Die Nacht von Bodom

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Die Nacht von Bodom
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w a r
crime 02 //
011
Irmeli und Tuulikki sind 15 Jahre
alt, als sie ihren ersten Ausflug antreten,
Seppo und Nils schon 18. Von ihrem
Zeltplatz aus blicken sie über den
Ausläufer einer Landzunge hinweg auf
die weiten Wasser des Bodom-Sees
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S o m m e r
F i n n l a n d
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k u r z
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a t e m b e r a u b e n d
Die Weidenröschen feuern ihren Purpur
in den Himmel, die Birkenwälder duften grün, und die sonst
so geizige Sonne strahlt zwei Wochen lang großzügig. Erst
nach Mitternacht zieht sie sich für kurze Zeit hinter einen
zarten Schleier zurück, aber wirklich dunkel wird es in dieA
012
sen Tagen auch südlich des Polarkreises nie. Der 4. Juni 1960
war ein perfekter Sommertag zum Zelten. Seppo Boisman
und Nils Gustafsson hatten mit zwei Freundinnen einen Ausflug ans Ufer des Bodominjärvi verabredet, eines großen Sees
in der Nähe von Helsinki. Die beiden 18-Jährigen kannten
sich seit ihrer Kindheit und arbeiteten inzwischen in derselben Fabrik in Helsinki; Seppo als Elektrikerlehrling und
Nils in der Gießerei.
Seppo war schon seit einiger Zeit mit Tuulikki Mäki zusammen, einem fröhlichen dunkelhaarigen Mädchen aus der
Nachbarschaft, das gern Jeans trug und den Schlagersänger
Paul Anka anhimmelte. Nils hatte es auf Tuulikkis beste
Freundin Irmeli Björklund abgesehen, die ein Jahr zuvor mit
Mutter und Stiefvater in die Gegend gezogen war. Dass die
hübsche Irmeli schon einen älteren Freund hatte, störte ihn
nicht, schließlich war der zur Armee eingezogen worden.
Die Mädchen waren erst 15 Jahre alt, aber da die jungen
Männer einen ordentlichen Eindruck machten, ließen die El-
tern ihre Töchter ziehen an diesem Pfingstsamstag, zu ihrem
ersten großen Ausflug.
Alles war perfekt vorbereitet, als Seppo und Nils am späten Nachmittag auf ihre Motorräder stiegen, um Tuulikki und
Irmeli abzuholen. Sie hatten ein Zelt gemietet, Proviant
eingepackt und einen volljährigen Kollegen gebeten, ihnen
Alkohol zu besorgen, eine Flasche Salmisaari-Schnaps und
eine Flasche Zitruslikör. Auf dem Weg kauften sie noch Wurst
und Limonade. Für den Fall der Fälle hatten die beiden außerdem Kondome eingesteckt.
Am frühen Abend kamen die vier Teenager am Südufer
des Bodom-Sees an und ließen sich auf einer der beiden Landzungen nahe dem Wasser nieder. Während die Mäd-
// crime 02
crime 02 //
013
W a s
d a n n
s o l l t e
g e s c h a h ,
s i c h
r i ö s e s t e n
z u m
m y s t e -
K r i m i n a l f a l l
S k a n d i n a v i e n s entwickeln und ein ganzes Land in Atem halten. Es ging ein in das kollektive
Gedächtnis Finnlands, in den Fundus finsterer Geschichten
über die Wälder und Seen. Noch Jahrzehnte später kennt
jedes Kind die Erzählungen vom Entsetzen jener Nacht, ganz
Mutige übernachten an der Stelle, an der es sich ereignete,
auf der „Mordlandzunge“. Eine Death-Metal-Band, die sich
den Namen „Children of Bodom“ gegeben hat, singt: „Wasch
deine Hände im See deines Blutes, bevor du stirbst.“ Und wie
früher die Zeitungen und Sender spekulierten, fragen heute
die User des Internets: Was geschah am Bodominjärvi, damals in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1960?
Fest steht nur: Irgendwann am frühen Morgen dieser
hellen Sommernacht kam das Unheil über das Zelt der vier
Teenager. Völlig unerwartet brach es aus, entlud sich mit unglaublicher Brutalität und zog sich ebenso schnell zurück,
wie es gekommen war.
Dann herrschte Stille.
Kein Geräusch, nichts schien den Frieden zu stören bei
Anbruch des Pfingstsonntags. Schließlich bemerkten zwei
Angler das zusammengefallene Zelt und schlugen Alarm.
Obwohl Kauko Paavola nicht weit entfernt wohnt, ist er
zum ersten Mal seit damals wieder hier, an diesem schicksalhaften Ort. Der Streifenpolizist erinnert sich auch nach
über einem halben Jahrhundert genau an jenen Tag, an
dem er zum Tatort gerufen wurde. Um 11.30 Uhr morgens
war der Funkspruch gekommen: Am See ist eine Bluttat
geschehen. Paavola und sein Kollege brauchten 15 Minuten mit dem Streifenwagen von Espoo bis zum Südzipfel des
Bodominjärvi.
Die Lichtung am Ufer des Sees bot ein Bild des Grauens.
