Fest im Sattel des Lebens
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Fest im Sattel des Lebens
Entscheidung gefallen: Greta sollte ins Heim. „Das war schlimm für mich“, sagt Greta und es ist klar, dass das Wort „schlimm“ nicht ansatzweise fassen kann, wie Greta sich damals fühlte. Anfangs wollte sie auf keinen Fall ins Heim. Durch den Abstand von zu Hause wurde Greta jedoch bewusst, dass es ihr nicht guttun würde, wieder dorthin zurückzukehren. Gleichzeitig fand sie es im Heim für Schwererziehbare schrecklich. „Wer du bist, was du kannst oder wie gut du in der Schule bist, interessiert dort keinen. Wenn du dich behaupten willst, musst du dich schlagen, rauchen, auf den Boden spucken und ,Ey, Alter‘ sagen“, beschreibt Greta ihre Erfahrung. Und Greta behauptete sich. Damals war ihr alles egal. Doch noch nicht ganz tot Georg und Nele Schulze Hauling haben Greta (Mitte) in den Sattel geholfen. Aus Sicht der 18-Jährigen beschreibt dieses Bild übertragen auf das Leben gut, was die beiden Erzieher für sie getan haben. Foto: Holtkamp Fest im Sattel des Lebens Auf ihrem Hof in Nottuln im Kreis Coesfeld helfen Nele und Georg Schulze Hauling traumatisierten Jugendlichen, den Weg in ein selbstständiges Leben zu finden. Eine von ihnen ist die 18-jährige Greta. H ätte meine Mutter einen anderen Mann geheiratet, wäre das alles vielleicht nie passiert“, sagt Greta*. Die 18-Jährige sitzt mit einer Tasse Cappuccino in der Hand auf dem Sofa in der Diele des Hofes Schulze Hauling. Der Nebenerwerbsbetrieb in NottulnSchapdetten im Kreis Coesfeld ist einer von 130 Projektstandorten der Jugendhilfeorganisation „Wellenbrecher“ (siehe Kasten). Greta wirkt offen, freundlich und lebensfroh, entschuldigt sich während des Gesprächs dafür, dass ein anderer Jugendlicher die Musik in seinem Zimmer laut aufdreht. „Der ist neu hier. Er wird noch lernen, auf andere Rücksicht zu nehmen“, * Name von der Redaktion geändert 78 sagt sie. Sie selbst musste in den vergangenen Jahren sehr viel lernen. Viel mehr, als man es sich für ein Mädchen in ihrem Alter wünschen würde. Vom Vater bedroht Während eines Telefonats vorab hat Greta bereits erwähnt, dass sie mit 14 Jahren in ein Heim kam. „Weil es zu Hause nicht passte“, wie sie sagt. „Mein Vater und ich haben immer aneinander vorbeigeredet.“ Greta macht eine Pause und lächelt bitter. „Schließlich war ich ein Mädchen.“ Zwischen ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder und ihrem Vater hat es selten Probleme gegeben. Beim Reden allein blieb es nicht. „Einmal hat mir mein Vater einen Topf mit Gulasch über den Kopf geschüttet“, erinnert sich Greta. Was ihre Mutter in einer solchen Situation tat? „Die hat auf der Arbeit so viele Schichten wie möglich gekloppt, um davon nichts mitzubekommen.“ Als Greta zum ersten Mal selbst die Polizei rief, weil sie sich von ihrem Vater bedroht fühlte, war sie zwölf Jahre alt. Der einzige Erwachsene, zu dem Greta Vertrauen hatte, war ihr Patenonkel. Als er starb, brach die damals 13-Jährige vollständig zusammen. Sie ließ sich nichts mehr sagen, trank, kiffte, klaute und schwänzte die Schule. An ihrem 14. Geburtstag trank sie so viel, dass sie mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus kam. Schon vorher hatte es Kontakt zum Jugendamt gegeben. Mit der Alkoholvergiftung war für die Eltern die Nach ein paar Wochen brannte Greta durch und verbrachte in der nächstgelegenen Stadt eine Nacht auf der Straße. Die Polizei griff sie auf und nahm Fingerabdrücke von ihr. „Das war für mich ein Boomerlebnis. Da habe ich gemerkt, dass ich doch noch nicht ganz tot bin.