Morgenröte derDemok - Spektrum der Wissenschaft

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Morgenröte derDemok - Spektrum der Wissenschaft
Serie:
Die Epochen
Europas
Das Staaten- und
Völkergebilde
»Europa« entstand
im Lauf von Jahrtausenden, ein
Prozess, der bis heute
nicht abgeschlossen
ist. Die wichtigsten
Etappen des verschlungenen Wegs
stellen wir in einer
Serie vor.
Griechenland:
Die erste
Demokratie
Rom:
Einheit nach innen,
Einheit nach außen
Spätantike:
Geburt der Völker
Mittelalter:
Kirche und Staat
Renaissance und
Reformation:
Die Entdeckung des
Menschen
1
2
3
4
5
Absolutismus und
Aufklärung:
Macht und Ohnmacht
der Könige
6
7
8
9
10
Französische
Revolution:
Kampf um Freiheit
Industrialisierung:
Mensch und Maschine
Fin de Siècle:
Urknall der Moderne
20. Jahrhundert:
Aus Diktaturen
ins freie Europa
12
Morgenröte
Fünfhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung erprobte die Stadt Athen ein
neues Herrschaftsprinzip –
die Teilhabe aller Bürger an der Macht.
der Demokratie
Von Theodor Kissel
kultur Hunderte autonomer Stadtstaaten entstan­
den. Jede Polis verfügte über eine eigene Verfas­
»W
ir wollen mehr Demokratie wagen«,,
sung und hatte eine eigene Identität. Der Handel
versprach Willy Brandt (1913 – 1992) in sei­
gedieh, Wohlstand herrschte, Kunst, Wissenschaft
ner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 im
und Literatur erblühten.
Deutschen Bundestag. Ein Versprechen, das der
Dennoch: Jene, die diesen Aufschwung maß­
Kritik am Staat Rechnung trug, die sich in den
geblich voranbrachten, nämlich Handwerker und
Studentenunruhen der 1968er Jahre Bahn brach.
Händler, gingen politisch leer aus, denn nach wie
Auf der Agora Athens wurde
Mehr Mitbestimmung, mehr Mitverantwortung –
vor dominierte eine Oberschicht von adligen
Recht gesprochen, diskutiert und
ein politisches Konzept, das Europäern heute als
Grundbesitzern die Geschicke der Gemeinwesen.
Macht durch Marmor repräsen­
Basis eines modernen Staats gilt. Erfunden hat es
Schon im 8. Jahrhundert regierten Beamte den
tiert. Die Darstellung aus dem 19.
der antike Politiker Kleisthenes (570 – 506 v. Chr.).
Athener Stadtstaat: Archonten genannte Aristo­
Jahrhundert zeigt unter anderem
Mit seinen Reformen der Athener Verfassung
kraten, die laut Aristoteles von einem Adelsrat,
den Kuppelbau des Tholos (Bildmit­
begann nach einem Wort Friedrich Hegels (1770 –
dem Areopag, »nach Reichtum und Ansehen« für
te), im Hintergrund die Akropolis
1831) »die Weltgeschichte den Weg nach Europa
verschiedene Aufgabenbereiche alljährlich ge­
und rechts daneben den Hügel des
einzuschlagen«.
wählt wurden (siehe Glossar nächste Seite). Wäh­
Areopag.
rend der Adel es sich auf Gastmählern gut gehen
ließ und sich mit Wettkämpfen die Zeit vertrieb,
Trümmern der vergangenen mykenischen Palast­
verarmten die Bauern. Viele mussten sich selbst in
AKG Berlin
Kleisthenes agierte in einer Zeit des Umbruchs.
Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. waren auf den
epoc-magazin.de
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die Sklaverei verkaufen, um ihre Schulden zu be­
Glossar
Archonten: Bezeichnung für
die obersten Beamten einer
griechischen Polis
Reformwerk, das 508/7 v. Chr. die Basis für Athens
zahlen. Um 600 v. Chr. stand Athen, mit seinem
Demokratie bildete. Um dem Adel endgültig die
Umland Attika die nach Sparta flächenmäßig größ­
Machtbasis zu entziehen, setzte Kleisthenes auf
te Polis, am Rand eines Bürgerkriegs.
eine umfassende Neugliederung der gesamten
Um den Missständen ein Ende zu bereiten, wur­
Bürgerschaft. Bis dahin waren die Athener nach
de der erfahrene Politiker Solon 594/93 v. Chr. zum
Personenverbänden – so genannten Phylen (Stäm­
Athen, der als Gericht und
politisches Beratungsorgan
fungierte
Archon mit diktatorischen Vollmachten ernannt.
men) und Phratrien (Bruderschaften) – gegliedert,
Er setzte eine allgemeine Schuldentilgung für die
die auf mehr oder weniger fiktive verwandtschaft­
Bauern durch und schaffte die Schuldknechtschaft
liche Beziehungen zurückgeführt und von einzel­
Boulé: Griechisch für »Rat«;
ab. Später rühmte er sich in einem Gedicht, »die
nen Adelshäusern dominiert wurden. Die Teilhabe
das Verfassungsorgan bereitete
vor allem die Tagesordnungen
der Volksversammlungen vor.
schwarze Erde Attikas« aus ihrer Versklavung be­
jedes Bürgers an den politischen Entscheidungen
freit zu haben, indem er die hóroi herausriss – jene
war also von persönlichen Bindungen abhängig.
