Joggen um den Jen-Ji-Hu - Lokal Journalismus 2011

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Joggen um den Jen-Ji-Hu - Lokal Journalismus 2011
28
REGION STUTTGART
Dienstag, 17. Juni 2008
Stuttgarter Zeitung Nr. 139
Eine Familie in
C H I NA
Joggen um den Jen-Ji-Hu
Lutz Laumann ist auf Reisen, seine Frau plant den Abschied, und Emma will ihre Ruhe – Teil vier der StZ-Serie
STUTTGART. Olympia naht, und die Welt
schaut auf ein altes Reich, das ein neues
Land werden will. Die Laumanns aus
Ludwigsburg schauen mit: Im Jahr der
Spiele zieht die fünfköpfige Familie nach
China, wo der Vater für den Bosch-Konzern arbeiten wird. Wir begleiten sie.
Von Michael Ohnewald
Die Chinesen sind überall. Neulich ist Bruno
frühmorgens aufgewacht und in die Küche
gegangen. Vater Lutz saß dort verschlafen vor
einem Espresso. Er war gerade von einer
Dienstreise aus China nach Ludwigsburg zurückgekehrt. Sein vierjähriger Sohn schaute
in sein übernächtigtes Gesicht und schrie
plötzlich entsetzt: „Papa, du hast ja in China
Schlitzaugen bekommen.“ Es dauerte eine
Weile, bis der müde Vater seinen aufgeweckten Sohn davon überzeugen konnte, dass er
sich durch seine Reisen nach Fernost zumindest äußerlich nicht verändert hat.
Dafür verändert sich sonst manches bei
den Laumanns. Die ersten Kartons sind gepackt, Ende nächsten Monats zieht die Familie aus. „Ich habe kaum Zeit, mich mit dem
Gedanken zu befassen, dass wir bald gehen“,
sagt Sabine Laumann. Sie ist jetzt öfter allein
mit den drei Kindern, weil ihr Mann sich in
China einarbeitet. Die Mutter muss für die
Umzugsfirma den Haushalt katalogisieren:
Zwölf Ikea-Becher, drei WMF-Töpfe, vierzehn
Gabeln. Das ist wichtig, falls das Containerschiff sinkt und die Versicherung einspringt.
Ein Mitbringsel
aus China für
die Töchter
Vorgängers. Die chinesischen Kollegen wollten unbedingt mit dem neuen Mann im Restaurant ein Bier trinken. „Gan bei“ nennt sich
das Ritual. Frei übersetzt könnte man sagen:
„Hoch die Krüge und runter das Zeug auf Ex.“
Da es eine ganze Menge Kollegen waren, die
den Deutschen willkommen hießen, blieb
ihm der Abend länger in Erinnerung.
Wie es sich gehört, ist Lutz Laumann am
nächsten Morgen trotzdem pünktlich im
Bosch-Werk erschienen. Für gewöhnlich lässt
er sich gegen halb acht vom Werksfahrer
abholen. Mit ihm fährt er über das nächste
Autobahnkreuz ins vierzig Kilometer entfernte Wuxi, vorbei an bunten Olympiaringen
und frisch gepflanzten Bäumen. Anders als im
chronisch verstauten Schanghai ist der Verkehr auf dieser Strecke noch erträglich.
In Wuxi fühlt sich Lutz Laumann fast so
wie in Feuerbach. Überall Menschen mit
I
ch freue mich auf den Flug nach China. Da
bestelle ich ein Cola und schaue Fernsehen.
Emmas aktuelle Überlegungen zum
nahenden Umzug ihrer Familie
Werkskleidung samt Bosch-Emblem. Nur das
Mittagessen ist ein bisschen anders als zu
Hause. Es gibt viele kleine Schalen, und gegessen wird mit Stäbchen. Der Ingenieur hat sich
beim Chinesen in Ludwigsburg darauf vorbereitet und isst jetzt schon unfallfrei mit dem
zierlichen Besteck. Im neuen Haus der Familie, in dem er während seiner Chinareisen
bereits übernachtet, greift er auf die vertrauten Werkzeuge zurück, auch wenn es davon
in der Küche noch nicht allzu viele gibt. Die
meisten Sachen sind noch in Ludwigsburg.
„Einmal hatte ich richtigen Frust“, sagt er .
„Ich hier ganz allein, die Familie zu Hause.“
Da ist er joggen gegangen am Jen-Ji-Hu, einen
See, nicht weit vom neuen Mietshaus entfernt. Dabei ist er vielen grinsenden Chinesen
begegnet, die meisten von ihnen langsamer
unterwegs und hip angezogen. Lutz Laumann
war viel zu warm eingepackt und schwitzte
wie ein Saunaheizer.
Die meiste Zeit verbringt der Gastarbeiter
im Büro. Er kann von seinem Arbeitsplatz auf
eine Fabrikhalle sehen, die noch verwaist ist.
Nebenan werden bereits im Dreischichtbetrieb Dieseleinspritzanlagen für den chinesischen Markt produziert. Der Bosch-Konzern
wächst in China wie sonst nirgendwo.
Einer, der sich auskennt mit der Zukunft
in Fernost, ist Elmar Weitzel. 52 Jahre alt ist
Und dann ist da auch noch die Abschiedsparty er, und fast die Hälfte davon arbeitet der
im Blühenden Barock. Fünfzig Leute haben Manager für Bosch. Stuttgart, Japan, Südkorea
zugesagt, Verwandte und Freunde kommen und jetzt China. „Executive Vice President“,
von weither. Es wird ein Abschied für länger.
steht auf seiner internationalen Visitenkarte.
Immer öfter schreibt Sabine Laumann in Weitzel ist kaufmännischer Geschäftsleiter
diesen Tagen Briefe, die etwas Endgültiges der Holding und hat sein Büro im Bank of
haben. Kündigung der Musikschule für die China Tower in Schanghai.
Kinder, Kündigung der Versicherung, KündiDer Asienexperte kennt Land und Leute.
gung im Sportverein, Kündigung im Automo- „Hier gibt es eine unglaubliche Dynamik“,
bilclub. Dazwischen packt sie ihre zwei Töch- sagt Weitzel. Er kann das mit Zahlen belegen.
ter und den Sohn ein und fährt zu den Ärzten, 2006 hat Bosch in China einen Umsatz von 1,3
um sie impfen zu lassen gegen Tollwut und Milliarden Euro eingefahren. 2007 waren es
japanische Encephalitis. Nebenbei stehen 1,8 Milliarden. Für dieses Jahr geht der interletzte Zahnreparaturen auf dem Programm.
nationale Autozulieferer von einem WachsEmma Laumann, acht Jahre alt und in der tum „um 30 Prozent“ aus.
zweiten Klasse, hat gerade die Liste mit den
Vor allem die sparsame Dieseltechnik verneuen Schulkameraden bekommen. Viele von heißt Umsatz in China. An vier Standorten
ihnen haben seltsame Namen. Sie stammen arbeiten für Bosch heute 17 000 Menschen: in
aus Neuseeland und Korea und Malaysia. Im Schanghai, Xian, Chong Chin und in Wuxi, wo
Herbst wird sie mit diesen Kindern in Suzhou auch Lutz Laumann künftig sein Büro hat.
unterrichtet. Emma findet das aufregend. An- Bald schon sollen es 23 000 Boschler in China
sonsten erzählt sie nicht viel. „Alle
sein. Bisher hätten vierzig Prozent
reden nur noch von China“, sagt
der Chinesen vom neuen Leben im
sie. Am Anfang sei das toll gewealten Reich profitiert, sagt Weitzel.
sen. „Jetzt ist es ätzend.“
60 Prozent seien für den WohlIhr Vater redet nicht nur oft
stand noch gar nicht erschlossen.
von China, er lebt auch schon fast
Der Manager gehört nicht zu
dort. Die Firma braucht ihn wenidenen, die den Stab über die chineger in Feuerbach und mehr in
CHINA IM FOKUS sische Zentralregierung brechen. In
Wuxi. „Inzwischen freue ich mich,
Peking würden auch viele vernünfdorthin zu reisen. Sogar der Verkehr macht tige Entscheidungen getroffen. Mehr Biotechmir nichts mehr aus, weil ich weiß, dass der nologie, mehr Windkraft, keine alten DieselFirmenfahrer das Chaos beherrscht“, sagt er busse mehr in Großstädten, Schutz vor Marnach seiner vierten Chinareise. Beim ersten kenpiraterie. „Inzwischen leiden auch chinesiMal sei er noch stutzig geworden, als Herr sche Firmen unter diesem Phänomen, die
Quian die Busse rechts überholt und Fußgän- werden auch gnadenlos kopiert“, sagt Weitgern mit Manövern des letzten Augenblicks zel. Abgesehen davon, dass neulich eine Nahausgewichen ist. „Alles Gewöhnungssache.“
rungsmittelfirma kopierte Bosch-Zündkerzen
Der Familienvater traut sich immer mehr ausführen wollte, sei das Unternehmen von
zu in China. Vor einigen Tagen ist er in größeren Schäden verschont geblieben. Was
Suzhou zum Friseur gegangen. Er hat dort vielleicht auch daran liegt, dass die Firma eine
zwar keinen verstanden, war aber am Ende lange Tradition in China hat und den Markt
mehr als zufrieden. Vor allem die Massage, kennt. Schon 1909 wurde die erste Vertredie ihm die Herren im Friseursalon verpasst tung in Schanghai eröffnet – nächstes Jahr
hatten, die ein bisschen aussahen wie die wird das in China groß gefeiert. Dann ist auch
Jungs von Tokyo Hotel, hat ihn überzeugt. Lutz Laumann dabei. Im August zieht seine
Frisurtechnisch war auch nichts auszusetzen.
