Der Kamelienwald
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Der Kamelienwald
Mustafa Haikal Der Kamelienwald Die Geschichte einer deutschen Gärtnerei Sandstein Verlag Mustafa Haikal Der Kamelienwald Sandstein Verlag Die Geschichte einer deutschen Gärtnerei Johann Heinrich Seidel (1744 – 1815) Jacob Friedrich Seidel (1789 – 1860) √ Johan Laurentz Jensen, Kamelien und Rhododendron, 1. Hälfte 19. Jahrhundert √√ S. 4/5: Abbildungen aus der »Iconographie de Genre Camellia«, 1841 – 1843 Inhalt 1 Die Geschäfte des Bürgermeisters – ein Vorspiel . . . . . . . . . . . . . . . 10 2 Der Königliche Hofgärtner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3 Die Kunst- und Handelsgärtner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4 Der Weg nach Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 5 Der Kamelien-Seidel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 6 Das Zeitalter der Kamelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 7 Die Rhododendren von »Sansibar« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 8 Die »Pflanzenfabrik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 9 Das brennende Kamelienhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 10 Die Wechselfälle des Geschäfts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 11 Die Enteignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 12 Eine einzigartige Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Auswahl der im Buch behandelten Mitglieder der Familie . . . . . . . . . 144 Nachwort von Matthias Riedel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 159 164 164 165 168 168 √ s. S. 63 8 9 1 Die Geschäfte des Bürgermeisters – ein Vorspiel Eine waghalsige Idee An der Nordwand der Radeberger Stadtkirche »Zum heiligen Namen Gottes« lehnt ein verwittertes Epitaph. Nur mit Mühe lässt sich die Inschrift entziffern. Sie erinnert an Christoph Seydel, geboren am 6. September 1670, gestorben am 11. April 1747. Seydel – fünfunddreißig Jahre lang Bürgermeister von Radeberg und Gründer des Augustusbades – war weder Gärtner noch Liebhaber exotischer Pflanzen. Ob er je eine Orangerie von innen gesehen hat, wissen wir nicht. Und doch ist die Geschichte, um die es hier geht, untrennbar mit seinem Namen verbunden. Im Zeitalter Augusts des Starken verkörperte er einen Unternehmertyp, wie ihn die kursächsische Kleinstadt noch nie erlebt hatte. Der Großvater des späteren Hofgärtners muss von imponierender Natur gewesen sein. An geistiger Beweglichkeit und Vitalität den meisten seiner Mitbürger voraus, war er zeitlebens verstrickt in Projekte. Dass sich daraus eine endlose Kette von Gerichtsprozessen, Klagen und Gegenklagen ergab, hat er hingenommen. Neid und Missgunst schienen ihm ohnedies sicher. In der engen, »altväterlichen« Welt der knapp 1000 Einwohner herrschte eine rigide Moral. Man lebte in seinem Stand und wusste, was sich schickte. Hinzu kam, dass die Seydels Glaubensflüchtlinge aus dem Schlesischen waren. Fremde aber, selbst wenn sie einiges an Vermögen mitbrachten, hatten es doppelt schwer. Die Tatsache, dass der Rat der Stadt Seydel trotzdem zum Bürgermeister wählte, spricht für die starke Persönlichkeit des gelernten Tischlers. Auch sein Besitz und seine rhetorischen Fähigkeiten werden bei der 1712 getroffenen Entscheidung eine Rolle gespielt haben. Zur damaligen Zeit gab es in Radeberg zwei oder drei Räte, die sich im jährlichen Wechsel als Stadtoberhaupt ablösten. Der neue Bürgermeister sollte bald