Der alte Polizist deutet auf den Erdboden zwischen den Birken. Dort lag ein wirres Knäuel aus zerfetztem Zeltstoff und
blutigen Körpern. Auf dem Zelt sah er eine halb nackte Mädchenleiche, die mit Messerstichen übersät war. „Der Täter
muss sehr wütend gewesen sein“, sagt Paavola. Das rechte
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Bein der Toten war angewinkelt, der Fuß lag auf dem leblosen Kopf ihrer Freundin, den eine Filzdecke umhüllte. Auf
der rechten Seite des Zelts lag unter der blutgetränkten
Plane ein junger Mann mit geöffnetem Jeanshemd und über
der Brust gekrümmten Armen, sein rechtes Bein klemmte
unter dem Körper des zweiten Mädchens. Ganz oben auf
dem Leichenhaufen lag ein weiterer Teenager auf dem
Rücken. Als er genauer hinsah, bemerkte Paavola, dass der
Fuß des Jungen sich bewegte.
Nils Gustafsson hatte die Tat schwer verletzt überlebt.
Innerhalb kurzer Zeit strömten Menschen aus der Umgebung zum Tatort und boten der Polizei ihre Hilfe an. Hundertschaften durchkämmten mit Spürhunden den Wald auf
der Suche nach Beweisstücken. Einen halben Kilometer entfernt vom Zelt entdeckten sie die Schuhe von Seppo und Nils,
die am Rand eines Wegs versteckt waren. Einen Tag später
fand man im Wald ein blutiges Messer. „Aber es war kein
Menschenblut“, erinnert sich Kauko Paavola. „Irgendjemand
wollte die Polizei in die Irre führen.“ Seine Kollegen ruderten in kleinen Booten kreuz und quer über den See und fischten mit langen Netzen nach der Tatwaffe wie nach einem
Pfingstkarpfen. „Wir haben nichts gefunden.“
Noch im Krankenhaus befragte die Polizei Nils Gustafsson. Doch der einzige Überlebende des Massakers konnte
sich nur noch daran erinnern, wie die vier gegen Abend das
Zelt aufgebaut hatten und wie er dann im Krankenhaus aufgewacht war. In ihrer Verzweiflung schreckten die Ermittler
auch vor ungewöhnlichen Methoden nicht zurück. Sie setzten Gustafsson unter Hypnose und befragten ihn zum Hergang der Tat. Vielleicht war tief in seinem Unterbewusstsein
ein Bild des Täters verborgen?
„Hast du irgendwelche Schreie gehört?“
„Nur sehr schwach.“
„Von wem kamen die Schreie?“
„Ich weiß nicht, mehr von den Mädchen.“
„Was haben sie geschrien?“
„Dass uns jemand angegriffen hat.“
„Hast du die Augen geöffnet?“
„Das konnte ich nicht, meine Augen waren voller Blut.“
Es hatte offensichtlich keinen Zweck, aber die Ermittler
gaben nicht nach. Sie brauchten irgendeine Beschreibung
des Täters, Mund – Nase – Kinn – Augen, um wenigstens ein
passables Phantombild erstellen zu können. Das maschinengeschriebene Hypnoseprotokoll in den Polizeiakten liest sich
wie eine Geisterbeschwörung.
„Siehst du es jetzt?“
„Ich sehe sehr unklar.“
„Was kannst du erkennen?“
„Das Dach des Zeltes über uns.“
„Was passiert dann?“
„Dann fing er an, auf uns einzuschlagen.“
„War er dunkel- oder hellhäutig?“
// crime 02
Die Bluttat vom Bodominjärvi
schockiert ganz Finnland.
Großaufgebote der Polizei treffen
am See ein, um das Gelände zu
durchkämmen. Der Überlebende
Nils Gustafsson, hier Ende Juni 1960
in seinem Elternhaus, wird eindringlich befragt – und schließlich
sogar in Hypnose versetzt
Fotos: Lehtikuva/dpa (3); Juuso Westerlund
chen baden gingen, bauten die Jungs das Zelt auf und schnitzten sich mit Seppos Puukko, dem traditionellen finnischen
Fahrtenmesser, aus Weidenstöcken zwei Angeln, um im See
zu fischen.
Zufrieden sahen sich die beiden Freunde an. Um 20 Uhr
war es noch immer 23 Grad warm, vor ihnen lag eine laue
finnische Sommernacht. Irgendwann krochen die vier Jugendlichen in ihr kleines Zelt.
Mit Ruderbooten fahren
Polizisten kreuz und quer über
den See, fischen mit Netzen
nach einer Tatwaffe. Sie können
nichts finden
016
Am 12. Juni trug man Tuulikki, Irmeli und Seppo unter
großer Anteilnahme der Bevölkerung auf dem Friedhof der
alten Sankt Laurentius Kirche bei Helsinki zu Grabe. Sie wurden Seite an Seite beigesetzt. In den Traueranzeigen, die zwei
Tage zuvor in allen finnischen Zeitungen erschienen waren,
verabschiedeten sich nicht nur die Verwandten von „unseren Lieben, den Opfern vom Bodominjärvi“. Auch ihr Freund
„Nisse“ Gustafsson sandte ihnen einen letzten Gruß: „Warum, Freunde, mussten wir uns so trennen?“
D i e
T a t w a f f e
w u r d e
n i e
g e f u n d e n , und der Mörder vom Bodominjärvi
blieb ein Rätsel. Ein Trauma, das sich eingrub in die finnische Seele. Immer wieder tauchten in den folgenden Jahrzehnten neue Spekulationen und neue Verdächtige auf. Auch
vermeintlich Geständige.
