Aufschreiben
hilft dem Klar-werden des Gedankens.
Daraufhin decken die Teilnehmer ihre Zettel
gemeinsam auf und es beginnt der gemeinsame
Austausch über die Argumente. Spannend wird
es, wenn die Diskussion von vielen unterschiedlichen Ansichten lebt.
Anschließend können die Gruppengespräche
evtl. noch in der großen Gruppe reflektiert
werden, wie es den einzelnen Teilnehmern
ging und welche Gedankengänge vielleicht
neu waren.
Schritt 3: Klagen – wenn die Solidarität fehlt
(ca. 15 min.)
Menschliche Rede ist nicht im Stande, Schmerz
ausreichend zu pflegen. Gerade wie und was
andere Menschen zu uns sagen, da steckt oft viel
Wertung und zusätzliche Verletzung drin. Hiob
wird schwer krank (Kapitel 2), trotzdem hält
Spannung und Schmerz lassen sich nicht einfach wegdiskutieren.
Sie aufzulösen, erfordert viel Geduld und
Einfühlungsvermögen der Menschen, die uns
begleiten. Wie oft verlieren wir uns in Ungeduld
oder vergreifen uns im Ton. Für Hiob verläuft
diese Diskussion schmerzhaft. Die Besserwisserei
macht ihm sichtlich zu schaffen: „Ihr seid alle
unnütze Ärzte“ (Hiob 13,4)! >>>
praktisch
Als nächsten Schritt erhält jede Gruppe einen
weiteren quadratischen Zettel, an dessen vier
Seiten jeweils ein Satzanfang für mögliche
Stellungnahmen zu der These steht:
> „Ja, weil …“
> „Ja, aber …“
> „Nein, weil …“
> „Nein, aber …“
er weiterhin an Gott fest, seine Frau zeigt
Unverständnis. Als dann seine drei Freunde
Elifas, Bildad und Zofar zu Besuch kommen,
haben diese zunächst Mitleid mit ihm. In einer
Diskussion kommt es allerdings zum Bruch.
Nachdem Hiob sein Leid geklagt hat (Kapitel 3),
werfen sie ihm mangelndes Gottvertrauen vor.
Vor Gott ist jeder Mensch schuldig und hätte
eigentlich eine solche Strafe verdient. Die Furcht
vor Gott ist der einzige Trost, den ein Mensch
hat. Nüchtern betrachtet gehen sie sehr unsensibel mit Hiob um, der eigentlich mehr Trost als
noch mehr Last bräuchte. Er versteht die Einwände
seiner Freunde, aber der Schmerz erschlägt ihn
einfach. Hiob ist gefangen in den ungelösten
Fragen. Die pauschalen Antworten können ihm
nicht helfen.
„Denn die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir;
mein Geist muss ihr Gift trinken, und die
Schrecknisse Gottes sind auf mich gerichtet“
(Hiob 6, 4).
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Jede Gruppe erhält auf einem quadratischen
Zettel eine bestimmte Stellungnahme, die eher
provokant und spannungsgeladen formuliert
ist. Vorlagen:
> Hiob geht leichtfertig mit seinem Verlust um.
Er müsste wütender sein!
> Gott ist gnädig, weil er Hiobs Leben verschont.
> Hiob lebt rechtschaffen und gottesfürchtig
(Vers 8) und trotzdem hilft ihm das nichts.
Das ist unfair!
47
Wie gut tut es, Leid und Schmerz einfach einmal
unkommentiert aussprechen zu können! Ohne
befürchten zu müssen, dafür verurteilt zu werden.
Ein Freund, der geduldig die Aufregung und den
Frust abwartet, ist Gold wert. Der beste Weg aus
der Spannung ist, sie in Worte zu fassen. Hiob tut
das in Form einer Klage in Kapitel 3. Unverblümt,
frei und ehrlich. Er nimmt kein Blatt vor den
Mund, er lässt seinen Frust raus.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Literatur
praktisch
Jeder Teilnehmer kann selbst eine solche Klage
verfassen. In einer stillen Phase (ca. 15 min.) ist
Zeit, Unverständnis und Frust niederzuschreiben.
Was in meinem Leben verstehe ich nicht?