Familie ins Land des Wachstums.
Wehgetan hat ihm der Kopf dennoch bei
Alle Folgen der Serie sind nachzulesen unter
dieser Reise, aber nicht wegen des Friseurs,
www.stuttgarter-zeitung.de/china.
sondern wegen der Abschiedsparty seines
Beim Chinesen in Ludwigsburg üben die Laumanns schon mal für die Zukunft.
In der Feuerbacher Firma ist Lutz Laumann nur noch selten. Er wird in China gebraucht.
Fotos
Achim Zweygarth
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REGION STUTTGART
Samstag, 13. September 2008
Stuttgarter Zeitung Nr. 215
Eine Familie in
C H I NA
Spätzle süß-sauer
Die Laumanns haben ihr neues Haus in Suzhou bezogen und leben sich ein – Teil sechs der StZ-Serie
SUZHOU. Gebannt schaut die Welt auf ein
altes Reich, das ein neues Land werden
will. Die Laumanns aus Ludwigsburg
schauen mit: Vor vier Wochen ist die
fünfköpfige Familie in China angekommen, wo der Vater für den Bosch-Konzern
arbeitet. Wir begleiten sie.
Von Michael Ohnewald
Stumm treibt die alte Chinesin ihre Spitzhacke in die Erde des feuchten Niemandslands.
Für einen Moment zieht sie ihren Strohhut ab
und wischt sich mit einem roten Tuch den
Schweiß von der Stirn. Hinter ihr ducken sich
die schlichten Flachbauten der chinesischen
Wanderarbeiter unter den neuen Wolkenkratzern von Suzhou. Vor ihr liegt das umzäunte
Viertel der Wanderarbeiter aus Deutschland,
die es ein bisschen besser haben.
Fast jeden Tag kommt sie herüber, um den
verwilderten Grünstreifen zwischen dem einen und dem anderen China zu bewirtschaften. Die Frau mit dem Strohhut baut Gemüse
an, das Nötigste zum Leben. Die Laumanns
bauen mit am Aufschwung. Vom Fenster im
ersten Stock ihres neuen Hauses können sie
die Gärtnerin beobachten.
Es ist Samstagmorgen. Der chinesische
Wachmann im überwiegend von Deutschen
bewohnten Viertel grüßt freundlich unter einem weißen Sonnenschirm. Zehntausend KiloBootstour um den Tiger Hill von Suzhou. Die fünf Laumanns erkunden am Wochenende ihre neue Umgebung.
Fotos Achim Zweygarth
meter von zu Hause entfernt macht sich
Sabine Laumann zur Garage einer Nachbarin
auf. Um zehn Uhr kommt Karl-Heinz Tenne.
Der Mann weiß, was Balsam für die heimatverbundene Seele ist. Tenne betreibt in Schanghai die einzige deutsche Bäckerei und versorgt seine Landsleute mit Brötchen, Brezeln,
Bienenstich und Bergsteigerbrot.
Der drahtige Lieferant legt seine Backwaren in blauen Körben aus. Man spricht
Deutsch vor der Garage. Schwäbische Dorfbrunnenatmosphäre an der Ostküste Chinas.
Rote 100-Yuan-Scheine gehen über den weißen Klapptisch. Das Geschäft läuft. 8000 Deutsche soll es rund um die 17-Millionen-Stadt
Schanghai geben. Tenne hat daraus den richtigen Schluss gezogen. Bis vor drei Jahren war
der 54-jährige Maschinenbauingenieur selbst
als Führungskraft im Auslandseinsatz und
baute Schaltschränke auf. Weil der Bremer in
Chinesen wohnen in solchen Bauten . . .
. . . die Laumanns haben es etwas hübscher.
China das deutsche Brot vermisst hat, machte
er sich selbstständig, stellte einen deutschen
Bäcker ein und mietete ein Ladengeschäft
unweit der deutschen Schule.
Auf dem reich gedeckten Frühstückstisch
bei Laumanns steht chinesischer Honig neben
Kirschmarmelade, Nutella und Cappuccino
aus der Bosch-Maschine. Es gibt fast alles zu
kaufen in Suzhou, das 150 Kilometer von
Schanghai entfernt liegt und wegen der vielen
Kanäle als Venedig des Ostens gilt. In der 5,7
Millionen Einwohner zählenden Metropole
gibt es einen künstlich angelegten See und
hübsche Parks, aber auch Hunderte von Hochhäuser ohne eine Hoffnung Grün dazwischen.
Die Laumanns haben einen gepflegten
Rasen um ihr neues Heim, und auf der Straße
zwischen den Immobilien des westlichen
Faszinierende Widersprüche: alte Rikscha vor neuer Boutique
Carla aus Deutschland gilt als Attraktion. Sie wird oft von Einheimischen fotografiert.
Komfortstandards können die Kinder gefahrlos spielen wie früher zu Hause. Man lebt
deutsch im Viertel. Im Speisekammerregal
lagern badischer Wein und schwäbische
Spätzle. An der Einfahrt steht ein Volkswagen, Abteilung. 14 000 Euro im Jahr kostet der
neben alten Menschen, die noch in Maos
die Kinder gehen zur deutschen Schule und Schulplatz pro Kind. Bruno wird dort im
Gedankenwelt leben und sich auch so kleiden.
Lutz Laumann in eine deutsche Firma, bei der Kindergarten betreut. Alle drei tragen die
Lutz Laumann zieht sich nicht anders an
deutsche Führungskräfte die Mittagspause in vorgeschriebene Schuluniform, was den All- als zu Hause, wenn er ins Büro geht. Der
der chinesischen Kantine schon mal mit ei- tag insofern erleichtert, als morgens die ner- Wirtschaftsingenieur arbeitet in der IT-Abteinem herzhaften „Mahlzeit“ einläuten.
venden Debatten mit den Mädels um die lung eines neuen Bosch-Werks und kümmert
Die fünfköpfige Familie aus Ludwigsburg richtige Garderobe entfällt. In der Schule wer- sich dort um reibungslose Werkprozesse. Das
ist vor vier Wochen angekommen, hat gerade den die Kinder von deutschen Lehrern unter- Unternehmen brummt. Die Stuttgarter versorden Container geleert und das Haus eingerich- richtet. Die größte Klasse hat zwölf Schüler, gen den lokalen Markt mit Dieseltechnik. Die
tet. Drei Jahre werden sie hier bleiben. Alles die kleinste einen. Emma, Carla und Bruno 30-millionste Einspritzdüse ist gerade verist noch unvertraut. Beim Eingewöhnen hel- essen in der Schule und werden um 16 Uhr kauft worden. Der Markt ist gewaltig. 50
fen der Fahrer Qian Hong und die Haushälte- wieder mit dem Bus nach Hause gebracht.
Millionen Fahrzeuge sind in China unterwegs,
rin Zhang Ayi. Beide hätten sich die Laumanns
Für sie und ihre Eltern waren die ersten jeden Monat kommen 500 000 Autos dazu.
zu Hause nicht leisten können. Da sind sie Tage aufwühlend und voller Eindrücke aus
Die Laumanns sind teilnehmende Beobachselbst gefahren und haben selbst
zwei Welten. China ist ein Land, ter und positiv überrascht von jenem Land,
geputzt. Aber da hatten sie auch
nicht mehr ganz fernöstlich, aber das von so vielen Vorurteilen umweht wird.
nur eine Toilette. Im neuen Heim
auch noch nicht westlich, ein Land, Sie haben erste Ausflüge gemacht, Restauist mehr Platz. Es gibt drei Bäder,
in dem nicht mehr die reine alte rants ausprobiert und eingekauft. Am Wochenund die werden häufig benutzt. Im
Lehre gilt, aber noch keine neue, ende traut sich Lutz Laumann schon mal
Sommer liegt die Luftfeuchtigkeit
ein Land, in dem grell erleuchtete selbst ans Steuer, obwohl er die meisten
in Suzhou bei 90 Prozent und die
Fassaden gigantisch wachsender Verkehrsschilder nicht lesen und letztlich hier
Temperatur bei 38 Grad.
CHINA IM FOKUS Metropolen alte Stadtviertel erset- auch keinen nach dem Weg fragen kann.
