Der Hessische Landbote
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Der Hessische Landbote
Der Hessische Landbote Georg Büchner Ludwig Weidig Der Hessische Landbote ist die zweifellos eine der wichtigsten Flugschriften des deutschen Vormärz. Die Schrift erschien anonym im Jahr 1834 und war eine Gemeinschaftswerk von Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig und Karl von Minnigerode. Georg Büchner (1813-1837), der Sohn eines Darmstädter Arztes, begann 1831 sein Medizinstudium in Straßburg und musste es auf Anweisung seines Landesherren, dem Landgrafen von Hessen- Darmstadt, 1833 in Gießen fortsetzen. Dort und in Darmstadt gründete er zwei Abteilungen der „Gesellschaft für Menschenrechte“, deren Ideen er aus Straßburg mitbrachte. In Gießen lernte Büchner den Butzbacher Pädagogen und Pfarrer Ludwig Weidig und den Jurastudenten Karl von Minnigerode kennen. Im Juli 1834 nahm Georg Büchner an der Gründung des „Pressvereins“ auf der Burgruine Badenburg teil, Ziel des Vereins war es, neben dem „Hessischen Landboten“ weitere agitatorische Flugschriften zu verfassen und zu verteilen. Friedrich Ludwig Weidig (1791-1837) beteiligte sich schon früh an oppositionellen Bewegungen gegen den reaktionären Staat und stand ständig unter polizeilicher Beobachtung. Er verfasste illegale Flugschriften und deshalb geriet er nach Bekanntwerden des Landboten schnell unter Verdacht. Der Hessische Landbote wurde in Offenbach in einer Auflage von ca. 1000 Exemplaren gedruckt. Durch Denunziation erfuhr die Obrigkeit die Namen der Verfasser, und so gelang es auch, Weidig und Minnigerode noch im August des Jahres 1834 zu verhaften. Ludwig Weidig beging im Jahr 1837 im Darmstädter Untersuchungsgefängnis Selbstmord. Die zermürbenden Verhöre hatten ihn in den Tod getrieben. Georg Büchner gelang die Flucht nach Straßburg, und so konnte er sich der Verhaftung entziehen. Unter dem Eindruck der staatlichen Reaktion verfasste Büchner sein bekanntes Revolutionsdrama Dantons Tod sowie später das Lustspiel Leonce und Lena und das sozialkritische Drama Woyzeck. Büchner starb 1837, noch nicht einmal 24 Jahre alt, an den Folgen einer Typhus- Erkrankung in Zürich. Der Hessische Landbote ist der Versuch, den Massen das schreiende Unrecht in den gesellschaftlichen Verhältnissen bewusst zu machen. Die große Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen den Ausgebeuteten und ihren „Pressern“, wird hier in einem biblischen Duktus sehr bildreich vermittelt. Nur wer sich des Unrechts bewusst ist, kann politisch etwas verändern. Dazu wird der hessische Gesamtetat „durchgerechnet“ und auf die Diskrepanz zwischen Steuern und staatlicher Leistung hingewiesen. Auszüge aus dem Hessischen Landboten (von Georg Büchner) Friede den Hütten! Krieg den Palästen! (1) [...] Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag: sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigene Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen [...] Kommt ja ein ehrlicher Mann in einen Staatsrat, so wird er ausgestoßen. Könnte aber auch ein ehrlicher Mann jetzt Minister sein oder bleiben, so wäre er, wie die Sachen stehen in Deutschland, nur eine Drahtpuppe, an der die fürstliche Puppe zieht; und an dem fürstlichen Popanz zieht wieder ein Kammerdiener oder ein Kutscher oder seine Frau und ihr Günstling oder sein Halbbruder— oder alle zusammen [...] Denn was sind die Verfassungen in Deutsch land? Nichts als leeres Stroh, woraus die Fürsten die Körner für sich herausgeklopft haben. Was sind unsere Landtage? Nichts als langsame Fuhrwerke, die man einmal oder zweimal wohl der Raubgier der Fürsten und ihrer Minister in den Weg schieben, woraus man aber nimmermehr eine feste Burg für deutsche Freiheit bauen kann. Was sind unsere Wahlgesetze? Nichts als Verletzungen der Bürger- und Menschenrechte der meisten Deutschen. [...] Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein eurer Presser, die nur stark sind durch das Blut, das sie euch aussaugen, und durch eure Arme, die ihr ihnen willenlos leihet. Ihrer sind vielleicht 10000 im Großherzogtum und eurer sind es 700 000, und also verhält sich die Zahl des Volkes zu seinen Pressern auch im übrigen Deutschland. Wohl drohen sie mit dem Rüstzeug und den Reisigen der Könige, aber ich sage euch: Wer das Schwert erhebt gegen das Volk, der wird durch das Schwert des Volkes umkommen. Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies sein. Das deutsche Volk ist ein Leib, ihr seid ein Glied dieses Leibes. Es ist einerlei, wo die Scheinleiche zu zucken anfängt. Wann der Herr euch seine Zeichen gibt durch die Männer, durch welche er die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erliebet euch, und der ganze Leib wird mit euch aufstehen [...] Im Jahr 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage. und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Getier. das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag. sie wohnen in schönen Häusern. sie tragen zierliche Kleider. sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache: das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug. der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug. er nimmt das Korn und lässt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag: Fremde verzehren seine Acker vor seinen Augen. sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen. Im Großherzogtum Hessen sind 718373 Einwohner. die geben an den Staat jährlich an 6363 364 Gulden. als 1) Direkte Steuern 2.128.131 fl. 2) Indirekte Steuern 2.478.264 fl. 3) Domänen 1.547.394 fl. 4) Regalien 46.938 fl. 5) Geldstrafen 98.511 fl. 6) Verschiedene Quellen 64.198 fl. 6,363,363 fl. Dies Geld ist der Blutzehnte. der von dem Leib des Volkes genommen wird. An 700 000 Menschen schwitzen, stöhnen und hungern dafür. Im Namen des Staates wird es erpresst. die Presser berufen sich auf die Regierung und die Regierung sagt. das sey nöthig die Ordnung im Staat zu erhalten. Was ist denn nun das für gewaltiges Ding: der Staat? Wohnt eine Anzahl Menschen in einem Land und es sind Verordnungen oder Gesetze vorhanden, nach denen jeder sich richten muss, so sagt man, sie bilden einen Staat. Der Staat also sind Alle; die Ordner im Staate sind die Gesetze. durch welche das Wohl Aller gesichert wird, und die aus dem Wohl Aller hervorgehen sollen. — Seht nun. 30 was man in dem Großherzogthum aus dem Staat gemacht hat; seht was es heißt: die Ordnung im Staate erhalten! 700000 Menschen bezahlen dafür 6 Millionen. d.h. sie werden zu Ackergäulen und Pflugstieren gemacht, damit sie in Ordnung leben. In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden. Wer sind denn die, welche diese Ordnung gemacht haben, und die wachen, diese 5 Ordnung zu erhalten? Das ist die Großherzogliche Regierung. Die Regierung wird gebildet von dem Großherzog und seinen obersten Beamten. Die andern Beamten sind Männer. die von der Regierung berufen werden, um jene Ordnung in Kraft zu erhalten. Ihre Anzahl ist Legion: Staatsräthe und Regierungsräthe, Landräthe und Kreisräthe. Geistliche Räthe und Schulräthe, Finanzräthe und Forsträthe usw. mit allem ihrem Heer von Secretären usw. Das Volk ist ihre Heerde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder: sie haben die Häute der Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Thränen der Wittwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern; sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft. Ihnen gebt ihr 6000000 0. Abgaben: sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren: d.h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben. Sehet. was die Ernte eures Schweißes ist. [...] Die Anstalten. die Leute, von denen ich bis jetzt gesprochen. sind nur Werkzeuge. sind nur Diener. Sie thun nichts in ihrem Namen. unter der Ernennung zu ihrem Amt steht ein L., das bedeutet Ludwig von Gottes Gnaden (2) und sie ► Literatur-Link Der vollständige Text des Hessischen Landboten ist unter: http://gutenberg.spiegel.de/buechner/landbote/landbote.htm zu finden. sprechen mit Ehrfurcht: ‚im Namen des Großherzogs‘. Dies ist ihr Feldgeschrei. wenn sie euer Geräth versteigern. euer Vieh wegtreiben. euch in den Kerker werfen, Im Namen des Großherzogs sagen sie. und der Mensch. den sie so nennen, heißt: unverletzlich, heilig, souverain. königliche Hoheit. Aber tretet zu dem Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel, Es isst, wenn es hungert. und schläft wenn sein Auge dunkel wird. Sehet. es kroch so nackt und weich in die Welt. wie ihr und wird so hart und steif hinausgetragen, wie ihr. und doch hat es seinen Fuß auf eurem Nacken. hat 700000 Menschen an seinem Pflug. hat Minister die verantwortlich sind, für das. was es thut. hat Gewalt über euer Eigenthum durch die Steuern, die es ausschreibt. über euer Leben, durch die Gesetze, die es macht, es hat adliche Herrn und Damen um sich, die man Hofstaat heißt, und seine göttliche Gewalt vererbt sich auf seine Kinder mit Weibern, welche aus eben so übermenschlichen Geschlechtern sind. Wehe über euch Götzendiener! — Ihr seyd wie die Heiden, die das Krokodill anbeten. von dem sie zerrissen werden. Ihr setzt ihm eine Krone auf, aber es ist eine Dornenkrone. (1) (2) Slogan der Französischen Revolution Großherzog Ludwig II. von Hessen (1772-1848) Die Methoden des Überwachungsstaates „An solchen Orten, namentlich wo mißliebige Schriftsteller oder Vereine zusammen sind, wird man in Berlin