VDD - ernährungs umschau

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VDD - ernährungs umschau
VDD
Lustwandel – über Veränderungen in der
bundesrepublikanischen Esskultur1
Alexandra Deak, Freilichtmuseum Domäne Dahlem, Berlin
Mit Blick auf die Veränderungen in der bundesrepublikanischen Esskultur lassen sich zwei wesentliche Konsumorientierungen unterscheiden: Kultivierung und Simplifizierung. Die Kultivierung basiert
auf einer Vorstellung des Lustgewinns durch kontrollierten Aufschub, während die Simplifizierung die rasche Befriedigung des
Hungers anstrebt. Obwohl sich beide Tendenzen zunächst zu widersprechen scheinen, lässt sich anhand neuerer Fertigprodukte und
Entwicklungen im Bereich der Imbisskultur exemplarisch nachzeichnen, wie diese Konsumorientierungen heute verschmelzen.
Einführung
Täglich sitzen Menschen bequem und
zufrieden vorm Fernseher, essen dabei
Chips oder Pizza und zappen sich
durch die Programme. Stößt man dabei auf eine ambitionierte Kochsendung, geht meist die vorher verspürte
wohlige Zufriedenheit verloren und
leichte Stiche schlechten Gewissens
machen sich bemerkbar. Die Diskrepanz, die sich in solchen Momenten
auftun mag, besteht nicht nur darin,
dass sich die Ansprüche an ein gesundes Leben nicht mit der Ernährungs1
Nach einem Vortrag anlässlich des 46. Bundeskongresses des Verbandes der Diätassistenten – Deutscher Bundesverband e. V. im Mai 2004 in Dresden.
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wirklichkeit in Einklang bringen lassen. Sie verweist vielmehr auf zwei bedeutsame kulturelle Ernährungstendenzen, die sich im Verlauf der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte allmählich zu schichtübergreifenden Mustern entwickelt haben:
die „Kultivierung“ und „Simplifizierung“.
Hierbei handelt es sich um zwei verschiedene, ja sich direkt widersprechende Formen der Konsumorientierung, von denen sich zeigen lässt, dass
sie jeweils auf spezifische Weise eng
mit dem menschlichen Lustempfinden verknüpft sind.
Mit den Tendenzen der Kultivierung
ist ein Essverhalten gemeint, dass
■ aufwändig ist,
■ qualitativ hochwertige Speisen bevorzugt und
■ Wert auf ein gepflegtes Ambiente
legt.
Dagegen ist unter Tendenzen der Simplifizierung ein Essverhalten zu verstehen, dass
■ relativ einfach ist,
■ reichhaltige Speisen und schließlich
■ ein ungezwungenes Ambiente bevorzugt.
Stellt man beide Formen vergleichend
gegenüber, wird deutlich, ob und inwiefern der Widerspruch zwischen kulinarischen Ambitionen und eher profanen Bedürfnissen auflösbar ist.
Begrifflichkeiten
Unter Lust kann man sowohl das Bedürfnis, den Wunsch bzw. Antrieb als
auch die Erfüllung dieses Bedürfnisses
verstehen. Im Folgenden geht es um
zwei unterschiedliche Formen von
Lustempfinden: Von Lust im Sinne direkter Triebbefriedigung ist eine eher
indirekte Lustorientierung zu unter-
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scheiden, die durch kulturelle Deutungsmuster überformt ist und sich
dadurch von bloßer Triebbefriedigung
abhebt.
Bei dieser doppelten „Lust am Essen“ gibt es zudem eine analytische
Dreiteilung in erstens Stimuli auf der
sensorischen Ebene, die zweitens
durch kulturelle und symbolische
Deutungsmuster überformt sind und
drittens von Verzehrssituation zu Verzehrssituation variieren.
Tendenz zur Kultivierung
Wir haben ein bestimmtes Ambiente
im Kopf, wenn es heißt, es habe auf einer Veranstaltung Erbsensuppe gegeben. Auch die nebenbei fallen gelassene Bemerkung, der oder die neue Bekannte sei Vegetarier, sei Wein- oder
Biertrinker oder liebe Sushi, führt jeweils zu bestimmten Assoziationen
[2].