Da war zum Beispiel der schwedischstämmige Kioskbesitzer Valdemar Gyllström, der Ausflüglern am Bodominjärvi
Limonade verkaufte. Er soll Jugendliche gehasst haben und
häufig nachts um den See geschlichen sein. Angeblich gestand Gyllström einem Freund 1969 in der Sauna die Tat
und ertränkte sich danach. Erwiesen ist nur Letzteres, denn
seine Frau hatte ihm ein Alibi für die Nacht auf den 5. Juni
1960 gegeben.
2004 erregten der Arzt Jorma Palo und der Journalist Matti Paloaro Aufsehen mit einem Buch, in dem sie den Deutschen Hans Assmann als Täter präsentierten. Palo hatte 1960
in der Chirurgischen Klinik von Helsinki gearbeitet und behauptete nun, Assmann sei dort in der Tatnacht aufgetaucht,
verwirrt und mit Blutspritzern an der Kleidung, die nach
Meinung der Ärzte nicht von ihm stammen konnten. Damit
nicht genug: Der 1923 geborene Assmann war angeblich
Wärter in Auschwitz, bis er sich dort in eine Jüdin verliebte
und zur Strafe an die Ostfront geschickt wurde. Dann sei er
in russische Gefangenschaft geraten, habe die Seiten gewechselt und später als Agent für den KGB gearbeitet.
Die finnische Polizei gab sich unbeeindruckt von dem Geständnis, das der zwischenzeitlich nach Schweden verzogene Assmann kurz vor seinem Tod 1998 gegenüber dem Journalisten Paloaro abgelegt haben soll. Auschwitz-Wärter hin
oder her, für den 5. Juni 1960 habe der Mann ein Alibi und
komme als Täter von Bodom deshalb nicht infrage.
Trotzdem: Anfang 2004 sorgt die Diskussion über den Fall
Assmann dafür, dass die Kriminalpolizei sich noch einmal
richtig an die Arbeit macht. Die meisten Zeugen sind längst
tot, aber Hauptkommissar Tero Haapala und sein Kollege
Markku Tuominen wollen den Fall mithilfe modernster
forensischer Methoden neu aufrollen und das Rätsel vom
Bodominjärvi endlich lösen.
// crime 02
Am 12. Juni 1960 nehmen Familien
und Freunde Abschied von Irmeli,
Tuulikki und Seppo. 45 Jahre später wird
ihr Freund Nils (oben) wegen ihres
Todes vor Gericht gestellt. Ein angebliches
Geständnis des Deutschen Hans
Assmann (links) finden die Ermittler
nicht überzeugend
Fotos: Lehtikuva/dpa (3); Juuso Westerlund
„Er hatte blondes Haar, ein rundliches Gesicht, war mittelgroß und trug einen dunklen Pullover. Er hat überhaupt
nichts gesagt. Er stach mit einem scharfen Gegenstand auf
uns ein, vielleicht ein Messer, und schlug mit etwas Hartem.
Ich kann mich nicht an die Waffe erinnern, ich glaube, es war
eine Eisenstange.“
Die Polizei ließ ein Phantombild erstellen, befragte Irmelis Freund Pauli Pirinen – doch auch nach monatelangen Ermittlungen kam sie auf der Suche nach dem Täter kein Stück
voran. War es ein Raubmord? Immerhin hatte jemand den
Opfern ihre Uhren und die Portemonnaies mit Geld und
Papieren abgenommen. Aber warum war dann nicht auch
ein Motorrad gestohlen worden?
Ebenso unerklärlich schien die unglaubliche Brutalität der
Tat. Tuulikkis Schädel war mit einem stumpfen Gegenstand
eingeschlagen worden. Am rechten Arm und am Hals wies
ihre Leiche Platz- und Schürfwunden auf. Auch Seppo hatte
der Täter den Schädel mit einem stumpfen Gegenstand, möglicherweise mit einem Stein, eingeschlagen. Die Verletzungen an den Armen mussten von kräftigen Faustschlägen
stammen, im Gesicht hatte er mehrere Schlitzwunden. Sein
Kinn war gebrochen, außerdem fanden sich an der Leiche
Blutungen unterhalb der Hirnhaut und Prellungen im Großhirn sowie Stiche im Hals und Brustbereich, die bis tief in
die rechte Lunge und die Atemröhre reichten. Seppo Boisman war an seinem eigenen Blut erstickt.
Den schlimmsten Anblick bot der Körper von Irmeli. Der
Mörder hatte mit einem Stein oder einem flachen Gegenstand so lange auf Gesicht und Schädel eingeschlagen, bis
die Zähne aus dem Unterkiefer herausbrachen, bis der Oberkiefer zerbarst und der Schädel nur noch ein Klumpen aus
Fleisch, Blut und Knochensplittern war. Danach hatte er
der 15-Jährigen mehr als ein Dutzend Mal mit einem Messer in Hals und Nacken gestochen.
