Wer bewegt die Selbsthilfe? - Breast Cancer Action Germany

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Wer bewegt die Selbsthilfe? - Breast Cancer Action Germany
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Vereinnahmung, Ökonomisierung, Privatisierung
Orla O’Donovan
Berlin 2011
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Reihe Alternativen 3
… selbstschutz - vernetzung – info …
www.bcaction.de/pdf/alternativen3.pdf
2
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Inhalt
Vorwort
5
Teil I
Orla O’Donovan
Astroturf zwischen den Graswurzeln: Ist es Zeit zum Aussortieren?
Begriffliche Überlegungen zu den Implikationen des Pharmasponsorings von
Gesundheitsorganisationen
7
Teil II
Orla O’Donovan
Die pharmazeutische Industrie und ihre Verfahrensweisen
Industrielle Kolonisierung der Gesundheitsbewegung? Irische Gesundheitsorganisationen
und ihre Verbindungen mit Pharmakonzernen
39
Anhang
Verpflichtende Richtlinie zur Beschaffung von Mitteln durch unterstützende
Organisationen
Übersetzung der „Sponsoren-Richtlinie“ (Drittmittelrichtlinie) von Breast Cancer Action
67
3
Wer bewegt die Selbsthilfe?
4
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Vorwort
Themen wie „Pharmasponsoring“ und „Interes-
die freundliche Genehmigung, ihre Arbeit zu
senkonflikte“ im Zusammenhang mit unserer Ge-
übersetzen und in deutscher Sprache verfügbar
sundheitsversorgung und der Privatisierung von
zu machen. Besonders danken wir Uta Wagen-
Gesundheitsorganisationen und Selbsthilfe wer-
mann für die sorgsame Übersetzung aus dem
den seit einigen Jahren in allen europäischen
Englischen.
Ländern diskutiert. Wir möchten mit dieser
Übersetzung die Arbeiten der irischen Soziologin
Orla O'Donovan ist seit 1995 Dozentin am Uni-
Orla O’Donovan, die bereits länger bei uns
versity College Cork in der Abteilung für Ange-
schlummern, endlich auch unseren LeserInnen
wandte Sozialwissenschaften. Davor arbeitete sie
aus Selbsthilfe, Frauengesundheitsorganisatio-
u.a. an der National University of Ireland in
nen und Frauengesundheitspolitik sowie allen
Galway. Ihre Forschungsarbeiten und Lehre um-
anderen Interessierten besser zugänglich ma-
fassen Gesundheitspolitik und Medizin, Patien-
chen. „Wer bewegt die Selbsthilfe“ ist Teil unse-
tenorganisationen
rer „Reihe Alternativen“, in der bereits „Ein an-
heitsbewegungen, kulturelle und wirtschaftliche
deres Rezept“ von Anne Rochon Ford und
Macht der globalisierten Pharmaindustrie, öf-
„Eine alte Geschichte?“ über die amerikanische
fentliche Kontroversen zu Wissenschaft und
Brustkrebsaktivistin der ersten Stunde, Rose
Technologie sowie Feminismus und Strategien
Kushner, erschienen sind.
des Widerstands.
und
soziale
Gesund-
An dieser Stelle danken wir Orla O’Donovan für
5
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Ein großer Teil ihrer Arbeiten konzentriert sich
in
auf die Aktionen und Arbeiten von PatientInnen-
Arbeiten dazu erhältlich bzw. frei zugänglich. Wir
organisationen und GesundheitsaktivistInnen,
hoffen, mit diesem Beitrag Informationen ganz
die zur Erzeugung von Wissen, Normen und Er-
im Sinne auch von Orla O'Donovan bereitzu-
wartungen in Bezug auf Gesundheit und Gesund-
stellen, die dafür plädiert, dass Forschung nicht
heitswesen beitragen. Orla O’Donovan arbeitet
allein wissenschaftlichen, sondern auch aktivisti-
mit im Projekt „European Patient Organizations
schen Anliegen dienen sollte.
deutscher
Sprache
bisher
nur
wenige
in Knowledge Society” (EPOKS, Europäische
Patientenorganisationen in der Wissensgesell-
Gudrun Kemper, Beate Schmidt
schaft), das von der Europäischen Kommission
über das 7. EU-Forschungsrahmenprogramm
finanziert wird. EPOKS wird koordiniert von der
Ecole Nationale Supérieure des Mines, Paris.
