John Coltrane - Arche Kalender Verlag
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John Coltrane - Arche Kalender Verlag
2/3 John Coltrane Meine Koordinaten Als John Coltrane, zu seiner letzten Tournee in Japan gelandet, das Flugzeug verließ, war der Flughafen schwarz vor Menschen. Da drehte er sich auf der Gangway zu seinen Musikern um und sagte: »Es muss ein Prominenter an Bord gewesen sein.« Der er selbst war. John Coltrane hat das musikalische Universum des Jazz wohl weiträumiger abgeschritten als irgendjemand vor oder nach ihm. Er ist der Solitär, der aus Musik bestand, den nichts so interessierte wie Musik, der sie atemlos vor sich her trieb und über ihre Grenzen hinaus ins NochHörbare und Nicht-Mehr-Hörbare erweiterte. Willemsens Musikwoche 2012 Arche Kalender Buch Zur Empfehlung Die meisten musikalischen Strömungen, gleich welcher Richtung, sind deshalb an ihrem Anfang Jugendbewegungen. Das andere Einfallstor fand die Musik durch das Radio. Während meine Eltern dort klassische Konzerte suchten, klangen für mich Swing und Ob man es will oder nicht, Musik begleitet jedes Jahr. Sie macht sich Bebop wie die aus weiter Ferne herangespülten Stimmungsbilder breit als Konsum flankierender Geschmacksverstärker, als Stimmungs- von Festen, aus Ballräumen und Gottesdiensten. Dies war Musik aus aufheller, als Medium der Zerstreuung. Nimmt man sie aber ernst, dem Sehnsuchtsraum, und der Melancholie der Kindheit antwortend, also persönlich, wählt man sie aus, statt sie zu erleiden, und hört sie war sie Sprache des Mangels, des Fernwehs. Als sich mir diese Musik – bewusst, dann kann sie sich zum Soundtrack einer Zeit, eines Jahres, gleich nach der »Klassischen« und teilweise wie ein Gegenmittel – eines ganzen Lebensabschnitts verdichten. Dann erkennt man sich eröffnete, hatte ich längst begriffen, dass der Jazz »falsche« Musik wieder auch in der Musik, mit der man gelebt hat, und lässt sich von war, dass sie nicht nur erlaubte, sondern forderte, was Thelonious ihr die Frage beantworten nach dem the way we were. Monk zu einem Drummer gesagt hatte: »Du weißt, wie man richtig Die beiden musikalischen Welten, in denen ich mich zuerst bewegte, spielt. Jetzt spiel falsch und mach es richtig.« waren die der sogenannten »Klassischen Musik« und des »Jazz«. Später las ich, dass Gustav Mahler sich auf den Jahrmärkten gerne Ich hatte gelernt, sie ihrer Ausdruckssprache nach zu unterscheiden. zwischen die Musikquellen stellte und sich dem Verfließen der Sounds Ihre Ausdrucksimpulse aber korrespondierten mit meiner Erfahrung auslieferte. Als ich es auch versuchte, hörte ich keine Kirmes mehr, ohne Umweg über eine musikgeschichtliche Einordnung. Daneben nur noch Mahler. Und mehr als das: Architektur und Musik sind die faszinierten mich die Biografien von Musikern, ihre programmatischen einzigen Künste, die Räume erschaffen. Im Durcheinanderfließen der Aussagen und ihre Auseinandersetzungen mit der bestehenden Musik akustischen Ströme auf den Jahrmärkten und Rummelplätzen fand ich gleichermaßen. Doch während mir die Klassische Musik zunächst die erste moderne Klangarchitektur, simultan und eklektisch. So setzte wie eingeweihtes Wissen vermittelt wurde, wollte jene andere Musik sich das Musik-Erfahren über Genregrenzen hinweg und vereinte mit eher selbst entdeckt und eigenständig bewertet werden. dem nämlichen Ernst Johann Sebastian Bach und Bill