alle Hände voll zu tun bekommen. Am 17. Mai 1714 läuteten die vier Glocken der Stadtkirche Sturm. Nach »gewaltigem Donnerwetter und dreifachem Blitzschlag« trieb der Wind eine verheerende Feuersbrunst durch die Straßen. Am nächsten Morgen lagen 111 Wohnhäuser in Schutt und Asche. Als Bürgermeister organisierte Seydel den Wiederaufbau. Er ließ eine Ziegelei errichten und durchstreifte auf der Suche nach Kalkstein die Umgebung. Dabei stieß er im Tannengrund, einem unwegsamen und schwierig zu erreichenden Gelände, auf die Reste alter Bergwerksanlagen. Nun kam eins zum anderen. Seydel, der gerüchtweise von Gold- und Silberfunden in der Region gehört hatte, fand in einem der verfallenen Schächte metallisch glänzendes Gestein. Erregt von der Aussicht auf raschen Gewinn, erwarb er beim zuständigen Bergamt in Glashütte eine Förderkonzession. Epitaph an der Nordwand der Radeberger Stadtkirche 11 1 Die Einwohner der Stadt besaßen nach dem Brand kaum Vermögen. Dennoch waren einige bereit, sich an dem spekulativen Bergbauprojekt ihres Bürgermeisters zu beteiligen. Die erhalten gebliebene Liste der Interessenten umfasst genau 94 Personen. Keiner der späteren »Aktionäre« wird geahnt haben, worauf er sich einließ. Das von maximal drei Arbeitern betriebene Unternehmen produzierte nur eins: Verluste. Wie heute bekannt ist, war das ganze Vorhaben von vornherein aussichtslos. Bis zum Ende der Arbeiten wurden keine verhüttungsfähigen Erze gefördert. Seydel, der »als Handwerksmann und Tischler so vorhero vom Bergbau nicht sonderl. viel Wissenschaft gehabt«, geriet in finanzielle Schwierigkeiten. Keineswegs entmutigt, wusste er sich auf überraschende Weise zu helfen. Die Geschäfte des Bürgermeisters Das Augustusbad bei Radeberg, um 1730 Die wundersame Quelle Jedes erfolgreiche Unternehmen hat seine Legende. Im Falle des Augustusbades ist diese so eindrucksvoll, dass sie noch immer Bestand hat. Demnach soll sich vor fast 300 Jahren Folgendes zugetragen haben: »Am 13. Februar 1717 ging Seydel zusammen mit seinem Schwager, dem Schlossermeister Johannes Stelzer, und dem Steiger David Klemm daran, das Mundloch des Sonnenglanz-Stollens aufzumachen, aus welchem eine stark abfließende Wasserader herauskam. Da die Männer alle drei an den Füßen wunde Stellen hatten – dem Bürgermeister hatten seine festen Schuhe die Haut aufgerieben, dem Schlosser war Tags vorher ein Stück glühendes Eisen beim Abhauen auf den Fuß gesprungen und den Bergmann quetschte beim Aufschlagen des Stollens ein herabstürzendes Felsstück –, warnte Klemm aus alter Erfahrung seine Begleiter vor dem herausströmenden Wasser, das scharf und arsenikalisch sei und Blutvergiftung verursachen könne. Der ungeduldige und aufgeregte Seydel streifte aber seine Strümpfe herab und sprang ohne Rücksicht in den Wasserlauf, um in den Stollen vorzudringen. Seine Begleiter folgten ihm. Sie wateten bei ihrem Suchen an diesem und dem folgenden Tage in dem Schachtwasser, ohne daß eine Vergiftung eintrat, und am dritten Tage nahmen sie zu ihrer höchsten Verwunderung wahr, daß bei allen dreien die Wunden vollkommen geheilt erschienen.