Ev. Buchpreis für „Tomaten mögen keinen Regen“

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Ev. Buchpreis für „Tomaten mögen keinen Regen“
Bischof Jan Janssen, 03.06.2014
Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg
Ev. Buchpreis für „Tomaten mögen keinen Regen“ an Sarah Michaela Orlovsky
4. Juni 2014,Haus der Kirche in Kassel
Liebe Gastgeberin, Pröpstin Wienhold-Hocke für die Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck, liebe Mitarbeitende aus der bundesweiten Ev. Büchereiarbeit, liebe Jury-Mitglieder,
liebe Schwestern und Brüder, vor allem aber: liebe Sarah Michaela Orlovský,
es ist eigentlich ganz einfach: Sie haben ein wunderbares Buch geschrieben – und unser Preis
soll Ihnen sagen, wie sehr wir uns daran erfreuen!
Ich habe die Ehre, zunächst aus der Laudatio vorzutragen, die Frau Bundesministerin a.D.
Andrea Fischer für Sie und für uns alle hier in Kassel ausgearbeitet hat. Sie kann nun leider
aus gesundheitlichen Gründen heute nicht unter uns sein. Wir bedauern das sehr, freuen uns
umso mehr über ihren Beitrag und wünschen ihr von hier aus vom Herzen gute Genesung.
Laudatio von Bundesministerin a.D. Andrea Fischer
„Was von vornherein nicht ausgegrenzt wird,
muss hinterher auch nicht integriert werden.“
Richard von Weizsäcker
… Fünf Jugendliche leben zusammen mit zwei Nonnen. Derart zusammen-gewürfelte
Familien nennt man heute Patchwork-Familien. Allenfalls, dass die Kinder die
Nonnen immer mit Schwester anreden, macht deutlich, dass es sich doch nicht um eine
ganz normale Familie handelt. Es ist auch mal die Rede davon, dass es sich um ein
Waisenheim handelt, aber das Gefühl, unter einem Stigma zu leben, spielt bei den
Kindern keine echte Rolle. Eher die Tatsache, dass sie alles gemeinsam machen und
sich fragen, wo der eine Mensch ist, der sie, und nur sie liebt.
… die Geschichte zieht … in den Bann. Dabei wird doch zunächst nur vom Alltag
dieser Wohngemeinschaft berichtet. Doch da sind diese kleinen Einschübe, die darauf
hinweisen, dass ein Unfall passiert ist, daraus erwächst eine eigene Spannung. Erst
dass eine Journalistin damit ringt, wie man „richtig“ über Behinderte schreibt, gibt
der Leserin einen Hinweis darauf, dass es um eine Wohngemeinschaft von
unterschiedlich behinderten Kindern geht. Bis zum Schluss werden wir nicht erfahren,
worin die Behinderungen der einzelnen Beteiligten bestehen. Aber wir bekommen über
verschiedene Äußerungen mit, dass die Kinder auch deshalb in der Familie sind, weil
ihre Eltern sie nicht wollten.
Der Roman ist eine wunderbare Erzählung von einem ruhigen und zugleich
ereignisreichen Alltag. Dieser Alltag interessiert uns, weil jedes Kind einen anderen
Charakter hat, aus denen geschwisterliche Konflikte entstehen, von denen Hovanes
mit genervt-distanziertem Blick und erheblichem Sarkasmus erzählt. Das Buch
entfaltet große poetische Sogkraft, Hovanes hat ein gutes Auge für das, was um ihn
herum geschieht und er findet auch durchaus ungewöhnliche Begriffe für das, was er
wahrnimmt. Ich finde seine Überlegung am Schönsten, welche Augenfarbe die
Freundin Lucine hat: blond.
In einem Interview mit Frau Orlovsky habe ich gelesen, dass sie keine Absicht verfolgt
mit ihrem Buch eine Botschaft zu übermitteln. Dafür möchte ich ihr danken, denn das
ist ihr gelungen. Sie hat einen Roman geschrieben, den man gerne liest, weil er uns
mit seiner Sprache gefangen nimmt und es uns dringend danach verlangt mehr zu
erfahren, wie es mit Hovanes und der Gruppe weitergeht. Aber nie hatte ich als
Leserin das Gefühl mir soll etwas vermittelt werden. Dass diese Art pädagogischer
Absicht dem Buch fehlt, hat es erst recht preiswürdig gemacht - Jugendbücher, die den
Jugendlichen etwas gesellschaftlich Wertvolles vermitteln wollen, verdrießen die
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Leserin rasch. Dafür braucht es keine Preise. Niemand, ich nicht, und schon gar keine
jungen Leserinnen und Leser, möchte von einer Autorin gesagt bekommen, was er
oder sie zu denken hat. Oder was sie denken sollte.
Frau Orlovsky, wird ausgezeichnet für ein Buch mit Spannung und guter Geschichte.