Areopag: alter Adelsrat in
Demokratie: Regierungsform,
bei der alle Herrschaft vom Volk
(griechisch demos) ausgeht.
Steine, die anzeigten, dass ein Grundstück mit ei­
ner Hypothek belastet sei.
Kleisthenes führte stattdessen ein rein territo­
riales Ordnungsprinzip ein. Seine Neueinteilung
Zudem versuchte Solon Adel und Volk durch
Attikas löste alte Stammesverbände auf. Zur neu­
eine neue Verfassung zu versöhnen, die das poli­
en Grundlage der politischen Ordnung wurden
lung tagte seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. etwa vierzigmal
pro Jahr unter freiem Himmel,
zunächst auf der Agora, seit
Ende des 6. Jahrhunderts auf
dem Pnyx genannten Hügel
vor der Akropolis, später im
Dionysos-Theater.
tische Gewicht eines Mannes nicht mehr nach sei­
zehn Phylen genannte Verwaltungsbezirke, die im
Ekklesia: Die Volksversamm-
ner familiären Herkunft, sondern nach seiner Leis­
Frieden wie im Krieg gemeinsam agierten (siehe
tung bemaß. Dazu teilte er die Bevölkerung in vier
Karte rechts). Ihnen wurden 139 Gemeinden (Sin­
Vermögensklassen ein, anfangs nach Ernteerträ­
gular: Demos, Plural: Demen) zugeordnet, von den
gen (gemessen in Medimnen zu etwa 52,5 Litern),
Hängen des Parnass im Norden bis zum Kap Su­
später nach dem Geldeinkommen. Demnach ge­
nion im Süden. Diese bildeten eigenständige Ver­
hörten zur 1. Klasse die Pentakosiomedimnoi, zu
waltungsbezirke. »Demokratie an der Graswurzel«
Isonomie: Die Gleichheit aller
Deutsch »Fünfhundertscheffler«, Großgrundbe­
nannte es der Münchner Althistoriker Christian
Vollbürger bildete die Grund­
lage der Demokratie.
sitzer mit einem Jahresertrag von über 500 Schef­
Meier.
feln Korn (etwa 22 500 Liter) oder 18 000 Liter Öl
Selten mehr als einige hundert Personen umfa­
Prytaneia: griechisch für
oder Wein; die 2. Klasse umfasste die hippeis, also
send, hielten die Demen ihre eigenen Versamm­
»Reiter« im Heer mit 300 Scheffeln; die 3. Klasse,
lungen ab, verwalteten ihre Finanzen selbst,
die Zeugiten, also »Soldaten in der Schlachtreihe«,
setzten Beamte ein, organisierten Feste und Kulte.
»Vorstand«; in Athen der geschäftsführende Ausschuss des
Rats, der turnusmäßig von den
fünfzig Ratsherren einer Phyle
gebildet wurde
waren Bauern, die als Hopliten ihren Kriegsdienst
Sodann unterteilte Kleisthenes die 139 Demen
versahen und immerhin noch 200 Scheffel ver­
nach den drei traditionellen Landschaftszonen
Timokratie: Staatsform, in
dienten; die 4. Klasse waren die Theten, »Lohnar­
»Stadt« (Athen und Umland bis etwa zehn Kilome­
der die Rechte und politischen
Mitwirkungsmöglichkeiten der
Bürger nach ihrem Vermögen
bemessen werden
beiter« mit einem noch geringeren Einkommen.
ter), »Binnenland« und »Küste« in dreißig Tryt­
Kein gleiches Recht für alle
letzten Schritt fasste der Politiker eine Tryttie aus
Von einer Beteiligung des ganzen Volks an der
jeder Zone zu einer Phyle zusammen, die somit ei­
Stadtpolitik konnte aber noch keine Rede sein,
nen Querschnitt der attischen Bevölkerung reprä­
denn Zeugiten und Theten, also die breite Masse
sentierte und Zentrum wie Peripherie umfasste.
14
tien; je zehn Trittyen gehörten zu einer Zone. Im
der attischen Bevölkerung, waren gänzlich von der
Fünfzig Abgeordnete wurden nun alljährlich
politischen Teilhabe ausgeschlossen. Solon besei­
von einer Phyle in die so genannte Boulé, den »Rat
tigte zwar soziale Spannungen, ließ aber die Herr­
der Fünfhundert« entsandt, die 36 Tage am Stück
schaft des Adels unangetastet. Nicht Demokratie,
die Geschäfte Athens als geschäftsführender Aus­
sondern Timokratie war sein Ziel (siehe Glossar).
schuss (Prytanie) führten. Dabei wählten sie täg­
Denn Besitzgleichheit entsprach nicht dem Her­
lich einen neuen Vorsitzenden (den Prytanen). Der
kommen und dem Recht, wie er selbst sagte: »Un­
Rat war ein beratendes Organ, das Anträge an die
recht wäre es, gleich zu teilen zwischen Herr und
Volksversammlung vorbereitete. Er tagte im Bou­
Knecht der Heimat fettes Land.«
leutérion, einem theaterähnlichen Gebäude an
Deshalb gelang es dem Adelsgeschlecht der
der Agora, dem Platz des öffentlichen Lebens jeder
Peisistratiden, sich 560 v. Chr. als Tyrannen zu
Polis. Dort befand sich auch der Tholos, das Amts­
etablieren: Sie gebärdeten sich als Freunde des
lokal der Prytanen (siehe Bild S. 12).