Evans, Hector Der Jazz wählte viele Wege in mein Leben. Einer hieß Domenico Berlioz und Gil Evans, Alban Berg und John Coltrane. Scarlatti. Dieser barocke neapolitanische Glücksspieler im portugie- In diesem musikalischen Jahreskalender finden Sie die Galerie einiger sischen Exil ist Welt-Musiker und radikaler Neutöner. Bei aller Oberflä- der Musiker, die mich seit langem begleiten, versehen mit Schlaglich- chen-Brillanz, allem improvisatorischen Ungestüm befreit er Gefühle tern zu Leben und Werk, begleitet von marginalen Empfehlungen für aus der konventionellen Sprache und lässt sie neu und frisch und das Hören oder Lesen. Ich wünschte, dass mancher Impuls musikalisch wie eben geboren klingen. Dieser Drang in ein Klima der Freiheit, der überspränge, dass also manches Ohr die Seiten wechselte. Selbstbefreiung und Emanzipation vom autoritären Bann der Tradition besitzt in jeder Musik etwas Hypnotisches, besonders im Jazz. Hamburg, April 2011 Roger Willemsen Jazz Klassik Cannonball Adderley 96 Ludwig van Beethoven 42 Alban Berg 50 Andy Bey 85 Johannes Brahms 30 Ferruccio Busoni 115 John Coltrane 72 Chris Connor 16 Frédéric Chopin 54 Miles Davis 12 François Couperin 46 Eric Dolphy 80 Claude Debussy 94 Antonín Dvořák 38 Gabriel Fauré 74 Kathleen Ferrier 106 John Field 110 César Franck 102 Tsegué-Maryam Guèbrou 100 Christoph Willibald Gluck 82 Billie Holiday 76 Joseph Haydn 59 Wynton Kelly 28 Johann Nepomuk Hummel 78 Gustav Mahler 98 Krzysztof Komeda 56 Charles Mingus 44 Felix Mendelssohn Bartholdy 90 Wolfgang Amadeus Mozart 62 Oliver Nelson 105 Francis Poulenc 86 Sergej Rachmaninow 10 Charlie Parker 64 Art Pepper 49 Michel Petrucciani 117 Jean-Philippe Rameau 22 Maurice Ravel 66 Bill Evans 93 Tommy Flanagan 112 Duke Ellington 20 Gil Evans 32 Kenny Dorham 68 Camille Saint-Saëns 35 Sonny Rollins 25 Little Jimmy Scott 88 Zoot Sims 108 Domenico Scarlatti 14 Art Tatum 60 Clara Schumann 26 Robert Schumann 19 Lennie Tristano 36 Sarah Vaughan 52 Carl Maria von Weber 71 Lester Young 41 10 / 11 Sergej Rachmaninow Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Sergej Rachmaninow geht als ein Solitär, einsam und unbeirrbar rückwärtsgewandt, durch eine Zeit, in der die Zwölftonmusik, die Aufbrüche durch Strawinsky und Prokofjew, durch den französischen Impressionismus und Sonnabend den Jazz das Gesicht der Musik verändern. Doch seit den Tagen seines ersten Ruhms am Moskauer Konservatorium bis zu seinem Tod in Beverly Hills, 1943, wirkt er wie einer, der unter Abstrakten gegenständlich malt, der die Melodie liebt, die schöne Linie, die reiche Harmonie. So berühmt Sonntag Neujahr er auch war als Pianist und Dirigent wie als Komponist, zog er sich lieber mit seiner Frau und der kleinen Tochter in den Wintermonaten 1906–1908 nach Dresden zurück, wo er in Ruhe leben und komponieren konnte. Hörtipp: Sergej Rachmaninow, Zehn Préludes für Klavier op. 23 (1903) sowie Dreizehn Préludes für Klavier op. 32 (1910) 1 12 / 13 Montag 2 Dienstag 3 Mittwoch 4 Donnerstag 5 Freitag 6 Miles Davis Er mochte den Ausdruck »Jazz« nicht, und den Ausdruck »cool« Heilige Drei Könige mochte er auch nicht. »Musik« sollte man nennen, was er in die Welt brachte. Doch nannte man es »Cool Jazz«, und das war eigentlich nicht abwegig. Schließlich eiferte Miles Davis gegen Sonnabend 7 Sonntag 8 den »Amüsierneger« in der Musik, zeigte sich brüsk, schwer nahbar, animos. Doch