Für die Chinesen sind die
zen. Ein Land im Wandel, dessen
Die Tage in Suzhou sind voller Abenteuer.
schwitzenden Langnasen aus Ludwigsburg Tempo so rasant ist, dass heute schon über- Wenn sie Sehnsucht haben nach alten Freuneine Attraktion. Der vierjährige Bruno wird holt ist, was gestern noch galt.
den, schmeißen sie ihren Rechner mit der
fast bei jedem Spaziergang mit aufs Foto
Was die Familie bisher erlebt hat, lässt Kamera an und lassen sich übers Internet ein
gebeten, wenn der Familie chinesische Aus- hoffen. „Ich kann mir vorstellen, hier zu bisschen Heimat in die Wohnstube wehen.
flügler begegnen. Er fängt an, das zu genießen, leben“, sagt Sabine Laumann. „Es ist alles ein „Bis jetzt fehlt mir hier noch nichts“, sagt Lutz
und grinst wie Brad Pitt bei der Oscarverlei- bisschen ruhiger, das hat mit der lockeren Laumann. Ach doch, fügt er hinzu. „Den Tatort
hung. Die kleine Carla findet den Rummel um chinesischen Mentalität zu tun.“ Immer wie- am Sonntagabend, den vermisse ich schon.“
die Fremdlinge weniger lustig. „Es ist blöd, der staunt sie über faszinierende WidersprüDie gesamte Serie ist nachzulesen unter
dass die Chinesen immer so auf uns schauen.“ che. Klapprige Rikschas vor Edelboutiquen
www.stuttgarter-zeitung.de/china. In vier WoMit ihrer Schwester Emma geht Carla jetzt mit barbusigen Schaufensterpuppen, junge
Einkaufsbummel durch die Stadt
chen erscheint die letzte Folge.
auf eine internationale Schule mit deutscher Chinesen im Stil der Buben von Tokio Hotel
24
Dienstag, 5. Juni 2007
REGION STUTTGART
Stuttgarter Zeitung Nr. 127
Menno Harms ist 67 und kein bisschen müde. Für ein Leben zu Hause ist er nicht geschaffen. „Ich werde die nächsten zwanzig Jahre tätig sein“, sagt der Unternehmer.
I
rgendwie ist Menno Harms ein Mann, zu
dem das Wort irgendwie gut passt. Er gibt
sich offen und bleibt dabei gerne unverbindlich. Er predigt die große Freiheit und
legt sich selbst in Ketten. Er redet von Grundsatz und betont den Umsatz. Er ist 67 und
wirkt wie einer, der bei seiner rastlosen
Wanderung durch die globale Welt der Wirtschaft einen Jungbrunnen entdeckt hat.
An diesem Morgen steht Menno Harms
auf seiner Terrasse am Bopser in Stuttgart.
Der Hausherr sieht an diesem Ort weit über
die Stadt hinaus, und manchmal sieht er auch
in sich hinein. Im Herbst 1999 ist er öfter hier
gewesen. Er hat sich Zeit genommen für den
Blick nach innen, dem ein Schritt nach außen
folgte. Menno Harms, herausragender Repräsentant der baden-württembergischen Industrie, Urgestein der Hewlett-Packard GmbH,
Vorsitzender der Geschäftsführung, Herr über
8500 Mitarbeiter und Sachwalter von 5,5
Milliarden Euro Umsatz, fasste den Entschluss, die Firma zu verlassen und seinem
Leben eine andere Richtung zu geben.
Wann genau dieses Gefühl das erste Mal
da war, kann er nicht mehr sagen. Es hatte
sich im Herbst 1999 langsam in sein Unterbewusstsein geschlichen und sich dort eingenistet. Menno Harms war im September 60
geworden und wollte raus aus dem Hamsterrad und träumte von einer eigenen kleinen
Firma, in der er selbst bestimmen könnte, wie
schnell sich alles dreht. Als im Dezember
überraschend sein sieben Jahre jüngerer Bruder Klaus B. Harms, ein geachteter Theaterkritiker, an den Folgen eines Herzanfalls starb,
wurde dem Manager auf brutale Weise die
Endlichkeit des Seins bewusst. Da hat Menno
Harms getan, was ihm viele nicht zugetraut
hätten: Er hat Schluss gemacht und nach
mehr als dreißig Jahren eine innige Beziehung
beendet, die ihm mehr bedeutet hatte, als er
sich jemals eingestehen wollte.
D
as mit der Seelenverwandtschaft zu
seiner Firma, wie er es nennt, hat eine
längere Vorgeschichte. Menno Harms entstammt keiner typischen Unternehmerfamilie. Sein Großvater hat das Institut für Weltwirtschaft in Kiel gegründet, sein Vater war
Oberstabsarzt bei der Marine. Der Zeitgeist
saß beim Essen mit am Tisch in Nordenham
an der Unterweser. Geprägt war er von preußischen Tugenden, von Disziplin, der Sehnsucht
nach Ordnung und vom Denken in Hierarchien. Nach Abitur und Militärdienst kam
Menno Harms 1961 nach Stuttgart, um Elektrotechnik zu studieren. Das Nordlicht lernte
die Südtirolerin Ursula Mumelter kennen, die
an der Kunstakademie studierte. Auf dem
Weg zu ihrer Wohnung kam Menno Harms
öfter an einem überschaubaren US-Unternehmen vorbei, das 1959 in Böblingen eine deutsche Dependance aufgemacht hatte. Die
Firma war 1938 von William Hewlett und
David Packard in einer kleinen Garage in Palo
Alto gegründet worden und hatte sich auf
Messgeräte spezialisiert. Menno Harms
suchte dringend eine Anstellung, fragte im
Personalbüro nach und bekam einen Job als
Entwicklungsingenieur. Das war im Februar
1968, und er hatte die Personalnummer 659.
Der
ewige
Manager
Ein Unfall, ein Zufall, ein Glücksfall – und nichts
ist mehr, wie es war. Mit solchen Momenten im
Leben beschäftigt sich Michael Ohnewald in
der Serie „Wendepunkte“. Und mit Menschen wie
Menno Harms. Der Manager ist ausgestiegen,
um überraschend wieder einzusteigen.
Seinen ersten Tag in der Hewlett-Packard
GmbH hat der Hochschulabsolvent auf seine
ganz eigene Art als Wendepunkt erlebt, der
ihn verändern sollte. „Ich war auf einer deutschen Schule, bei der deutschen Marine, auf
einer deutschen Universität, und plötzlich
stand ich in einem amerikanischen Unternehmen“, sagt er. Dort gab es keine Stechuhren,
und alle nannten ihn Menno. Der Chef in
seiner Abteilung verschanzte sich nicht hinter
einem mit Stechpalmen bewehrten Vorzimmer, das Großraumbüro gehörte zur Firmenkultur wie die gemeinsame Kantine, die morgendliche Durchsage des Aktienkurses und
die Freitagsansprache zum Stand der Dinge.
Menno Harms war begeistert, beinahe
erleuchtet. Er glaubte, den Geist aus der
Garage zu spüren, und wollte ein Teil dieser
Bewegung sein. Er genoss die Freiheit am
Arbeitsplatz, das Kontrastprogramm zur zeiterfassten Reglementierung in vielen Betrieben jener Zeit. Der Einsteiger verdiente 300
Dollar, und ein Dollar, das waren vier Mark.
Die deutsche Niederlassung galt als verlängerte Werkbank der amerikanischen Kollegen. Geräte aus den USA bauten sie zusammen. Von Computern und Druckern fürs
große Volk der Anwender redete noch keiner.
Der ehrgeizige Ingenieur hängte sich rein,
erfüllte die vorgegebenen Ziele und schob
sich langsam auf der Karriereleiter nach oben.
Erst baute er eine Abteilung auf, dann leitete
er die nächste. Irgendwann war er General
Manager, zwei Jahre später rückte er in die
Geschäftsführung auf, im Mai 1993 war er als
Vorsitzender der Geschäftsführung ganz oben
auf der Leiter. „Ich wollte das Unternehmen
nicht enttäuschen“, sagt Menno Harms und
meint, dass dieser Satz seine steile Karriere
hinreichend charakterisiert.
Er stand für Kontinuität und zugleich für
die organisatorische Reform, die er anpackte.
Wachse oder weiche, hieß es im schnellen
Geschäft mit der Informationstechnologie. Solche Himmelfahrtskommandos sind gut bezahlt, aber sie haben auch ihren Preis. Seine
drei Kinder bekamen ihren Vater oft tagelang
nicht zu Gesicht. „Verantwortung ist schön,
aber sie hat auch ihre Schattenseiten“, sagt
Menno Harms. Um nicht konkreter und persönlicher werden zu müssen, spricht er von
„Work-Life-Balance“, von der Balance zwischen Arbeit und Leben, und davon, dass bei
ihm zu viel Gewicht auf der Arbeit lag.
M
enno Harms hegte die Firmenkultur,
für die er sich bis heute begeistert. Er
beschwor den Teamgeist und predigte
„menschorientiertes Management“. Als Chef
stellte er seinen Schreibtisch alle paar Monate
irgendwo anders auf, um näher an den Leuten
zu sein. Er nannte es „desking around“, manche seiner Kollegen in der Wirtschaft nannten
es albern. Aber es ging nicht nur um wandernde Tische, sondern auch um Profit. Damit
Foto
der stimmte, hat Menno Harms mit weichem
Zungenschlag harte Einschnitte verkündet.