Warum hilft Gott mir nicht weiter? Diese Klage
kann auch als ein Brief an Gott geschrieben
werden. Anschließend können diese Zettel in
der großen Gruppe vernichtet werden. Bei Bedarf
und persönlicher Atmosphäre kann auch noch
ein Gespräch darüber stattfinden.
48
Schritt 4: Abschließender Impuls – Treue im Unerklärlichen
(ca. 10 min.)
Hiob zerbricht nicht an der Diskussion mit
seinen Freunden. Das Buch endet in einem
Gespräch mit Gott. Gott hat nicht auf Hiobs
gestellte Fragen geantwortet und sich nicht
auf ein Ursachengespräch eingelassen. Gott
antwortet auf die Verzweiflung Hiobs mit Treue
und Segen. Hiobs Freunde versuchten Antworten
zu finden, das Unerklärliche zu erklären. Doch
erst Gottes Wort bringt befriedigende Aufklärung.
Gott hält die Spannung mit uns aus. Hiob starb
„alt und lebenssatt“ (Kapitel 42,17).
Unauflösliche Spannung gehört unweigerlich
zum Leben dazu. Ein Leben ohne Spannung
gibt es nicht. Verzweiflung und leidvolle Fragen
machen oft wütend und ängstlich. Und Gott?
Er schenkt keine schnellen Antworten, er präsentiert keine leichten Lösungen, Gott antwortet
auf seine Weise. Wir sollen klagen und jammern,
wie Hiob es tat. Das befreit und macht den Frust
leichter. Es läuft nicht alles glatt, unsere Träume
und Vorstellungen werden immer wieder Rückschläge
und Widerstand erfahren. Doch Gott geht diesen Weg mit uns, treu und ehrlich hält er mit
uns die Spannung aus. Deshalb sollen wir loben
und uns wie Hiob in schwierigen Zeiten geborgen wissen.
Liedvorschlag
„Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Dietrich Bonhoeffer
Literatur-Anregungen:
Anneliese Hecht – Kreative Bibelarbeit, Stuttgart,
2008
Verena Kast – Abschied von der Opferrolle, Herder,
2003
• Jan-Paul Herr
Jahrgang 1986, Student an der
CVJM-Hochschule Kassel, 2. Semester
praktisch
Wenn Dinge sich gewaltsam verändern
Oft bin ich traurig, mutlos, allein. Sorgen sind Riesen, doch ich bin ganz klein.
Wer kann mich lieben, trösten, verstehn? Wer will mich hören? Zu wem kann ich gehn?
Sei nicht mehr traurig, fasse doch Mut! Einer ist bei dir, und das ist so gut:
Gott will dich lieben, trösten, verstehn. Er will dich hören, zu ihm kannst du gehen.
>>>>>>
Dieses Lied schrieb ich in den 80er Jahren
in Anlehnung an Psalm 69, als ich für eine
Bibelarbeit für Jungscharler zum Theme
Trauer/Leid kein geeignetes Lied fand. Damals
war ich Lehramtsstudentin und engagierte mich
ehrenamtlich im CVJM in der Jungschararbeit.
Dass ich die Aussagen des Liedes schon bald
ganz intensiv in meinem eigenen Leben würde
nachbeten, ahnte ich damals noch nicht. >>>
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Wasser umgibt mich, lässt mich nicht los. Ich kann nicht schwimmen, die Angst wird
zu groß.
Lass mich nicht fallen, hilf mir, mein Gott! Schenke mir Leben und wende die Not!
49
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
praktisch
Die Psalmen als „Liederbuch der Bibel“ waren
mir schon von klein auf vertraut, da ich in einem
christlichen Elternhaus aufgewachsen bin. Waren
es anfangs mehr die Lob- und Dankpsalmen, die
wir in verschiedenen Versionen im Kinder- und
Jugendchor sangen, kam später im Studium auch
die Beschäftigung mit den Klagepsalmen hinzu.
Ich lernte die Bildsprache der Psalmen schätzen
und lieben und versuchte, sie auch Kindern zugänglich zu machen. So entstand eine Unterrichtseinheit zum Thema „Psalmen“ sowie das oben
genannte Lied.