« Soweit die Überlieferung der Familienchronik. Die Akten der kursächsischen Bergbaubehörde sprechen eine andere Sprache. Aus ihnen geht hervor, dass der Sonnenglanz-Stollen erst zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem die Arbeiten zur Erzgewinnung bereits in vollem Gange waren, geöffnet wurde. Auch die wundersame Heilung der fußlahmen Runde darf bezweifelt werden. Sicher ist nur, dass der geschäftstüchtige Bürger12 meister das Wasser vermarkten wollte. Die Legende von der Entdeckung der Heilquelle sprach sich herum und wurde schon 1741 in Johann Heinrich Zedlers Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, das meistgelesene Nachschlagewerk der Zeit, aufgenommen. Der Weg zum Erfolg Die Geschichte des Augustusbades setzt sich fort, wie sie begonnen hat – mit einer Merkwürdigkeit. Um die Quelle in einem größeren Umkreis bekannt zu machen, ließ Seydel im hinteren Teil des Stollens eine Apparatur installieren, die das eiskalte Bergwasser erwärmte. Was die Besucher erlebten, war in der Tat spektakulär. Kein einziges der weithin bekannten Heilbäder verfügte über eine warme Mineralquelle. Auch wenn der Schwindel schnell ruchbar wurde, das Interesse an dem neuen Heilbad wuchs. Die ersten Badegäste mussten mit primitivsten Verhältnissen vorliebnehmen. Gebadet wurde zunächst im Freien und selbst die wenig später errichtete Holzhütte bot kaum Komfort. In mehreren Wannen saßen Männer und Frauen mit ganz unterschiedlichen Krankheiten gemeinsam im Wasser. Den aus Dresden herbeigeeilten Inspektoren verschlug es die Sprache. Zurückgekehrt in die sächsische Hauptstadt empfahlen sie, »dem Manne Seydel das unverantwortliche Geschäft zu untersagen«. Auch viele Ärzte warnten eindringlich vor dem äußeren und inneren Gebrauch der Quelle. Es sei besser – so die Mediziner –, »sich von der Dresdner Brücke in die Elbe zu stürzen und so den Hals auf einmal zu brechen, als sich an dem elenden Gesundwasser langsam und jämmer13 1 Das Augustusbad bei Radeberg, um 1803 lich den Tod an den Hals zu saufen«. Zum Glück für den Betreiber der Anlage gab es auch andere Gutachten. In ihnen wurde der »öffentlich verworfene Gesundbrunnen« verteidigt. So erschien 1722 eine neuerliche Kommission, versah zwei Fässer des Quellwassers mit Vorhängeschlössern und ließ diese eilends in die Landeshauptstadt abtransportieren. Obwohl die Untersuchung den Mineralgehalt der Quelle bestätigte, hielten sich Gerüchte über die gesundheitsschädigende Wirkung des Wassers noch mehrere Jahre. Der rasch wachsenden Popularität des Bades schadete das erstaunlicherweise nicht. Die älteste Darstellung des »Radeberger Gesund-Bades« zeigt ein wildromantisches Gelände. Es gab weder ausreichend Platz für irgendwelche Anlagen noch eine Straße. Selbst das nächstgelegene Dorf war nur auf Umwegen zu erreichen. Auf Seydel wartete ein Übermaß an Arbeit. Er ließ die enge Schlucht zu beiden Seiten der Quelle abtragen, eine Fläche planieren und Wege anlegen. In den Jahren 1721 bis 1723 entstand ein neues Bade- und Gästehaus, später kamen zwei weitere Gebäude hinzu. Der Erfolg dieser mit Geschick und unternehmerischem Kalkül durchgeführten Veränderungen blieb nicht aus. Immer mehr Gäste – unter ihnen hohe Beamte wie der Ober-Land-Baumeister Pöppelmann – kehrten Sommer für Sommer in den Tannengrund zurück. Auch der sächsische Hof, der die Benennung des Bades nach August dem Starken wohlwollend gebilligt hatte, versorgte sich mit dem Wasser. So erfahren wir aus dem Jahre 1728, »daß dieses Heyl- und Wunder-Bad Ihro Königl. Mayestät, unserem allergnädigsten Herrn an dero Schenkel sehr zuträglich gewesen«. Die Berichte der gewöhnlichen Gäste klingen nicht weniger abenteuerlich. Ob Gliederreißen, Kurzsichtigkeit, Ausschlag oder Schlangenbiss – die Liste der Gebrechen, bei denen das Wasser geholfen haben soll, ist lang. 14 Im Jahre 1739 war der Ansturm