war sein abgeklärter, »cool« genannter Stil nicht bloß eine Antwort auf das Fahrige der Bebop-Phrasen. Er war auch eine Antwort auf das Leiden der Sklaven, der von Rassismus geschlagenen Schwarzen. In dieser Situation war Miles Davis nicht der Virtuose seines Instruments, sondern die Verkörperung einer Haltung, und diese ist es, die er, der Meister des Timings, in immer neuen Stilen schillern ließ. »Miles Davis ist der Picasso der unsichtbaren Kunst«, sagte Duke Ellington. Hörtipp: Miles Davis, Kind of Blue. Aufnahmen vom 2. März und 22. April 1959 mit Miles Davis (Trompete), Cannonball Adderley (Altsaxophon), John Coltrane (Tenorsaxophon), Wynton Kelly/Bill Evans (Klavier), Paul Chambers (Bass) und Jimmy Cobb (Schlagzeug). Columbia Records 1959 Lesetipp: Wolfgang Sandner, Miles Davis. Eine Biographie. Berlin: Rowohlt 2010 14 / 15 Domenico Scarlatti Montag 9 Dienstag 10 Mittwoch 11 Donnerstag 12 Freitag 13 Sonnabend 14 Sonntag 15 Er gibt seine sichere Stelle am Vatikan auf, geht zuerst nach Portugal, dann nach Sevilla, dann an den spanischen Hof in Madrid ins Exil, wo er nur noch Privatcembalist ist und nur noch Esercizi schreibt, Sonatinen, aus einem Satz bestehend. Gleichzeitig schwingt die neapolitanische Volksmusik wie in Schwaden von Heimweh durch diese Esercizi – »wilde Blumen am Zaun der Klassik«, wie sie eine Musikwissenschaftlerin einmal nannte. Kaum jemals hat jemand so radikal mit den Konventionen der Musik seiner Zeit gebrochen wie er. Ja, dies ist unkonventionelles, Profanes und Feierliches wild mischendes Komponieren. Hier herrscht ein Überschwang, ein »Swing«, ein tänzerischer Geist, der etwas Kapriziöses, Launisches verrät. Hörtipp: Domenico Scarlatti, Sonaten für Klavier (ab 1738) 16 / 17 ChrIs Connor Montag 16 Dienstag 17 Mittwoch 18 Donnerstag 19 Freitag 20 Sonnabend 21 Sonntag 22 Eine weiße Sängerin mit Swing, mit einem unvergleichlichen Timbre, von hoher Intelligenz in der Melodiebehandlung. Zugleich liegt über der Hitze ihrer Gefühle eine Selbstbeherrschung, ja Verstandeskühle, die jeder Behandlung eines Songs Plausibilität gibt. Ihr Klavierbegleiter Ralph Sharon bemerkte einmal: »Dieses Mädchen hat ein großes Paar Ohren, sie phrasiert jedes Mal anders, jedes Mal nach ihrer Stimmung, und sie befindet sich manchmal so weit hinter dem Beat, dass sie einem förmlich die Hände fesselt.« Deshalb bevorzugte Chris Connor Trios, denn mit ihnen, anders als mit den schwerfälligen Big Bands, konnte man jeden Abend neu und wendig manövrieren. Hörtipp: Chris Connor, A Jazz Date with Chris Connor. Zoot Sims (Saxophon), Oscar Pettiford (Bass) u. a. und das Ralph Burns Orchestra. Atlantic Records 1956 18 / 19 23 Montag 24 Dienstag 25 Mittwoch 26 Donnerstag 27 Freitag 28 Robert Schumann Sonnabend »Das Klavier wird mir zu enge, ich höre bei meinen jetzigen Kompositionen eine Menge Sachen, die ich kaum andeuten kann«, schrieb Robert Schumann 1838. 29 Seine ganze Welt wurde ihm zu eng. Sie ist voll AufSonntag bruch, voller Schwirren und Changieren, manchmal verwildert, manchmal fantastisch, und nicht selten wird darin etwas so Mutwilliges frei wie in einer Jazz-Improvisation. Als er einmal ein Vögelchen mit Grießklößen Hörtipp: Robert Schumann, Klavieralbum für die Jugend op. 68 (1848). Enthält als Nr. 16 das Stück Erster Verlust. fütterte, starb es. Schumann aber löste seine Trauer auf in eine Miniatur mit dem Titel Erster Verlust. 