50
Inzwischen hatte ich mein Studium samt Referendariat erfolgreich beendet, wohnte wieder in
meinem Elternhaus und bereitete mich auf einen
Auslandseinsatz als Lehrerin für Missionarskinder
vor. Da traf uns im Januar 1989 ganz plötzlich
die Nachricht von der fortgeschrittenen Krebserkrankung unserer Mutter. Nur etwa zwei
Wochen später starb sie im Alter von 53 Jahren,
meine beiden jüngsten Schwestern waren gerade
17 Jahre alt und gingen noch zur Schule. Was
sollte ich jetzt machen – trotzdem in Richtung
Afrika aufbrechen und meine Schwestern im
letzten Schuljahr vor dem Abitur allein lassen
mit unserem 70-jährigen Vater, dem Haushalt
und ihrer Trauer? Die Entscheidung war schnell
getroffen: Ich ließ „meine“ Missionarsfamilie im
Sommer erst einmal allein nach Tansania ausreisen und blieb noch ein Jahr in Deutschland,
wurde in unserem CVJM-Kreisverband mit 1/2
Stelle angestellt und hatte noch genügend Zeit,
mich um den Haushalt zu kümmern und meinen
Schwestern und meinem Vater zur Seite zu stehen. In dieser Zeit habe ich zum ersten Mal ganz
deutlich gespürt, was es heißt „getragen“ zu sein.
Es gab oft Phasen, in denen ich glaubte, die Kraft
nicht mehr zu haben – und dann kam unerwartet
Hilfe von außen. Ich erinnere mich, dass ich
eines Nachmittags vor einem Berg Flickwäsche
saß und nicht wusste, wie ich ihn bewältigen
konnte. Da kam eine ältere Kusine, selbst Mutter
von sechs Kindern, und griff mir unter die Arme.
Sie schnappte sich einige Wäschestücke und
flickte sie und zu anderen machte sie nur die
Bemerkung: „Das zieht ihr noch ein- bis zweimal an und dann wirfst du es weg – flicken
lohnt sich hier wirklich nicht! Und Bettwäsche
und Geschirrtücher muss man auch nicht
unbedingt bügeln, wenn dafür die Zeit nicht
ausreicht.“ Welch eine Last war von meinen
Schultern genommen – ich musste nicht alles
„perfekt“ machen! Woher wusste die Kusine,
dass ich sie gerade an diesem Nachmittag nötig
brauchte? Ich bin mir sicher, dass es unser
himmlischer Vater war, der sie vorbeigeschickt
hatte. Ein anderes Mal waren es Hilfe im
Garten oder beim Einkochen, eine liebevoll
geschriebene Karte oder ein Blumenstrauß.
Aber auch die vielen Gebete, deren positive
Wirkung ich immer wieder spürte, dürfen hier
nicht unerwähnt bleiben, ohne die wir alle
sicher verzweifelt wären.
Es gab aber auch Reaktionen von Mitmenschen, die nicht wirklich hilfreich waren.
So bekamen wir von einem „Bruder im Herrn“
zu hören: „Eure Mutter ist nur deshalb gestorben, weil ihr nicht genug gebetet habt.“
Wie gut, dass Gottes Kraft auch durch solche
Situationen hindurchtrug!
Diese erste Zeit nach dem Tod meines Mannes
erlebte ich wie in einem Film – nur dass ich
darin ungewollt die Hauptrolle hatte und auch
nicht einfach sagen konnte „So, das war’s, jetzt
geht es wieder zurück ins richtige Leben.“
Das war jetzt mein Leben – als 36-jährige Frau,
Mutter von zwei leiblichen und zwei Stiefkindern, Witwe. Wie dankbar war ich in jenen
Tagen, dass unsere Freunde aus dem Hauskreis
in der Nähe waren! Sie waren immer da, wenn
ich sie brauchte: Luden zum Essen ein, passten
auf die Kinder auf, standen mit Rat und Tat zur
Seite. Aber auch die Familien halfen, wo sie
konnten. Allerdings waren sie weiter weg und
konnten so nicht immer zur Stelle sein. >>>
praktisch
Dann geschah wieder etwas, was meine Pläne
völlig veränderte: Ich lernte den „Mann meiner
Träume“ kennen, einen Witwer mit zwei Kindern
im Alter von 7 und 10 Jahren. Im Mai 1994
heirateten wir. Nun war die Entscheidung
gefallen: Die Frauenschule in Tansania musste
ohne mich auskommen! Dafür hatte ich jetzt
neben meinem Beruf und der Gemeindearbeit
auch noch eine Familie, die mich brauchte.