“ Zurück im Heim haute sie wieder und wieder ab und kam schließlich in eine Einrichtung speziell für Mädchen. Auch von dort flüchtete Greta immer wieder in die nächstgelegene Stadt, wo sie mit Obdachlosen und Punkern auf der Straße herumlungerte. „Mit denen hatte ich ein gemeinsames Hobby: das Trinken“, kommentiert sie trocken. Es habe durchaus Momente gegeben, in denen sie sich bewusst geworden sei, was sie da tat. „Aber ich dachte immer: Ich bin erst 14 und habe noch viel Zeit, mein Leben zu ändern. Dass das tatsächlich passiert ist, war aber nur Glück.“ Zwei Jahre nach Polen Mit Glück meint Greta ihren Kontakt zur Organisation Wellenbrecher e. V. Der entstand, als auch die Leitung des zweiten Heims zu dem Schluss kam, nicht länger für Greta sorgen zu können. Anfangs sollte sie mit einer Reisepädagogin des Jugendhilfeträgers drei Monate durch Polen reisen, Abstand von ihrem bisherigen Umfeld gewinnen und so neue Perspektiven für sich ent- 40 / 2012 Ein Beitrag aus dem Landwirtschaftlichen Wochenblatt Folge 40/2012 www.wochenblatt.com Landwirtschaftliches Wochenblatt Jugendhilfe bei „Wellenbrecher“ Wellenbrecher e. V. ist ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe. In Zusammenarbeit mit Kinder- und Jugendpsychiatern sowie Ärzten haben die Mitarbeiter in den vergangenen 20 Jahren mehr als 600 Kinder betreut – 130 davon stationär, 35 im Ausland. Die Jugendlichen haben meist ein schweres Trauma durch Gewalt oder sexualisierte Gewalt erfahren und eine Odyssee durch die üblichen Einrichtungen der Jugendhilfe, wie Heime, hinter sich. Eine Eins-zueins-Betreuung stellt für sie die decken. Doch so weit kam es nicht. Während der Reise eskalierte die Situation. Damit stand fest, dass für Greta nur der letzte Schritt – ein mehrjähriger Aufenthalt im Ausland – infrage kam, um ihr Leben wieder in geregelte Bahnen zu lenken. Die Mitarbeiter von Wellenbrecher e. V. fanden innerhalb weniger Tage eine polnische Familie, die deutsch sprach und bereit war, Greta bei sich aufzunehmen. Der Hof nahe der russischen Grenze, auf den Greta kam, lag 15 km vom nächsten Dorf entfernt. Doch das störte die Jugendliche nicht. Denn dort gab es Pferde. Und Reiten war schon als Kind ihr Traum gewesen. „Für mich war es das erste Mal, dass ich selbst an einem Ort bleiben wollte. Ich hatte Angst, dass auch Jarek und Natalia mich wegschicken würden, oder dass das Jugendamt in Deutschland die kostspielige Maßnahme nicht bewilligen würde.“ Doch das Jugendamt stimmte zu unter der Voraussetzung, dass Greta mithilfe einer Lehrkraft vor Ort beschult wurde. Anfangs zu Besuch In der Abgeschiedenheit hatte Greta viel Zeit zum Nachdenken. Da sie in schwierigen Situationen nicht die Flucht ergreifen konnte, war sie dazu gezwungen, mit Jarek und Natalia in Kontakt zu treten und sie an sich heranzulassen. „Die beiden waren streng, aber herzlich“, erzählt Greta. Alle paar Monate ging es für ein paar Tage zurück nach Deutschland für Besuche beim Arzt und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bei