In diesen Einschätzungen kommt
zum Ausdruck, dass Nahrung auch ein
Kommunikationsmittel ist, dass sie,
wie etwa Kleidung oder eine neue
Wohnungseinrichtung, ökonomische,
soziale, psychologische und kulturelle
Aspekte vermittelt. Die häufig gehörte
Eigeneinschätzung „Ich esse, weil es
mir schmeckt“ greift in diesem Zusammenhang sehr kurz. Denn dass,
was uns schmeckt, schmeckt uns
nicht nur wegen der geschmacklichen
Qualitäten, sondern vor allem auch,
weil wir die damit verknüpften Botschaften wertschätzen [3].
Neben den individuellen Geschmackspräferenzen lassen sich relativ beständige kollektive Geschmäcker
und Codierungen feststellen, die sich
nur langsam wandeln. Betrachten wir
das Essverhalten in den frühen 1950er
Jahren der Bundesrepublik, dann
sprechen wir von Konsumenten, die
Mangel und Knappheit am eigenen
Leib erfahren hatten. Die Essenswahl
in der Nachkriegszeit richtete sich
dementsprechend weniger nach einer
gewünschten Vielfalt, als vielmehr
nach reproduktiver Notwendigkeit.
Das plakative Schlagwort einer wenig
später einsetzenden „Fresswelle“ ist
insofern irreführend, da ein wahlloses
Verschlingen großer Mengen kaum die
Realität dieser Jahre widerspiegelt.
Zwar richteten sich die Essgelüste
zunächst auf sehr energiereiche Lebensmittel, aber von einem überdurchschnittlich hohen Konsum kann
nur im Vergleich zu den entbehrungsreichen Jahren davor die Rede sein [4].
Heute, gut ein halbes Jahrhundert
später, haben breite Bevölkerungsschichten die Möglichkeit, ihren Lebensmittelkonsum primär nach ihren
Wünschen auszurichten und auf
hochwertige Lebensmittel zurückzugreifen. Wenn wir heute über die „Lust
beim Essen“ reden, so denken die wenigsten noch an die Versorgungsmahlzeit, die uns satt macht. Wir geraten
nicht mehr in Verzücken über das vergleichsweise einfache Glück, Kartoffeln auf dem Tisch stehen zu haben,
sondern denken an ausgefeiltere kulinarische Genüsse.
Innerhalb der letzten fünfzig Jahre
fand neben dem Import zahlreicher
neuer Lebensmittel und Gerichte eine
Verfeinerung und Aufwertung selbst
gängiger Speisen statt, die sich sehr
gut anhand der Reihe „Dr. Oetker
Schulkochbuch“ demonstrieren lässt
[5]. Ausgewertet wurden die Auflagen
der letzten fünfzig Jahre.
Diese Kochbuchreihe zeichnet sich
durch den Anspruch aus, Rezepte zu
publizieren, die den Grundkanon des
deutschen Verzehrsalltages widerspiegeln. Wie oft nach diesen Kochbüchern tatsächlich gekocht wird, ist
hingegen nicht belegt: Für die 1960er
lässt sich anhand verschiedener Interviews und auch aufgrund der Ge-
brauchsspuren zwar eine hohe Nutzung vermuten. Ob dies heute noch
der Fall ist, ist allerdings nicht bekannt. Die Bücher sind vielmehr Abbild typischer Wunschvorstellungen,
wie eine angemessene Mahlzeit auszusehen hat. Da ein Großteil der Rezepte über die Jahrzehnte beibehalten wurde, wenngleich sie neuen
Geschmacksentwicklungen angepasst
wurden, bieten sie einen aussagekräftigen Vergleichsmaßstab.
Ein Vergleich der Zutaten ergab,
dass der Anteil der Grundnahrungsmittel an den Speisen zu Gunsten dem
von peripheren Geschmacksträgern
zurückgedrängt wurde. Kohlenhydratreiche Grundnahrungsmittel, wie
Kartoffeln, Mehl, Nudeln und auch
Reis, die die Basis unterschiedlichster
kulinarischer Systeme darstellen, wurden mit der Zeit nicht nur durch zusätzliche Geschmacksträger wie Kräuter und Gewürze ergänzt, sondern
auch mengenmäßig zurückgedrängt.
Vergleicht man Rezeptbeispiele aus
den Dr. Oetker Schulkochbüchern im
Zeitverlauf, zeigen sich feine, aber
aussagekräftige Unterschiede. So wurde beispielsweise ein Bouletten- bzw.