Die Gerichtsmediziner fanden kein Sperma und keine Spuren von Gewaltanwendung an den Geschlechtsorganen der
beiden Mädchen, obwohl Irmeli mit nacktem Unterkörper
am Tatort gefunden wurde. Irgendjemand hatte ihr Jeans
und Slip heruntergezogen.
Waren die Jugendlichen Opfer eines wahnsinnigen Triebtäters geworden, der zufällig an ihrem Zelt vorbeikam? Der
brutale Mord an den dreien bewegte das ganze Land. „Es war
ihr erster Ausflug“, titelten die Zeitungen. Als Reporter
Irmelis Eltern besuchten, blühte auf dem Wohnzimmertisch
noch ein Strauß roter Nelken, den die Mutter am Tag vor
der Tat für ihre Tochter gekauft hatte. Irmeli Björklund
hätte am 6. Juni ihren 16. Geburtstag feiern sollen. Auf dem
Tisch lag aufgeschlagen die Bibel, die sie zur Konfirmation
bekommen hatte.
Nachdem die Bekleidung der Toten untersucht worden
war, gab die Polizei den Familien ihre Habseligkeiten zurück.
Tuulikkis Bruder verbrannte die blutigen Jeans seiner
Schwester in der Sauna.
crime 02 //
Wer könnte ein Motiv für die Tat gehabt haben? Wer hatte die Gelegenheit, sie auszuführen? Die meisten Morde sind
Beziehungstaten. Bei den Ermittlern keimt ein ungeheuerlicher Verdacht.
Im April 2004 dann die Sensation: Nils Gustafsson wird
verhaftet. Haapala und Tuominen sind überzeugt, dass der
pensionierte Busfahrer seine drei Freunde vier Jahrzehnte
zuvor im Streit umgebracht hat.
Die beiden Polizisten gehören zu einer neuen Generation
von Ermittlern, die für die altmodischen Methoden ihrer
Vorgänger nur Spott übrig hat. Hypnose? So ein Unfug. Fast
ein halbes Jahrhundert nach der Tat lassen sie die Leichen
von Irmeli, Tuulikki und Seppo exhumieren, um den Knochen DNA-Proben zu entnehmen. Auch von Gustafsson nehmen sie Proben. Nun soll sich zeigen, wessen Spuren sich an
welchen Stellen der Asservate befinden, am Zelt etwa und
an den im Wald entdeckten Schuhen. Womöglich gibt es
keinerlei Hinweise auf eine fünfte Person am Tatort.
Das Hauptquartier der „Keskusrikospoliisi“ befindet sich
in Vantaa in der Nähe von Helsinki. Es ist eine Art finnisches
FBI, das gegen Drogenhändler, Waffenschieber, Verbrechersyndikate und Betrüger ermittelt. Am Eingang des hellen,
modernen Gebäudes empfängt den Besucher eine kleine
Galerie gefälschter Gemälde, die 2004 bei einer Razzia konfisziert wurden. Ausländische Gäste werden dann in das
Kriminalmuseum geführt, das die Geschichte des Verbrechens in Finnland anhand manch kurioser Gegenstände
präsentiert.
017
In einer Vitrine liegt eine mumifizierte Menschenhand, die
mal von Grabschändern ausgebuddelt wurde. Im Nebenraum
ist ein Baumstamm ausgestellt, in dem ein Selbstmörder ein
abgesägtes Gewehr versteckt hatte, um seinen Suizid als
Mord zu tarnen. Neben dem Gästebuch steht wie zum Gruß
eine kleine exotische Holzskulptur, in der Dutzende von Nägeln stecken. Figuren wie das Maskottchen aus Übersee würden in manchen Ländern als Druckmittel bei Vernehmungen eingesetzt, erklärt die Führerin belustigt. „Man schlägt
so lange Nägel in das Totem, bis der Verdächtige aussagt.“
Die Beweismaterialien des berühmtesten finnischen Kriminalfalls befinden sich eigentlich nicht im Museum, sondern in der Asservatenkammer. Der Fall ist ja noch immer
nicht gelöst. Aber heute hat man eine Ausnahme gemacht.
Auf einer großen Schutzfolie liegen ein Stück helles Tuch, ein
Häuflein mit geschnitzten Weidenholzpflöcken und Hanfkordeln, eine Likörflasche, ein paar Schuhe und ein Zelt. Die
kläglichen Überreste eines Campingausflugs von vier Teenagern, der in einem ungeheuerlichen Verbrechen endete.
W i e
l e i c h t s i n n i g
e r s c h e i n t
d a s s
i n
d e r
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a u f
M e n s c h
Z e l t
e i n m a l ,
s i c h
g e b o r g e n
f ü h l t . Dieses hier war klein, die Jugendlichen muss-
A
// crime 02
Foto: Lehtikuva/dpa
Fotos: xxxxx xxxxx
Das Zelt, das zum Tatort wurde:
Die dünne Haut konnte nur vor
Wind und Wetter schützen, nicht vor
der Gewalt des Mörders
ten sehr eng nebeneinanderliegen. Es konnte ihnen keine
Rüstung sein, sondern nur eine dünne und verletzliche
Haut, die Wind und Wetter abhält, aber nicht das Inferno
aus dem Nichts, das hier seine schrecklichen Spuren hinterlassen hat. Das schmutzige Segeltuch ist völlig zerfetzt von
großen und kleinen Stichen. Blutspritzer überall, die auf dem
Boden und an der Kopfseite zu dicken, schwarzen Krusten
eingetrocknet sind.