diesen Gelegenheiten gab es die ersten Stippvisiten auf dem Hof Schulze Hauling. Die Eheleute Nele (28) und Georg (53) Schulze Hauling haben in den vergangenen Jahren bereits sechs Kinder und Jugendliche jeweils für mehre Monate oder auch Jahre auf ihrem Hof aufgenommen und auf ein eigenständiges Leben vorbereitet. Für Greta war auf Anhieb klar, dass sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland dort würde wohnen wollen. Doch die Mitarbeiter von Wellenreiter machten es ihr nicht letzte Chance dar, neue Perspektiven für sich zu entwickeln. Ansonsten bliebe nur eine geschlossenen Unterbringung, beispielsweise in der Psychiatrie. Die Kosten für eine Eins-zu-eins-Betreuungen betragen etwa 5500 € pro Monat und liegen damit nach Angaben von Michael Karkuth von Wellenbrecher e. V. nur geringfügig höher als bei einer Unterbringung in Gruppen. Finanziert wird die Maßnahme über die öffentliche Jugendhilfe und damit über Steuergelder. ➥➥ www.wellenbrecher.de leicht. „Ich musste mich richtig anstrengen, um dort hinzukönnen“, sagt Greta. Was das genau bedeutete? „Ich musste mich an Regeln halten, nett zu anderen sein – alles das, was man eigentlich bei einem Menschen voraussetzt, was für mich aber nicht mehr normal war.“ Umstellung war groß Tatsächlich bekam Greta nach den zwei Jahren in Polen eine Projektstelle auf dem Hof Schulze Hauling bewilligt. Seit zwei Jahren lebt sie nun dort und absolviert zurzeit eine Ausbildung zur Kinderpflegerin. Auf dem Hof gibt es zwei weitere Projektstellen: eine weitere bei Schulze Haulings selbst und eine bei einem anderen Ehepaar, das mittlerweile in einem Nebengebäude auf dem Hof lebt. Nicht immer sind alle drei Stellen besetzt. In der Regel kommen Jugendliche hierher, die wie Greta zuvor für ein bis drei Jahre im Ausland waren – in Polen oder Russland. Jeder Jugendliche hat sein eigenes Zimmer mit Bad. Auch das Ehepaar Schulze Hauling hat seine Privaträume, in die es sich zurückziehen kann. Diele und Küche nutzen alle gemeinsam. „Unsere Aufgabe besteht darin, die Jugendlichen dabei zu unterstützen, selbstständig zu werden“, erläutert Nele Schulze Hauling, die sich mittlerweile zu Greta auf das Sofa gesetzt hat. „Bei einem Jungen kann das bedeuten, dass ich ihm Kochen beibringe und er einmal in der Woche für das Mittagessen zuständig ist“, nennt die 28-Jährige ein praktisches Beispiel. Auch gemeinsam eine Überweisung auszufüllen, gehört zur sogenannten Verselbstständigung. Dinge, die in Familien nebenher geschehen, sind hier pädagogische Ziele. Eigene Kinder haben Schulze Haulings nicht. Für die Jugendlichen in den Projektstellen sind sie rund um die Uhr da. „Wir arbeiten als Selbstständige. Die Bezahlung liegt etwas höher als die eines gut verdienenden Erziehers beispielsweise im Heimbereich“, erläutert Nele Schulze Hauling. Hinzu kommen Aufwandsentschädigungen unter anderem für Essen, Kleidung und Taschengeld. Landwirt wird Pädagoge Für Nele Schulze Hauling stand schon früh fest, dass sie Erzieherin werden und mit Jugendlichen arbeiten möchte. Ihr Mann, den wir später draußen auf dem Hof treffen, ist eher in die Jugendhilfe hineingestolpert, wie er es beschreibt. Ein Freund, der für den Jugendhilfeträger Wellenbrecher arbeitete, sprach den gelernten Landwirt vor einigen