Orla O’Donovan unterrichtet in Ausbildungsgängen für den Bachelor of Social Science in Public
Health und Gesundheitsförderung, im Masterlehrgang Public Health und im Doktorandenlehrgang
Sozialwissenschaften.
Sie
betreut
außerdem Post Graduate-Lehrgänge und Doktorarbeiten.
Uta Wagenmann ist ebenfalls Soziologin. Sie
arbeitet als Autorin, Journalistin, Dozentin und
Redakteurin und ist im Gen-ethischen Netzwerk
engagiert. Sie beschäftigt sich mit Medizin und
Biopolitik, ihre Arbeitsgebiete sind unter anderem die Forschungspolitik in den so genannten
Lebenswissenschaften, Forschungsansätze und
Krankheitsbilder in Biobanken oder das Verhältnis von Patientenorganisationen zur Forschung.
Die geklammerten Literaturhinweise, die im Original zum Teil im Text genannt werden, sind, um
die Lesbarkeit nicht zusätzlich zu erschweren, in
den Übersetzungen mit weiteren Hinweisen und
ggf. Anmerkungen in den Fußnoten am Seitenende zu finden.
Obwohl der schwierige Themenkomplex für ein
Gesundheitswesen fundamental wichtig ist, sind
6
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Astroturf zwischen den
Graswurzeln: Ist es Zeit zum
Aussortieren?
Begriffliche Überlegungen zu
den Implikationen des
Pharmasponsorings von
Gesundheitsorganisationen
Orla O’Donovan
[email protected]
Department of Applied Social Studies
University College Cork, Irland
7
Wer bewegt die Selbsthilfe?
8
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Orla O’Donovan: Time to weed out the astroturf
from the grassroots? Conceptualizing the
implications of pharmaceutical industry funding
of health advocacy organizations
Paper presented at Concepts of the Third Sector:
The European Debate, ISTR/EMES Conference,
Paris, 27-29 April 2005
9
Wer bewegt die Selbsthilfe?
10
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Einführung
en Kategorie der „Astroturf-Organisationen“4
beeinflusst.
Die soziologische Analyse von Gesundheitsorganisationen findet häufig vor dem Hintergrund
Der Begriff „Astroturf-Organisation“ ist mittler-
von Theorien sozialer Bewegung und jüngeren
weile zentral im normativen Vokabular der
Konzepten der Öffentlichkeit statt. Diese For-
(hauptsächlich nordamerikanischen) Aktivisten
schung tendiert dazu, sich auf radikale Organisa-
der Anti-Konzern-Bewegung5, zu denen auch die
tionen zu fokussieren und sie als ‘Organisationen
Kritiker der globalisierten pharmazeutischen In-
sozialer Bewegungen’ oder ‘Gegenöffentlichkeit’
dustrie gehören. Diese Kritiker stehen auf dem
zu konzeptualisieren, die die Dominanz kapitalis-
Standpunkt, dass die Industrie mit ihren Versu-
tischer biomedizinischer Gesundheitsdiskurse in
chen, den pharmakozentrischen Diskurs einer-
Frage stellen. Studien analysieren zum Beispiel
seits zum eigentlichen, hegemonialen Gesund-
bestimmte Gruppen von Menschen mit psychi-
heitsdiskurs zu machen – und dabei von sich
schen Erkrankungen als Organisationen sozialer
selbst andererseits das Bild eines wohltätigen
Bewegung und als ‘praktizierte Utopie’, die dafür
Partners in der Gesundheitsversorgung zu ver-
kämpfen, die Hegemonie der Psychiatrie zu ent-
breiten –, eine Schlüsselstrategie verfolgt. Diese
machten und die Wahrnehmung, das Denken,
Schlüsselstrategie bestehe darin, ihre bisherige
das Handeln und das Sprechen im Hinblick auf
Feindseligkeit gegenüber Patientengruppen –
psychische Gesundheit zu verändern.1 Ganz ähn-
und Gesundheitsorganisationen grundsätzlich –
lich werden einige AIDS-Organisationen als sozi-
aufzugeben und ihre Existenz als Gelegenheit an-
ale Bewegungen analysiert, die Alternativen zum
statt als Bedrohung zu betrachten.6 Zu dieser
Seuchendiskurs entwickelt haben und als Gegen-
Strategie gehöre nicht nur die Pflege enger Bezie-
öffentlichkeit mit dem Staat interagieren.2
hungen
mit
Patientenorganisationen
durch
‚selbstlose’ Spenden, sondern auch die direkte
Jüngere Forschungen, die sich auf die zuneh-
Gründung solcher Organisationen.