Volks und gewannen so seine Unterstützung ge­
Kleisthenes eröffnete den Athenern damit Teil­
gen ihre Standesgenossen. Doch diese Phase sollte
habe und Mitbestimmung an »dem, was die Polis
nur fünfzig Jahre dauern, dann stürzte der Aristo­
angeht«, wie das griechische ta politika besagt.
krat Kleisthenes (570 – 506 v. Chr.), Angehöriger
Der Einzelne war nicht mehr im Geschlecht ver­
eines rivalisierenden Adelsgeschlechts, den Tyran­
wurzelt, sondern wurde in den Staat hineinge-
nen Hippias. Sofort machte er sich an ein radikales
stellt – als Polisbürger. Als solcher führte er künf­
epoc 02/2008
In Drei Stufen zur Demokratie
Im archaischen und im klassischen Athen amtierten jährlich neun Archonten, die für verschiedene Aufgabenbereiche zuständig waren; neben
dem obersten archon eponymos, nach dem das jeweilige Amtsjahr benannt wurde, der archon basileus, der religiös-kultische Funktionen ausübte, der
archon polemarchos, der bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. der Oberbefehlshaber des Heeres war, und sechs weitere Archonten für die Rechtssprechung. Ihre
Macht wurde mit der Einführung der Volksversammlung und der Volksgerichte unter Solon beschnitten, zudem waren diese Ämter seit Perikles
(461/60 v. Chr.) nicht mehr dem Adel vorbehalten. Kleisthenes sorgte dafür, dass alle Vollbürger an der Macht teilhatten.
Staatsaufbau Athens
nach der solonischen Verfassung (594/93 v. Chr.)
Athen unter Adelsherrschaft
(Aristokratie)
Areopag
neun Archonten
(ehemalige Archonten; oberstes Gericht/Kontrollorgan des Staates)
• Stadtvorsteher (nach ihm wird das Jahr benannt)
• Vertreter des Volkes vor den Göttern
• Feldherr
• sechs Richter und Gesetzgeber
neun Archonten
(Staatsoberhaupt, oberster Richter, Feldherr, sechs oberste Richter)
wählen nur aus der
herrschen
herrschen
wählt
für 1 Jahr
herrschen
Rat der 400
• nur Besitzende
(ehrenamtlich)
• Regierungs­
ausübung
wählt aus
den drei
oberen
Klassen
1. Klasse für ein Jahr
Volksver­
sammlung
alle vier
wählt
aus
allen vier
Klassen
Klassen wählen
1. Klasse (Pentakasiomedimnoi)
Adel
Volk
von 2. Klasse (hippeis)
Athen
3. Klasse (Zeugiten)
4. Klasse (Theten)
Volk von Athen
Volksgericht
Heer
• Reiter
• Hopliten
• leicht bewaffnete
Matrosen
Fremde und Sklaven: ohne Bürgerrecht
Frauen: ohne politische Rechte
Epoc / Christina Hof
Verfassung Athens
seit Kleisthenes (508/7 v. Chr.)
Prytanie
• 50 Ratsherren für je 36 Tage
• regierendes Zehntel des Rats
Rat der 500
Areopag
50 je Phyle
per Los
entsenden durch
Losentscheidung
W
ah
l
Volksgericht
Volksversammlung
9 Archonten
nur aus 1. und
2. Klasse
Oberbefehl
1 Archont
(Feldherr)
10 Strategen
Bürger von Athen in zehn territorialen Phylen
Stadt
Land
Heer
Küste
Phyle 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Frauen, Fremde und Sklaven (ohne politische Rechte)
epoc-magazin.de
Schlag gegen den Adel: Kleisthenes unterteilte Athens Staats­
gebiet in zehn Phylen, von denen jede Gemeinde die traditionellen
Zonen Stadt, Binnenland und Küste umfasste. So zerriss er die
Machtbereiche der Adelsfamilien und sorgte für neue Machtverhält­
nisse.
15
AKG Berlin
tig neben dem Eigennamen auch den seines De­
Durch das Los
gaben die Götter ihren Willen
kund. Was lag näher, als die Mitglieder öffentlicher Organe
durchkleroterion genannte Losmaschinen bestimmen zu
lassen, um Korruption zu verhindern. Ein solcher Apparat
bestand aus Reihen von Schlitzen und einer Röhre mit Trichter,
vermutlich auch einer Kurbel.
