Ein Gespräch mit Jodi Picoult über ZERBRECHLICH

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Ein Gespräch mit Jodi Picoult über ZERBRECHLICH
Ein Gespräch mit Jodi Picoult über ZERBRECHLICH:
Was hat Sie dazu bewegt, Osteogenesis imperfecta zum Thema dieses Buches zu machen? Kam das
Thema einer Klage wegen >ungewollter Geburt< vorher oder nachher? Bitte, erzählen Sie uns etwas
über die Recherchen, die für dieses Buch nötig gewesen sind.
Die Idee für ZERBRECHLICH kam mir durch einen Zeitungsartikel über >ungewollte Geburt<, den ich
zufällig gelesen habe: Eine Mutter in New York hatte kurz zuvor eine Schmerzensgeldklage in Millionenhöhe gegen ihren Gynäkologen gewonnen, nachdem ihr Sohn mit schweren chromosomalen Schäden
geboren worden war. Aus dem Artikel war klar ersichtlich, dass sie das Kind von ganzem Herzen liebte,
aber um an die finanziellen Mittel zu kommen, um ihm ein besseres Leben zu ermöglichen, musste sie
der Welt sagen, dass sie den Fötus abgetrieben hätte, hätte sie die Gelegenheit dazu bekommen. Dieses
ethische Problem hat mich zum Nachdenken angeregt: Was, wenn ihr Kind nicht schwer geistig behindert gewesen wäre, sondern nur körperlich? Was, wenn ihr Kind im Gericht hätte HÖREN können, wenn
sie sagt, sie wünsche, es wäre nie geboren worden?
Das hat mich dann auf Osteogenesis imperfecta gebracht. Auch unter dem Namen >Glasknochenkrankheit< bekannt, handelt es sich dabei um eine genetisch bedingte Knochenkrankheit; die Knochen der
Betroffenen sind stark geschwächt, sodass sie leicht brechen. Die Ursache ist eine Mutation jenes Gens,
das für die Kollagenproduktion im Knochen verantwortlich ist. Insgesamt gibt es acht Typen von OI, die
von tödlich bei der Geburt bis hin zu einem gemäßigten Krankheitsverlauf mit wenigen Symptomen
reichen. Ein Mensch mit schwerer OI kann unter Hunderten von Brüchen in seinem Leben leiden und
muss mit einer verkürzten Lebensspanne rechnen. Weitere Symptome sind eine kleine Statur (Menschen
mit schwerer OI werden in etwa drei Fuß groß – knapp über einen Meter), Gehörverlust, Rückgratverkrümmung, Atemprobleme und Gelenk- sowie Muskelschwäche. Körperlich gesehen ist das ein äußerst
schwerwiegendes Krankheitsbild; aber geistig sind Menschen, die unter OI leiden, vollkommen normal.
Viele Kinder mit OI sind sogar klüger als ihre gleichaltrigen Spielkameraden, weil sie weit mehr lesen,
wenn sie nach einem Knochenbruch mal wieder nicht laufen können.
Aus Recherchegründen habe ich versucht, ein kurzes Stück in den Schuhen einer Mutter zu gehen, deren
Kind unter OI leidet, indem ich mehrere betroffene Familien besucht habe. Das erste Mädchen mit OI, das
ich kennengelernt habe, leidet unter der Krankheit vom Typ I –
einer harmloseren Form –; trotzdem hat sie sich in acht Jahren
fast fünfzig Knochen gebrochen, weil ihre Eltern wollten, dass
sie so normal wie möglich lebt. Anstatt sie auf allen Vieren laufen zu lassen, um ihre Aktivitäten einzuschränken, erlaubten sie ihr alles, was sie wollte ... wohl wissend, dass das zu Knochenbrüchen führen
würde. Ich erinnere mich daran, Rachel – so heißt das Mädchen – gefragt zu haben, wie es sich anfühlt,
wenn das passiert. „Es fühlt sich wie ein Blitz unter meiner Haut an“, hat sie gesagt, und ich erkannte, dass
der Schmerz, den diese Kinder fühlen, nicht anders ist als der, den auch wir empfinden, wenn wir uns einen Knochen brechen – nur dass ihnen das wesentlich häufiger passiert. Von Rachel zog ich dann weiter
zu Kindern mit OI vom Typ III, der schwersten Form, die nicht direkt bei der Geburt tödlich ist. Ich erinnere mich an das Blitzen in den Augen der fünfjährigen Hope, als die Kellnerin in einem Restaurant sie
aufgrund ihrer Körpergröße für ein Baby gehalten hat, und an den Schmerz in der Stimme von Jonathans
Mom, als sie mir erzählt hat, wie sie ihn manchmal im Stich lassen und einfach nur weglaufen wollte, weil
sie Angst hatte, ansonsten der Grund für einen weiteren Knochenbruch zu sein. Während eines Besuches
bei Matthew hat seine Mutter mich gebeten, ihn aus seinem Kindersitz im Auto zu nehmen ... und ich bin
in Panik geraten. Was, wenn ich diejenige war, die ihm diesmal einen Knochen brach? Genau das ist es, so
wurde mir bewusst, was diese Eltern Tag für Tag durchmachen müssen.