auf das Heilbad bereits so groß, dass der Bedarf an Unterkünften nicht mehr gedeckt werden konnte. Zu dieser Zeit erinnerte nur noch wenig an die bescheidenen Anfänge der Stollenquelle. Längst schon hatte Seydel für vielerlei Annehmlichkeiten gesorgt. Die etwa 200 Personen, die das Bad jährlich aufsuchten, scheinen bei weitem nicht so gebrechlich gewesen zu sein, wie man vielleicht vermuten könnte. In den Gebäuden wurde zum Tanz gebeten, es gab Vorstellungen eines Marionettentheaters sowie die Möglichkeit zu kegeln oder Billard zu spielen. Zweimal in der Woche brachten Boten die neuesten Zeitungen und wer auf sich hielt, erschien zum sonntäglichen Gottesdienst im Kirchensaal. Kurzum, das Geschäft florierte und erwirtschaftete – wie die Radeberger Nachbarn anklagend registrierten – größeren Nutzen als manches Rittergut. Der Streit mit der Stadt Radeberg sollte Seydel ein Leben lang begleiten. Das anfängliche Gespött der Bürgerschaft über die kauzige Idee ihres Bürgermeisters war bald handfesten Forderungen gewichen. Sie liefen zunächst darauf hinaus, das Bad kurzerhand in die Stadt zu verlegen. Auch die Eigentumsrechte am Tannengrund und die Versorgung der Kurgäste mit Lebensmitteln waren Gegenstand zahlreicher Prozesse. Seydel klagte über die Ungenießbarkeit des Radeberger Bieres, die Bürgerschaft beschwerte sich über das ausgelassene Verhalten der Badegäste. Seydel versuchte, ein Stück Land für neue Gebäude zu erwerben, der Rat pochte auf seinen Besitzstand. Ungeachtet zahlreicher Vergleiche – die Gegensätze blieben. Mehr als einmal wird Seydel geflucht haben. Die Radeberger ihrerseits mussten neidvoll zusehen, wie prächtig sich das unliebsame Unternehmen entwickelte. Den größten Triumph allerdings hat Seydel nicht mehr erlebt. Im Sommer 1747 wurden seine Erben mit dem Tannengrund belehnt. Heute, mehr als 260 Jahre danach, erinnert in und um Radeberg nur noch wenig an den langjährigen Bürgermeister der Stadt. Das Augustusbad ist verfallen und eines Tages werden auch die Ruinen auf dem Gelände des Bades verschwunden sein. Immerhin; seit 1992 trägt eine neu angelegte Straße im Norden der Stadt Seydels Namen. Auf dem barocken Grabstein des erfolgreichen Unternehmers aber lesen wir: »Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand. Und der Leib des weil. wohl Edlen Vest und wohlweisen Herrn Christoph Seydels, in die 35 Jahre wohlverdientgewesenen Bürgermeisters und Besitzer des von Ihm 1719 erfundenen Augustus-Bades, erwartet der fröhlichen Auferstehung. Ward ge boren zu Seidenberg d. 6. Sept. 1670, allhier verehelicht 1699, zeugte 3 Söhne und 3 Töchter, erlebte davon 21 Kinder und Kindeskinder, starb selig d. 11. April 1747 in seinem 77. Jahre.« Die Geschäfte des Bürgermeisters 15 7 Die Rhododendren von »Sansibar« Der einzige Sohn Weit vorausgeeilt, kehren wir nun zurück. Der Roman von Dumas fils stand noch als Ladenhüter in den Regalen, da erschien in Dresden der Potsdamer Handelsgärtner Heinrich Ludwig Heydert. Mehrere Tage lang besichtigte er im Spätsommer 1850 die sächsische Residenz, besuchte Gartenanlagen und botanische Sammlungen. Was er notierte, war nicht immer schmeichelhaft und hätte den Verantwortlichen am königlichen Hofe zu denken geben müssen. Die privaten Gartenbaubetriebe aber haben den Gast beeindruckt. Das Seidelsche Unternehmen übertraf seiner Meinung nach sämtliche Gärtnereien Berlins und man sähe auf den ersten Blick, dass hier Geld vorhanden sei. Die miteinander verbundenen Gewächshäuser, der Verlauf der Heizungsanlage, die Technik der Bewässerung – all das hielt Heydert für ebenso wichtig wie die Beschreibung der »in üppigstem Grün strotzenden« Pflanzen. Das Interesse des neugierigen Kollegen lässt sich erklären. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts galt es als absolut ungewöhnlich, wenn eine Privatgärtnerei mehr als fünf oder sechs Mitarbeiter beschäftigte. Ganz anders im Seidelschen Betrieb. Hier wurden Dutzende von Arbeitskräften benötigt. Gesellen und Lehrlinge, Hilfsarbeiter und Handwerker, Kutscher und Kontorangestellte hatten oft 12, manchmal gar 14 Stunden am Tag zu tun. In den Gewächshäusern wuchsen neben Kamelien auch Indische Azaleen, Rhododendren und Orchideen. Ihre Pflege erforderte ständige Aufmerksamkeit. Ein Teil der Angestellten wohnte daher auf dem Gelände der Gärtnerei. Bei nächtlichen Unwettern oder einem überraschenden Kälteeinbruch standen sie sofort zur Verfügung. Damals wie heute wurde von einem tüchtigen Gärtner verlangt, dass er »sorgfältig, fleißig und unverdrossen« sei. Der Lohn für diese Tugenden war gering. In Dresden verdiente ein Gehilfe bei freier Verpflegung und Unterkunft etwa drei, maximal fünf Taler in der Woche. Trotzdem konnte sich Seidel die Mitarbeiter aussuchen. Der gute Ruf des Unternehmens veranlasste viele Gehilfen, bei ihm anzuklopfen. In der Regel hatten sie zuvor drei Jahre in einer kleineren Gärtnerei gelernt und wollten nun ihre Kenntnisse erweitern. Der Weg zur Gründung eines eigenen Betriebs blieb den meisten von ihnen allerdings versperrt. Traugott Jacob Herrmann Seidel, dem einzigen Sohn der Familie, eröffneten sich andere Perspektiven. Er wurde von vornherein auf die Rolle des Geschäftsinhabers vorbereitet. Schon die Kindheit des 1833 geborenen Jungen machte das deutlich. Gemeinsam mit der jüngeren Schwester erhielt er Hausunterricht in Französisch, Englisch und Russisch. Die Schulzeit beendete Herrmann in einem Dresdner Privatinstitut, dessen 71 7 72 Direktor froh gewesen sein muss, als der selbstbewusste und etwas aufsässige Zögling die Anstalt verließ. Den Schuljahren folgte die praktische Ausbildung. Im Unterschied zu seinem Vater erwarb Herrmann auch kaufmännische Kenntnisse. Seine Lehrmeister Ludwig Leopold Liebig und Carl Ferdinand Himmelsstoß waren Mitglieder der »Flora« und angesehene Handelsgärtner. Liebig zum Beispiel genoss als Spezialist für Azaleen und Eriken einen hervorragenden, fast legendären Ruf. Nach der Lehrzeit verließ Seidel die sächsische Residenz und ging ins Ausland. In England arbeitete er in der berühmten Baumschule von John Standish. Die Begeisterung Standishs für Rhododendren sollte sich auf den jungen Mann übertragen und ihn ein Leben lang begleiten. Insgesamt sieben Jahre verbrachte der Dresdner in englischen und französischen Betrieben, ehe er 1859 eiligst nach Hause zurückkehrte. sende Konkurrenz, die Notwendigkeit, billiger zu produzieren, und die Launen der Mode führten zu Einschränkungen des Sortiments. Weniger robuste oder aus anderen Gründen ungeeignete Pflanzen verschwanden aus den Gärtnereien und gerieten in Vergessenheit. Gleichzeitig mit dem Zwang zur Spezialisierung entstand ein weiteres Problem. Nach wie vor arbeiteten die meisten Gartenbaubetriebe am Rand der Altstadt. Die aber wuchs gewaltig. Immer neue und höhere Gebäude verstellten den Blick. Wo früher schlecht befestigte Wege und zahlreiche Felder gelegen hatten, erstreckten sich nun gepflasterte Straßen und Wohnsiedlungen. Allein