Kandidaten steckten Marken
in die Schlitze, Buchstaben
sorgten für Ordnung: Alle mit
einem Alpha versehenen
Marken kamen in den AlphaSchlitz und so fort. Anschließend gab ein Beamter weiße
und schwarze Kugeln in den
Trichter. Ging es um die Wahl
der Mitglieder von Volksgerichten, entsprach die Zahl der
weißen Kugeln der der Richter.
Jede Kurbeldrehung ließ eine
Kugel fallen. Rollte eine schwarze aus der Röhre, wurden Marken entfernt, bei einer weißen
galten eben diese Marken
als gewählt. Damit erhielten die
Betreffenden Zutritt zum Gerichtsgelände, wo weitere Lose
ihnen einen bestimmten Gerichtshof und dort einen persönlichen Sitzplatz zuwiesen.
Das antike
Griechenland
(alle Angaben v. Chr.)
1200 – 800
Gründung der griechischen Stadt- und
Kleinstaaten im
ägäischen Raum, da­
runter Athen, Sparta,
16 Theben, Korinth
um 800
Philosoph Xenophanes (etwa 550 – 470 v. Chr.).
mos, um seinen Status als Vollbürger anzuzeigen.
Nichts schien einem Athener damals unmöglich.
Vorbei waren die Zeiten, als die adligen Herren
Unter Führung des Stadtstaats formierte sich der
das Sagen hatten und den Mann aus dem Volk öf­
Delisch-Attische Seebund (478/77 v. Chr.), zunächst
fentlich abkanzelten, wie es etwa Homer in seiner
um gemeinsam gegen den Erzfeind Persien zu
»Ilias« überlieferte: Da schlug der Ithakerfürst
kämpfen, bald aber schon als Machtinstrument
Odysseus beim Kriegsrat einen einfachen Mann,
Athens auf dem Wege zur Hegemonie (epoc 1/
der seine Meinung äußern wollte, und herrschte
2008, S. 78).
ihn an: »Halte den Mund, setz dich hin und hör zu,
was andere sagen, die was Besseres sind als du. Du
Stimmen von der Ruderbank
zählst doch gar nicht, weder im Rat noch im
Doch nach wie vor kam der breiten Bevölkerung
Kampf.« Jetzt aber mussten Adlige ihre Kämpfe in
nicht das volle politische Gewicht zu: Der Areopag,
der Volksversammlung austragen, die Bürger­
eine nach dem Tagungsort auf dem Areshügel be­
schaft war vom Objekt aristokratischer Führung
nannte Behörde, die seit der Abschaffung des Kö­
zum Subjekt ihrer eigenen Politik geworden.
nigtums im 8. Jahrhundert v. Chr. die Eignung und
Eine Demokratie in unserem heutigen Sinn war
Leistung von Beamten überwachte, war noch im­
dies allerdings noch nicht, eher eine Vorstufe, eine
mer dem Adel vorbehalten, und von den Ämtern
Isonomie, das Prinzip des gleichen Rechts für alle.
der Archonten blieben die 3. und 4. Vermögens­
Denn zwar waren alle vor dem Recht gleich, doch
klasse, Zeugiten und Theten, nach wie vor aus­
längst nicht alle Bürger konnten Einfluss auf die
geschlossen. Insbesondere letztere bildeten eine
Politik ausüben. Viele wohnten mehr als eine Ta­
noch unentdeckte politische Machtbasis. Zwar
gesreise von Athen entfernt, Anreise und Ver­
verdankte Athen den Sieg bei Marathon seinen
dienstausfall hielten sie fern von der Macht. Zu­
Hopliten, und die stammten großteils aus dem
dem genossen von den etwa 200 000 Menschen
Bauernstand (die Zeugiten konnten ihre Kampf-
Attikas – das mit etwa 2600 Quadratkilometern so
ausrüstung selbst finanzieren). Doch mit dem
groß war wie das heutige Luxemburg – nur rund
Streben nach Dominanz in der Ägäis kam den The­
30 000 Vollbürger das Wahlrecht. Der große Rest –
ten eine große Bedeutung zu, denn sie saßen auf
Frauen, Sklaven und Metöken genannte Einwan­
den Ruderbänken. Diese Tagelöhner trieben die
derer – blieb weiterhin vom politischen Leben aus­
Trieren voran, auf ihre Disziplin und Präzision
geschlossen. Immerhin kamen damit auf einen
kam es an, wenn enge Wendemanöver gefahren
Ratsherrn nur sechzig Bürger. Zum Vergleich: Ein
wurden, um ein gegnerisches Schiff mit dem
Abgeordneter des deutschen Bundestags vertritt
Rammsporn zu versenken.
Als der Aristokrat Kimon 462/61 v. Chr. mit
rund 100 000 Wahlberechtigte.