Die beiden Kinder hatten durch die lange
Krankheitszeit und den Tod ihrer Mutter schon
vieles entbehren müssen und waren froh über
gemeinsame Unternehmungen, Zeit, Anregungen, Hilfe bei den Hausaufgaben und beim
Musizieren. Schon bald wurde das Haus, in
dem wir wohnten, zu klein – nach dem ersten
gemeinsamen Kind kündigte sich das zweite an.
Wir beschlossen zu bauen und schafften es,
noch vor der Geburt des Kindes in unserem
neuen Haus zu sein. Wir wohnten jetzt im
gleichen Ort mit zwei weiteren Familien aus
unserem Hauskreis, sodass wir uns recht schnell
heimisch fühlten. Die Tage waren ausgefüllt
mit der Sorge für die großen und kleinen
Kinder, dem Fertigstellen des Hauses, der
Gestaltung der Außenanlagen und den vielen
1000 Dingen, die in einer Familie anfallen.
Da traf im August 1998 die Nachricht ein
wie ein Hammer: Mein Mann hatte an seiner
Arbeitsstelle einen Herzanfall erlitten und war
verstorben, im Alter von 40 Jahren.
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
Im Sommer 1990 saß ich dann im Flieger nach
Tansania. Es folgten zwei Jahre als Lehrerin für
eine deutsche Schülerin und Mithilfe in einer
kleinen amerikanischen Schule für Missionarskinder. Bald tat sich ein weiteres Tätigkeitsfeld
auf: Englischunterricht für afrikanische Frauen,
deren Männer am Theologischen College studierten. Darüber hinaus half ich mit bei der
Erstellung eines Lehrplans für eine Schule für
Studentenfrauen, die sich gerade im Aufbau
befand. Sollte das mein neuer Arbeitsplatz
sein – Lehrerin an einer Schule für afrikanische
Frauen? Vorstellen konnte ich es mir und auch
die verantwortliche Missionarin bat um meine
Mithilfe. Ich wollte aber nach den geplanten
zwei Jahren erst einmal Berufserfahrung in
Deutschland sammeln, um später auch eine
Rückkehrmöglichkeit in meinen „eigentlichen“
Beruf offen zu halten. Doch wo sollte ich mich
bewerben?
In der Zwischenzeit hatte sich in Deutschland
einiges getan: Die Mauer war weg, in den
„neuen“ Bundesländern wurde das Fach
„Religion“ eingeführt. Das war die Chance:
Beim Aufbau des Faches „Evangelische Religion“
mitzuhelfen. Ich bekam eine Stelle an einer
Regelschule (Haupt- und Realschule) in
Thüringen und zog im Februar 1993 nach
Leinefelde. Da ich ledig und ungebunden
war und weder Telefon noch Fernseher besaß,
konnte ich mich voll auf meinen Unterricht
konzentrieren. Es sollte ja nur für ein paar
Jahre sein! In der ev. Kirchengemeinde fand
ich meine Heimat und lernte die Gemeindestrukturen im „Osten“ kennen, die weniger
auf Laien aufgebaut war, da es immer sehr viele
Hauptamtliche gegeben hatte. Doch inzwischen
waren auch diese anderweitig verplant und ich
konnte dabei mitwirken, die Laienarbeit zu fördern. Ich startete einen Kirchenchor und wurde
die 1. Vorsitzende des neu gegründeten CVJM.
Dabei stellte ich fest, dass Missionsarbeit in
einer säkularisierten Gesellschaft viel schwerer
ist als im fernen Tansania! Und das, obwohl das
Eichsfeld mit seiner stark katholischen Prägung
schon immer eine Ausnahme bildete im atheistischen Staat. Sollte ich vielleicht doch lieber
in Thüringen bleiben? Sollte das mein neuer
„Platz“ sein?