Frikadellenrezept von 1956 bis 2001
(Abb. 1) folgendermaßen modifiziert:
Im Laufe der Jahre werden für die Zubereitung zusätzliche Ingredienzien
veranschlagt wie Paprika und Zwiebel.
Zusätzlich verschiebt sich die verwendete Fleischmenge bei gleichbleibender Semmelmenge von 400 auf 600
Gramm, wodurch eine Verbesserung
des Geschmacks erzielt wird. Während
1956 entweder Rinder- oder Schweinehack verwendet werden soll, heißt
es in der späteren Ausgabe, man soll
Rind- und Schweinehack zu gleichen
Teilen mischen, was zu einem komplexeren Geschmackserleben führt.
Aufgewertet wird die Frikadelle zusätzlich, indem nun nicht mehr simpler Pfeffer, sondern frisch gemahlener
Abb. 1: Die Rezepturen aus den Jahren 1956 (oben) und 2001
(rechts) verdeutlichen den Wandel [Quelle: Dr. Oetker Schulkochbuch, 1956 u. 2001]
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verwendet werden soll. Der frisch gemahlene Pfeffer ist Indiz für einen
wachsenden kulinarischen Anspruch.
Der neu hinzugekommene Hinweis,
man müsse eine „altbackene“ Semmel
nehmen, war in den 1950er überflüssig, da kaum eine Hausfrau auf die
Idee gekommen wäre, ein frisches
Brötchen so zu verschwenden bzw.
nicht verzehrte Brötchen wegzuwerfen.
Ähnliche kleine, aber geschmacksrelevante Umstrukturierungen lassen
sich in allen durchgängig publizierten
Rezepten feststellen. Für die einzelnen
Gerichte bedeutet dies zunächst eine
relative Verteuerung und somit Veredelung. Aufgrund der veränderten
Zusammenstellung der Ingredienzien
würden uns Speisen aus den 1950er
Jahren heute vergleichsweise fad und
simpel schmecken. Der Wunsch nach
kulinarischer und geschmacklicher
Aufwertung lässt hier die Notwendigkeit der energetischen Versorgung in
den Hintergrund treten.
Der Genuss einer Mahlzeit wird
aber nicht nur vom Geschmack selbst
bestimmt, sondern auch maßgeblich
von der kulturellen Wertschätzung,
wobei auch die Praxis der Resteverwertung unüblich geworden ist. In
dem Rezept aus den 1950er Jahren
findet man den Zusatz, man könne
zur Zubereitung der Boulette auch
Fleischreste verwenden. Die Resteverwertung verweist uns auf einen sparsamen und bedachten Umgang mit
Lebensmitteln, der sich auch an der
Notwendigkeit orientiert.
Heute reicht es vielen Menschen
nicht mehr aus, eine Mahlzeit pragmatisch zu betrachten. Sie soll vielmehr zusätzliche Ansprüche erfüllen.
Neben den geschmacklichen Qualitäten soll uns das Gefühl vermittelt werden, wir seien gesundheitsbewusst,
wie im Fall eines Salats, wir handelten
ökologisch integer, wie im Fall des
BioBurgers, oder seien trendy, wie im
Fall des Latte Macciato. Die Vorstellungen über das, was verzehrenswert
erscheint, sind dabei zeitlich wandelbar.
Neben den verwendeten Ingredienzien dokumentieren dies die Fotografien in den Kochbüchern sehr eindrucksvoll. So zeigt ein Bild aus der
Ausgabe von 1962 drei nebeneinander
liegende gebratene Geflügel, die
zunächst vom heutigen Betrachter als
Hähnchen identifiziert werden (Abb.
2). Das Bild zeigt jedoch gebratene
Tauben. Diese kamen samt Hals auf
den Teller, eine inzwischen überholte
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Servierform, da man heute bemüht
ist, erkennbare Indizien für die Tötung
des Tieres möglichst unsichtbar zu
machen. Ein Versuch, der beispielsweise beim Filet auch gelingt. Die
Reinform dieser Entwicklung sieht
man beim Fischstäbchen oder beim
Chicken McNugget. Nach Norbert
ELIAS ist diese Entwicklung ein Zeichen für die zunehmende Zivilisierung der Gesellschaft [6].
Im Hintergrund ist Dosenobst dargestellt, dass heute in der gehobenen
Küche so nicht mehr verwendet wird,
während in den 1960ern Konservierungstechniken als modern und fortschrittlich empfunden wurden.
