Übersicht 22 - Duldungsvollmacht und Anscheinsvollmacht

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Übersicht 22 - Duldungsvollmacht und Anscheinsvollmacht
Konversatorium zum Grundkurs im Bürgerlichen Recht I
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Duldungsvollmacht und Anscheinsvollmacht
A) Definition
I.
Beide Vollmachten setzen zuerst voraus
1)
Geschäftsfähigkeit des Vertretenen.
2)
Ein zum Handeln in fremden Namen nicht Befugter tritt als
Vertreter auf.
3)
Der
Geschäftsgegner
muss
den
maßgeblichen
Vertrauenstatbestand kennen, d.h., kein Schutz wenn er weiß oder
wissen müsste, dass der Duldende keine Vollmacht erteilen wollte!
Aus diesen ihm bekannten Tatsachen (Vertrauenstatbestand)
muss der Geschäftsgegner den Schluss der Bevollmächtigung des
Vertreters durch den Vertretenen gezogen haben.
4)
Kausalität des berechtigten Vertrauens des Geschäftsgegners für
den Vertragsabschluß.
II.
Duldungsvollmacht erfordert darüber hinaus:
1)
Wissen des Vertretenen, dass ein anderer für ihn handelt.
2)
Aber: Trotz Wissen zurechenbare bewusste Duldung dieses
Verhaltens!
Beachte: Da es um wissentliches Dulden geht, kann schon ein
einmaliges Gewährenlassen eine DVM begründen (Pal/Heinrichs §
173/12); bei MüKo/Schramm § 167/36 heißt es "Handeln während
einer gewissen Dauer und wiederholtes Auftreten". Es ist allerdings
nicht einsehbar, warum ein wiederholtes Auftreten erforderlich sein
soll, um eine DVM bejahen zu können, denn es liegt ja gerade ein
Konversatorium zum Grundkurs im Bürgerlichen Recht I
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wissentliches Dulden vor! Beachte: Die Kenntnis des Vertretenen
vom
Vertreterhandeln
muss
sich
auf
den
Zeitpunkt
des
Vertreterhandelns beziehen. Das bedeutet, dass ein Handeln dann
nicht von der Duldungsvollmacht erfasst ist, wenn sich die Kenntnis
alleine auf vorangegangenes Handeln bezieht, zum aktuellen
Zeitpunkt des Handelns diese Kenntnis aber nicht vorliegt.
III.
Anscheinsvollmacht erfordert darüber hinaus:
1)
Kein Wissen des Vertretenen, dass ein anderer für ihn handelt.
2)
Aber: Bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte Vertretener es erkennen
und verhindern können!
3)
Es bedarf einer gewissen Häufigkeit und Dauer des Auftretens!
B) Rechtliche Behandlung
I.
Rechtsprechung
Nach BGH ist in beiden Fällen die fehlende Vollmacht (bzw.
Vollmachtserteilung) zugunsten eines redlichen Dritten durch einen
Rechtsscheinstatbestand ersetzt (konkret: Das Vertrauen auf eine
bestehende
Vollmacht
ersetzt
die
fehlende
Vollmacht);
dementsprechend sind nach BGH die Rechtsfolgen bei Vorliegen einer
DVM und einer AVM gleich, das heißt, der Vertretene müsse sich so
behandeln lassen, als hätte er Vollmacht erteilt! Demnach steht dem
Dritten sowohl bei Vorliegen einer DVM als auch einer AVM ein
Erfüllungsanspruch1 gegen den Vertretenen zu. Der Vertretene wird
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Unterscheide Erfüllungsanspruch – Schadensersatzanspruch synonym mit dem Begriffspaar Primäranspruch –
Sekundäranspruch!
Konversatorium zum Grundkurs im Bürgerlichen Recht I
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danach also durch das Vertretergeschäft genauso gebunden wie im
Falle einer wirksamen Vollmacht.
1. Lehre (insbes. Flume2)
Flume trennt zwischen DVM und AVM; seine Argumentation ist dabei
folgende: Bei Kenntnis und Duldung (DVM) stellt sich das Verhalten des
Vertretenen als eine konkludente Vollmachtserteilung dar; diese sei
analog den §§ 171, 172 BGB zu behandeln.