„Man muss vom Ergebnis überzeugt sein,
sonst geht das nicht“, sagt er und fügt hinzu:
„Eine Unternehmenskultur, die auf Vertrauen
setzt, ist am besten in der Lage, die divergierenden Ziele von Arbeit und Kapital zusammen zu bringen.“ Solche Sätze gibt er gerne
von sich, auch als Lehrbeauftragter an der
Universität in Stuttgart. Sie klingen schön,
viel schöner als Sätze, in denen das Wort
betriebsbedingte Kündigung vorkommt.
Seine eigenen Kündigung nach mehr als
dreißig Jahren war nicht betriebsbedingt, sie
war unbedingt. Sie kam von innen heraus,
und sie kam plötzlich. Im Frühjahr 2000 trat
Menno Harms als Chef des Unternehmens ab,
übernahm den Vorsitz im Aufsichtsrat von
Hewlett-Packard und gründete die Menno
Harms GmbH, deren Ziel es ist, junge Firmen
aus Amerika und Asien nach Deutschland zu
holen. Frei wie ein Vogel wollte er sein und
bloß nicht zu denen gehören, die an einem
Punkt angelangt sind, an dem ihr Leben nicht
mehr vom Geburtsdatum, sondern vom imaginären Sterbedatum definiert wird. Mehr Zeit
haben wollte er für die Stuttgarter Kultur, für
gute Bücher, für Reisen nach Italien, für ausgiebige Spaziergänge mit seiner Frau, für
seine Enkeltochter, für die Grundsatzkommission der FDP, für die Aufsichtsratsposten bei
der Jenoptik, bei Dürr und HP.
Z
wei Jahre hat er es ausgehalten ohne die
HP-Family, dann meldete sich die Konzernchefin Carly Fiorina bei ihm, weil das
Unternehmen den Rivalen Compaq übernommen hatte, und sie in ihm einen Garanten für
eine ruhigere Integration ausmachte, mit der
viele Kündigungen verbunden waren. Da hat
er nicht lange überlegt („Ich wollte mich
nicht verweigern“) und den Aufsichtsrat verlassen, um wieder HP-Deutschlandchef zu
werden. Die Gattin Ursula wurde Geschäftsführerin der Menno Harms GmbH, und ihr
Mann machte seinen Job in Böblingen, als
wäre er nie weg gewesen.
Für Außenstehende ist so eine Wende
nach der Wende nicht leicht zu verstehen.
Man kann sich das vielleicht so vorstellen wie
bei einem Karpfen, der in einer Badewanne
lebt und schon so lange drin ist, dass er sie für
seine wahre Heimat hält und gar nicht mehr
raus will. Menno Harms ist noch einmal zwei
Jahre in der Wanne geblieben, bevor er sich
2005 endgültig freigeschwommen hat. Oder
doch nicht? Er hat seine Firma wieder zum
Leben erweckt, bleibt aber im HP-Aufsichtsrat, und genau genommen hat er sein Großraumbüro nur ein bisschen ausgedehnt.
Was kommt, das weiß er nicht und will es
auch gar nicht wissen. Mit vorauseilenden
Befunden vom Zu-alt-sein hält sich Menno
Harms nicht mehr auf, seit er ausgestiegen
ist, um wieder einzusteigen. Er lebt die große
Freiheit jetzt auf seine Weise. „Ich werde die
nächsten zwanzig Jahre tätig sein“, sagt er. Es
ist ihm zuzutrauen, irgendwie.
Die Serie erscheint in loser Folge auf dieser
Reportageseite. Sie ist nachzulesen unter
www.stuttgarter-zeitung.de/wendepunkte.
Heinz Heiss
30 REPORTAGE
STUTTGARTER ZEITUNG
Nr. 228 | Samstag, 2. Oktober 2010
Unsere Nachbarn von der Mafia
Die ’Ndrangheta gilt als reichste und beweglichste Mafia Italiens. In der Region Stuttgart dehnt sie ihren Einfluss
seit Jahren in Wirtschaft und Politik aus. Die deutschen Ermittler wirken gefährlich ratlos. Von Hariolf Reitmaier und Michael Ohnewald
Organisiertes Verbrechen
ls der Killer mit kalter Sachlichkeit seines Amtes waltet, weht
eine laue Sommerbrise durch die
Stadt. Es ist spät am Abend, Luigi
Ferrara stellt seinen Wagen vor
dem Haus ab. Aus zehn Metern feuert der
wartende Killer drei Schüsse auf den italienischen Kaufmann ab. Ferrara bricht vor der
Wohnungstüre zusammen.
Das reicht dem Schützen nicht. Er nähert
sich langsam, um den Auftrag mit dem Behagen eines Mannes zu vollenden, der Freude
empfindet am tödlichen Werk. Zeugen hören
nach den ersten Schüssen ein Lachen, unverhohlen und markerschütternd. Anschließend
jagt der Mörder seinem wehrlosen Opfer aus
weniger als sechzig Zentimetern zur Sicherheit zwei weitere Kugeln in den Kopf.
Am 28. Juli 1997 starb Luigi Ferrara im
Kugelhagel, mitten in einem belebten Wohngebiet in Ludwigsburg. Mehr als 13 Jahre
nach diesem Mord gibt es noch immer keine
Spur zum Täter. Allein eines ist für die Fahnder klar: die tödlichen
„Stuttgart ist Grüße an den Kaufmann
kamen aus Italien.
schon seit
Die Mafia, dies offenlangem eine
bart nicht nur der Mord
an Luigi Ferrara, ist kein
Hochburg
aus der Zeit gefallener
der Mafia.“
Folkloreclub, sondern
Petra Reski,
eine ultramoderne VerBuchautorin
brecherorganisation, die
längst auch in BadenWürttemberg operiert. Vor allem im Ballungsraum am Neckar, wo 60 000 Italiener leben,
hat sie Fuß gefasst und versucht über wirtschaftlichen Einfluss ihre politische Macht
zu stärken. Die Region erweise sich als besonders gutes Pflaster, weil die Mafia hier gefährlich unterschätzt werde, meint die in Venedig
lebende Journalistin Petra Reski, die sich seit
langem mit dem Verbrechersyndikat beschäftigt. „Stuttgart ist seit Jahrzehnten eine Hochburg der Mafia in Deutschland, speziell
zweier Clans der kalabrischen ’Ndrangheta,
die auch die umliegenden Orte wie Waiblingen, Ludwigsburg, Esslingen, Fellbach als ihr
ureigenstes Terrain betrachten“, sagt sie.
„Die Mafia kam im Gefolge der Gastarbeiter
und ist bis in höchste Gesellschaftsspitzen
vorgedrungen. Heute macht sie in Stuttgart
ihre Geschäfte in der Bauindustrie, im Immobilienhandel, in der Gastronomie.“
Italienische Ermittler bestätigen das. „Im
süddeutschen Raum ist die Region Stuttgart
in fester Hand kalabrischer Gruppierungen
von Ciró, insbesondere des Clans von Farao“,
sagt Roberto Scarpinato, leitender Oberstaatsanwalt der Abteilung Mafiabekämpfung in Palermo. Einem als vertraulich eingestuften Bericht („VS – nur für den internen
Dienstgebrauch“) des Bundeskriminalamts
zufolge hat sich eben dieser Clan in den vergangenen Jahren „beachtlich verstärkt“. In
der 236 Seiten umfassenden Analyse, die der
Stuttgarter Zeitung vorliegt, ist die Rede von
einem deutlichen „Qualitätssprung“. Aufgelistet sind deutschlandweit mehr als 750 mutmaßliche Mafiosi, die im Verdacht stehen, für
die ’Ndrangheta zu arbeiten. Auffällig viele
von ihnen wohnen rund um Stuttgart.
Einer der genannten Namen ist den Beamten zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität bestens bekannt. Es handelt sich um
einen früheren Promiwirt aus Stuttgart-Weilimdorf, der 1993 deutschlandweit in die
Schlagzeilen geriet, weil man ihn der Geldwäsche im großen Stil bezichtigte. Der Fall bekam dadurch besondere Brisanz, dass der süditalienische Kneipier häufiger einen Gast
hatte, den er gern als „meinen Minister“ bezeichnet hat. Gemeint ist
der damalige CDU-Frak- „Es gibt
tionschef im Landtag Hinweise auf
und heutige EU-Kommissar Günther Oettin- Investitionen
ger, der gerne und oft sei- in großer
nen Feierabend im Weil- Höhe.“
imdorfer Restaurant ausklingen ließ. Da Fahnder Aus dem Bericht des
das Telefon des Lokals Bundeskriminalamts
über Monate abhörten,
wurde auf diese Weise so manches auf Tonbändern konserviert, was der italophile
Christdemokrat zu vorgerückter Stunde über
politische Freunde und Feinde zu erzählen
wusste. Die Sache mündete in einen für Oettinger pikanten Untersuchungsausschuss baden-württembergischen im Landtag.