Sowohl die Analyse der Speisequalität als auch der kurze Ausflug in die
Speiseästhetik verweisen auf einen
breitenwirksamen Prozess der Kultivierung, d. h. der Verfeinerung und
Überformung unseres Primärtriebes
nach Hungerstillung.
Die Auswertung einer Kochbuchreihe hat allerdings ein entscheidendes
Defizit: Kochbücher sind zwar ein Abbild idealtypischer Mahlzeiten, sie
spiegeln aber nicht die tatsächliche
Verzehrshäufigkeit.
Schöne
neue
Kochwelten, in denen
aufwändige
Speisen
zubereitet
werden, wo der passende Wein gereicht
wird und sich nette
Menschen gemeinsam zu Tisch begeben, werden uns tagtäglich in unzähligen
TV-Sendungen präsentiert, und der
Kochbuchmarkt
gehört zu den wenigen
Sparten
des
Buchmarktes, in denen es nicht kriselt.
Dabei sinkt empirisch die Anzahl derer, die sich zu Hause tatsächlich eine
Mahlzeit kochen, seit
Jahren [7].
Bevölkerung zwischen Imbisskultur,
Snacking und Fertignahrung.
In der Bundesrepublik haben wir
seit Jahrzehnten eine rapide Zunahme
des Außer-Haus-Verzehrs zu Ungunsten der mittäglichen Familienmahlzeit
zu verzeichnen. In erster Linie sind es
strukturelle Zwänge, die die Menschen
dazu bewegen, nicht mehr zu Hause
zu essen: die Trennung von Wohnund Arbeitsort, der Zerfall der Kleinfamilie, die Zunahme der Einpersonenhaushalte und die Berufstätigkeit der
Frauen. In Bezug auf den Außer-HausVerzehr sind zwar Henkelmann, Kantine, Mensa, Gaststätte und Restaurant in den1950ern verbreitet – bedeutungslos ist jedoch eine Institution,
die für uns heute selbstverständlich
ist: Der Imbiss.
Die Verbreitung der Imbissbude erfolgte in den 1970er Jahren. Sie bedurfte nicht nur der genannten strukturellen Umwälzungen und einer Welle von Neueröffnungen durch Einwanderer, sondern auch der kulturellen
Akzeptanz.
Letztere setzte eine Werteorientierung voraus, die das gemeinsame Mittagessen nicht mehr als einzig erstre-
Tendenz zur
Simplifizierung
Während wir medial
mit
Vorstellungen
vom guten und rechten Verzehr versorgt
werden, bewegt sich
der reale Konsum für
einen Großteil der
Abb. 2: Taubenbraten mit Halsansatz [Quelle: Dr. Oetker
Schulkochbuch, 1962]
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benswerte Verzehrssituation sah. Mit
dem Gedankengut der 68er wurden
derartige Vorraussetzungen geschaffen. Die konventionelle gemeinsame
Tischmahlzeit war für die neu heranwachsende Generation mit starken
Handlungsbeschränkungen und der
Unterordnung in bestehende Zwangsstrukturen verbunden. Tischzüchtigungen und Reglementierungen nach
dem Muster „Solange deine Füße unter meinem Tisch stehen“ weckten
den Wunsch nach unkonventionellen,
individuellen und vor allem selbstbestimmten Verzehrssituationen sowie
frei gewählten Tischgenossen.
Zur Lockerung der starren Tischordnung und der damit einhergehenden
Tischsitten trug auch der Einzug des
Fernsehers in die deutschen Wohnzimmer bei. Der Fernseher avancierte
mehr und mehr zu einem Mittelpunkt
des familiären Lebens und führte zu
einer Anpassung des Essens an das
Programm. Die sogenannte TV-Mahlzeit entstand. Vor dem Fernseher eingenommen, ließen sich Tischmanieren und aufwändige, besteckintensive
Mahlzeiten nicht mehr in gewohntem
Maße realisieren. Festgelegte formelle
Muster bröckelten [8].