Bei
der
AVM
fehle
dagegen
eine
solche
konkludente
Vollmachtserteilung; vielmehr führe alleine Fahrlässigkeit zu dem
Anschein einer Vollmacht, diese aber ist lediglich eine Form des
Verschuldens und keine Willenserklärung (WE)3. Nur aber die WE
führt
zu
Vertrag
und
Erfüllungsansprüchen!
damit
Deshalb
zu
ist
Primäransprüchen,
nur
bei
der
das
DVM
heißt
ein
Erfüllungsanspruch zu bejahen, während das fahrlässige Verhalten
bei der AVM nur zu Ansprüchen aus culpa in contrahendo (§§ 280 I
1, 311 II, 241 II BGB) führen kann, damit nur zu Schadensersatz!
2. Konsequenz der rechtlichen Behandlung
Die Unterscheidung führt zu folgenden Unterschieden in der rechtlichen
Behandlung. Zum einen stellt sich die Frage, ob positiver oder negativer
Vertrauensschutz zu gewähren ist, zum anderen gilt, dass WE
angefochten werden können. Deshalb muss auch gefragt werden, wie
es sich bei der DVM und bei der AVM mit der Möglichkeit der
Anfechtung4 verhält.
2
Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1993, § 49, 3. und 4.
Wiederholen: Voraussetzungen bzw. Elemente einer WE. Hierzu: Medicus BR Rn. 130-132!
4
Zur Frage, ob eine Vollmacht (bzw. die Vollmachtserteilung) überhaupt angefochten werden kann siehe Übersicht 14 und
Brox BGB AT Rn. 568 ff
3
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Die Rspr. (s.o.) gewährt positiven Vertrauensschutz mit der Folge des
Erfüllungsanspruches des Geschäftsgegners gegen den Vertretenen
auch bei der AVM, der zurechenbar einen Rechtsschein gesetzt hat, auf
den der Geschäftsgegner vertraute.
Ein Teil der Lehre dagegen will bei der AVM nur Ansprüche aus cic
gewähren (keinen Erfüllungsanspruch!).
Hinsichtlich der Anfechtungsmöglichkeit ist zu unterscheiden:
Folgt man der Rechtsprechung und der wohl hL, die DVM und AVM
gleichsetzen
und
darin
einen
vom
Vertretenen
gesetzten
Rechtsscheinstatbestand erkennen, so spricht vieles dafür, dass sich
dieser Rechtsschein nicht rückwirkend im Wege der Anfechtung
beseitigen lassen kann.
Eine Anfechtung der Vollmacht soll deshalb nach Abschluss des
Geschäfts mit dem Geschäftsgegner ausgeschlossen sein, wenn die
Voraussetzungen der AVM vorgelegen haben (vgl. Pal/Heinrichs §
167/3, § 173/19; Larenz/Wolf § 47/35). Der Vertretene ist gebunden und
einem Erfüllungsanspruch ausgesetzt. Die AVM ist also nicht
anfechtbar, da es sich hierbei nicht um eine konkludent erteilte
Vollmacht (=WE) handelt, sondern um eine Form des Verschuldens.
Problematisch und äußerst umstritten ist aber die Möglichkeit einer
Anfechtung der DVM:
Folgt man der Rspr., so müsste man die Möglichkeit einer Anfechtung
der DVM verneinen, denn der gesetzte Rechtsschein kann nicht
rückwirkend vernichtet werden. Allerdings hat sich der BGH hierzu soweit ersichtlich- noch nicht geäußert.
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Folgt man hingegen Flume und auch Medicus, so gelangt man zu einer
Anfechtbarkeit der DVM; beachte hierzu aber Pal/Heinrichs §
173/13,19: Da die DVM auf einer schlüssigen WE beruht, gelten für sie
die allgemeinen Vorschriften über Rechtsgeschäfte und WE. Eine
Anfechtung wegen Irrtums über die Bedeutung des Duldens ist jedoch
ausgeschlossen. Außerdem haftet der Vertretene im Falle einer
Anfechtung
in
der
Regel
nach
den
Grundsätzen
über
die
Anscheinsvollmacht. Eine Anfechtung kann die Wirkung einer AVM
wiederum nicht beseitigen, da der gesetzte Rechtsschein nicht
rückwirkend vernichtet werden kann. Ist eine (Duldungs-) Vollmacht
angefochten, kann sich aus dem entstandenen Rechtsschein eine
Haftung nach den Grundsätzen der AVM ergeben, wenn den
Vertretenen hinsichtlich des Anfechtungsgrundes Verschulden trifft. Dies
wird wiederum bei einer bewussten Duldung in der Regel zu bejahen
sein!