Schon damals wurde im Auftrag des Stuttgarter Justizministeriums ein Geheimdossier zur lokalen Mafiaszene angefertigt. Darin beschrieben die Ermittler, wie Jugoslawen und Italiener um die Vorherrschaft in
der Stuttgarter Zockerszene streiten. Ein Jugoslawe kam dabei ums Leben. Die Polizei
konnte drei Täter ermitteln, die später zu le-
A
Nach einem Bericht des Bundeskriminalamts ist die Mafia aus Kalabrien mit Vorsicht zu genießen. In Stuttgart geht sie ihrem Geschäft weitgehend unbehelligt nach. Foto: vario images
benslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Auffällig war für die Fahnder, dass alle
Täter und sonstigen Verdächtigen aus Ciró
stammten, jenem 5000-Einwohner-Städtchen aus dem kalabrischen Hinterland.
Trotz dieser Erkenntnisse blieb die kriminelle Parallelgesellschaft weitgehend unbehelligt. Zwar wurde der überwachte Gastronom später wegen Steuerhinterziehung zu 21
Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und
Rückzahlung der Steuerschuld von 1,3 Millionen Mark verurteilt sowie aufgrund einer internationalen Ausschreibung von den italienischen Behörden wegen Mitgliedschaft „in einer kriminellen Vereinigung nach Art der Mafia“ in Deutschland festgenommen. In seiner
Heimat kam der ausgelieferte Wirt jedoch
schon bald wieder frei, was er gebührend im
Weilimdorfer Ristorante feierte. Seine landsmannschaftliche Karriere hat dies eher beflügelt. Das Bundeskriminalamt geht davon aus,
dass der Kneipier durch seinen Freispruch
intern sogar aufgestiegen ist. Er soll eine „gehobene Stellung innerhalb des Clans Greco
und auch des Clans Farao“ haben und für die
„finanziellen Aspekte“ verantwortlich sein.
Gleich hinter ihm ist in der BKA-Verschlusssache ein mutmaßlicher Vertrauter
aufgeführt, der ebenfalls als Gastronom in
Stuttgart angesiedelt ist. Es handelt sich dabei um einen bisher kriminalpolizeilich unbescholtenen Mann, der in jüngster Zeit zweimal in Erscheinung trat. Am 30. Dezember
2009 zeigte ihn die „Bild“-Zeitung groß auf
einem Foto neben dem Ministerpräsidenten
Günther Oettinger, der vor seinem Wechsel
nach Brüssel stand. „Stammkunde Oettinger
sagt Ade“, titelte das Blatt in dicken Lettern
und zitierte den Wirt namentlich mit den
Worten: „Schade, ein Freund geht.“
In der vergangenen Woche hat den im
BKA-Bericht erwähnten „Freund“ des Exministerpräsidenten ein weiteres Mal das Licht
der Öffentlichkeit gestreift – und zwar in einer heiklen Angelegenheit. Der Name des
Gastwirts tauchte bei einer Verhandlung im
Stuttgarter Landgericht auf. Dort befasst sich
die Justiz zurzeit mit dem versuchten Mord
an dem Stuttgarter Herrenausstatter Felix W.
Der Modemacher mit exquisiten Geschäften
in Stuttgart, Zürich und München, der auch
als Projektentwickler von Immobilien auftritt, war im November vorigen Jahres auf
seinem Firmengelände von Maskierten überfallen und brutal mit zwei Schüssen niedergestreckt worden. Der Unternehmer, der sofort
das Bewusstsein verlor, überlebte den perfiden Anschlag nur mit Glück. Vier Italiener
wurden von der Polizei gefasst. Sie müssen
sich nun vor dem Landgericht verantworten.
Wie sich bei den Ermittlungen der Stuttgarter Kriminalpolizei herausstellte, waren
zwei der Tatverdächtigen in jüngster Zeit ausgerechnet bei jenem italienischen Gastronomen beschäftigt, der sich via Zeitung selbst
als „Freund“ des scheidenden Ministerpräsidenten bezeichnet hatte.
Die beschuldigten Män„Der Raum
ner arbeiteten für ihn am
Stuttgart ist
Umbau eines Restauin der Hand
rants. Die polizeiliche
Vernehmung des Gastkalabrischer
wirts wurde vor Gericht
Gruppen.“
zwar erörtert, allerdings
Roberto Scarpinato,
ohne auf mögliche HinOberstaatsanwalt
tergründe der nächtlichen Tat einzugehen.
Das Wort „Mafia“ jedenfalls tauchte bei dieser Gelegenheit nicht ein einziges Mal auf.
Dabei hatte die Stuttgarter Kriminalpolizei, die den mutmaßlichen Tätern vor allem
durch überwachte Handys auf die Spur kam,
genau darauf abgehoben. „Die Gesamtumstände deuten darauf hin, dass im Hintergrund mafiöse Strukturen für die Tat mitverantwortlich waren“, heißt es im Ermittlungsbericht, der dieser Zeitung vorliegt. Zwei der
vier Beschuldigten, so ist dort zu lesen, könnten sogenannte „Pentolante“ sein – geschultes Personal, das aus Italien anreist, um ein
Problem zu lösen, wie einst vor dem Haus von
Luigi Ferrara. Weil sich die vier Angeklagten
im Fall Felix W. bei den Vernehmungen nach
Kräften bemühen, ihre Komplizen nicht zu
belasten, geht die Polizei davon aus, „dass sie
sich an das Gesetz des Schweigens halten“.
Aufschlussreicher Lesestoff, könnte man
meinen. Doch über die Mafia will niemand
öffentlich reden bei der juristischen Aufarbeitung im Landgericht. Für Petra Reski, die gerade ein neues Buch mit dem Titel „Von Kamen nach Corleone – Die Mafia in Deutschland“ veröffentlicht hat, passt das ins Bild.
Die Journalistin beklagt, dass die gut organisierten Machenschaften italienischer Clans
in Deutschland allzu oft verschwiegen – oder
mindestens fahrlässig unterschätzt werden.
Ein ganzes Kapitel ihres neuen Buchs hat
sie Stuttgart gewidmet. Wie selbstverständlich sich die kalabrischen Mafiosi dort bewegen, lege nicht zuletzt die Wahlfälschungsaffäre um den römischen Senator Nicola di Gi-
rolamo nahe, der zwischenzeitlich als mutmaßlicher Protagonist eines gewaltigen Geldwäscheskandals der ’Ndrangheta festgenommen wurde. Besonders gute Drähte hatte der
Senator nach Stuttgart. Der politisch völlig
unbekannte di Girolamo, der meist in Brüssel
residierte, hatte im April 2008 bei der Parlamentswahl als Auslandsitaliener kandidiert
und auf Anhieb rund 25 000 Stimmen eingefahren. Die meisten waren nach Ansicht italienischer Fahnder von der ’Ndrangheta gekauft, besonders viele davon im Raum Stuttgart. Die Sammelstelle für die gefälschten
Wählerstimmen befand sich nach Erkenntnissen römischer Staatsanwälte in einem InterMailand-Fanclub bei Stuttgart.
Bisher gelang es den deutschen Fahndern
meistens nur, einzelnen Mafiosi konkrete Delikte nachzuweisen. An die Organisation dahinter kamen sie nicht heran. „Wenn wir Hinweise oder Hilfeersuchen aus Italien bekommen, reagieren wir sehr schnell“, sagt Horst
Haug, Sprecher des Landeskriminalamts. Genügt das bei einem Gegner, der Deutschland
nicht mehr nur als Rückzugsgebiet, sondern
verstärkt als Operationsgebiet nutzt? Nach
Meinung italienischer Mafiafahnder sind die
Deutschen zu weich bei ihren Ermittlungen.
Die bewegliche ’Ndrangheta werde in ihrem
Entfaltungsdrang kaum gestört.
Für Manfred Klumpp, den Landesvorsitzenden des Bundes deutscher Kriminalbeamter, ist dies kaum verwunderlich. „Statt Mafia
heißt das große polizeiliche Thema derzeit
im Land Stuttgart 21“, sagt er gallig und ergänzt: „In Sachen Mafia
verfügt die baden-würt- „Die Polizei
tembergische Polizei bis- im Land
her nur über stumpfe
Schwerter!“ Anders als verfügt nur
in Italien sei die Zugehö- über stumpfe
rigkeit zur Mafia in Schwerter.“
Deutschland kein strafbares Delikt. „Wer uns Manfred Klumpp,
den Zugriff auf Telefon- Kriminalbeamter
und
Internetverbindungsdaten verbietet, wie jüngst das Bundesverfassungsgericht, erstickt erfolgreiche Mafiaermittlungen schon im Keim. Auch bei
Geldwäscheverdacht sind wir machtlos, solange es nicht wie in Italien die Beweislastumkehr gibt“, sagt Klumpp. „Man muss sich
schon die Frage stellen, ob diese stumpfen
Schwerter vielleicht nicht doch auch politisch gewollt sind, wenn dazu noch immer
mehr Personal bei der Polizei abgebaut wird.“
34
REGION STUTTGART
Samstag, 29. Juli 2006
Stuttgarter Zeitung Nr. 173
Verteidiger auf
allen Plätzen
Christoph Schickhardt plädiert für den Fußball
LUDWIGSBURG. Was verbindet Fußballnationaltrainer Jogi Löw mit Schwergewichtsboxer Luan Krasniqi und ZDF-Moderator Michael Steinbrecher? Der Ludwigsburger Anwalt Christoph Schickhardt. Er
vertritt viele, die im Rampenlicht stehen – und bleibt dabei gerne im Schatten.