Eine Bedrohung von außen sollte die Athener
3000 Hopliten dem erdbebengeschüttelten Spar­
Demokratisierung beschleunigen: Ein gewaltiges
ta Hilfe leistete, nutzte sein Rivale Ephialtes die
persisches Söldnerheer fiel 490 v. Chr. in Hellas
Gelegenheit und brachte einen Antrag in die Volks­
ein, um die Stadt für ihre Unterstützung aufrühre­
versammlung ein, die Aufgaben des Areopags auf
rischer Griechenstädte in Kleinasien zu bestrafen.
den »Rat der 500« und die Geschworenengerichte
Nach Phylen geordnet, Schulter an Schulter,
zu übertragen. Es glückte ihm, die Theten zu poli­
kämpften die Städter, Küsten- und Landbewohner
tisieren, und der Coup gelang. »Fortan«, so der Bo­
gemeinsam auf der Ebene von Marathon gegen
chumer Althistoriker Karl-Wilhelm Welwei, »gab
die Invasoren. In dieser Formation unterliefen
der Mann von der untersten Ruderbank den Aus­
griechische Hopliten den gefürchteten Pfeilhagel
schlag in Athen.«
persischer Bogenschützen und schlugen im Kampf
Ephialtes fiel wenig später einem Attentat
Mann gegen Mann den Feind in die Flucht. Zehn
zum Opfer, doch in seine Fußstapfen trat Perikles
Jahre später stoppte Athen fast im Alleingang ei­
(490 – 429 v. Chr.), wie Kleisthenes aus dem Adels­
nen weiteren Versuch des orientalischen Groß­
geschlecht der Alkmeoniden. Auf sein Betreiben
reichs in der Seeschlacht von Salamis. »Diese Din­
hin wurden 461/460 v. Chr. Gesetze erlassen, wel­
ge sollte man am Feuer erzählen, in der winter­
che die finanziellen Voraussetzungen für eine brei­
lichen Jahreszeit, wenn man mit Muße nach dem
tere Teilhabe der Menschen an der Politik schufen:
Abendmahl auf der Liege ruht«, frohlockte der
die Einführung von Diäten für Mitglieder des Rats
Entstehung der Polis.
Die Griechen entwickeln das phönizische
Alphabet zur
ersten Buchstabenschrift Europas
776/75
erste Olympische
Spiele
um 750
Beginn der griechischen Kolonisation
am Mittelmeer und
am Schwarzen Meer
621/20
In Athen fixiert
Drakon die gängige Rechtspraxis
erstmals in Gesetzen
und reformiert das
Strafrecht
594/93
Solon teilt die Bevölkerung in Zensusklassen ein und setzt
einen Schuldenerlass
durch
epoc 02/2008
und der Geschworenengerichte, als Aufwandsent­
schädigung für deren politisches Engagement.
Drei Jahre später setzte Perikles durch, dass auch
die Zeugiten, Athens Bürger dritter Klasse, das Ar­
chonten-Amt ausüben durften.
Seit »mit der Übertragung der Beamtenkont­
rolle auf die Menge die Macht des Adels gebrochen
war, atmete Athen den Geist der Freiheit«, erklärt
hatte in Athen das Volk (demos) die Macht (kratos)
inne, war Gesetzgeber, Richter und Vollstrecker in
AKG Berlin
der Göttinger Althistoriker Jochen Bleicken. Fortan
einem. Alle Bürger hatten an allem Teil, durften
mitreden und mitbestimmen, »ob Zimmermann,
Schmied, Schuster, Kaufmann, Schiffseigner; arm
wie reich; von hoher oder niedriger Herkunft«, wie
es in Platons philosophischer Schrift »Protagoras«
heißt. Öffentliche Diäten subventionierten ihr
kontinuierliches politisches Engagement.
Weithin herrschte Basisdemokratie und Rota­
tionsprinzip: Alljährlich wechselten die Ämter,
wurden Hunderte von Posten und Mandaten
durch das Los verteilt; das Zufallsprinzip wurde
Redezeit zu, gemessen mittels einer Wasseruhr,
Schuld oder Unschuld:
zum System. Bald begann man Volksbeschlüsse,
bei der Flüssigkeit aus einem Krug in einen ande­
Athens Richter stimmten mittels
Abrechnungen und sonstige Dokumente in Stein
ren lief (Abenteuer Archäologie 4/2005, S. 50).
bronzener Scheiben über einen
Angeklagten ab: War sie durch­
zu meißeln und öffentlich aufzustellen – darunter
Wer das Volk gegen sich aufbrachte, den konnte
auch die attischen Tributlisten, zum Teil mehre-
es ohne Begründung für zehn Jahre ins Exil schi­
bohrt, galt er als »schuldig«.
re Meter hohe steinerne Stelen, auf denen seit
cken, mit Hilfe des Scherbengerichts (Ostrakis­
Die Aufschrift psephos demosios
454/53 v. Chr. Jahr für Jahr die Abgaben der Bünd­
mos). Hierzu kritzelte jeder Bürger den Namen
bedeutet »öffentliche Stimm
nisstädte verzeichnet und auf der Akropolis aufge­
desjenigen auf eine Tonscherbe (griechisch: ostra-
scheibe«.