in der Zeit zwischen 1855 und 1867 nahm die Bevölkerung Dresdens etwa um 50 000 Personen zu. Da die Pflanzen unter dem Ruß der Schornsteine litten und der junge Familienvater die unter Platzmangel leidende Gärtnerei vergrößern wollte, wurde nach einem anderen Gelände Ausschau gehalten. Der neue Hausherr Außerhalb der Stadt In der Heimat erwarteten Herrmann Seidel schwere Zeiten. Der seit längerem kranke Vater war nicht mehr in der Lage, die Gärtnerei zu führen. Er starb am 13. April 1860. Während seiner Krankheit scheint es mit dem Unternehmen bergab gegangen zu sein. Viele Rechnungen lagen unbezahlt im Kontor, die finanziellen Reserven waren erschöpft. Vom guten Ruf des Betriebes allein ließ sich nicht leben, zumal die Mutter keine Einschränkungen im gewohnten Standard duldete. Als ihr Sohn im August 1860 seine Jugendliebe heiratete, hat es heftige Szenen gegeben. Minna, die Tochter eines Finanzrats, versuchte, der verbitterten Witwe sowenig wie möglich unter die Augen zu kommen. Das Paar bezog eine kleine Dachwohnung im Gebäude der Gärtnerei. Kurz hintereinander kamen hier drei der insgesamt sechs Kinder zur Welt. Herrmann Seidel musste nicht nur die alten Rechnungen der Gärtnerei begleichen und das Geschäft konsolidieren. Genauso wichtig und für die Zukunft des Unternehmens noch grundlegender ist eine Reihe von Veränderungen gewesen. Die gesamte Produktion wurde gestrafft, das riesige Sortiment an Kamelien radikal eingeschränkt. Von den über 1100 Sorten behielt der neue Inhaber kaum die Hälfte im Angebot. Das lag vor allem daran, dass sich die Zeit und mit ihr die Nachfrage geändert hatte. Der vermögende Liebhaber seltener Pflanzen verlor als Kunde mehr und mehr an Bedeutung. Statt dessen kauften auswärtige Gärtner die Jungpflanzen jetzt direkt bei den großen Spezialbetrieben, um sie dann in den eigenen Gewächshäusern zu kultivieren. Die wach- Wenige Kilometer östlich der Altstadt lag noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts das kleine Dorf Striesen. Bis hierher führten eifrige Polizisten die aus Dresden verbannten Bettler, um sie bei nächster Gelegenheit erneut im Stadtgebiet aufzusammeln. »Striesen, Striesen, stadtverwiesen«, hieß es aus diesem Grund. Genau an der Flurgrenze, dort wo die Polizei kehrtmachte, erwarb Herrmann Seidel 1865 mehrere Hektar Land. Der Ackerboden war von bester Qualität und kostete nur ein paar Pfennige pro Quadratmeter. Links und rechts lagen Felder und Wiesen, auf denen eine Reihe windschiefer Scheunen standen. Vor dem schnell errichteten Zaun des Grundstücks hütete der benachbarte Schäfer seine Herde – ein Eindruck, den die älteren Kinder der Familie im Gedächtnis behielten. Die neue Gärtnerei, die Herrmann Seidel in Striesen erbauen ließ, gehörte zu den modernsten ihrer Art. Alle Gewächshäuser wurden über eine zentrale Hochdruckdampfheizung mit Wärme versorgt. Auch die Erfindung der sogenannten »Japans« ging auf das Konto des rührigen Hausherren. Aus Balken und rohen Brettern zusammengefügt, bestimmten sie bald das Bild vieler Dresdner Betriebe. Bis zu 26 000 Kamelien oder Azaleen fanden in den größeren Häusern Platz. Halb in die Erde hineingebaut, im Sommer offen und im Winter bis auf wenige Lichtfenster mit Sägespänen, Nadelerde oder Dünger bedeckt, verursachten sie nur geringe Kosten. »Die Kamelien wachsen ja hier wie in Japan!