Die Kinder mit OI, die ich kennengelernt habe, waren allesamt süß, klug, einnehmend und liebenswert –
und weit mehr als die Summe ihrer Behinderungen. Das wurde mir besonders am Fall einer jungen Frau
bewusst, die meine technische Beraterin bei ZERBRECHLICH geworden ist. Als ich sie gefragt habe, was
die Menschen über OI wissen sollten, hat sie geantwortet, OI sei eine herausfordernde und schmerzhafte
Krankheit, die aber keineswegs zwingend Grund für ein tragisches Leben sei. Die liebevollsten Erinnerungen ihres Lebens stehen allesamt genauso mit OI in Verbindung wie die medizinischen Probleme. Auch
hat sie mir erklärt, dass kein Kind OI allein erleide; die Krankheit betreffe Familie und Freunde ebenso.
Viele Menschen schrecken vor einem Kind im Rollstuhl zurück; aber wenn man ein wenig Zeit mit OI-Kindern verbringt, staunt man nicht darüber, wie anders sie im Vergleich zu anderen Kindern sind, sondern
darüber, wie viel sie gemeinsam haben. Sie erzählen dieselben Witze, jammern über viel zu lange Autofahrten und hassen Brokkoli. Aber sie wissen auch über Dinge Bescheid, die gesunde Kinder nicht kennen: Schienen, Stützgestelle, Parathormoninfusionen und Marknagelungen. Und wenn man sie mit ihren
Eltern zusammen sieht, erkennt man, dass ihre Väter und Mütter genau wie der Rest von uns sind: Sie tun
einfach alles, um ihren Kindern das bestmögliche Leben zu ermöglichen.
Selbst wenn das bedeutet, einen Richter und die Geschworenen anlügen zu müssen.
Und plötzlich kann man gar nicht mehr so genau sagen, ob das
rundweg falsch ist ... oder auf eine unmögliche Art richtig.
Die Charaktere in Ihren Büchern sind stets vielschichtig und komplex wie auch die Probleme, die sie
quälen. Wie erschaffen Sie einen Charakter wie Charlotte, den die Leser zugleich hassen und lieben
können?
Nun, mir persönlich fällt es wesentlich schwerer, einen platten Charakter zu kreieren, der entweder Held
oder Schurke ist. Die meisten von uns sind doch eine Mischung aus beidem, nicht wahr? Charlotte ist hier
das beste Beispiel: jemand, der etwas ganz Unmögliches tut, aber aus den richtigen Gründen. In dieser
Hinsicht erinnert sie mich ein wenig an Nina Frost aus DIE MACHT DES ZWEIFELS. Man will sie hassen ...
aber kann man wirklich behaupten, an ihrer Stelle nicht wenigstens darüber nachzudenken, genauso zu
handeln? Meiner Meinung nach besteht Charlottes tragischer Fehler darin, dass sie ihr Ziel, Willows Leben so einfach wie möglich zu machen, derart engstirnig verfolgt, dass der Rest ihres Umfelds dabei auf
der Strecke bleibt – ihre Familie und Freunde.
Wie haben Sie die Rezepte ausgesucht, die immer wieder im Buch auftauchen? Glauben Sie an die
Bedeutung, die diese Rezepte für Charlotte haben? Und backen Sie selbst?
Bevor ich geheiratet habe, hatte ich das Glück eine Mitbewohnerin zu haben, die zu einer meiner besten Freundinnen geworden ist. Heute arbeitet Kathie als Eventmanagerin am Smithsonian; davor ist sie
jedoch auf eine Kochschule gegangen. Als mir klar geworden war, dass Charlotte Bäckerin sein würde,
habe ich mich an sie gewandt und sie um Hilfe gebeten. Charlotte, als Bäckerin, glaubt, dass die Summe der Zutaten mehr ist als die einzelnen Bestandteile – das trifft dann auch für Willow zu, die für sie
mehr eine Aneinanderreihung von Augenblicken ist, wenn sie sich einen Knochen bricht, operiert wird
oder Rehabilitationsmaßnahmen über sich ergehen lassen muss. Ich backe (viel zu viel, wenn Sie meinen Mann fragen, der ständig flucht, wenn mal wieder ein dampfendes Backblech in der Küche steht,
dessen Inhalt er gezwungen wird zu essen), und oft fallen mir Backmetaphern ein. Ich wollte Charlottes
Kochbuch zu einer Sammlung dieser Begriffe machen – mit begleitenden Rezepten. Also habe ich Kathie
eines Tages eine Liste mit Worten wie >gehen lassen<, >unterschlagen< und dergleichen gemailt und sie
gebeten, Rezepte zu kreieren, in denen diese Begriffe vorkommen. Ich muss gestehen, dass ich selten mit
so etwas Köstlichem gearbeitet habe ... Ich habe jedes einzelne Rezept im Buch nachgebacken.