20 / 21 Duke Ellington Montag 30 Dienstag 31 Mittwoch 1 Donnerstag 2 Freitag 3 Sonnabend 4 Sonntag 5 Eines Abends zogen Duke Ellington und sein Orchestra zu einem Auftritt durch Florida. Es war Sonnenuntergang, und sie hörten einen Vogel so wunderschön singen, dass sein Ruf Ellington tagelang nicht aus dem Kopf ging. Da sie keine Zeit hatten, anzuhalten und sich den Ruf einzuprägen, pfiff er ihn dauernd den Einheimischen vor, bis er erfuhr, der Vogel sei ein Mockingbird, also eine Spottdrossel. Darauf setzte er sich hin und schrieb eine Komposition rund um diesen Vogelruf: Sunset and the Mocking Bird, und er hielt dies fest als eine der »Erfahrungen von Schönheit« in seinem Leben. Hörtipp: Duke Ellington, The Ellington Suites. Studioalbum. Enthält u. a. Queen’s Suite (darin als erste Komposition: Sunset and the Mocking Bird), aufgenommen am 4. April 1959 mit Duke Ellington und seiner Big Band. Pablo 1976 22 / 23 Montag 6 Dienstag 7 Mittwoch 8 Donnerstag 9 Freitag 10 Sonnabend 11 Sonntag 12 Jean-Philippe Rameau Jean-Philippe Rameau war hager, wortkarg, Voltaire angeblich ähnlich, hochgewachsen, zurückgezogen lebend. Ein Zeitgenosse erzählt, die Welt sei ihm versunken, wenn er sich dem Cembalo gewidmet habe, tief versunken. Sein Gönner, ein Pariser Bankier, der ihn unter anderen mit Voltaire bekannt machte, überließ ihm zwölf Jahre lang ein kleines Privatorchester, mit dem er, ein leidenschaftlicher Sucher nach dem Wesen der Musik, wunderbar experimentieren konnte. – Eines Tages warf er das Hündchen einer Dame aus dem Fenster mit der Begründung: »Es bellt falsch.« Hörtipp: Jean-Philippe Rameau, Suiten für Cembalo (1706, 1724, 1728) 24 / 25 13 Montag 14 Dienstag Valentinstag Sonny Rollins 15 Mittwoch 16 Donnerstag 17 Freitag Sonny Rollins, der greise Legendäre, ein Unergründlicher des 18 Jazz, ein »Saxophone Colossus«, begann an der Seite von Bud Sonnabend Powell, produzierte Platten mit Miles und Monk, nahm sich mehrmals für Jahre Auszeiten, wusste nicht, ob er aus der HinterWelt zurückkommen würde. Doch dann war er zurück, ein Melan- 19 choliker auf dem Tenorsaxophon mit der Fähigkeit, unfertig zu Sonntag bleiben. Er war immer wieder da, ein Purist, ein Radikaler, immer noch suchend. Sonny Rollins war 47 Jahre mit Lucille Rollins Hörtipp: Sonny Rollins, Saxophone Colossus. Studioalbum. Aufnahme vom 22. Juni 1956 mit Sonny Rollins (Tenorsaxophon), Tommy Flanagan (Klavier), Ding Watkins (Bass) und Max Roach (Schlagzeug). Prestige Records 1956 Sonny Rollins, Sonny, Please. Studioalbum. Aufnahme vom November 2005 mit Sonny Rollins (Tenorsaxophon), Clifton Anderson (Posaune), Bob Cranshaw (Bass), Bobby Broom (Gitarre), Steve Jordan (Schlagzeug), Kimati Dinizulu (Percussion). Doxy 2006 verheiratet, als diese im November 2004 stirbt. Sein nächstes Album nennt er nach einer Mahnung seiner Frau Sonny, Please, zu Deutsch »Nu reiß dich zusammen«. Das hat er getan, aber hörbar sind Tränen auch, wenn sie nach innen laufen. 