51
praktisch
CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010
52
Es gab Zeiten, in denen ich keine Kraft mehr
zum Beten hatte, nicht mehr selbst formulieren
konnte, was ich tief in mir drinnen spürte. In
dieser Situation spürte ich wieder, wie wahr die
Erfahrungen der Psalmbeter sind: Gott ist da, im
„finsteren Tal“, wenn ich das Gefühl habe, dass
ich „in tiefem Schlamm versinke“. Er tröstet –
häufig durch andere Menschen, die wahrscheinlich gar nicht merken, dass sie in diesem Moment
ein „Engel“ (Bote Gottes) sind. Ich erinnere mich
an einen Morgen, an dem ich keine Kraft für den
Alltag hatte. Alles schien so schwer, jeder kleine
Handgriff war ein großes Problem. Da brachte
mir der Briefträger zwei Briefe, die jeweils um die
halbe Welt gereist waren: Einer kam aus Tansania,
der andere aus den USA. Sie waren viele Tage
unterwegs gewesen, doch trafen beide genau an
dem Tag ein, als ich den Zuspruch am nötigsten
brauchte. Tief in meinem Inneren wusste ich: Das
war Gottes Timing. Er ließ mich in meiner Trauer
nicht allein.
Seit dieser Zeit sind zwölf Jahre vergangen. Jahre,
in denen es immer wieder Tiefen gab, in denen
ich aber auch immer wieder neu die Erfahrung
machte: „Gott will mich hören, zu ihm kann
ich gehn.“ Ich habe eine andere Sicht bekommen
auf das Leid. Gott hat uns nicht verheißen, dass
wir ein Leben ohne Leid führen, aber er hat versprochen, dass er dann da ist, wenn wir ganz tief
unten sind. So muss Leid keine Katastrophe sein,
sondern eine Chance, sich ganz in Gottes Hände
fallen zu lassen. Hätte ich dann, wenn mein Mann
noch lebte, so viel mit Gott über meine Kinder
geredet? Hätten so viele Menschen für sie gebetet? Ich habe aber auch gelernt, dass jeder seine
persönliche Situation selbst deuten muss. Ich
kann einem anderen von meinen Erfahrungen
erzählen, ich kann aber nicht sagen: Du leidest,
weil ...
Noch viel könnte ich von dem erzählen, wie
Gott mir im Leid geholfen hat. Eines ist mir
am Schluss noch wichtig: Ich bin froh, dass
ich in meinen „guten Jahren“ lernen durfte,
mit der Hilfe Gottes zu rechnen, denn so konnte ich im Leid an diese Erfahrungen anknüpfen.
So möchte ich Mitarbeiter im CVJM und anderen christlichen Organisationen ermutigen,
jungen Menschen von der Liebe Gottes zu
erzählen, damit diese, wenn in ihrem Leben
die dunklen Zeiten kommen, wissen, dass sie
mit Gottes Hilfe rechnen können.
• Gabriele Hunold
47 Jahre, verwitwet, Lehrerin für ev. Religion,
Musik und Englisch an einer Grund-, Hauptund Realschule, ehrenamtlich tätig in der Ev.
Kirchengemeinde Arenshausen (Thüringen)
und bei übergemeindlichen Projekten
>>>
Vorschau 4.2010
Thema:
Gott wird Mensch
biblisch:
Lobgesang des Zacharias, Simeon und Maria
grundsätzlich:
Die Sendung Jesu – seine Titel
informativ:
Warten auf den Gekommenen
praktisch:
Vom Sinn der unbekannten Weihnachtsbräuche
>>>
Die Nummer 5.2010
hat das Thema:
Unterschiede
Impressum
Mitarbeiterhilfe der Christlichen Vereine junger Menschen – erscheint
fünfmal im Jahr – 65. Jahrgang
Herausgeber und Verleger:
CVJM-Gesamtverband in Deutschland e. V. durch Dr. Wolfgang Neuser
Redaktion:
Gudrun Meißner (Schriftleiterin), Frankfurt; Dr. Wilhelm Eppler, Kassel;
Norbert Held, Neukirchen; Holger Noack, Wuppertal; Doris Reichmann,
Detmold; Daniel Rempe, Kassel; Alma Ulmer, Stuttgart; René Wälty,
Känerkinden
Redaktionsanschrift:
CVJM-Gesamtverband in Deutschland e. V.
– Mitarbeiterhilfe – Im Druseltal 8, 34131 Kassel
oder Postfach 41 01 54, 34063 Kassel-Wilhelmshöhe;
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S. 9, 24 Bildmontage; S. 12–14, 37 40, 45–50 privat; S. 42 Internet;
S. 51 G. Hunold
Gestaltung: Dipl. Designer Bernd Drescher, Lüdenscheid
Druck: Design & Druck C. G. Roßberg, 09669 Frankenberg
3.2010

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