Vergleich
Gegenwärtig praktizieren wohl die
meisten Menschen ein Ernährungsverhalten, bei dem sie sich tagtäglich
und jeweils situationsgebunden entweder für die kultivierte oder für die
simplifizierte Form zu entscheiden
haben. Die Verzehrssituation wird
Abb. 3: Die Fruchttüte von McDonalds
kombiniert den Wunsch nach schnellem
und gesundem Essen
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durch den Verhaltenscode, den zeitlichen Aufwand und die Ausstattung an
Geschirr bestimmt. Für das kultivierte
Verzehrsmuster lässt sich festhalten,
dass es durch einen strikten Verhaltenscode, aufwändiges Besteck und
weitere Utensilien wie Gläser, Servietten oder Tischtücher gekennzeichnet
ist. Dabei gilt: Je wichtiger der Anlass,
desto reglementierter der Verhaltenscode und desto umfangreicher die
Ausstattung. Auch in der zeitlichen Dimension gibt es eine strenge Reglementierung. Lange Phasen der Vorbereitung und des Wartens, sowohl vor
dem Verzehr, als auch zwischen den
einzelnen Gängen, müssen einkalkuliert werden.
Das informelle Essen besticht hingegen durch konträre Momente: Der
Verhaltenscode gestaltet sich leger,
zumal ein besonderes Merkmal des
simplifizierten Essens darin besteht,
dass es häufig allein gegessen wird.
Die Zeitspanne, die zwischen der Entscheidung, etwas zu essen, und dem
Verzehr liegt, ist meist ebenso kurz wie
der eigentliche Essakt. Imbiss und
Snacking bieten somit Lust ohne Aufschub. Teller und Besteck sind oft auf
das Notwendigste reduziert: Wird mit
den Fingern gegessen, gewinnt der
Konsument nicht nur ein haptisches
Lusterlebnis, sondern folgt dem
natürlichen Bedürfnis, Speisen zunächst anzufassen, bevor sie in den
Mund gesteckt werden.
Etwas verallgemeinernd lässt sich
sagen, dass die Speisenqualität, misst
man diese an dem Preis, dem Herstellungsaufwand, der geschmacklichen
und ästhetischen Komposition, sich
generell nach dem Grad der Festlichkeit richtet und beim kultivierten Verzehr höher ist.
Die klassischen Imbisse, wie die Döner-, Pommes- bzw. Currywurstbude,
bieten dagegen vor allem Speisen an,
die einen relativ hohen Fettgehalt und
wenig differenzierte Geschmacksnuancen aufweisen. Auch im Bereich
des Snackings dominieren Lebensmittel den Markt, die entweder einen hohen Fett- oder einen hohen Zuckergehalt aufweisen. Der Verzehr dieser Lebensmittel führt zu einer unmittelbaren körperlichen Reaktion, die entweder mit Sättigung oder mit einem Energieschub verbunden ist. Zusätzlich
haben diese Speisen häufig einen ähnlichen, oder – wie im Fall des BigMacs
von McDonalds – einen gänzlich identischen Geschmack. Solche Speisen
kommen dadurch einem Bedürfnis
nach Sicherheit entgegen: Sie sind
wiederholt von uns getestet und für
gut befunden worden. Sie versprechen
uns das gleiche Verzehrsglück wie
beim letzten Mal [9]. Eine Hoffnung,
die zusätzlich durch das immergleiche
Ambiente der Fast-Food-Ketten genährt wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen,
dass der Verzehrsakt und die Verzehrssituation hier vereinfacht werden und
jegliche Überformungen, die die
Triebstruktur verdecken sollen, minimiert werden. Diese Simplifizierung
kommt in vielen Punkten unseren
natürlichen Bedürfnissen, wie dem direkten Verzehr oder dem Wunsch nach
Sicherheit, entgegen. Das Prinzip der
gemeinsamen Tischmahlzeit ist hingegen ein Prinzip der kontrollierten
Lustbefriedigung, der Beherrschung
und Kanalisierung. Überspitzt gesagt,
finden wir hier den Gegensatz zwischen Zivilisation und Wildnis.
Allerdings ist unsere kulturelle Wertschätzung ebenso wie unser Verhältnis zur Lust gespalten. Einerseits
möchten wir uns kultiviert geben, andererseits möchten wir unsere Lust direkt befriedigen. Die Bewertung des
kultivierten Essverhaltens fällt im öffentlichen Diskurs positiver aus als die
des simplifizierten Essens. Dabei ist es
nicht nur die Gegenüberstellung des
Kultivierten gegenüber dem vermeintlich Unkultivierten, sondern vor allem
die Zweiteilung von gesundem und
ungesundem Essverhalten, dass zu einer unterschiedlichen Bewertung des
Verzehrsverhalten führt.