C) Sonderfall des § 56 HGB
Im Rahmen der AVM wird zumeist auch die Vermutung des § 56 HGB
erörtert. Hierzu gibt es drei Problemkreise, die kurz skizziert werden
sollen.
I.
Art der Vollmacht?
Nach wohl herrschender Ansicht handelt es sich bei § 56 HGB um einen
gesetzlich geregelten Fall einer AVM 5; dementsprechend liegt ein
5
Vgl. dazu Karsten Schmidt, Handelsrecht 4. Aufl. 1994 § 16 V 2. lit.a) (S.502): "Die dogmatischen Grundlagen des § 56
HGB sind sehr umstritten. Das beruht teils auf dem mißverständlichen Gesetzeswortlaut, teils auf der ganz unterschiedlichen
Konstellation der in Frage kommenden Sachverhalte. Die Auffassungen schwanken zwischen der Annahme, es liege eine
wirkliche Bevollmächtigung vor, und der vorherrschenden Auffassung, § 56 HGB schütze nur das Vertrauen auf den
Anschein einer solchen Bevollmächtigung". Damit ist sofort die weitere Konsequenz zu assoziieren, daß nach beiden oben
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Rechtsscheinstatbestand vor (MüKo/Schramm § 167/49, von dem § 56
HGB den gesetzlich geregelten Fällen der Rechtsscheinhaftung
zugeordnet wird; vgl. auch Canaris Handelsrecht § 16 I.1.lit b):
Rechtsscheinhaftung).
Eine andere Ansicht will eine Fiktion annehmen (Wortlaut „gilt“).
II.
Welche Rechtsgeschäfte werden von § 56 HGB erfaßt?
Nach der ganz herrschenden Meinung fallen unter den Begriff der
Verkäufe auch alle damit einhergehenden und verbundenen dinglichen
Rechtsgeschäfte, das heißt § 56 HGB erfasst entgegen seinem Wortlaut
sowohl Verpflichtungs- als auch Verfügungsgeschäfte; unter die
Verpflichtungsgeschäfte fallen nach hM wegen des Wortlauts „Verkäufe“
nicht auch Werkverträge und Werklieferungsverträge (aA Karsten
Schmidt Handelsrecht § 16 V 3. lit.e; nach ihm ist der Begriff Verkäufe zu
eng gefasst, und die Werk- und Werklieferungsverträge müssen unter §
56 HGB fallen). Ebenfalls nicht erfasst sind Ankäufe!
III.
§ 56 HGB und redlicher Erwerb, §§ 932, 935 BGB, sowie §
54 III HGB analog
Damit der Zweck des § 56 HGB erfüllt werden kann, ist es unabdingbar,
dass § 56 HGB das Abhandenkommen iSv § 935 I 1 BGB
überwindet! Eine Weggabe durch einen Ladenangestellten im Rahmen
einer Veräußerung der Sache führt nicht zum Abhandenkommen! Aber
merke: Es müssen dann natürlich die Voraussetzungen des § 56 HGB
vorliegen!
dargestellten Ansichten eine Anfechtbarkeit ausscheidet; beachte aber gleichzeitig, daß § 56 HGB entsprechend § 54 III
HGB nur zugunsten des redlichen Geschäftspartners wirkt. Hierzu Medicus BR Rn. 109!
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Beim Dritten muss aber tatsächlich auch Redlichkeit vorliegen, und
dies dann nicht nur in Bezug auf die Berechtigung, sondern auch darauf,
dass der Ladenangestellter bevollmächtigt ist, also entweder Vollmacht
erteilt bekommen hat oder dass er ein Ladenangestellter ist;
dementsprechend wird auf § 56 HGB der § 54 III HGB analog
angewandt. Auf den guten oder bösen Glauben kann es aber nur
ankommen,
wenn
"nach
dem
vom
Vertretenen
darzulegenden
Sachverhalt objektiv keine Vertretungsmacht vorhanden, § 56 HGB also
als Rechtsscheinstatbestand heranzuziehen ist. ... In diesem Fall ist der
bösgläubige Kunde nicht geschützt." (Karsten Schmidt § 16 V 3. lit.f).
Beispiel hierfür ist der Kunde, der im Warenhaus bei der Verkäuferin
statt an der gut sichtbaren Kasse bezahlt.