Im Laufe des Prozesses entwickelt Amelia eine Essstörung und beginnt, sich selbst zu verletzen. War
das für Sie eine natürliche Entwicklung des Charakters? Sind Sie während Ihrer Nachforschungen
häufiger auf dieses Verhalten bei Geschwistern behinderter
Kinder gestoßen?
Während meiner Nachforschungen bei einer Kinderpsychologin habe ich erfahren, dass Autoaggression bei Pubertierenden
häufig mit Bulimie einhergeht. Offensichtlich hat Bulimie mit jeder Menge Selbsthass zu tun ... und da
passt Autoaggression natürlich rein. Geschwister von behinderten Kindern sind jedoch keineswegs immer wie Amelia – Gott sei Dank –, und ich hoffe, die meisten Familien schaffen es besser als die O’Keefes,
die nichtbehinderten Geschwister zu integrieren. Für Amelia bedeutet eine behinderte Schwester, dass
sie selbst das Gefühl hat, versagt zu haben (zum Beispiel in Disneyworld), und dass für ein nicht perfektes
Kind die Latte in diesem Haushalt verdammt hoch liegt (jedenfalls interpretiert Amelia die Klage ihrer
Mutter so).
Nachdem Sie mehrere Erzähler erschaffen haben, gibt es da einen Charakter zu dem Sie eine besonders
starke Bindung haben oder der mit Ihrer eigenen Stimme spricht?
Ich konnte mit jedem Charakter in diesem Buch mitfühlen. Meiner Meinung nach vertritt jeder einen
nachvollziehbaren Standpunkt. Also kann ich wohl sagen, dass ich mich zu unterschiedlichen Zeiten auf
die Seite von jedem geschlagen habe!
Ihre Erzähler geben ihre Geschichten wieder, als würden sie mit Willow sprechen. Warum haben Sie den
Roman so konstruiert?
Ich wollte schon immer ein Buch aus der Ich-Perspektive schreiben, aber das ist ziemlich schwer und
bedarf der richtigen Art von Geschichte. Weil das ganze Buch sich außerdem um Willow dreht, wollte ich,
dass sie ständig präsent ist – daher die Struktur. Dazu kam, dass diese Charaktere aufgrund ihres Verhaltens das Recht haben sollten, sich Willow gegenüber zu erklären. Aber ich wollte auch, dass der Leser
sich mitten in diese Art von Kontroverse versetzt fühlt, und diese Erzähltechnik spricht nicht nur Willow,
sondern auch den Leser direkt an.
Haben Sie als Autorin je das Gefühl gehabt, die Rolle der Geschworenen einzunehmen? Wie haben Sie
über den Ausgang des Prozesses entschieden?
Tatsächlich stelle ich mir eher meine Leser in der Rolle der Geschworenen vor. Als Schriftstellerin ist es
mein Job, alle Seiten der Geschichte zu beleuchten und es dann dem Leser zu überlassen, anhand der
Beweise zu entscheiden, was richtig ist und was falsch. Was das Geschworenenurteil in diesem konkreten
Fall betrifft, so war das nicht so wichtig für mich, wie die Wendung am Schluss der Geschichte; aber damit
es zu dieser letzten Wendung kommen konnte, musste ein bestimmtes Urteil gefällt werden ... Mehr will
ich aber nicht dazu sagen, sonst verrate ich noch alles!
Warum haben Sie sich Willows Perspektive ganz bis zum Schluss aufgespart?
Weil der Leser als Willows >Stellvertreter< im Buch fungiert. Da die Charaktere ihre Taten dir erklären,
wird der Leser Teil der Geschichte, aber trotzdem ... Nachdem jeder Charakter im Buch erklärt hat, wie er
über die Klage denkt, hielt ich es für angebracht, den Leser direkt von Willow hören zu lassen, wie sie das
Ganze empfunden hat.
Sie haben einmal gesagt, Sie wüssten schon, wie ein Buch endet, bevor Sie das erste Wort geschrieben
haben. Trifft das auch auf ZERBRECHLICH zu? Ändern Sie je ein Ende, wenn Sie tiefer in die Geschichte
vorgedrungen sind?
Ja, ich kenne das Ende schon vor dem ersten Wort, und das trifft auch in diesem Fall zu. Ich halte ZERBRECHLICH für das traurigste Buch, das ich je geschrieben habe – und wenn ich das sage, will das schon
was heißen! Das Ende stand jedoch nie zur Debatte, denn darin verbirgt sich eine kleine moralische Lektion. Nicht umsonst heißt es ja: >Pass auf, was du dir wünschst.<