mende Tendenz der globalisierten pharmazeutischen Industrie richten, enge Beziehungen mit
Patientengruppen zu pflegen - insbesondere auf
dem Gebiet von Brustkrebs -, lenken größere
Aufmerksamkeit auf Organisationen, die zur Intensivierung der Dominanz kapitalistischer Biomedizin beitragen.3 Diese Forschungen haben
erneute Versuche angestoßen, zwischen verschiedenen Typen von Gesundheitsorganisationen zu
unterscheiden und sie haben auch die folgenden
Überlegungen zu der kürzlich konstruierten, neu-
Crossley 1999; Crossley and Crossley 2001.
Gamson 1989; Brouwer 2001.
3 Klawiter 1999, Pezzullo 2003, Blackstone 2004.
1
2
Auch im deutschsprachigen Raum wird mittlerweile der
Begriff „Astroturfing“ (s.a. Wikipedia
http://de.wikipedia.org/wiki/Astroturfing) benutzt. Astroturf,
dt. Kunstrasen, meint hier künstliche Interessenvertretungsbzw. Basisorganisationen. Als „Astroturf“ bezeichnetes synthetisches Gras wurde 1965 durch den Bau des AstroDome
in Houston (USA) bekannt, der damals größten Sporteinrichtung der Welt. Er wird im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch verwendet als Gegenpol zum englischen Wort für
„Basisbewegung“, den „grassroots movements“ (wörtlich:
„Graswurzelbewegungen“), und bedeutet soviel wie „vorgebliche“ bzw. „künstliche Basisbewegung“.
5 Im Original: „anti-corporate movement”; wörtlich übersetzt
und auch so verwendet: Anti-Konzern-Bewegung. Eine
deutschsprachige Entsprechung ist auch “Anti-Privatisierungs-Bewegung”, deren AktivistInnen sich in Europa häufiger auch in den Reihen der Globalisierungskritiker (wie z.B.
Attac) finden.
