Kolloquium „Literatur und Schule“, 24. 05. 2005 Mats Wahl: Der
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Kolloquium „Literatur und Schule“, 24. 05. 2005 Mats Wahl: Der
Kolloquium „Literatur und Schule“, 24. 05. 2005 Mats Wahl: Der Unsichtbare. München: dtv, 2003. € 7.50 Nach einer mit Pausen durchsetzten Vorleserunde resultiert aus dem Blitzlicht eine ambivalente Haltung dem Roman gegenüber, die bspw. in der Bemerkung: „ein erschütterndes, aber auch verstörendes Buch“, ihren Ausdruck findet. Positiv bewertet wird, dass bei der Geschichte, die das Verschwinden eines 16 Jährigen an den Anfang setzt, auch soziale und sonstige Hintergründe der damit in Zusammenhang stehenden „Täter“ beleuchtet werden. Negativ wird hingegen bewertet, dass wenig dazu ausgesagt wird, was diese zu ihrer Tat motiviert. Mats Wahl greift in seinem Roman „Der Unsichtbare“ ein heikles Thema auf, nämlich neonazistische Tendenzen unter Jugendlichen, die – wie sich bald herausstellt – mit dem Verschwinden des 16jährigen Hilmer Eriksson zu tun haben. Dieser tritt in der Erzählung als der „Unsichtbare“ auf, ein Konstrukt, dass sich erst im Verlaufe der Lektüre erhellt. Der Leser/die Leserin erfährt, dass Hilmer zu Beginn der polizeilichen Untersuchung seines Verschwindens schwer verletzt im Gelände, ein wenig außerhalb des kleinen schwedischen Ortes liegt, an dem die Geschichte spielt, bis er gefunden und ins Krankenhaus gebracht wird. Der körperlich abwesende Hilmer tritt jedoch von Anfang an als dieser „Unsichtbare“ auf, d.h. als eine 'geistähnliche Gestalt', die den Polizeikommissar Harald Fors bei seinen Ermittlungen ebenso begleitet wie er sich den verzweifelten Angehörigen und Freunden nähert, ohne dass diese davon Kenntnis nehmen. Das Konstrukt des „Unsichtbaren“ wird schließlich auch zum Gegenstand des Gesprächs. Zunächst stiftet es Verwirrung, dadurch dass einige – gemäß Vorerfahrung aus SF-Geschichten – den Unsichtbaren mit einem bereits Verstorbenen gleichsetzen, was sich im Verlaufe der Lektüre jedoch als unzutreffend erweist. Die besondere Leistung des Konstrukts des Unsichtbaren besteht jedoch nach einhelliger Ansicht darin, dass es das Krimi-Schema und somit das Erwartbare, bspw. dass Hilmer zum Schluss stirbt, durchbricht. Des Weiteren wird über diese „supranaturale“ Erscheinung Hilmers, der bei den an der Suche nach ihm Beteiligten verweilt, ohne recht zu begreifen, was ihm widerfahren ist, auch ein Konnex zu den leidenden Angehörigen hergestellt, allen voran zu Hilmers Mutter, aber auch zu seiner Freundin, der Tochter der Pfarrerin, Ellen. Die Opferperspektive wird somit dominant gesetzt. Die andere Seite, nämlich diejenige der Täter, empfinden demgegenüber viele als unzureichend ausgeleuchtet. Erschreckend ist für alle das jugendliche Alter der Verdächtigten, die z.T. unter schwierigen sozialen Bedingungen aufwachsen, was das Bsp. der 16jährigen Anneli Tullgren verdeutlicht, die aus ihrer neonazistischen Gesinnung keinen Hehl macht, auch nicht als sie von den Polizisten verhört wird. Im Unklaren bleibt trotz der polizeilichen Verhöre, warum die beteiligten Jugendlichen so grausam gegen ihren Mitschüler Hilmer sein konnten, den sie mit ihren Stiefeln zu Tode getreten haben. Hinweise auf das soziale Milieu reichen zur Begründung der Tat nicht aus. Gar als ein Verstoß gegen das persönliche Gerechtigkeitsempfinden wird die Andeutung zum Ende der Geschichte empfunden, dass der zuständige Staatsanwalt den jungen Tätern gegenüber – wie schon in vergleichbaren Fällen – auf ein mildes Urteil plädieren wird. Ein Fehler im juristischen System des modernen Rechtsstaates, fragen sich einige. Mit Blick auf die schwierig zu beantwortende Frage, wie geht eine demokratische Gesellschaft mit solchen Jugendlichen um, wird jedoch das offene Ende der Geschichte eher positiv beurteilt. Ein – wie auch immer gearteter – Lösungsvorschlag zu diesem Problem würde dessen Komplexität nicht gerecht. Mit Blick auf diese Problematik stellt sich auch die Frage nach dem Realitätsgehalt des Romans, der als durchaus gegeben gesehen wird. Die Klärung der Frage, ob sich in dem Roman trotz allem auch hoffnungsvolle Perspektiven finden lassen, dominiert die Überlegungen zu einem Einsatz dieser Lektüre im Unterricht, für die als mögliche Zielgruppe die 8. oder 9. Klasse anvisiert wird. Insbesondere in der zutiefst „humanen“ Haltung dieses Romans, dessen literarische Qualität zur gemeinsamen Arbeit an offenen Fragen einlädt, werden positive Tendenzen gesehen. Die Erkundung der verschiedenen Perspektiven auf die Tat führt z.B. auf diejenigen, die zum Wohle des Rufes des kleinen Touristenortes die Tat zuzudecken suchen, aber auch auf diejenigen, die ihr ganzes Engagement der Aufdeckung der Tat widmen. Hier bieten sich vielfältige Ansatzpunkte zur Arbeit mit der Lektüre, auch wenn die Skepsis bestehen bleibt, dass damit rechts gerichteten Orientierungen Jugendlicher entgegen gewirkt werden könnte. ph