stellt wurden. Denn zur Demokratie gehörte auch
kon), den er politisch kaltstellen wollte. Mindes­
größtmögliche Transparenz. Wenn das Volk schon
tens 6000 Stimmen mussten abgegeben worden
an allem teil hatte, musste sich auch jeder Ein­
sein, verbannt wurde derjenige, auf den die meis­
zelne über die Belange des Ganzen informieren
ten Stimmen entfielen. Jedes Jahr konnte das Volk
können.
in einer Volksversammlung durch Handzeichen
darüber abstimmen, ob ein Scherbengericht über­
Reden nach der Wasseruhr
haupt abgehalten werden sollte; falls ja, fand es
Das klassische Athen war scheinbar eine Hoch­
zwei Monate später auf der Agora statt. Besitz und
burg der Gleichmacherei. Aus inschriftlich erhal­
Einkünfte durfte der Unglückliche aber behalten.
tenen Bauabrechnungen geht hervor, dass der Ta­
Mehr als 12 000 solcher Misstrauensvoten ha­
geslohn für alle Arbeiter unabhängig von Stand,
ben Archäologen mittlerweile geborgen, darunter
Bildung und Qualifikation eine Drachme betrug,
solche mit so berühmten Namen wie Miltiades,
vom Architekten bis zum Eseltreiber. Niemand
dem Sieger von Marathon, Themistokles, dem
sollte seine Mitbürger überragen, selbst im Tod
Helden von Salamis, oder Aristeides, dem Grün­
nicht – deshalb durfte kein Athener seine Staats­
dervater des Delisch-Attischen Seebunds. Ohne­
ämter auf einem Grabstein verewigen lassen, und
hin schien das Vertrauen der Athener in ihre Be­
ein Dekret begrenzte zu Beginn des 5. Jahrhun­
amten nicht allzu groß gewesen zu sein, da sie die­
derts v. Chr. den erlaubten Aufwand für die bis da­
se gleich einer dreifachen Kontrolle unterzogen:
hin prunkvollen Gräber auf Athens Staatsfriedhof,
Jeder Anwärter wurde vor Amtsantritt, fast im Mo­
dem Kerameikos. Auch vor Gericht, wo es doch um
natstakt während sowie nach Ablauf des Amts­
Sein oder Nichtsein ging, gab es keine Unter­
jahres überprüft. Wer sich nicht als tauglich er­
schiede. Jedem Redner standen nur sechs Minuten
wies, musste den Posten abgeben, bei Unterschla­
um 525
Der Philosoph Pythagoras entwickelt seine
Lehrsätze der Geometrie und Astronomie
epoc-magazin.de
508/7
Kleisthenes stärkt den
politischen Einfluss
der Bürger
490/89
Sieg der Athener
bei Marathon über
die Perser
488/87
erstes Scherben­
gericht
462/61
Von den
199 Staaten
heute sind
120 Demokratien
Entmachtung des
Areopag, der letzten
Adelshochburg
(Stand: 2008)
449 – 438
Bau des Parthenon
auf der Akropolis
17
gungen erfolgte Anklage. Als Buße galt jeweils die
Jahrhundert v. Chr. einmal folgendermaßen aus­
zehnfache Summe des veruntreuten Geldbetrags;
gedrückt: »Das Volk der Athener hat die höchste
in schwe­ren Fällen wurde die Todesstrafe ver­
Verfügung über alles in der Stadt und das Recht, zu
hängt. Ferner konnte jedermann zu jeder Zeit per
tun, was immer es will.«
Anklage ein Amtsent­hebungsverfahren in die
Unmittelbaren Einfluss auf die politischen Ent­
Wege leiten. Die heutigen Parlamentariern ge­
scheidungen besaß das Volk auch über das Volks­
währte Immunität schien in der Antike mit der
gericht, das sich aus 6000 jährlich ausgelosten,
Souveränität des Volks unvereinbar. Und was für
über dreißig Jahre alten Bürgern zusammensetzte.
die Person des Beamten galt, das galt auch für des­
Allesamt Laienrichter, die nicht nach juristischem
sen Verfügungen. Da er im Auftrag des Volks han­
Ermessen, sondern aus dem Bauch heraus ent­
delte, konnte die Volksversammlung seine Anord­
schieden. Über 200 Tage im Jahr saßen sie wie
nung widerrufen.
»kleine Könige« zu Gericht, wie Aristophanes
Diese Institution tagte anfangs auf der Agora,
scherzte, ihr Engagement wurde mit zwei, später
später in der Pnyx, einer etwa 2400 Quadratmeter
drei Obolen entlohnt. Getagt wurde in fünf Kam­
großen Platzanlage mit Blick auf die Akropolis.
mern, den Dikasterien, mit 201 oder 401 Richtern
bei zivilen, mit 501, 1001 oder 1501 bei Staatspro­
»Demokratie ist die schlechteste aller
Regierungsformen – abgesehen von
all den anderen Formen, die von Zeit
zu Zeit ausprobiert worden sind«
Winston Churchill (1874 – 1965)
zessen. Wer zu welcher Kammer gehörte, bestimm­
te Tag für Tag das Los – das sollte Bestechung vor­
beugen. Im 4. Jahrhundert v. Chr. wurden dann die
Richter unmittelbar vor Prozessbeginn mit Hilfe
spezieller Losmaschinen (kleroteria) den einzel­
nen Gerichtshöfen zugewiesen.