26 / 27 Montag 20 Rosenmontag Dienstag 21 Fastnacht Mittwoch 22 Aschermittwoch Donnerstag 23 Freitag 24 Sonnabend 25 Sonntag 26 Clara Schumann 1856 schreibt Clara Schumann ihre Romanze in h-Moll, der Tonart für Messen und reife Sonaten. Jenseits dieser Romanze wird sie zwar weitgehend in das übliche Frauenleben des 19. Jahrhunderts eintreten, sich der Erziehung ihrer acht Kinder widmen, aber gleichzeitig als erfolgreiche Klaviervirtuosin auftreten. Ein Spätwerk, ein Abschied von der Musik ist Clara Schumanns 40 Jahre vor ihrem Tod komponierte Romanze aber vor allem, weil sie sich entscheidet, nach dem Tod ihres Mannes Robert in ebenjenem Jahr 1856 nicht mehr zu komponieren. Was also ist dieses Stück anderes als eine Meditation im Angesicht des Sterbens und ein Abgesang auf das eigene Musizieren, eine Miniatur voller Wehmut und Melancholie? Hörtipp: Clara Schumann, Romanze für Klavier in h-Moll (1856) 28 / 29 Montag 27 Dienstag 28 Mittwoch 29 Donnerstag 1 Freitag 2 Sonnabend 3 Sonntag 4 Wynton Kelly Miles Davis hat über seinen staunenswerten Pianisten ehemals gesagt: »Er ist wie das Feuer für die Zigarette. Ohne ihn gibt es kein Rauchen.« Und dennoch gehört dieser Pianist immer noch zu den unterschätzten Meistern ihres Fachs. Vielleicht hat man angesichts seiner Herkunft aus dem Rhythm and Blues und angesichts des Funk-Stils, den er mit den Jahren entwickelte, vielleicht auch angesichts des hellen, trockenen und oft Rhythmus betonten Stils, den er kultivierte, überhört, wie zerbrechlich sein Anschlag, wie melancholisch seine Phrasierung, wie originell und verinnerlicht seine Musikalität auch waren, wie er Läufe verschleifen, sich ins Pianissimo, ins beiläufige Spielen verirren, wie er selbst Soli in den Mittelgrund rücken konnte und noch in den späteren Jahren unfest bleibt, fragend und zweifelnd – in diesem Spiel brennt immer Licht. Hörtipp: Wynton Kelly, Complete Blue Note Trio Sessions. 2002 30 / 31 Montag 5 Dienstag 6 Mittwoch 7 Donnerstag 8 Freitag 9 Sonnabend 10 Sonntag 11 Johannes Brahms Johannes Brahms, dieser spätromantische Grübler, manchmal als der »deutscheste« unter den deutschen Komponisten empfunden, war in seiner Jugend Stadtmusikant, verdiente in Matrosenkneipen den Unterhalt für die Familie, zog aus der Enge der Armengegend, des Hamburger Hafenmilieus auf Wanderschaft bis nach Wien, entkam aber dem Heimweh nie. In seinem Werk klingt dieses Heimweh nicht nach dem Fehlen der Heimat allein. Man höre nur sein Lied Gestillte Sehnsucht und erkennt: Brahms ist der Komponist des Sehnens über alle Grenzen hinaus. Hörtipp: Johannes Brahms, Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll op. 15 (1857) sowie Gestillte Sehnsucht op. 91, Nr. 1 (siehe auch unter Kathleen Ferrier, Seite 106) 32 / 33 Gil Eva Montag 12 Dienstag 13 Mittwoch 14 Donnerstag 15 Freitag 16 Sonnabend 17 Sonntag 18 ns Als Svengali bezeichnet man eine Person im Hintergrund, die eine andere Person stark beeinflusst oder sogar manipuliert, beispielsweise den besonders einflussreichen Manager eines Künstlers. Gil Evans, ein scheuer, eher unzugänglicher, vielen rätselhafter Gentleman mit einem schmalen Werk, an dem er lang arbeitete, hat vor allem als Arrangeur den Sound vieler junger Musiker geprägt, ein versessen Moderner, ein Klangbildhauer. Vor allem die Zusammenarbeit mit Miles Davis zwischen 1957 und 1963 war wegweisend für die Musik, die noch kommen sollte. Das Anagramm seines Namens ist Svengali. Hörtipp: Gil Evans, The Individualism of Gil Evans. Studioalbum. Aufnahmen zwischen September 1963 und Juli 1964 mit Gil Evans in verschiedenen Besetzungen. Verve Records 1964 34 / 35 19 Montag 20 Dienstag Frühlingsanfang 21 Mittwoch 22 Donnerstag Camille Saint-Saëns 23 Als seine Mutter 1888 stirbt, ist Camille Saint-Saëns Freitag 53 Jahre alt und trifft eine