Dem Grauen, das weiß jeder Kriminalbeamte, kann man
nur mit Beharrlichkeit und kühlem Sachverstand begegnen.
Ein Dutzend Mal hat Markku Tuominen den Verdächtigen
Nils Gustafsson im Gefängnis verhört. Gib zu, du warst
betrunken. Du warst der Größte und Kräftigste von allen.
Du bist wütend geworden, als Irmeli dich nicht rangelassen
hat, obwohl du so dicht neben ihr lagst. Aber Gustafsson
bestand auf seinen Gedächtnislücken und erst recht auf
seiner Unschuld.
Die finnische Polizei ist eine moderne Behörde. Der Einsatz exotischer Nagelpuppen bei Verhören verbietet sich von
selbst. Aber es gab ja Gustafssons blutbespritzte Schuhe.
Im Labor lösten Wissenschaftler vorsichtig Sohle und Rahmen vom Oberteil und entnahmen Probenmaterial mit Blutcrime 02 //
spuren für DNA-Analysen. Die Stellen, von denen die winzigen Lederfetzen stammten, markierten die finnischen Forensiker mit farbigen Stecknadeln, dann schickten sie einige der Proben zusammen mit Stücken vom Zeltstoff an ihre
Kollegen beim deutschen Bundeskriminalamt in Wiesbaden.
Die Antwort des BKA kam am 23. September 2004, sie war
niederschmetternd. Die Spuren seien zu schwach und die Ergebnisse zu widersprüchlich, um sichere Aussagen treffen zu
können, schrieben die deutschen Kriminaltechniker. Die finnischen Ermittler hatten noch immer kein Ergebnis – nur
ein Paar nadelgespickte Schuhe, die der Voodoopuppe im
Polizeimuseum nicht unähnlich sahen.
Als im August 2005 die Verhandlung gegen Nils Gustafsson begann, war der Medienandrang gewaltig. Obwohl Polizei und Staatsanwaltschaft außer neuen Gerüchten und
alten Indizien wenig zu bieten hatten, zeigten sich die Ankläger überzeugt, dass Gustafsson seine drei Freunde umgebracht hatte. Aber warum? Die Ermittler vermuteten:
Eifersucht und Wut. Als Irmeli nicht mit ihm schlafen wollte, sei Nils in Rage geraten und habe erst Irmeli umgebracht
und dann die beiden anderen. Im Kampf mit seinem besten
Freund Seppo sei er am Kiefer verletzt worden. Und nach der
Bluttat habe er Irmelis Hose heruntergezogen und sich selbst
mit dem Messer verletzt, um den Eindruck zu erwecken,
ein fremder Lustmörder sei über die campenden Teenager
hergefallen.
Aber war das ein überzeugendes Motiv für einen so grausamen Mord? Was musste mit einem Teenager geschehen,
damit er seinen besten Freund und zwei Mädchen umbringt,
damit er seine ganze Clique auslöscht?
Es gehört zum nationalen Selbstverständnis in Finnland,
dass der finnische Mann ein Problem mit dem Alkohol hat.
Dass er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt, wenn er
trinkt. Nachdem die Finnen jahrhundertelang unter dem
Joch der Schweden oder Russen standen, waren sie zu Recht
stolz darauf, im 20. Jahrhundert endlich die Unabhängigkeit
erreicht zu haben. Aber mit dem Nationalstolz paarten sich
Unsicherheit und die Angst, dass es nicht viel braucht, um
aus dem zivilisierten Finnen von heute wieder einen wüsten
Barbaren zu machen, wie ihn schon der römische Historiker
Tacitus beschrieb. Der notierte kurz nach Beginn der christlichen Zeitrechnung in seiner „Germania“, die nordischen
Waldbewohner seien von „abstoßender Dürftigkeit“ und
„wunderlicher Wildheit“ und überhaupt sehr verwahrlost.
Wie also sollte ein freundlicher junger Mann dazu kommen, beim Campen an einem frühen Pfingstsonntag seine
drei Freunde auf brutalste Art abzuschlachten? Natürlich,
glaubte die Polizei, es muss Alkohol im Spiel gewesen sein.