« soll ein begeisterter Kollege beim Anblick der Seidelschen Neuerung ausgerufen und damit den Begriff geprägt haben. Die Rhododendren von »Sansibar« 73 Ansicht der Seidelschen Gärtnerei in Dresden-Striesen, Borsbergstraße 74 Eine fast kindliche Vorliebe für seltsame Bezeichnungen bewahrte sich der Hausherr zeitlebens. Das tapezierte Zimmer seiner Frau nannte er »Pappschachtel«, eine mit Glas verkleidete Veranda hieß »Affenbude«. Je nach Funktion oder Lage trugen selbst einige der über 20 Gewächshäuser Namen. Der »Omnibus« zum Beispiel beherbergte Pflanzen, die Privatleute nur kurzzeitig in Pflege gaben und die daher, wie eilige Fahrgäste, »bald ein und bald ausstiegen«. Der »Suezkanal« lag an einem Wassergraben und im »Käfig« wurde der Himalaja-Rhododendron gehalten. Die wundersamen Bezeichnungen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass in dem großen Betrieb alles seine Funktion hatte. Da gab es Arbeitsstätten für Zimmerer und Glaser, Lagerräume für Töpfe und Gartengerät, Pferdeställe und einen Moosschuppen. Im Gärtnereigebäude selbst befanden sich die Wohnungen, das Kontor und der Raum mit den Heizkesseln für die Gewächshäuser. Helene Eidner, die 1870 geborene Tochter Seidels, konnte sich noch im hohen Alter an die Verhältnisse in der Gärtnerei erinnern. Ihr Bericht über die eigene Kindheit ist aufschlussreich. Wir blicken auf ein klar gegliedertes, vollkommen vom Hausherrn bestimmtes Unternehmen: »Einen lieberen Menschen als unseren Vater konnten wir uns nie denken. Nie heftig, immer beherrscht, auch nicht übermütig und gern heiter. Viel Sinn hatte er für Musik, war nicht selbst ausführend, konnte aber zu Mutters Klavierbegleitung ausgezeichnet pfeifen. Nie hat er uns gestraft, doch sein betrübter Blick, wenn wir etwas verbrochen hatten, beschämte uns bis ins Innerste. Gegen Mutter war er stets freundlich. Ich entsinne mich, wie ihm ihre Bildung sichtlich wohltat, wenn er einen Geschäftsfreund ins Haus brachte. Dann war ich stolz auf meine Eltern, wenn sie sich zum Beispiel französisch mit dem Gast unterhielten. Nur Mutters sogenannte Weinkrämpfe behagten Vater nicht. Er, der sich bei seinem schweren Asthmaleiden so beherrschte, konnte dieses Nachgeben und Empfindlichsein nicht verstehen. Ach dieses furchtbare Leiden! Wohl mit 36 Jahren bekam er Rippenfellentzündung. Der Arzt nahm es auf die leichte Schulter und sagte, ein Gärtner ginge doch nicht ins Bett. Mutter ließ einen zweiten Arzt kommen, der entsetzt war über die Leichtsinnigkeit des Kollegen. Aber die Verschleppung der Krankheit hatte dem Organismus bereits so geschadet, daß dieses Herzasthma zurückblieb. Von da an mußte Vater mit einer festen Rolle im Rücken und zwei Kopfkissen sitzend schlafen. Wenn nachts die Erstickungsanfälle kamen, wo er stöhnend nach Luft rang, standen wir zitternd an unserer Schlafzimmertür. Weil Vater Vollbart trug und allgemein für so würdig angesehen wurde, habe ich nie gefühlt ob er jung oder älter war. Christel nannte ihn ›Papa‹ und die Gärtner alle ›Vater‹. Das Verhältnis zu den Angestellten war wunderhübsch. Den Gehilfen gegenüber blieb Vater der feine Lehrherr, aber Unbotmäßigkeiten im Lebenswandel konnte er streng tadeln. Die Arbeiter wurden ganz individuell behandelt, der alte Grabowsky hat oft gehört: ›Na Edward, du altes Kamel‹, und ich glaube, der nahm es als Kosenamen. Wie hat er zum Beispiel den Glaser Adam auf den rechten Weg gebracht. Er war ganz in sozialdemokratische Kreise geraten und wollte seine Ideen auch den anderen Arbeitern beibringen. Nicht mit harten, sondern überzeugenden Worten sprach Vater mit ihm und brachte ihn so