radikale Entscheidung. Er verlässt die bisherige gemeinsame Wohnung, löst alle Verbindungen, deponiert einige Besitztümer in einem 24 Lager und verschwindet. In Paris kursieren Gerüchte, der Sonnabend Komponist sei tot, verrückt oder verschollen. Tatsächlich wird er von nun an 14 Jahre lang keinen festen Wohnsitz mehr haben und meist unter Pseudonym von Hotel zu 25 Hotel, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent reiSonntag sen. Bis nach Ceylon, in die USA und nach Südamerika führt ihn sein Weg, und auch musikalisch schlagen sich diese Reisen nieder. Der Karneval der Tiere war sein Unglück. Seine Popularität überschattete das riesige Hörtipp: Camille Saint-Saëns, Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 78 (Orgelsinfonie, 1886) sowie Le carnaval des animaux. Grande fantaisie zoologique. Suite für Kammerorchester (1886) Gesamtwerk. Noch Glenn Gould sagte 1976: »Wirklich, ich bewundere Saint-Saëns!« 36 / 37 Lennie Tristano Montag 26 Dienstag 27 Mittwoch 28 Donnerstag 29 Freitag 30 Sonnabend 31 Sonntag 1 Lennie Tristano war nach einer Erkrankung an der Spanischen Grippe schon im Kindesalter blind. Er wurde dennoch seit den 1940er Jahren zu einem der wichtigsten Impulsgeber und Lehrer des Jazz, ein stiller Radikaler, den Maler, Künstler, andere Musiker wie Charlie Parker bewunderten. Doch das Publikum nannte ihn »intellektuell« – auch damals ein Kampfbegriff. Darauf erwiderte Tristano: »Es wäre sinnlos, versuchte ich etwas zu spielen, das ich nicht fühlen kann. Es wäre nichts wert.« Er suchte die reine Musik, die sich, wie er glaubte, nur durch die Zurücknahme der eigenen Person finden ließ: »Ich möchte, dass der Jazz aus dem Es fließt ... Wirklicher Jazz ist, was einer spielen kann, bevor er ganz verformt ist, das andere ist das, was nach der Verformung passiert.« Miles Davis fand, Tristano habe die Avantgarde um 15 Jahre vorweggenommen. Hörtipp: Lennie Tristano. Studioalbum. Solo- und Trio-Aufnahmen aus den Jahren 1954 und 1955 in verschiedenen Besetzungen. Atlantic Records 1956 38 / 39 Antonín Dvořák Montag 2 Dienstag 3 Mittwoch 4 Donnerstag 5 Freitag 6 Karfreitag Antonín Dvořák hat sich in seinem Leben oft umorientiert. Er begann unter dem Einfluss von Mozart und Beethoven zu komponieren. Später suchte er nach einem böhmischen Nationalstil und lernte von Brahms und Wagner. Schließ- Sonnabend 7 Sonntag 8 lich entdeckte er durch das Studium der Gospels auch das amerikanische Idiom für sich. »In den Negermelodien Amerikas«, so sagte er, »habe ich alles entdeckt, was für die Schaffung einer großen und edlen musikalischen Ostersonntag Richtung nötig ist. Diese wunderschönen und abwechslungsreichen Themen sind das Produkt der Erde. Sie sind die Volkslieder Amerikas, und eure Komponisten müssen sich an sie halten. Alle großen Musiker haben Anleihen bei den Liedern der einfachen Leute gemacht.« Hörtipp: Antonín Dvořák, Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 (Aus der neuen Welt, 1893) 40 / 41 9 Montag Ostermontag 10 Dienstag 11 Mittwoch 12 Donnerstag 13 Freitag L o Y r e t s e g n u Lester Young war ein so leidensfähiger wie gefährdeter Musiker. 