Von Michael Ohnewald
Es dauert lange, bis man zu Christoph Schickhardt vorgedrungen ist, aber es lohnt sich.
Man muss Geduld haben und häufiger mit
Frau Reinl telefonieren. Ohne Frau Reinl ist
Christoph Schickhardt nicht denkbar. Seit fünf
Jahren ist sie seine Sekretärin.
Frau Reinl verwaltet die Akten und die
Handynummern, und sie kennt die zugehörigen Menschen. Sie könnte viel von ihnen
erzählen, von Jupp Heynckes, Jogi Löw und
Oliver Bierhoff, von Luan Krasniqi und Regina
Halmich, vom FC Bayern und vom VfB Stuttgart. Sie alle vertrauen auf die Dienste von
Christoph Schickhardt, über den Frau Reinl
sagt, dass er ein guter Chef sei, obwohl er sie
manchmal nachts um ein Uhr anruft und sie
auf fünf Uhr in die Kanzlei bestellt, weil
Fußballdeutschland Kopf steht und es auf
jede Minute ankommt, wenn der Vertrag des
neuen Bundestrainers aufgesetzt wird.
An diesem Morgen muss Frau Reinl nicht
schreiben, sondern trösten. Sie lässt ausrichten, dass ihr Chef im Stau steckt und später
zum vereinbarten Termin kommt. Das macht
nichts. Wir haben mehr als sechs Monate auf
diesen Termin gewartet. Als er plötzlich auftaucht, ist Frau Reinl erleichtert. Sie kann
jetzt wieder einen Namen von der Liste streichen, die sie für Christoph Schickhardt führt,
welchem der Ruf vorauseilt, der gefragteste
Jurist im deutschen Fußballgeschäft zu sein.
Er habe sich diesen Ruf hart erarbeitet,
erzählt er – 20 Jahre lang, 52 Wochen im Jahr,
Anwalts Liebling: Schickhardt vertritt den Boxer Luan Krasniqi.
sieben Tage die Woche. Als Verteidiger auf
allen Plätzen hat er fast nie Urlaub. Man muss
den Fußball lieben, um dieses Pensum zu
bewältigen. Schickhardt liebt den Fußball. Er
ist für ihn eine Leidenschaft wie für andere
das Erobern einer Frau, wobei diese Leidenschaft sterblich ist, und seine ist es nicht.
Diese Leidenschaft hat vor langer Zeit
begonnen. Er ging noch zur Schule. Seine
Noten waren mäßig, und wirklich bewegt hat
den Sohn eines Bankdirektors nur Fußball.
Christoph Schickhardt war Vorstopper bei 07
Ludwigsburg. Nebenbei hat er geschrieben in
der Schülerzeitung des Schillergymnasiums,
und dabei ist ihm 1974 Gerhard Mayer-Vorfelder begegnet. Der war Referent des Ministerpräsidenten Hans Filbinger und hatte junge
Blattmacher zu sich eingeladen.
Mayer-Vorfelder spürte eine Seelenverwandtschaft mit dem Jungen und nahm ihn
mit ins Neckarstadion, wo Schickhardt von
dieser Stunde an kein Heimspiel mehr verpasste. Kaum war die Begegnung abgepfiffen,
drückte er sich dort herum, wo sich Spieler
und Journalisten treffen, was einem aufmerksamen Redakteur nicht verborgen blieb. Der
hieß Bruno Bienzle und führte damals die
Sportredaktion der Stuttgarter Nachrichten.
„Willsch mit?“ fragte Bienzle. Schickhardt
wollte. 1975 schrieb der Abiturient seinen
ersten Zeitungsartikel über Fußball. Ihm sollten viele weitere folgen. Er schob Redaktionsdienste in Stuttgart und horchte immer tiefer
hinein in ein Geschäft, das eigenen Gesetzen
folgt. Dass er diese Gesetze später vertreten
würde, war damals noch nicht absehbar.
M
it Vermietern streitet er
über die Farbe von Klodeckeln
Fast acht Jahre lang hat Christoph Schickhardt in der Sportredaktion gearbeitet, die
ihn geprägt hat, und wahrscheinlich wäre der
gebürtige Essener vollends hineingezogen
worden ins Leben eines Sportreporters, wenn
da nicht ein paar seiner Freunde Jura studiert
hätten. Das kann nicht verkehrt sein, dachte
er sich und schrieb sich in Tübingen ein. Nach
dem zweiten Staatsexamen musste der schreibende Jurist eine Entscheidung fürs Leben
treffen. Er entschied sich für Justitia und
wurde Partner in einer Ludwigsburger Anwaltskanzlei. Dort stritt er mit Vermietern
über die Farben von Klodeckeln, mit Gepeinigten über bissige Hunde und mit Entzweiten
über die Eckdaten ihrer Scheidung.
Christoph Schickhardt vermisste in dieser
Zeit den Fußball, aber es dauerte nicht lange,
bis er zu ihm in die Kanzlei kam. Er tauchte in
Gestalt von Gerd Bold auf, damals Kapitän des
Karlsruher Sportclubs. Bold, dem überraschend gekündigt worden war, bat ihn um
rechtlichen Beistand. Er kannte Schickhardt
aus dessen Zeit in der Redaktion. Der Sportclub verlor den Prozess, und weil die Badener
schlau sind, hat der Verein den siegreichen
Anwalt gleich verpflichtet. Auch Bold war
dankbar. Er taufte seinen Sohn Christoph.
Jahr für Jahr kamen mehr Spieler, um sich
von Schickhardt vertreten zu lassen. Wolfgang Wolf, heute Trainer von Kaiserslautern,
war schon als Spieler bei ihm. Aus dieser Zeit
gibt es eine hübsche Anekdote, die selbst Frau
Reinl noch nicht kennt. Schickhardt verhandelte seinerzeit mit dem Kickers-Präsidenten
Axel Dünnwald-Metzler über den Wechsel
seines Mandanten Wolf von Kaiserslautern
nach Stuttgart. Am Verhandlungstisch sprachen beide Herren dem Alkohol zu, ehe sie
sich auf die Konditionen verständigten. Als
der Anwalt am nächsten Tag mit schwerem
Kopf im Büro saß, konnte er sich zwar noch
erinnern, dass sie sich geeinigt hatten, aber
nicht mehr, worauf. Wie er so saß und hirnte,
klingelte das Telefon, und Dünnwald-Metzler
war dran. Es sei ihm ja so peinlich, sagte der
Kickers-Chef, aber ihm sei es beim besten
Willen nicht möglich, sich an die Konditionen
des Transfers zu erinnern. Da haben sie halt
nochmal verhandelt – bei einem Glas Selters.
Im Laufe seiner Karriere hatte Christoph
Schickhardt manche Begegnung der unvergesslichen Art. Dazu gehört jene mit Juan
Cayasso, den er 1990 von Costa Rica nach
Unter Promis: Gerhard Mayer-Vorfelder, Schalke-Manager Rudi Assauer mit Finanzchef Josef Schnusenberg, Erwin
Staudt vom VfB, Michael Steinbrecher vom ZDF, Jogi Löw und sein Anwalt Christoph Schickhardt Fotos Wolfgang List
Schickhardts Markenzeichen: ein stets gut sitzender Anzug und ein freundliches Lächeln
Degerloch lotste. Als er im Beisein von Dünnwald-Metzler den Vertrag unterzeichnen
sollte, sagte Cayasso plötzlich, er fürchte die
Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Da
zückte der Kickers-Boss ein Foto aus dem
Geldbeutel, welches die Sorgen des Spielers
aufs Wundersamste zerstreute. Abgebildet
war Dünnwald-Metzlers dunkelhäutiger Adoptivsohn. Cayasso wurde Publikumsliebling.
Nicht alle seine Gespräche sind so glücklich verlaufen. Vor allem vor dem Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes, wo die
roten Karten verhandelt werden, musste
Schickhardt manche Niederlage einstecken.
600 Verfahren hat er in seiner Karriere begleitet. Heute rufen ihn die Manager der Vereine
meist schon samstags nach dem Abpfiff an,
damit er für ihre Sünder kämpft. Schickhardt
diktiert sonntags die ersten Schriftsätze und
verständigt Frau Reinl, die alles auf Papier
bannt. Bei achtzig Prozent der Platzverweise
liegt montags das rechtskräftige Urteil vor.
N
achts diktiert er den Vertrag
für den neuen Bundestrainer
Fußball ist ein schnelles Geschäft, und er
richtet sich danach. Manchmal geht es so
schnell, dass keine Zeit zum Schlafen bleibt.
Wie nach Klinsmanns Rücktritt: am Dienstag
nach dem WM-Finale hatte der kultige Nationaltrainer seinen väterlichen Freund Gerhard
Mayer-Vorfelder darüber informiert, dass er
nicht weitermacht. Noch am selben Nachmittag mietete der Fußballbund eine Suite im
Hotel am Stuttgarter Schlossgarten und beschloss, dass es Jogi Löw richten soll. Umgehend wurde dessen Anwalt Christoph Schickhardt einbestellt, um für seinen Mandanten
mit dem Fußballbund zu verhandeln. Gegen
Mitternacht war alles besprochen: wer wem
was zu sagen hat, und wer wie viel verdient.