weit, daß er bei der nächsten Wahl mit dem großen Plakat der ›Konservativen Partei‹ an der Tür des Lokales stand. Diese Gemütlichkeit gegenüber dem einfachsten Manne, schloß aber nicht aus, daß er ohne Hemmungen und Bedenklichkeiten den rechten Takt gegenüber dem König fand. Es war nur nicht der schmeichlerische, unterwürfige Ton der Hofschranzen und gerade das muß den König sehr angezogen haben. In dem Teil südlich der Augsburger Straße hatte Vater zwei Gewächshäuser bauen lassen, die auf Schienen standen und weggerollt werden konnten. Das imponierte dem König so, daß er selbst die Kurbel drehte. Wegen des doppelten Platzes fiel die Erfindung in Vergessenheit. Die ausländischen Geschäftsfreunde waren Vater sehr zugetan. Wie sorgfältig nahm er vor den Ausstellungen die fremde Ware zum Antrieb auf, daß die Herren sie zur rechten Zeit wohlentfaltet, aufstellen konnten. Mancher hat auf diese Weise den Preis erhalten. Da gab es schon mal schöne Dankesgaben, zum Beispiel ein ganzes Fäßchen russischen Kaviar. Auch die herrlichen Koniferen waren ein Geschenk, und der König fragte neidisch, woher die schönen Exemplare wären …« Die Rhododendren von »Sansibar« 75 7 Die Rhododendren von »Sansibar« Minna Seidel Herrmann Seidel Das Gärtnerdorf Der kurbeldrehende König, dem es die rollenden Gewächshäuser so angetan hatten, war Albert von Sachsen. Seit 1873 an der Macht, regierte er mehr als ein Vierteljahrhundert. In dieser Zeit vollzogen sich stürmische Veränderungen. Das Spekulationsfieber der Gründerjahre und die schnelle Entwicklung der Industrie verschärften die sozialen Konflikte. Überall in Dresden entstanden Ortsvereine der Sozialdemokratischen Partei und der von ihr beeinflussten Gewerkschaften. Die Stadt sprengte endgültig ihre Grenzen, wuchs in die Breite, dehnte sich auf die Höhen aus. Für die Gärtnereien innerhalb der alten Vorstädte gab es keinen Platz mehr. Viele Betriebe verlegten die Produktion in die nahen Dörfer, um wenig später auch hier von der ungeheuren Bauwut eingeholt zu werden. Der oft 76 mehrfache Wechsel des Standorts hatte für die Gärtner nicht nur Nachteile. So mancher von ihnen wurde auf diese Weise vermögend. Lag das Grundstück in einer lukrativen Gegend, stiegen die Preise. Innerhalb kurzer Zeit konnten gewaltige Gewinne erzielt werden; Geld genug für einen ruhigen Lebensabend oder ein neues Stück Land. Mit dem frühen Umzug nach Striesen war Herrmann Seidel anderen Gärtnern vorausgeeilt. Seinem Beispiel folgten bald weitere Unternehmen. Einfache, zunächst nur mit Zahlen und Buchstaben bezeichnete Straßen entstanden. Bis 1890 siedelten sich 52 Kunst- und Handelsgärtnereien in der Gemeinde an. Das Verhältnis zwischen den Inhabern der Betriebe muss trotz der wachsenden Konkurrenz gut gewesen sein. Von der »Treue und Solidarität« der ehemaligen Striesner ist später oft und mit Wehmut die Rede. Da es die Gärtnereibesitzer meist zu einigem Wohl77 Camellia japonica »Herme« Camellia japonica »Frau Minna Seidel« √ Camellia japonica »Tricolor« √√ S. 145: Die japanische Kameliensorte »Tricolor« in einem in Zuschendorf wieder aufgebauten Glashaus der »Neuen königlichen Hofgärtnerei zu Pillnitz« 146 147 Landschloss Pirna-Zuschendorf, Heimstatt der Seidelschen Kamelien Märzblüte in Pirna-Zuschendorf: Achtzig- bis hundertjährige Mutterpflanzen der Gärtnerei Seidel in den Schaugewächshäusern 148 »Sandstein und Kamelien« im Landschloss Zuschendorf, VII. Deutsche Kamelienblütenschau 2010 149 www.sandstein-verlag.de