Einige dieser Zufallsgeneratoren fanden ameri­
kanische Archäologen auf der Agora. In diese
steckten die Richter vor jeder Sitzung ihre bronze­
Nirgendwo sonst in Athen wurde mehr gelärmt
nen Ausweise (pinakia), schwarze und weiße Ku­
und gestritten, konstatierte der Komödiendichter
geln rollten hindurch und bestimmten die für die­
Aristophanes (etwa 448 – 385 v. Chr.) und fuhr fort:
se Sitzung zuständigen Richter (siehe Kasten S. 16).
»Zu Hause sind die Athener zwar ganz vernünftig,
Die Verhandlungen waren öffentlich, die Abstim­
damit ist es aber gleich vorbei, wenn sie sich auf
mungen geheim. Aristoteles berichtet von einem
der Pnyx befinden.« Dort, vor etwa 6000 Bürgern,
Verfahren, bei dem jeder Geschworene zwei bron­
so die Berechnungen des dänischen Archäologen
zene Scheiben erhielt, eine mit einem Loch für
Mogens Hansen, brachten Athens Politiker elo­
»schuldig« und eine unversehrte für »unschul­
quent ihre Anliegen vor. Getagt wurde alle neun
dig« (siehe Bild S. 17), die er in einen Abstimmungs­
Tage. Ein Obolus, später drei Obolusse milderten
behälter warf. Die Entscheidungen wurden sofort
den Verdienstausfall (was den Lebensunterhalt ei­
vollstreckt und mussten nicht verantwortet wer­
ner Person pro Tag deckte). Abgestimmt wurde
den. So konnte das Gericht etwa Maßnahmen von
nach Köpfen und per Handzeichen, nicht wie spä­
Beamten außer Kraft setzen und Beschlüsse der
ter in der römischen Republik nach Körper­
Volksversammlung aufheben.
schaften und in geheimer Wahl (siehe Abenteuer
Der Demos jedenfalls, so Herodot in einem ab­
Archäologie 2/2007, S. 72). Jeder Bürger besaß An­
schließenden Urteil, war der uneingeschränkte
trags- und Rederecht, die Reihenfolge legte ver­
Souverän, »er bestellt die Ämter durch das Los,
mutlich wie im sizilischen Syrakus ein Los fest.
431
Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs
18
um 420
hält die Regierung rechenschaftspflichtig und
Die Befugnisse der Volksversammlung waren
lässt alle Entscheidungen von der Gesamtheit fäl­
unbegrenzt, sie konnte wählen, wen, und richten,
len«. Zweifellos, der freiheitliche Geist setzte bei
wie sie wollte, ergo über alles entscheiden und war
den Athenern ungeahnte Energien frei, waren sie
dabei an nichts gebunden. Weder Grundrechte,
doch »von Natur aus dazu geschaffen, weder selbst
noch verlässliche Verfahrensregeln oder frühere
Ruhe zu halten noch anderen ihre Ruhe zu las­
Beschlüsse schränkten ihre Entscheidungen ein:
sen«, so der Historiker Thukydides. Die Blütezeit
Alles durfte jederzeit widerrufen werden. De­
der attischen Demokratie war auch die Epoche der
mosthenes, Athens größter Redner, hat dies im 4.
griechischen Klassik, in der sich Dramatiker wie
Hippokrates behandelt Kranke ohne
die übliche religiöse
Beschwörung
404
Der Peloponnesische
Krieg endet mit der
Kapitulation Athens
399/98
Der unbequeme Philosoph Sokrates muss
den Schierlingsbecher
trinken
387/86
Platon, der »Vater der
Logik«, begründet
seine Akademie
322/21
Ende der Demokratie;
Athen gerät unter die
Herrschaft des Makedonen Antipatros
epoc 02/2008
Chronisten entfalteten, Rhetorik und Philosophie
erblühten, Vasenmalerei, Plastik und Architektur
bis in die Neuzeit Maßstäbe setzten. Für Isidor von
Sevilla (560 – 636 n. Chr.) jedenfalls, einen bedeu­
tenden Schriftsteller an der Schwelle von Antike
und Mittelalter, war Athen die »Mutter der freien
Künste und Gebärerin von Philosophen«. Und der
schrieb: »Es ist, als hätte die Natur Jahrhunderte
hindurch alle Kräfte gesammelt, um sie hier aus­
zugeben.« Er nannte dies die »völlige Entfesselung
aller Kräfte, auch der falschen«.