6 Lofgren 2004.
4
11
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Mit dem Begriff „Astroturf-Organisation“ sind
Studie und einer Präsentation von Ergebnissen
Gruppierungen gemeint, die durch Unternehmen
einer Befragung von 109 Organisationen, die
gegründet und/oder gänzlich von ihnen finan-
2004/2005 durchgeführt wurde. Die Feldarbeit
ziert werden. Ihre Kritiker behaupten, sie würden
für die primär qualitativen Dimensionen der Stu-
ein falsches Bild des öffentlichen Interesses ver-
die, die aus vier Fallstudien von Gesundheitsor-
breiten und den schädlichen Einfluss der phar-
ganisationen besteht, befindet sich in einem frü-
mazeutischen Industrie auf die nationale und in-
hen Stadium. Zum zweiten gehe ich näher auf die
ternationale Gesundheitspolitik verstärken. Eine
Unterscheidung zwischen Astroturf- und authen-
dieser Kritikerinnen des von Konzernen domi-
tischen
nierten Diskurses über Brustkrebs erklärt die
Evokation durch Konzernkritiker und Wissen-
Strategie folgendermaßen: „Einer ihrer bevorzug-
schaftler ein. Drittens untersuche ich, wie Er-
ten Werbegags besteht darin, das ins Leben zu
kenntnisse aus der Theorie der Öffentlichkeit he-
rufen, was wir als ‚Astroturf-Organisation’ be-
rangezogen werden können, um zum einen die
zeichnen. Sie gründen falsche Selbsthilfegrup-
Kritik des Pharmasponsorings von Gesundheits-
pen,7 und diese Scheinorganisationen sind dann
organisationen zu vertiefen, die im Begriff „Ast-
ihr Sprachrohr in der Öffentlichkeit. Das haben
roturf“ aufscheint, und zum anderen, um die Be-
sie oft gemacht ... mittels dieser Gruppen erzäh-
griffe „Astroturf“- und „authentische“ Basis-
len sie ihre
Lügen.“8
Graswurzel-Organisationen
und
ihre
Wiederholt wurde daher ge-
organisationen sowohl als analytische wie als
fordert, diese Astroturf- von den authentischen
empirische Kategorien zu hinterfragen. Darüber
Graswurzel-Organisationen zu trennen oder sie
hinaus diskutiere ich, inwiefern Studien zur Öf-
zumindest zu ‚outen’, insbesondere im Zusam-
fentlichkeit Untersuchungsansätze im Bereich
menhang mit ihrer Lobbyarbeit und ihren Reprä-
der Gesundheitsorganisationen bieten.
sentationsansprüchen.
Alles in allem unterstreicht diese Diskussion die
Im vorliegenden Text untersuche ich den Dua-
Bedeutung von Versuchen, die Prozesse, mit
lismus von „Astroturf“- und den ihnen gegenüber
denen die Privatisierung von Öffentlichkeit durch
gestellten „authentischen“ Basisorganisationen
Unternehmen stattfindet, offen zu legen und
bei der Unterscheidung verschiedener Typen von
ihnen zu widerstehen. Allerdings meine ich, dass
Gesundheitsorganisationen kritisch. Insbesonde-
wir uns dabei vor einem strengen Gut/Böse-
re interessiert mich der Nutzen dieser Kategorien
Dualismus wie etwa dem von „Astroturf“- und
in Bezug auf eine Studie, an der ich zurzeit arbei-
„authentischen“ Basisorganisationen in Acht neh-
te und in der ich die Interaktionen zwischen iri-
men müssen. So wie die Öffentlichkeit ein Ideal
schen Gesundheitsorganisationen und der phar-
ist, sind es auch Graswurzel-Organisationen. Die
mazeutischen Industrie betrachte.
Vereinnahmung durch Unternehmen ist eine von
vielen Formen, mit denen die Fähigkeit zivilge-
Ich beginne mit einem kurzen Überblick über die
sellschaftlicher
Organisationen
eingeschränkt
wird, die Stimme Marginalisierter zu artikulieren.
7
Im Original „grassroots groups“. Eine passende Übersetzung gibt es dafür nicht, aber „Selbsthilfegruppen“ oder
„Patientengruppen“ sind Entsprechungen im Deutschen.
8 Pezzullo 2003, S.360.
Ebenso kann die fehlende Berücksichtigung des
idealtypischen Charakters des Begriffs „AstroturfOrganisation“ dazu führen, dass wir die häufig
12
Wer bewegt die Selbsthilfe?
gegensätzliche Natur von Organisationen über-
sationen in Irland.10 Einige Kommentatoren wei-
sehen, die sowohl konservative wie auch anti-
sen darauf hin, dass sich in Irland seit den 1970er
hegemoniale Dimensionen haben können.