Wir freuen uns über ein Buch, das ungewöhnlich und berührend geschrieben ist und
dessen Geschichte uns ins Nachdenken über uns und unsere Wahrnehmung bringt. Es
ist nicht auf herkömmliche Weise so geschrieben, dass man sich einfach hineinfallen
lässt - ein bisschen muss man sich anstrengen, aber anders macht’s ja auch keinen
Spaß! Der Ton des Buches ist der glaubwürdige Ton eines 13jährigen, ohne dass es
anbiedernd wirkt, weil tatsächlich von einer Erwachsenen geschrieben.
Sicher ist es eine durchaus positive Entwicklung, dass heutzutage auch Kinder ohne
Eltern in einer überschaubaren Wohngemeinschaft wohnen statt in großen Heimen.
Aber Hovanes fühlt sich in seiner freundlichen und wohlwollenden Gemeinschaft
trotzdem oft allein, ein Gefühl, das er vermutlich mit manchen Jugendlichen teilt, die
in Familien leben. Und ein zu lauter Bruder, über den klagen auch viele Geschwister.
Gerade weil Hovanes so viele Überlegungen anstellt, die vielen Jugendlichen vertraut
sind, liegt die Frage nahe, worin denn der Unterschied besteht zu denen aller
„normalen“ Jugendlichen. Und damit steht die Frage, was denn das „Normale“ ist.
Frau Orlovsky stellt diese Frage nie, aber jede, die das Buch liest, stellt sie sich
irgendwann. Ist es, wenn Tiko wieder so hinreißend fröhlich kräht, dass sie Prinzessin
ist, oder wenn Sirup beim Rennen einen Stuhl umfegt? Sind diese fünf nicht genauso
wie alle anderen Kinder? Auf jeden Fall steht die Frage im Raum, warum ihre Eltern
sie nicht wollten und warum sie in einem eigenen Haus mit Betreuerinnen leben.
Mit dieser Frage kommen wir wieder in unserer Realität an. Seit mehreren Jahren
wird sowohl in Österreich, der Heimat Frau Orlovskys, als auch in unserem Land
über die UN-Behindertenrechtskonvention diskutiert. Gerade die gemeinsame
Beschulung ist ein ständiger Streitpunkt. Beim Lesen dieses Buches habe ich mich
wieder einmal gefragt, warum es in dieser Diskussion immer um die großen
Unterschiede als Barriere geht und warum so wenig davon die Rede ist, welchen
Gewinn und welche Freude die Unterschiede bedeuten.
Und welche Wohltat es ist, wenn jemand einfach darüber spricht, dass einen die
Lautstärke auch nervt. Anstatt irgendwelche schwammigen Worte drüber zu gießen,
dass Menschen mit Beeinträchtigungen auch auf den Wecker gehen können. Hovanes
nimmt keine Rücksicht, sondern spricht aus, was sich andere Menschen nicht trauen
zuzugeben. Dabei ist auch das Inklusion: mit Menschen Tacheles zu reden, sich nicht
hinter wohlmeinenden rücksichtsvollen Worten zu verstecken.
Das würden wir Menschen ohne Behinderungen nie wagen. Zum einen nicht, weil wir
zu recht Hemmungen haben, denn Menschen mit Behinderungen erfahren ohnehin
schon genug Ausgrenzung und Beleidigungen. Zum andern nicht, weil wir in der Regel
nicht zusammen leben und so den normalen, manchmal schönen und ebenso auch
enervierenden Alltag miteinander erleben, in dem man sich Liebes, aber eben auch
Kritisches sagt.
Ohne auch ein Quentchen von meinem Lob über den Mangel des Buches an
pädagogisierendem Eifer zurückzunehmen, stupst mich das Buch doch allein durch
seine Geschichte und seinen Erzähler auf das, was mich an unserer Gesellschaft so
stört: Klar, wir lachen nicht mehr über Menschen mit Behinderungen, wir behandeln
sie möglichst höflich, wir nehmen Rücksicht - aber wir sind beschämend langsam
darin, Menschen mit Behinderungen so zu behandeln wie alle anderen, mit ihnen
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gemeinsam zu lernen, mit ihnen zu schimpfen und mit ihnen gemeinsam unsere Welt zu
gestalten.
Niemand - auch ich nicht - bestreitet, dass dem gemeinsamen Unterricht viele
Schwierigkeiten entgegenstehen. Aber ich möchte mehr und öfter davon hören, dass
ein ernsthafter Plan aufgestellt wird, wie das Ziel schrittweise erreicht werden kann,
wie die Hindernisse überwunden werden und wie Kinder davon profitieren können,
dass sie miteinander lernen.
Und in diese Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Diskussion fällt meine Begegnung
mit Frau Orlovskys Buch. Auch vor diesem Hintergrund bin ich so berührt von ihm.
Denn es beschreibt eine Welt ohne all die Verrenkungen, die die Journalistin Ana im
Buch plötzlich als so unpassend wahrnimmt.