Während der formelle Konsument
zufrieden vom Tisch aufsteht, weil er
sich in der Gewissheit wiegen kann,
ein kultiviertes und gesundes und somit auch richtiges Leben zu führen,
wird ein Großteil der Konsumenten
des simplifizierten Essens von Gewissensbissen geplagt.
Da zumindest bisher an der Schwelle zur Currywurstbude alle guten Vorsätze abgelegt werden müssen, und
die direkte Triebbefriedigung sowohl
den Ansprüchen an ein kultiviertes Essen als auch denen an eine gesunde
Ernährung zuwider läuft, ergibt sich
für den Konsumenten zwangsläufig
ein Dilemma. Dieses wird in postmodernen Küchensystemen aufgehoben.
Synthese
Gegenwärtige Küchentrends neigen
dazu, bestehende Zeichensysteme
und kulturelle Zuordnungen aufzulösen und mit ihnen zu spielen. Dabei
werden verschiedene Spannungen
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kreiert, die durch den Bruch von traditionellen Zuordnungen entstehen.
Eine ideale Vermischung der beiden Konsumorientierungen entsteht
dann, wenn die Neukreationen dem
Konsumenten die Möglichkeit geben,
sich auch im simplifizierenden Verzehrsmuster entweder gesund zu
ernähren oder aber distinguiert zu geben.
Eine solche Synthese beider Systeme ist neuerdings beispielsweise bei
McDonalds zu beobachten. Dort wird
nun eine Fruchttüte angeboten, die
aus mundgerechten Apfelstücken und
Trauben besteht und somit alle Voraussetzungen des simplifizierenden
Musters erfüllt (Abb. 3). Der Genuss
kann dennoch mit gutem Gewissen
erfolgen. Ähnliche Vermischungen
sind zum Beispiel am Berliner
Ku´damm zu beobachten, wo an der
Currywurstbude Champagner getrunken wird, wodurch der Konsum zwar
nicht gesund, aber zumindest distinguiert wirkt.
Mit einem weiteren Schritt gelangt
man zu Gerichten, die in besonderer
Weise diese Synthese eingehen und
postmodern sind, indem verschiedene Zeichen und Stile kombiniert und
geordnete Grenzen überschritten werden. Der Prototyp hierfür ist die Tiefkühlpizza „Pizza Ente à l’Orange“.
Diese Tiefkühlpizza ist auf den ersten Blick eine herkömmliche Pizza,
deren Belag mit Entenscheibchen angereichert wird. Das Gericht findet
man im Übrigen saisonal bei der Discountkette Aldi in der Tiefkühltruhe.
Pizza als solche ist bekanntlich eine
Massenspeise, die nach ihrer Etablierung in den 70er Jahren als typisch italienisches Gericht heute als Prototyp
für die „Demokratisierung des Essens“
gilt, da sie unabhängig von Schicht,
Klasse, Einkommen und Bildung von
jedermann konsumiert wird. Zum Verzehr einer Pizza benötigt man kaum
kulinarische Kompetenz. Messer und
Gabel können, nach der Zerteilung,
getrost beiseite gelegt werden.
Bei der „Ente à l‘Orange“ hingegen
handelt es sich um ein Gericht, das
der klassischen gehobenen französischen Küche zuzurechnen ist. Sie ist
ein Festtagsgericht, da sie aus teuren
Zutaten besteht und ihre Zubereitung
sehr arbeitsintensiv ist. Die Herstellung der „Ente à l‘Orange“ setzt kulinarische Kompetenzen voraus, da die
Ente und die entsprechenden Beilagen zunächst
vorbereitet werden
müssen. Es folgt das geschickte Zerteilen des Tieres, um es dann mehr oder
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weniger gerecht auf diverse Teller zu
verteilen. Für den Vorgang der Verteilung braucht man nicht nur handwerkliches, sondern auch soziales Geschick.
Die Kombination „Pizza Ente à
l‘Orange“ hebt somit fast alle Grenzen
des kulinarischen Systems auf und
zwei widerstrebende Tendenzen werden zusammen verkocht. Ente und
Pizza sollen eine Harmonie eingehen,
wobei fundamentale Unterschiede
zwischen Fest und Alltag, alleine speisen und in der Gemeinschaft, teuer
und günstig, Kompetenz und Unkenntnis, leger und formell, arbeitsaufwändig und einfach aufgehoben
werden.