Schickhardt fuhr gleich weiter in die Kanzlei nach Ludwigsburg und rief Frau Reinl an.
Sie möge in vier Stunden kommen, um zu
schreiben, was er bis dahin diktiert habe.
Gegen fünf Uhr morgens erschien Frau Reinl.
Ihr Chef war schon auf dem Weg nach Hause.
Er machte sich frisch und steuerte dann gegen
sieben Uhr die Zentrale des Fußballbunds in
Frankfurt an. Als er dort eintraf, hatte Frau
Reinl gerade den Vertrag aufs Fax gelegt. Mit
den DFB-Justiziaren wurden die letzten Änderungen besprochen. Gegen 10.45 Uhr unterzeichnete Jogi Löw den Vertrag. Zehn Minuten später wurde er bei einer Pressekonferenz
als neuer Bundestrainer präsentiert. Anschließend chauffierte ihn Schickhardt im Auto
nach Freiburg, um direkt weiter nach Mönchengladbach zu fahren. Dort ging es um den
Transfer eines argentinischen Fußballers.
Tage dieser Art gibt es öfter im Leben des
51-jährigen Anwalts, der Giovanni Trapattoni
nach Stuttgart gebracht und Torsten Frings
bei der Fußball-WM vor Schlimmerem bewahrt hat, der sich für die Existenz des 1. FC
Kaiserslautern einsetzte und der Eintracht aus
Frankfurt 2002 die Lizenz erhalten konnte.
Vielen hat er geholfen, aber nicht allen. Offenbach und Dresden konnte er nicht helfen.
Beide Traditionsvereine stürzten ab.
In solchen Momenten der Ohnmacht
spürt Christoph Schickhardt, der sich noch
immer wärmt am Feuer seiner Begeisterung
für den Fußball, dessen eiskalte Seite. Vielleicht ist es sein Glück, dass er keine Zeit hat,
darüber lange nachzudenken. Er muss weiter
zum nächsten Verhandlungstisch, über den
man seine Mandanten ziehen will. Diese Rastlosigkeit ist Gnade und Fluch zugleich. Seine
Ehe, aus der zwei Kinder hervorgegangen
sind, hat dieses Leben unter permanentem
Einigungsdruck nicht ausgehalten.
Immerhin gönnt sich der zwölfte Mann
von zehn Bundesligavereinen neuerdings einmal im Jahr zwei Wochen Urlaub. Er habe
gute Mitarbeiter, kokettiert Schickhardt, die
besser seien als er. Deshalb könne er sich auf
einer einsamen Insel entspannen und es sich
auch leisten, gelegentlich an einer Fachhochschule Vorlesungen über Sportrecht zu halten. Was er nicht sagt, ist, dass er selbst auf
seiner Insel nicht ganz abschalten kann. Seine
Telefonrechnung liegt jedenfalls nicht selten
deutlich über der Rechnung fürs Zimmer.
Entschädigt wird er durch gute Honorare,
aber auch durch Freundschaften, die sich bei
ihm wie von selbst ergeben, weil er ein
kommunikativer Mensch ist, angenehm geerdet und doch mit Niveau. Einer wie der
Schwergewichtler Luan Krasniqi, der trotz
harter Schwinger ein Gefühl hat für weiche
Schwingungen, weiß das zu schätzen. Vor
drei Jahren hat er Schickhardt gebeten, ihn zu
vertreten, obwohl der bisher fast nur Fußballer betreut hat. Inzwischen sind sie Freunde.
Als Krasniqi um den WM-Titel gegen
Brewster kämpfte, saß Schickhardt vor dem
ersten Gong in der Kabine der Hamburger
Color-Line-Arena und war kreidebleich. Der
Boxer machte sich ernsthaft Sorgen und fürchtete, dass sein Anwalt noch vor der ersten
Runde k. o. gehen würde. So was schweißt
zusammen. „Dem Christoph vertraue ich wie
keinem anderen“, sagt Krasniqi. „Ihm kann
ich sagen, was ich denke und was ich fühle.“
Dass sein Freund nebenbei auch noch knallhart mit den abgezockten Promotern des
Boxsports verhandelt und ihm eine gute
Börse sichert, versteht sich von selbst.
Im September wird Krasniqi wieder in
den Ring steigen. Die Vorbereitungen laufen,
und auch die Bundesliga rüstet sich für die
neue Saison. Christoph Schickhardt muss weiter. Im Vorzimmer seines Büros beugt sich
Frau Reinl sorgenvoll über eine lange Liste.
Foto
Reiner Pfisterer
34 REPORTAGE
STUTTGARTER ZEITUNG
Nr. 52 | Donnerstag, 4. März 2010
Der in Kairo geborene Hany Azer hat für die Bahn am Potsdamer Platz gebaut und am Lehrter Bahnhof. Jetzt soll es der 60-jährige Bauingenieur auch bei Stuttgart 21 richten.
Der Vollstrecker
Für ihn ist es nur eine Baustelle, für andere ist es der Wahnsinn. Hany Azer ist der Projektleiter von Stuttgart 21.
Gesegnet mit vorausgreifender Gewissheit schickt er sich an, die Stadt zu verändern. Von Michael Ohnewald
Porträt
any Azer braucht einen Platz 13, noch vor dem Regierenden BürgerPunkt, von dem er kommt, meister Klaus Wowereit. So was kitzelt an
und einen Punkt, zu dem er den Rezeptoren der Eitelkeit.
geht. Die Strecke dazwiEr wäre gerne in der Hauptstadt geblieschen nimmt er auf direkter ben. Hany Azer baute gerade an der SchieLinie. Umwege mag er nicht. Das war im- nenanbindung zum Berliner Großflughamer so. Als Bub hat Hany Azer seinen Vater fen und parallel an der S 21, einer Strecke
begleitet, der als Ingenieur mitgebaut hat vom Hauptbahnhof zum Nordkreuz, als er
an der Eisenbahn von Kairo nach Assuan.
abberufen wurde zu einem Projekt, dass sinEs gibt jetzt zwei neue Punkte. Der eine nigerweise das gleiche Kürzel trägt. Sein
liegt in Stuttgart, der andere in Ulm. Im Chef hatte ihn beim Essen gefragt, ob er
Grunde ist es wie immer bei ihm. Wie in jemand für Stuttgart wüsste. Beiden ist für
Kairo. Wie in Dortmund. Wie in Berlin. „Ich diesen Job nur einer eingefallen.
habe das Ziel vor Augen“, sagt der BaumeisIn Hany Azers neuem Büro nimmt die
ter. „Die kürzeste Verbindung zwischen Vergangenheit viel Platz ein. Die Fotos aus
zwei Punkten ist eine Gerade.“ So denkt Berlin, die Abzeichen der Feuerwehren, die
man, wenn man Hany Azer heißt.
ihn dort besucht haben, machen sie gegenAn diesem Nachmittag schlendert er mit wärtig. Es gibt auch eine kleine Computeraufreizender Gelassenheit durch sein Büro animation von Stuttgart 21. Sein neues
in der Räpplenstraße 17, das sich hinterm Baby. Er hat es adoptiert. In zehn Jahren
Hauptbahnhof erhebt wie ein Feldherrnhü- wird es erwachsen sein, vielleicht.
gel. Als er nach Stuttgart kam, saßen hier
Hany Azer ist der Vollstrecker. Er setzt
sieben Leute. Jetzt sind es 120. Bald werden den politischen Willen um. Er macht aus
bis zu 7000 Menschen unter seinem Kom- der Vision von 1994, als das milliardenmando stehen. Er kann es kaum erwarten. schwere Projekt zum ersten Mal präsen„Das ist meine größte Baustelle“, sagt Hany tiert wurde, betongraue Wirklichkeit. Das
Azer, der Projektleiter, und schaut dabei ist sein Job. Er wird über die Baustelle herrwie ein Junge vor der Bauklötzchenkiste.
schen. Sie ist sein Botox. „Wenn man in BeSeine Augen glänzen im Neonlicht. Der wegung bleibt, hält das jung“, sagte er. Hany
Hausherr hat Platz genommen an einem Azer ist im sechzigsten Frühling. Man sieht
runden Tisch, an dem er in den nächsten ihm das nicht an. Baustellen tun ihm gut.
Jahren eckige Probleme lösen will. Er tut
Vor allem solche, die vom Hauch der Gedas gerne hinter verschlossenen Türen. schichte umweht werden. So wie am PotsdaHany Azer legt keinen großen Wert darauf, mer Platz, wo er als Projektleiter für die
in der Zeitung aufzutauchen, er taucht lie- Bahn mit Bohrköpfen von neun Meter
ber in Baustellen ein. Sie sind seine Bühne. Durchmesser gewaltige Tunnelröhren in
Die Fotos vom Lehrter Bahnhof, die hinter den Untergrund fräste. So wie am Berliner
ihm hängen, zeugen davon. Ein Projekt, so Großbahnhof, der über eine Milliarde gekosrecht nach seinem Geschmack. Kathedrale tet hat. So wie in Stuttgart, wo sechsmal so
der Mobilität haben sie es geviel ausgegeben wird für den
nannt. 500 000 Kubikmeter „Die kürzeste
neuen Bahnknoten samt
Beton, 85 000 Tonnen Stahl. Verbindung
Schnellbahn nach Ulm.