Jahren an, ob er Interesse an solcher Arbeit habe. Als 2004 der erste schwer aggressive Jugendliche auf den Hof kam, unterstützte Georg Schulze Hauling einen Pädagogen bei der Arbeit vor Ort. Nach dieser Zeit begann er selbst eine Ausbildung zum Erzieher – im Alter von damals 47 Jahren. „Es gab Zeiten, in denen ich die Brocken am liebsten hingeschmissen hätte“, sagt Georg Schulze Hauling und lacht. Doch am Ende zog er die Ausbildung durch. Auf einem Hof zu leben und den Arbeitsalltag eines Landwirts mitzuerleben, ist für die Jugendlichen aus Sicht von Schulze Haulings genau das Richtige. „Hier lernen sie, dass die Arbeit getan werden muss und dass es schneller geht, wenn alle mitanpacken“, sagt Nele Schulze Hauling. Besonders wichtig sind diese Aufgaben auf dem Betrieb für Jugendliche, die nicht zur Schule gehen. So sind sie anderweitig beschäftigt. Nichts wäre schlimmer für sie als Langeweile. „Denn am Ende von Langeweile stehen immer Straftaten“, weiß Nele Schulze Hauling. Landfrauen informieren sich Schulze Haulings würden sich wünschen, dass es noch mehr landwirtschaftliche Betriebe geben würde, die Projektstellen für schwer erziehbare Jugendliche auf ihrem Hof einrichten. Daher nahmen sie Kontakt zum Kreislandfrauenverband Coesfeld auf. Vor Kurzem fand FAMiLiE schließlich die Ortsvorständetagung des Verbandes auf dem Hof statt. Das Interesse der Mitglieder war groß. Etwa 60 Frauen versammelten sich an diesem Abend in Schulze Haulings Diele, um mehr über das Projekt zu erfahren – darüber, was die Kinder und Jugendlichen durchgemacht haben, die hierher kommen. Und darüber wie die Nachbarn und die Kunden des Reitbetriebs auf die Jugendlichen reagieren und wie der Alltag auf dem Hof geregelt ist. „Jetzt verstehe ich zum ersten Mal, warum es notwendig sein kann, Jugendliche in einer Eins-zu-eins-Betreuung unterzubringen“, sagte eine Landfrau am Ende der Gesprächsrunde. Der Arbeit, die Schulze Haulings leisten, zollten alle Anwesenden großen Respekt. Bei sich auf dem Hof selbst eine Projektstelle einzurichten, konnte sich jedoch kaum eine der Frauen vorstellen. Schön, den Erfolg zu sehen Nele und Georg Schulze Hauling sind sich selbst bewusst, dass man schon ein wenig verrückt sein muss, um sich auf eine solche Arbeit einzulassen. Doch sie würden es immer wieder tun. Was ihnen an ihrer Arbeit besonders viel Freude bereitet? Nele Schulze Hauling überlegt einen Moment und sagt dann bestimmt: „Es ist schön zu sehen, wenn ein Jugendlicher im Leben Erfolg hat. Nicht gemessen an einem tollen Job, sondern daran, dass aus ihm ein selbstständiger Mensch geworden ist, der sein Leben selbst im Griff hat.“ Greta wurde vor ein paar Monaten ein weiteres Jahr in der Projektstelle auf dem Hof Schulze Hauling bewilligt. Ob sie danach ausziehen muss, steht noch nicht fest. Doch auch wenn sie gerne bei Nele und Georg Schulze Hauling bleiben würde – eine Sache weiß sie ganz genau: „Die beiden würden mir dabei helfen, eine Wohnung zu finden. Sie würden mich niemals einfach auf die Straße setzen.“ Christina Bartscher Nele Schulze Hauling stellte den Landfrauen ihre Arbeit für Wellenbrecher vor. Dabei zeigte sie ihnen auch die Räumlichkeiten. Foto: Bartscher 40 / 2012 Ein Beitrag aus dem Landwirtschaftlichen Wochenblatt Folge 40/2012 79 www.wochenblatt.com