Die Pizza erfährt eine vermeintliche
Aufwertung, die sie zum Moment des
Besonderen, des Exklusiven erheben
soll. Die kulturellen Zeichen, die die
Speise „Ente“ beinhaltet, sollen hier
auf die Pizza übertragen werden. Die
„Pizza Ente à l‘Orange“ bietet dem
Verzehrenden durch Einverleibung
die Möglichkeit, auch noch dem einsamen Verzehr eine festliche Note zu
verpassen. Zugleich wird die „Ente à
l‘Orange“ egalisiert und jedem Konsumenten zugänglich gemacht.
Kurz: Die Haute Cuisine und die mit
ihr assoziativ verknüpfte Kultiviertheit
wird an den heimischen Fernsehtisch
geholt.
Das Gericht steht somit symbolhaft
für ein Bestreben, simple Verzehrsmuster beizubehalten, aber Distinguiertheit und Kultiviertheit einzubinden.
vermag der Punkt kenntlich zu werden, an dem Lust in Frust umschlägt.
Anmerkungen und Literatur:
1. Die Kategorisierung in „Kultivierung und Simplifizierung“ lehnt an die von Gerhard Schulze
vorgenommene Unterteilung in Hochkulturschema, Trivialschema und Spannungsschema an. Vgl. hierzu Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1997, S. 142ff.
2. Eine ausführliche und zudem unterhaltsame
Analyse der Küche als Kommunikationssystem findet sich bei Karmasin, Helene: Die geheime Botschaft unserer Speisen. Was Essen
über uns aussagt, München 1999. Zur Entwicklung des Geschmacksbegriffes und der
Bedeutungsvermischung der sensorischen
und ästhetischen Aspekte siehe Kleinspehn,
Thomas: Warum sind wir so unersättlich?
Über den Bedeutungswandel beim Essen,
Frankfurt am Main 1987, S. 153ff.
3. Eine übersichtliche Darstellung der kulturellen, psychologischen und orosensorischen
Aspekte beim Essen gibt Gniech, Gisela: Essen
und Psyche. Über Hunger und Sattheit, Genuß
und Kultur, Berlin/ Heidelberg 1995.
4. Näheres zum Konsum in den 1950er Jahren
findet sich bei Wildt, Michael: Am Beginn
der „Konsumgesellschaft“. Mangelerfahrungen, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in
Westdeutschland in den fünfziger Jahren,
Hamburg 1994.
5. Dr. Oetker Schulkochbuch, Bielefeld 1956,
ebd. 1962, ebd. 2000.
6. Vgl. Elias, Norbert: Über das Verhalten beim
Essen. In: Ders., Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, Bern/München 1969, S. 162.
7. Vgl. Wildt 1994, a.a.O., hier S. 119.
8. Vgl.: Hirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der
Steinzeit bis heute, Frankfurt am Main 2001, S.
235ff.
9. Siehe hierzu auch Scharfe, Martin: Die groben
Unterschiede. Not und Sinnesorganisation:
Zur historisch-gesellschaftlichen Relativiät
des Genießens beim Essen. In: Tübinger
Beiträge zur Volkskultur 69/1986, S. 13-28.
Fazit/Ausblick
Im Zuge der Entwicklung bundesrepublikanischer Esskultur haben sich
beide Tendenzen, die der Simplifizierung und die der Kultivierung, zu tendenziell schichtübergreifenden Mustern entwickelt. Beide basieren auf
unterschiedlichen Vorstellungen von
Lustgewinn: das eine Mal auf Erhöhung der Lust durch kontrollierte
Lustkultivierung, das andere Mal auf
der schnellen Befriedigung. In postmodernen Küchensystemen sollen
diese Bedürfnisse verschmelzen.
Ernährungsbedingte Krankheiten
stellen heute eine ernorme sozialökonomische und -psychologische Herausforderung dar. Wenn wir Ernährungsverhalten und vor allem Fehlverhalten verstehen wollen, ist es hilfreich sich, mit der jeweils spezifischen
Lust am Essen und mit deren Wandel
auseinander zusetzen. Allein dann
Anschrift der Verfasserin:
Alexandra Deak, M. A.
Freilichtmuseum Domäne Dahlem
Königin-Luise-Str. 49
14195 Berlin
E-Mail: [email protected]
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