Jahren Selbsthilfegruppen für Menschen mit speziellen gesundheitlichen Einschränkungen entfal-
Indem unser Verständnis von Gesundheitsorga-
tet haben, und meinen, dass dies den globalen
nisationen auf diese Weise hinterfragt wird, fin-
Aufstieg von – demokratisierenden – Verbrau-
den wir uns allerdings auch vor eine Herausfor-
cherbewegungen widerspiegelt.11 Im Licht der
derung gestellt, die die Spannungen zwischen
Diskussionen über das „Astrotruf-Prinzip“ – mit
wissenschaftlichen Anliegen und solchen von
denen ich erstmals durch mein Engagement bei
Aktivisten deutlich macht. Die Berücksichtigung
Health Action International Europe, dann aber
der genannten Nuancen und Komplexitäten kann
auch durch meine direkte Beteiligung und For-
Bemühungen untergraben, der Privatisierung der
schung zu weiteren Organisationen in Berührung
Öffentlichkeit zu widerstehen, weil die „Benen-
kam – entstand bei mir schnell das Gefühl, dass
nung des Feindes“ schwieriger wird.9
eine solch euphorische Begrüßung des Wachstums ziviler Zusammenschlüsse der Mäßigung
bedarf.12
Die Studie zu
Obwohl es eine seit langem etablierte Tradition
Gesundheitsorganisationen in Irland
von Verbandsaktivitäten in Irland gibt, die einige
oppositionelle Organisationen einschließt, ist die
In den vergangenen zehn Jahren haben in Irland
beherrschende Kultur in irischen zivilgesell-
bestimmte
eine
schaftlichen Zusammenschlüssen konservativ.13
Schlüsselrolle bei der Entstehung öffentlicher
In der irischen Frauenbewegung beispielsweise
Debatten zur Gesundheitsversorgung gespielt.
überwog
Auseinandersetzungen - wie etwa die mit der In-
mus.14
fektion von Patienten durch kontaminiertes Blut
len Organisationen auf dem Land, deren Ideolo-
des staatlichen Bluttransfusionsdienstes - haben
gien durch einen kommunitären Populismus und
dazu beigetragen, den verheimlichenden und hie-
die Leugnung von Klassengegensätzen gekenn-
rarchischen Charakter des irischen Gesundheits-
zeichnet sind.15 Die politische Kultur Irlands wird
systems und die iatrogenen (Krankheit produzie-
als intolerant gegenüber anderen Meinungen
renden)
bio-
charakterisiert, was eine schwache Öffentlichkeit
medizinischer Praktiken und Diskurse offen zu
zur Folge hat.16 Der Aufstieg des Nationalismus
legen. Eine Reihe von Organisationen hat
und die damit verbundenen Mythen über ge-
wesentlichen Anteil daran gehabt, diese Kontro-
meinsame Interessen des irischen Volkes, die
Gesundheitsorganisationen
Konsequenzen
bestimmter
der
liberale
‘mainstream’-Feminis-
Ganz ähnlich ist es mit vielen kommuna-
versen in die Öffentlichkeit zu bringen.
Obwohl einzelne Patientenorganisationen Gegenstand von Analysen waren, wissen wir wenig über
den allgemeinen Charakter von Patientenorgani9
Starr 2000.
Spray 1998, Speed 2002.
Condell 1998.
12 O’Donovan 2000; O’Donovan and Ward 1999.
13 Donnelly-Cox, Donoghue and Hayes 2001.
14 Galligan 1998.
15 Varley and Curtin 2002.
16 O’Carroll 2002.
10
11
13
Wer bewegt die Selbsthilfe?
nach der 1922 erreichten teilweisen Unabhängig-
Organisationen geht, die unterschiedliche ideolo-
keit von Großbritannien aufblühten, haben zu
gische Orientierungen widerspiegeln. Das vierte
dieser Verarmung öffentlicher Debatten beigetra-
Ziel der Studie besteht darin, das Pharmaspon-
gen.
soring von Gesundheitsorganisationen in Irland
zu untersuchen und dessen Ausmaß und Formen
In den letzten Jahrzehnten interagieren zivilge-
zu beleuchten. Zusätzlich zu der Befragung und
sellschaftliche Organisationen zunehmend im
den Fallstudien von Gesundheitsorganisationen
Kontext unternehmerischer Modelle ‘sozialer
umfasst dies eine Befragung irischer pharmazeu-
Partnerschaft’ mit dem Staat. Einige Kommenta-
tischer Unternehmen.