Dummerweise hatte man 1960 vergessen, Gustafsson eine
Blutprobe abzunehmen. Vor lauter Erleichterung, dass überhaupt einer der Teenager das Inferno überlebt hatte, waren
die Ermittler nie auf den Gedanken gekommen, ihn zum Kreis
der Verdächtigen zu zählen. Aber am Tatort lag schließ019
020
Beim Prozess wird das Zelt
vor dem angeklagten Gustafsson aufgebaut. Zuvor hat man aus
seinen Schuhen Proben für DNAAnalysen entnommen, die einzelnen
Stellen sind mit Stecknadeln
markiert. Kauko Paavola war Stunden
nach der Tat als Streifenpolizist
vor Ort – und erinnert sich bis heute
an das Bild des Grauens
Fotos: Lehtikuva/dpa; Juuso Westerlund
lich eine leere Flasche „Citrus Liquer“, und im Blut der drei
Opfer hatte sich kein Alkohol nachweisen lassen. Also, folgerte die Staatsanwaltschaft 2005, müsse Nils Gustafsson
zur Tatzeit betrunken gewesen sein.
Neue Zeugen meldeten sich, und alte Gerüchte kursierten
wieder. Eine Frau behauptete, ebenfalls am Bodominjärvi
gecampt zu haben. Gustafsson sei in der Mordnacht betrunken und aggressiv vor ihrem Zelt aufgetaucht. Eine andere
sagte, er habe ihr in den 80er Jahren im Bus den Mord gestanden. Und hatte der Untersuchungshäftling nicht selbst
dem Ermittler Tuominen beim Zuschließen der Zellentür zugeflüstert, er sei der Täter? Hatte ein Journalist nicht bei
einem Telefonat Gustafssons Frau im Hintergrund gehört,
die ihrem Mann zurief, er solle die Tat bloß nicht gestehen?
Die Staatsanwaltschaft ließ das zerfetzte Zelt im Gerichtssaal aufbauen, direkt vor dem Angeklagten, und die Ermittler zeigten bedeutungsvoll auf die farbigen Nadeln und
Wimpel, die Blutflecken und DNA-Proben markierten. Nils
Gustafsson beharrte darauf: Er könne sich an nichts erinnern. Er sei unschuldig.
Zwei Monate lang hielt der Sensationsprozess die finnische
Öffentlichkeit in Atem. Dann endete er ebenso spektakulär,
wie er begonnen hatte: Am 7. Oktober 2005 wurde Nils Gustafsson in allen Punkten freigesprochen. Für seine Zeit in der
Untersuchungshaft zahlte ihm der finnische Staat eine Entschädigung von 44 900 Euro.
Bis heute verfolgt der Fall die Beteiligten wie ein Fluch.
Hauptkommissar Markku Tuominen ging 2013 nach fast
40 Jahren im Polizeidienst in Rente. Er glaubt noch immer
an Gustafssons Schuld. „Er war der Größte und Kräftigste
von allen“, sagt Tuominen. Außerdem sei er gar nicht so
schwer verletzt gewesen, wie damals immer behauptet wurde. Als Gustafsson 1960 im Töölö-Krankenhaus lag, forderte die Polizei zwar einen Bericht vom Krankenhaus an,
bekam ihn jedoch nie. Statt nachzuhaken, verließen sich die
Ermittler damals auf die Aussagen der Familie. 2004 urteilte ein ärztlicher Gutachter, Gustafsson habe lediglich eine
Gehirnerschütterung, einen Bruch am linken Kiefer- und
Wangenknochen und einige Platzwunden im Gesicht erlitten. „Bei einer Kneipenschlägerei wird man schlimmer zugerichtet“, sagt Tuominen.
Nils Gustafsson lebt nördlich von Helsinki, eine halbe
Stunde vom Bodominjärvi entfernt, auf einem kleinen
Bauernhof. Ein stiller Mann mit einem Händedruck wie
ein Schraubstock. „Das ist so eine alte Geschichte, die sollte
endlich begraben werden“, sagt der 73-Jährige und macht
sich an seinem Traktor zu schaffen.
An der Scheunentür hängt ein Bushaltestellenschild: Nummer 52, das war seine Linie, als er noch in Frieden leben
konnte. Dann zerstörte der Prozess ein zweites Mal sein
Leben. Trotz des Freispruchs halten viele ihn noch immer
für den Mörder.
„Tja, das ist eine Glaubensfrage, ob ich der Täter bin“,
seufzt Gustafsson und blinzelt mit gequälter Miene in den
Himmel. „Die Leute werden erst aufhören, darüber zu sprechen, wenn er tot ist“, sagt seine Frau Birgit. „Wir sind seit
über einem halben Jahrhundert verheiratet. Glauben Sie
nicht, ich hätte gemerkt, wenn mein Mann ein Mörder wäre?“
Am Schauplatz der Bluttat ist er nur einmal wieder gewesen: 2005, als das Gericht eine Tatortbegehung veranstaltete. Während des Prozesses wurde sein Gehöft monatelang
von Fotografen und Kameraleuten belagert, aus aller Welt
kamen Reporter. „Die Boulevardpresse“, sagt Gustafsson mit
einem heiseren Lachen und klatscht mit gekonntem Schwung
eine Mücke auf seinem Arm tot. „Bei denen ist eine Fliege
vom Morgen abends schon ein Pferd. Die nehmen doch gar
nichts ernst.“
Die Gustafssons beschlossen irgendwann, die Geschichte
einfach zu ignorieren. „Uns ist egal, was die Leute reden“, sagt
die Frau, „wir haben noch zehn Jahre zu leben und bleiben
hier bis zum Ende.“ Aber der böse Fluch der Tat verfolgt
auch die gänzlich Unbeteiligten. Gustafssons Tochter und die
Enkelkinder haben zu leiden unter dem Gerede der Leute.