14 Seinen Einberufungsbefehl zum Militär hatte er lange missSonnabend achtet, gemäß der Überzeugung »Öffne nie einen Umschlag mit Fenster«. Doch eines Abends im Jahr 1944 wird er von der Bühne weg verhaftet und eingezogen. Nach einer Verletzung 15 kommt er ins Lazarett, wo er freimütig gesteht, früher einmal Sonntag Marihuana geraucht zu haben. Dafür erhält er fünf Jahre Gefängnis, umgewandelt in ein Jahr Lagerhaft in Georgia. Traumatisiert kehrt er zurück. Offenbar gebrochen und zunehmend dem Alkohol verfallen, wird er vor seinem Tod im Jahr 1959 Hörtipp: Lester Young, The Complete Verve Studio Sessions. Enthält alle zwischen 1946 und 1958 auf Mercury, Clef, Norgran und Verve Records produzierten Aufnahmen. für viele Zeitgenossen der wichtigste Tenorsaxophonist bleiben, an seine großen Jahre aber nicht anknüpfen können. 42 / 43 Ludwig van Beethoven Montag 16 Dienstag 17 Mittwoch 18 Donnerstag 19 Freitag 20 Sonnabend 21 Sonntag 22 Das Bild des erhabenen, des einschüchternden sinfonischen Beethoven, der im Sound der Neunten spricht, hat jedes andere überlagert. Er ist jener Erratische geblieben, dessen Ode an die Freude Thomas Manns Tonsetzer in seinem Roman Doktor Faustus zurücknehmen will, weil sich die Menschheit am Geist dieser humanen Utopie vergangen hat. Doch ist er ebenso der Komponist, der seine gewichtige Siebte Sinfonie mit einem Satz beendet, der »Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp« anklingen lässt. Und eigentlich hat Beethoven weit mehr Kammermusik als sinfonische Musik geschrieben. Außerdem nimmt das Feierliche in seinem Werk weniger Raum ein als das Lyrische. Vor allem aber ist seine Musik von einer Zielstrebigkeit, die aus den späten Streichquartetten bis zu Schönbergs frühem Sextett Verklärte Nacht weist. Hörtipp: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate Nr. 32 c-Moll op. 111 (1822) 44 / 45 Montag 23 Dienstag 24 Mittwoch 25 Donnerstag 26 Freitag 27 Sonnabend 28 Sonntag 29 Charles Mingus Ich hörte The Black Saint and the Sinner Lady zum ersten Mal im Keller eines Londoner Gerümpelladens und erinnere mich, dass ich mich lange nicht von der Stelle rührte, fassungslos, dass es solche Musik gab. Nachdem mir der Verkäufer den Titel genannt hatte, ließ ich alles stehen und liegen und kaufte mir mein erstes Mingus-Album: nichts zum Tanzen und Swingen, keine nette Platte, aber ein wunderbares, wildes Ungeheuer, vor Kraft, von brütender Sinnlichkeit strotzend, kakophonisch, voller Husten, Rotzen und Röhren. Hörtipp: Charles Mingus, The Black Saint and the Sinner Lady. Studioalbum. Aufnahme vom 20. Januar 1963 in verschiedener Besetzung. Impulse! Records 1963 Lesetipp: Charles Mingus, Beneath the Underdog. Autobiographie. Aus d. Engl. v. Günter Pfeiffer. Hamburg: Nautilus 2003 46 / 47 Montag 30 Dienstag 1 Maifeiertag François Couperin Mittwoch 2 Donnerstag 3 Freitag 4 Sonnabend 5 Sonntag 6 François Couperin, genannt »der Große«, die prägende musikalische Persönlichkeit Frankreichs zwischen Lully und Rameau, war Hofkomponist des alternden Sonnenkönigs Ludwig XIV. Als dieser erkrankt, wendet sich der Musikgeschmack bei Hof den getragenen Stücken zu. Für sie fühlt sich Couperin prädestiniert, vereint er doch nach eigenen Worten italienische Heiterkeit mit französischem Ernst. Den einzelnen Sätzen der über 230 reich ornamentierten Cembalowerke aus seiner Feder hat er Titel gegeben, die ein Thema, eine Stimmung, ein Gefühl bezeichnen. Bei ihm wohnt man der Geburt der Musik aus dem Geist der Verzierung bei, der Entfaltung reiner Spielfreude, deren Voraussetzung das Ritual, das Zeremoniell ist. Hörtipp: François Couperin, Werke für Cembalo (1713–1730)