toren meinen, dass diese partnerschaftlich erscheinenden Interaktionen zwischen Staat und
Zivilgesellschaft das Aufkommen einer neuen
Form der partizipatorischen Demokratie verkör-
Die Befragung irischer Gesundheits-
pern; andere behaupten, sie hielten den Mythos
organisationen
des Konsenses aufrecht und würden die Möglichkeiten eines lebendigen öffentlichen Dialogs un-
Im Jahr 2004 stellte ich eine Datenbank mit In-
tergraben.17 Unsere Studie versucht deshalb, em-
formationen über 191 Gesundheitsorganisationen
pirisch zu untersuchen, in welchem Ausmaß sich
zusammen. Im Dezember 2004 wurde ein 26-
aus der angeblich wachsenden Anzahl von Pati-
seitiger Fragebogen per Post – und, wo möglich,
entenorganisationen in Irland auf eine Pluralisie-
auch per eMail – verschickt, der Informationen
rung des Gesundheitsdiskurses und auf lebendige
über den Hintergrund, die Größenordnung und
Öffentlichkeiten, in denen dominante Gesund-
die Aktivitäten (inklusive der Beziehungen zur
heitsdiskurse umstritten sind, schließen lässt.
pharmazeutischen Industrie) abfragte. Followup-Telefonanrufe folgten, und eine kleine Anzahl
Die Studie hat vier Ziele. Erstens wollen wir
von Fragebogen (fünf) wurde durch Telefoninter-
einen analytischen Rahmen entwickeln, in dem
views vervollständigt. Von 24 Organisationen
irische Gesundheitsorganisationen verortet und
kamen Antworten, die darauf hinwiesen, dass die
verstanden werden können. Der vorliegende Text
Organisation nicht mehr arbeitete oder wegen
bezieht sich hauptsächlich auf diesen Aspekt der
eines Namenswechsels in der Datenbank doppelt
Studie. Eine zweite Dimension der Untersuchung
vorkam. Die Anzahl der Organisationen in der
ist die Befragung von Gesundheitsorganisatio-
Datenbank wurde so auf 167 reduziert. Insgesamt
nen, deren Zweck darin besteht, Daten über die
wurden 109 vollständige Fragebogen zurückge-
Hintergründe,
schickt, das entspricht einem Rücklauf von 65
Aktivitäten,
Größenordnungen
und Interaktionen mit der pharmazeutischen
Prozent.
Industrie der Organisationen zu erhalten. Diese
Befragung ist darüber hinaus Grundlage für den
Die Daten der Befragung stützen die Annahme,
dritten Strang der Studie, in dem es um die Aus-
dass es in den vergangenen Jahrzehnten eine
arbeitung vertiefter Fallstudien einer Anzahl von
Blüte von Verbandsgründungen auf dem Gebiet
der Patientenvertretung gegeben hat. Nur 18 Prozent der befragten Organisationen wurden vor
17
Meade and O’Donovan 2002.
14
Wer bewegt die Selbsthilfe?
1970 gegründet. Die Daten deuten auch darauf
nen oder für Bildungszwecke zur Verfügung ge-
hin, dass irische Gesundheitsorganisationen sich
stellt worden seien. Andere Zwecke, für die
in ihrer Geschichte, ihrer Größenordnung, ihren
Pharma-Gelder flossen, waren die Entwicklung
Ressourcen und ihren Aktivitäten stark unter-
und der Betrieb von Internetseiten, die Publikati-
scheiden. Ein für die vorliegende Diskussion
on von Newslettern, die Teilnahme an oder die
zentrales Ergebnis der Befragung: 42 Prozent der
Ausrichtung von Konferenzen und für die medi-
Organisationen, die geantwortet haben, gaben an,
zinische Forschung. Zusätzlich zum Ausfüllen der
von der pharmazeutischen Industrie gefördert zu
Fragebogen wurden die Organisationen darum
werden. Bei formalisierteren Organisationen (mit
gebeten, Kopien ihrer Jahresberichte und andere
dem rechtlichen Status einer
GmbH18
oder mit
Publikationen wie etwa Newsletter oder Patien-
dem Status der Steuerbefreiung wegen Gemein-
ten-Informationsbroschüren zu schicken und
nützigkeit) war ein pharmazeutisches Sponsoring
Details zu ihrem Internetauftritt zu nennen (82
deutlich wahrscheinlicher als bei informellen
Prozent hatten Websites). Genaue Informationen
Organisationen, wie etwa an andere nationale
über Mittel der pharmazeutischen Industrie fin-
oder internationale Organisationen angeschlos-
den sich in den Publikationen der Organisationen
sene Gruppierungen.