Und es hört ja nie auf. Trotz des Freispruchs. Nächstes
Jahr kommt ein finnischer Film in die Kinos, dessen Macher
vollmundig versprechen, das Genre des Horrorschockers neu
zu erfinden – und die Tragödie vom Bodominjärvi liefert das
Material. Die Handlung: 50 Jahre nach der Tat zelten vier
Teenager an derselben Stelle des Bodominjärvi wie damals
crime 02 //
Nils und seine Freunde. Sie wollen die Tat rekonstruieren.
Aber einer will nicht spielen, sondern meint es ernst.
Wie fühlt sich das an, wenn das eigene Leben zur Grundlage eines Horrorfilms wird? „Wenn ich an die Nacht damals
denke, kann ich nicht schlafen, dann kreisen die Gedanken
in meinem Kopf“, sagt der alte Mann. „Also denke ich nicht
mehr dran.“ Dann schweigt Nils Gustafsson.
Der kurze Sommer 2015 aber ist so hell und leuchtend und
warm wie damals vor 55 Jahren. Am Ufer des Bodominjärvi sitzen wieder Teenager und hören Musik und trinken
und sind verliebt. Nur finden sie nicht mehr die Songs von
Paul Anka toll, sondern die von Rihanna und Jay Z. Auf den
ersten Blick ist Finnland ein modernes Land geworden
in den vergangenen Jahrzehnten. Das Schulsystem gehört
weltweit zu den besten, und auf jeder Weide hat man Breitbandempfang mit dem Handy.
Doch wenn es die Finnen mit der Angst zu tun bekommen,
rennen sie noch immer in die Wälder. In der Tiefe ihres
Herzens halten sie das Stadtleben für einen Irrweg der Geschichte. In der Einsamkeit sind sie glücklich und bei sich.
Aber die Einsamkeit hat auch ihre Kehrseite. Sie kann
Monster gebären: Depression, Albträume, Alkoholsucht. Aus
Liebe kann Eifersucht werden und Zärtlichkeit in Gewalt
umschlagen.
N i e m a n d
w e i ß
d a s
b e s s e r
a l s
P a u l i P i r i n e n , der damalige
Freund von Irmeli Björklund. Der 75-Jährige lebt in einer
schlichten Einzimmerwohnung in Loppi, eine Autostunde
von Helsinki entfernt. Er schiebt seinen Rollator neben
den Tisch und setzt sich müde. Das Leben hat tiefe Spuren
in seinen Körper gegraben. Der Rücken ist gekrümmt, das
Gesicht aufgedunsen. Mehr als ein halbes Jahrhundert war
er schwerer Alkoholiker. Einer von denen, die sich bis zum
Nachmittag ins Koma saufen und dann bewusstlos am
Straßenrand liegen. Schon damals, als Irmeli noch lebte,
hat er manchmal kein Halten gefunden. Einmal war er so
betrunken, dass er mitten auf der Straße umkippte und sie
ihn wegschleifen musste, damit er nicht überfahren wird.
1960, nach den Morden, holte die Polizei ihn aus der
Kaserne. Es war die Zeit kurz vor der Sommersonnenwende, die Kriminalbeamten brachten ihn in den Wald und
verhörten ihn drei Stunden lang. Er erzählte ihnen, dass
er in der Nacht auf den Pfingstsonntag mit einem Freund
zelten gewesen war. Da ließen sie von ihm ab.
Als die Polizei den Fall 2005 neu aufrollte, verhörte sie
Pauli Pirinen als Zeugen. Sein Alibi wurde nicht mehr überprüft, man hatte ja schon einen Angeklagten. Trotzdem
021
Fotos: xxxxx xxxxx
Der 75-jährige Pauli Pirinen
in seiner Einzimmerwohnung in
Loppi, eine Autostunde von Helsinki
entfernt: Das Tattoo an seinem
Unterarm hat er sich stechen lassen,
um seine Liebe zu Irmeli zu zeigen –
damals, als junger Soldat
022
// crime 02
Fotos: Juuso Westerlund (3); Malte Herwig (3)
Fotos: xxxxx xxxxx
Bis heute verwahrt Pirinen
einen Brief, den Irmeli
mit Kussmund unterzeichnet
hat – und ein Bild ihrer
Freundin Tuulikki. Auf der
Rückseite des alten Fotos
steht „Kissing Time“
crime 02 //
23
war er nervös. In der Nacht vor der Vernehmung wachte er
alle Viertelstunde auf und drehte sich eine Zigarette. Auch
während des Prozesses war er nie nüchtern.
Die Einsamkeit und der Alkohol waren lange Zeit Pauli
Pirinens einzige Begleiter. Sein Vater kam aus dem Winterkrieg mit Russland als verwandelter Mensch zurück. Der
Krieg hatte aus dem gütigen Mann einen brutalen Schläger
gemacht, der seine neun Kinder beim kleinsten Anlass prügelte. Um die Schrecken in seiner Seele zu betäuben, brannte der Vater aus Weizenmehl Schnaps, während die Familie
kein Brot hatte. „Wenn er betrunken war, haben wir uns vor
ihm im Wald versteckt, die Mutter, meine Geschwister und
ich“, erinnert sich Pirinen.