Bridgeman Berlin
Schweizer Historiker Jacob Burckhardt (1818 – 1897)
Meinungen
und
verführbar
durch
Verspre­
Schauplatz der Geschichte
Denn Athens Stärke erwies sich auch als seine
chungen« – nicht in der Lage sei, verantwortlich
Die Ruinen des Versammlungs­
größte Schwäche. Niemals zuvor in der Geschichte
mit der eigenen Herrschaft umzugehen. Politik, so
platzes Pnyx, auf dem das Volk
war der Mensch so frei in seinen Entscheidungen,
sein Resümee, müsse als Beruf betrieben werden.
seit der Verfassungsreform unter
aber auch derart manipulierbar. Demokratie – das
Der Berliner Althistoriker Alexander Demandt be­
Kleisthenes im Jahr 508/7 v. Chr.
zeigte sich hier erstmals – verhindert nicht den
mängelte überdies, das politische Dauerengage­
zusammentrat
Aufstieg von Populisten. So sicherte sich beispiels­
ment der Athener sei auf Kosten anderer erkauft
weise der Reformer Perikles 451/450 v. Chr. durch
worden: »Die antike Demokratie war auf die Skla­
ein fremdenfeindliches Gesetz eine Machtbasis in
verei ebenso angewiesen wie die moderne Demo­
der einfachen Bevölkerung. Denn gerade die fürch­
kratie auf Maschinentechnik.« Und der Dresdner
tete soziale Nachteile durch all diejenigen, die von
Politikwissenschaftler Hans Vorländer kritisiert
Athens Glanz angezogen in die Stadt strömten.
das Fehlen individueller Rechte. »Gleichheit vor
Dank Perikles aber beschränkte die Volksversamm­
dem Gesetz, wie die Athener sie verstanden«, so
lung das Bürgerrecht – und damit die Teilhabe an
der Forscher, »gab es nur im Bürgerverband und
der Demokratie – auf Einwohner mit athenischen
kann nicht in gleichgesetzt werden mit der Gleich­
Eltern. Vor allem die Theten waren unverzichtbare
heit von an die Person gebundenen Rechten, wie
Mehrheitsbeschaffer, umfassten sie doch zwei
sie die Moderne kennt.«
Drittel der attischen Bevölkerung. Wer ihre Stim­
Die Demokratie geriet nach der Übernahme
me wollte, musste ihnen Arbeit verschaffen: Pe­
Athens durch den makedonischen Diadochen Anti­
rikles, der die Demokratie für die eigene Karriere
patros 322 v. Chr. zunächst in Vergessenheit – nicht
nutzte, ließ die Flotte ausbauen und führte Athen
so ihre geistigen Errungenschaften. Rom übernahm
schließlich in den Peloponnesischen Krieg (431 –
Stadtkultur, Philosophie sowie Kunst und verbrei­
404 v. Chr.), der letztlich den Untergang der grie­
tete sie in seinem Reich. Erst im 18. Jahrhundert, als
chischen Polis-Welt einleitete (epoc 1/2008, S. 78).
der Geist der Aufklärung Europa erhellte, besann
man sich wieder der Demokratie Athens, im Guten
Leichtes Spiel für Demagogen
wie im Schlechten. Unter dem Schock der Fran­
Als sich militärische Misserfolge häuften, offen­
zösischen Revolution schrieb Immanuel Kant
barten sich tiefe Risse im demokratischen Grund­
(1724 – 1804) im Herbst 1795: »Alle Regierungsform,
konsens. Politischer Wille triumphierte über po­
die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Un­
litische Vernunft, und dort, wo einst kritisches
form.« Und so legten die Gründer­väter der neuzeit­
Denken, freier Geist und moderne Wissenschaft
lichen Demokratien die Willensbildung in die Hän­
ihren Ursprung hatten, machte sich Engstirnig-
de parlamentarischer Vertreter und teilten die Ge­
keit breit. Meinungsfreiheit endete, wo Einzelne
walten. Das Ende der Weimarer Republik und der
gegen den Mainstream votierten. Querdenker wie
Aufstieg der Nationalsozialisten lehrten, dass De­
Sokrates (469 – 399/98 v. Chr.) wurden von demo­
mokratie trotz solcher Mechanismen keine Selbst­
kratischen Institutionen wegen angeblicher Gott­
verständlichkeit ist. Es sind die alten Argumente
losigkeit zum Tode verurteilt.
LITERATURTIPP
Angela Pabst
Die Athenische Demokratie
Eine kompakte Einführung in
Strukturen, Ämter und Gesetze
[C.H.Beck Wissen, München
2003, 128 S., € 7,90]
der Antike in neuen Gewändern, die Populisten
Er war ein harscher Kritiker, der es absurd fand,
nutzen, um ihre Interessen durchzusetzen: Ver­
dass in Athen Hinz und Kunz den Ton angaben,
sprechungen, Warnungen, Verheißungen. Mehr De­
alle wichtigen politischen Entscheidungen von
mokratie wagen – Willy Brandts Formulierung des
Ungebildeten gefällt wurden. Auch andere Zeit­
kleisthenischen Reformgedankens enthält heute
genossen kritisierten die Demokratie, so nannte
noch viel Zündstoff. Ÿ
Platon (etwa 428 – 348 v. Chr.) sie eine Regierungs­
form, in der Demagogen leichtes Spiel hatten, weil
Der Althistoriker Theodor Kissel arbeitet als
das Volk – »einfach in den Sitten, unstet in den
Publizist in Sörgenloch bei Mainz.
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