Im Buch wird zwar nicht davon erzählt, dass es Eltern gibt, die sich stark engagieren,
ihre Kinder zu fördern, damit sie so viel aus sich herausholen können, wie sie es in
sich haben. Aber die Nonnen in Frau Orlovskys Buch machen es schon ganz richtig,
sie verlangen etwas von „ihren“ Kindern, sie schimpfen mit ihnen und zeigen ihnen,
wie es richtig gehen kann.
Damit ist das Buch ein einziger Kommentar zur Wahrnehmung von Kindern mit
Behinderungen. Denn bei uns haben die meisten Menschen Mitleid mit Kindern, die
eine Beeinträchtigung haben. Hovanes, TIko, Eilis, Sirup und Gaya brauchen aber
kein Mitleid, sie liefern auch keinen Anlass dazu es zu entwickeln. Sondern sie freuen
sich über Schönes, leiden an Lieblosigkeit, stolpern über Hindernisse und jauchzen,
wenn sie etwas Neues können. Sie sind wie alle Kinder. Warum also sollen sie andere
Kinder mit anderen Fähigkeiten an ihrer Entwicklung hindern? Warum? Und wenn es
doch Schwierigkeiten gibt, wo sind diejenigen, die diese überwinden wollen?
Das wünsche ich mir von allen, die diese Diskussionen über Inklusion führen - dass
sie nach dem Wie suchen und sich nicht im Warum-nicht einrichten.
Ihr Buch, Frau Orlovsky, regt an sich diese Fragen zu stellen. Und das ganz ohne
moralisch hohen Ton, ganz ohne Zeigefinger. Das ist eine ganz besondere Leistung
und deshalb freue ich mich darüber, dass die Jury Ihnen diesen Preis zuerkannt hat.
Herzlichen Glückwunsch dazu!
Gestatten Sie mir im Vorsitz des Ev. Literaturportals ein paar wenige Worte hinzuzufügen.
Liebe Frau Orlovský, Tomaten mögen keinen Regen hat Leserinnen und Leser überzeugt.
Und Sie haben damit ja viel mehr getan, als ein Buch zu schreiben.
Zunächst einmal finden Sie Worte für Unausgesprochenes. Sie geben Menschen eine Stimme,
die überhört und übersehen, die überrumpelt und die – in einem speziellen Sinne – überredet
werden. Sie sorgen dafür, wie es der Psalm 142 in Worte fasst, den Sie als Schlussakkord und
– wie Sie selbst sagen – als Literaturangabe ganz ans Ende Ihres Buches stellen.
Sie lassen uns entdecken, dass Hovanes und die anderen all das können, was dieses uralte
Psalmgebet Israels im wahrsten Sinne des Wortes zu Gehör bringt: Hovanes und die anderen
haben keine Stimme – und doch: sie schreien und sie flehen, sie klagen und sie sagen – und sie
preisen (Ps 142,2.3.6.8)!
Und wir, die wir Ihr Buch lesen, müssen, dürfen erkennen: bisher hatten wir uns offenbar die
Ohren nicht gewaschen, oder waren zu ungeduldig, haben uns dauernd mit anderem abgelenkt
oder waren einfach selber immer zu laut.
Zwei Aspekte nenne ich von denen, die mich persönlich sehr beeindrucken. Denn in meinen
Aufgaben bin ich mit dem Handwerkszeug Wort unterwegs und werde gebeten, etwas zu
sagen, eine Rede, ein Grußwort zu halten.
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Darum sehe ich eine Ihrer Stärken darin: Sie schreiben und reden nicht über die Dinge und
machen aus Inklusion oder Behinderung oder Pädagogik nicht ein Thema oder ein Objekt. Sie
lassen die Menschen, die gerade denken, sprechen und hören, zu Akteuren werden, zu
Subjekten, von denen Sie erzählen und geradezu im O-Ton wiedergeben, was zu sagen und
wovon zu reden ist.
Und eine weiteres: Sie brauchen nicht viele Worte! Oft ist es eine winzige Szene, die von
Leben und Haltung, von Selbstbewusstsein und Widerstandskraft erzählt. Eine der schönsten,
finde ich:
„Was spielst du am liebsten?“, fragt die Hexe weiter.
„Prinzessin“, antwortet Tiko bereitwillig. „Aber ich spiele nicht. Ich übe.“ (S.58)
Sehr verehrte Frau Orlovský,
im Namen der Leserinnen und Leser der 1000 Ev. Büchereien in Deutschland und im Namen
unserer Jury, die Ihr Buch aus 120 Vorschlägen ausgewählt haben, danke ich Ihnen sehr für
Ihr Buch Tomaten mögen keinen Regen. Wir freuen uns, dass wir Ihnen den 36. Ev. Buchpreis
für das Jahre 2013 zusprechen dürfen und sagen Herzlichen Glückwunsch!
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