So pflanzte sich die Gewalt fort, die der Vater im Krieg erfahren hatte, und mit ihr das Trauma und die Sucht. Pauli
Pirinen wurde ein kräftiger junger Mann, der sich bald als
Waldarbeiter verdingte – ein Knochenjob. „Das Militär war
ein Kindergarten dagegen.“
Und er begann zu trinken, zwei Flaschen Wodka täglich
und eine Kiste Bier. Er ließ sich volllaufen, bis er nichts mehr
spürte in seinem Inneren und endlich Ruhe war.
Wenn du bis Pfingsten keinen Schatz hast, bleibst du den
Rest des Sommers allein, lautet ein altes finnisches Sprichwort. Pauli Pirinen hatte es geschafft, für das Pfingstwochenende am 4. und 5. Juni 1960 Urlaub vom Militärdienst zu
bekommen, und er freute sich auf das Wiedersehen mit seiner Freundin.
Die Sache mit Irmeli lief schon länger, zu dumm, dass er
im Winter zur Armee eingezogen und nach Riihimäki geschickt worden war. Noch in der Kaserne hatte sich Pauli
ein Symbol seiner Liebe zu Irmeli auf den linken Unterarm
tätowieren lassen: ein Herz mit Kreuz und Anker. „Wir waren beide einsam, Irmeli und ich“, erzählt der alte Mann.
„Das hat uns verbunden.“
Auch Irmeli schien sehnsüchtig auf das Wiedersehen mit
Pauli gewartet zu haben. Pirinen zieht einen Brief aus einem
Stapel Unterlagen hervor, den Irmeli ihm in die Kaserne
schickte: „Wann kriegst Du frei, ich vermisse Dich so. Hier ist
schon der Frühling am Kommen, der Schnee schmilzt, und
die Sonne scheint. Wenn Du nur hier wärst, das wäre herrlich … Schreib bald, denn das ist auch ein wenig Trost.“ Sie
hatte versprochen, Pauli am Bahnhof abzuholen, sobald er
Heimaturlaub von der Armee bekam. Der Brief ist mit einem
roten Kussmund unterzeichnet.
Auf der Fahrt ins Pfingstwochenende machte Pauli einen
Abstecher nach Helsinki und kaufte Irmeli einen Ring, zu
ihrem Geburtstag am 6. Juni. Doch am Bahnhof war keine
Spur von Irmeli, also machte sich Pauli zu Fuß zum Elternhaus seiner Freundin auf. Dort erzählte ihm Irmelis Mutter,
ihre Tochter sei mit ihrer besten Freundin Tuulikki und zwei
jungen Männern aus der Nachbarschaft zelten gegangen.
Pauli kannte damals auch Tuulikki schon länger. Der alte
Mann kramt ein zerknittertes Schwarz-Weiß-Foto aus einer
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Schachtel, darauf hockt eine lächelnde Tuulikki vor dem
Radioempfänger ihrer Eltern. Ein hübsches Mädchen mit
modischer Bobfrisur und tiefrotem Lippenstift. Auf der Rückseite des Fotos steht „Kissing Time“, daneben Paulis Spitzname „Pave P.“ und das Datum 20.2.1959.
Lief da was? Der alte Mann lächelt. Wer weiß? Doch am
Pfingstsamstag 1960 ist Pauli Pirinen nicht zum Lachen
zumute. Er verabschiedet sich von Irmelis Mutter und macht
sich auf den Weg zu seinem Elternhaus nach Vantaankoski
in drei Kilometer Entfernung. „Klar war das ein blödes
Gefühl, dass sie mit einem anderen zelten ging“, erinnert
sich Pirinen. „Aber ich war nicht wütend.“ Den Ring für Irmeli habe er dennoch fortgeworfen. Dann sei er mit seinem
Freund Ismo in die Kneipe gegangen, um sich zu besaufen.
Irgendwann im Laufe der Nacht seien die beiden zum
Schlafen in ein Zelt im Garten von Ismos Eltern in Vantaankoski gekrochen.
Als Pauli Pirinen am nächsten Tag nach Viherkumpu ging,
sah er schon aus der Ferne die Polizeiwagen vor Irmelis Elternhaus. Dann hörte er ihren Stiefvater schreien. „Wenn ich
das Schwein kriege, das das getan hat …“ Die Mutter saß im
Wohnzimmer und weinte den ganzen Tag.
„Irmeli war ein besonderes Mädchen, sie war ehrgeizig und
hat an das Leben geglaubt“, sagt der alte Mann und streicht
versonnen über den Brief. „So eine hatte ich nie wieder.“
Als der Prozess vorbei war, beschloss Pauli Pirinen nach
einem halben Jahrhundert, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren. E r
b e t e j e d e
N a c h t
s a g t
u n d
d a s s
f ü r
d e r
I r m e l i ,
a l t e
M a n n
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d a f ü r ,
d e r
g e f u n d e n
T ä t e r
e n d l i c h
w i r d .
Mitarbeit: Marikki Nykänen
// crime 02

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