regelmäßig auch einige Polizeispione finden. Diese Leute mögen das, was sie gehört, oft auch was sie nicht gehört, ihren Vorgesetzten hinterbringen, denn ihre Stellung erheischt, wie schon bemerkt, deutliche Beweise ihrer Ergebenheit; die Polizeibehörde mag über die Meldungen und die mißliebigen Personen Buch führen, um bei besonderen Gelegenheiten gegen diejenigen einzuschreiten, von welchen sie glaubt, daß sie den willkürlichen Präventivmaßregeln verfallen können. Gewiß ist, daß die Polizeibehörden immer wissen, was der oder jener Mißliebige bei dieser oder jener Gelegenheit gesprochen und getan hat; und da es bei ihrer Willkürgewalt nicht nötig ist, daß unmittelbare Veranlassungen zu ihren „Maßregeln“ zugrunde liegen, so wird ihre Strafe immer die „Schuldigen“, die der Herrschaft Mißliebigen zu treffen wissen. Die Ausweisungen, die polizeiliche Aufsicht usw. sind hierbei die beliebtesten und gangbarsten Methoden der willkürlichen Polizeistrafen. [...] Die Haussuchungen werden zwar nicht so allgemein ausgedehnt, und jedenfalls wird die Polizei des öffentlichen Skandals halber diesen Fall nur dann eintreten lassen, wenn sie gewisse Wahrscheinlichkeit auf den Erfolg hat. Das ist natürlich nur in seltenen Fällen zu bestimmen, und so hat sich die Polizei eines geheimen und wirksameren Mittels bemächtigt, sowohl beim geringsten Verdacht als auch ohne besondere Veranlassung den Gedanken der Untertanen nachzuspüren. Das Mittel hierzu ist das schwarze Postkabinett in Berlin. Unter den Postbeamten befinden sich Leute, welche von der Polizei besoldet und verpflichtet sind, so wohl diejenigen Briefe, wel che den Adressen nach reglementmäßig hierzu gehören, als auch diejenigen, welche ihnen selbst von Interesse scheinen, aus den Arbeitsschränken der Postexpedition an sich zu nehmen. [...] Sie werden mit besonderen Werkzeugen geöffnet, dann kopiert oder exzerpiert und von n e u e m vor si c h t i g g e s c h l os s e n z ur Weiterbeförderung auf die Expedition gegeben. Ob, wie das Gerücht sagt, ein Wappenstecher dabei in Sold genommen ist, wissen wir nicht, glauben es auch nach der einfachen Methode des Öffnens und Schließens der Briefe entschieden verneinen zu dürfen. Wenn vielleicht durch Unvorsichtigkeit oder Nachlässigkeit das Siegel des Briefes verletzt ist, so pflegt das schwarze Postkabinett denselben einfach mit dem Postamtssiegel zu schließen und auf die Rückseite die Bemerkung zu schreiben: aufgesprungen angekommen. Auf diese Weise entgeht man der groben Beschuldigung, daß die Verletzung durch die Post geschehen sei, von welcher doch in solchem Falle Vorsicht zu erwarten wäre. Das 1-lauptexpeditions- lokal befindet sich in Berlin; Zweiginstitute desselben in mehreren Grenzstädten nach Polen, England und Frankreich zu. Die Entstehung des schwarzen Kabinetts ist natürlich auf keine bestimmte Zeit zurückzuführen; daß es aber in den unruhigen Zeiten der dreißiger Jahre ganz effektiv in Wirksamkeit war, geht aus der Geschichte jener Zeit bereits zur Genüge hervor. Der Demagogenriecher Geheimrat Tschoppe benützte das schwarze Kabinett ganz offen zu seinen von der Geschichte ewig gebrandmarkten Verfügungen; Privatbriefe der Schriftsteller, Studenten und der als freisinnig bekannten Beamten und Privatleute gaben in den harmlosesten Äußerungen den Grund zu jahrelanger rachsüchtiger Inquisitionshaft. Unter dem jetzt verstorbenen Minister von Nagler, damaligen Gesandten des Bundestags, spielte das Institut ungehört in weiter Ausdehnung [...] Man wird vielleicht glauben, daß in den damaligen unruhigen Zeiten [ nach 1819] dies Institut ganz besonders den erschrockenen Regierungen zum Handlanger ihrer Gewaltherrschaft gedient habe; allein das schwarze Postkabinett besteht noch in diesem Augenblick, wo man doch nicht besonders offene Verschwörungen im Lande zu befürchten den Anschein nimmt, in voller Wirksamkeit. Die schöne Organisation der gesellschaftlichen Ordnung in Herrschende und Bedrückte, Besitzende und ausgesaugte Besitzlose macht nichtsdestoweniger die W a c h s a m k e i t g e g e n j e d e e t wa i g e entgegengesetzte Tendenz notwendig.“ (Ernst Dronke, Berlin. Frankfurt a.M. 1846, S. 182ff.) ► Aufgaben 1. Arbeiten Sie die Kritik, die Verfasser des Hessischen Landboten an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen üben, aus dem Text heraus. 2. Wen und was wollten sie mit dieser Schrift Ihrer Meinung nach erreichen? 3. Untersuchen Sie die sprachlichen Mittel, mit denen in der Flugschrift gearbeitet wird. 4. Beschreiben Sie auf der Grundlage des Textes von Ernst Dronke das Vorgehen der Polizei. 5. Verfassen Sie aus der Sicht eines Polizisten, dem ein Exemplar des „Landboten“ zugespielt wurde, einen Bericht.