Die Spree um 70 Meter verlegt
Hany Azer hat keine Angst
zwischen zwei
und wieder zurück.
vor großen Zahlen. 33 KilomeDie Hauptstädter mögen so Punkten ist eine
ter Tunnel, drei neue Bahnetwas. Sie kamen zum Pick- Gerade. Ich habe
höfe, 18 Brücken, 60 Kilomenick, als Azer die spektakuläter ICE-Trasse. „Man darf die
ren Bügelbauten an 30 Zenti- das Ziel vor Augen.“ Übersicht nicht verlieren“,
meter dicken Stahlseilen über Hany Azer über seine
umschreibt er die herkulische
dem Bahnhof einschweben Arbeitsphilosophie
Leichtigkeit, mit der er seinen
ließ. Die Kapitäne von AusAuftrag meistert. „Das ist das
flugsbooten namens Belvedere schipperten A und O.“ Termindruck, Kostendruck, politivorbei und erzählten ihren Touristen: „Hier scher Druck? Was anderen Angst bereitet,
baut Hany Azer.“ Dabei ist es nicht gut ange- bereitet ihm Vergnügen. Den Bahnhof in
laufen mit der neuen Station. Das Unterneh- Berlin hat er einmal seine „Pyramide“ gemen Zukunft hatte gewaltig Verspätung am nannt. Jetzt baut er in Stuttgart eine neue.
neuen Hauptbahnhof. Als es brenzlig
Er hat sich langsam gesteigert. Hany
wurde, schickte der Konzern seine All- Azer, 1949 bei Kairo geboren, aufgewachzweckwaffe, den Tiefbauingenieur Azer. sen mit fünf Geschwistern, weltoffen erzoDer schaffte es, Berlins größte Baustelle we- gen, wollte früh Bauingenieur werden. Der
nigstens noch vor der Fußball-Weltmeister- Vater hat ihn geprägt, und auch der älteste
schaft 2006 fertig zu kriegen. Mit dem Ver- Bruder, beide Ingenieure. Hany Azer studienstorden des Landes haben sie ihn dafür dierte in Ägypten und Bochum, wo er 1979
ausgezeichnet. Bei der Wahl zum „Berliner seinen Abschluss machte. Auf dem Campus
des Jahres“ kam der Ingenieur sogar auf begegnete dem Ägypter eine Bergmanns-
H
tochter, die Lehrerin werden wollte. Er ver- Noch sieht man fast nichts in Stuttgart.
liebte sich und blieb. Hany Azer zog nach Nachts werden Masten versetzt und BahnDortmund, baut sich ein Haus, wurde BVB- steige verlängert. Seine Baustelle wird ihre
Fan und Vater von zwei Söhnen.
Arme in der Stadt bald wie ein Krake ausBeruflich reizte ihn die Tiefe. Die Leute, breiten und sich festsaugen, drunten im Taldie unter Tage arbeiten, sind ein eigener kessel und droben auf den Fildern. Hany
Menschenschlag. Azer heuerte bei einer Azer kann es nicht schnell genug gehen. Er
Firma an, baute mit an der U-Bahn in Dort- hat den nächsten Punkt schon im Visier.
mund, buddelte in Gelsenkirchen Tunnel Andere sind nicht so weit. Gegen Stuttgart
im Bergsenkungsgebiet. Da wird man als 21 wird noch immer demonstriert. Der ProIngenieur Kummer gewohnt. Er malochte jektleiter hält sich nicht lange damit auf.
als Statiker, Bauleiter und als
„Auch am Potsdamer Platz
Kalkulator. Er schuftete sich „Stuttgart wird
gab es Protestkundgebunvon unten nach vorne und ir- durch dieses
gen“, sagt er. „Nach einigen
gendwann nach oben. Hany
Monaten ist die Stimmung geAzer verdankt sich nieman- Projekt noch
kippt.“ Die Baustelle wurde
dem als sich selbst.
zur Touristenattraktion.
weltoffener.
Schon damals fiel auf, dass Da bin ich
Stuttgart ist nicht Berlin.
Azers Baustellen ein bisschen
„Die Stadt wird durch dieses
aussahen wie schwäbische ganz sicher.“
Projekt noch weltoffener. Da
Gehsteige nach der Kehrwo- Hany Azer über seine
bin ich sicher“, sagt Hany
che. Vielleicht hat ihn die neue Großbaustelle
Azer. Neulich hat ihm jemand
Bahn deshalb 1994 abgeworerzählt, dass Stuttgart die
ben. An der Spitze des Schienenkonzerns Partnerstadt von Kairo ist. Seitdem ist er
stand Heinz Dürr, der nicht nur in Berlin ganz happy. Jetzt gefällt ihm sein Arbeitsdas große Rad drehte, sondern auch in Stutt- platz noch besser. Der Wanderarbeiter aus
gart. Unter Männern wie Heinz Dürr kön- Dortmund hat sich hier eine Wohnung genen Männer wie Hany Azer groß werden.
nommen und ein Fitnessstudio gesucht,
Der Tunnelbauer vom Kohlenpott, geseg- das bis 23 Uhr geöffnet ist. Azer, der Worknet mit fotografischem Gedächtnis und ge- aholic, kommt meistens spät raus. An den
ballter Energie, kam an den Potsdamer Wochenenden fährt er zu seiner Frau nach
Platz und galt dort bald als Grubenhund. Hause. Seine Söhne, die beide studieren,
Man konnte gut mit ihm auskommen, aber wohnen im Hotel Mama. In seinem Garten
es war nicht ratsam, sich ihm in den Weg zu schaltet Azer ab, jedenfalls ein bisschen. Eistellen, wenn er eine seiner Geraden plante. nes seiner beiden Handys liegt auch dort
Hany Azer bekam viele Beinamen. Nicht griffbereit. In Berlin hat er auf der Baustelle
alle beschreiben ihn positiv. Rumpelstilz- einen Herzinfarkt bekommen. Azer hat dachen nannten ihn manche und Rambo. Nie- nach weitergemacht, als wäre nichts gewemand weiß, wie viel davon Gerede ist. An sen. Er ist nicht anders denkbar.
Selbstzweifeln, so viel steht fest, hat er
Auch so einer kann einsam sein. In Moschon in dieser Zeit nicht gelitten.
menten schwindender Zuversicht schickt
Eine, die gut mit ihm konnte, war Chris- er, der harte Hund, manchmal einen weitina Rau. Die Frau des früheren Bundesprä- chen Stoßseufzer hinauf zum lieben Gott,
sidenten kam öfter auf der Baustelle vorbei. an den er seit der Kindheit glaubt. Azer ist
Sie war Tunnelpatin. Einmal fuhr eine Christ, und ein Kirchgänger ist er auch. Der
dunkle Limousine in die Röhre und Chris- Psalm 23 liegt in seiner Schublade. „Und ob
tina Rau ging auf Hany Azer zu. „Heute ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte
habe ich spontan meinen Mann mitge- ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“
bracht.“ Die Presseleute im Bahnkonzern
Stuttgart wird sich verändern durch die
sprangen im Viereck. „O Gott, der Bundes- Baustelle. In seinem Kopf nimmt sie längst
präsident im Tunnel und nichts vorberei- Gestalt an. Tausende Arbeiter wuseln vor
tet.“ Azer blieb cool. Am Ende sang Johan- seinem inneren Auge vorbei. Hany Azer
nes Rau mit dem Bauleiter lautstark Berg- schwebt nicht im Konjunktiv, er überlässt
mannslieder, und alle hatten ihren Spaß.
sich der diktatorischen Kraft seiner ErfahUnter Druck, so heißt es, wird Hany Azer rung. „Ein Rückwärts gibt es nicht!“ Jedenerst richtig gut. Das hat sich bei Wasserein- falls nicht mit ihm. Er hat es angefangen,
brüchen gezeigt und bei ähnlichen Pannen, und er will es zu Ende bringen. Daran lässt
die immer vorkommen, wenn kein Stein auf der Mann keinen Zweifel.
dem anderen bleibt, wenn sich Menschen
Die Ausschreibungen laufen. „Bis Ende
durch das tiefe Reich der Erde wühlen. „Vor des Jahres geht es an den Nordflügel des
der Hacke ist es dunkel“, sagt Hany Azer. Hauptbahnhofs“, verkündet er und schaut
„Da unten muss sich jeder auf den anderen dabei auf seine Uhr. „Und im Jahr darauf
verlassen können.“ Er selbst nimmt sich da gehen wir unter die Erde.“ Hany Azer sagt
nicht aus. Als Chef ist er präsent auf seinen das wie jemand, der vor seinem VideorekorBaustellen. Sein Büro liegt in Sichtweite. der sitzt und auf „fast forward“ drückt.
Foto: Gottfried Stoppel

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