generell nicht. Ein Drittel der befragten Organisationen (33 Prozent) berichtete, dass sie keine
Dass 65 Prozent der Organisationen an internati-
Jahresabschlüsse veröffentlichen. Unter ihnen
onale
waren,
waren Organisationen mit beträchtlichen Bud-
macht noch einmal deutlich, dass die Analyse
gets, die Mittel von der pharmazeutischen
dieser Art von kollektiver Aktion allein im natio-
Industrie erhielten.
Organisationen
angeschlossen
nalen Kontext unangemessen ist. Während das
Pharmasponsoring in Organisationen, die bezahl-
Diese Ergebnisse gleichen denen von Studien der
te Mitarbeiter und ein Büro unterhalten, wahr-
Beziehungen zwischen Patientenorganisationen
scheinlicher ist - mit Ausnahme von Organisatio-
und der Pharmaindustrie in anderen europäi-
nen mit sehr begrenzten Finanzen (das heißt ei-
schen Ländern. Eine 2003 durchgeführte Befra-
nem Jahresbudget von weniger als 1.000 Euro) -,
gung von 85 finnischen Patientenorganisationen
haben sowohl Organisationen mit bescheidenen
kam zu dem Ergebnis, dass die Pharmaindustrie
wie solche mit beträchtlichen Jahresbudgets Gel-
für ähnliche Zwecke Mittel bereitstellte, obwohl
der von der pharmazeutischen Industrie erhalten.
der Anteil der Empfänger von Industriesponsoring unter den Patientenorganisationen mit 71
Eine Reihe von Organisationen antwortete auf
Prozent dort größer war als in der irischen Stu-
die Frage nach dem Zweck, zu dem die Mittel
die.19 In einer Befragung von 123 britischen Ver-
bereitgestellt wurden, es handele sich um eine
braucherorganisationen im Gesundheitsbereich
„allgemeine Spende“, eine „zweckungebunde Fi-
im Jahre 1999 gaben über 60 Prozent an, in Kon-
nanzierung“ oder eine „bedingungslose Spende“.
takt mit der pharmazeutischen Industrie zu ste-
Allerdings war die häufigste Antwort auf diese
hen. Dieser Kontakt sei auf Themen wie die Er-
Frage, dass die Mittel für Öffentlichkeitskampag-
höhung der öffentlichen Aufmerksamkeit und auf
18
In Irland: Limited Company.
19
Toiviainen, Viorenkoski and Hemminki 2004.
15
Wer bewegt die Selbsthilfe?
das Sponsoring von Publikationen, Treffen und
Konferenzen
gerichtet.20
denen Partnerschaftsinitiativen teil, begann aber
Eine andere im Rahmen
1987 als von Freiwilligen betriebener Ad-hoc-
einer vergleichenden Analyse von britischen und
Zusammenschluss von Gruppen HIV-Positiver.
US-amerikanischen Zusammenschlüssen durchgeführte Befragung von 220 Patientenorganisati-
Cuidu - The Irish Childbirth Trust [eine Organi-
onen in Großbritannien kam unter anderem zu
sation, die werdende und junge Eltern unter-
dem Schluss, dass US-amerikanische Patienten-
stützt] wurde ebenfalls ausgewählt, weil die Or-
zusammenschlüsse in Bezug auf Angestellte,
ganisation angab, dass sie das Sponsoring durch
Büroraum und allgemeine Finanzen zumeist bes-
Hersteller von Babynahrung ablehnt. Obwohl die
ser ausgestattet sind. Darin zeigt der Autor Wood
Babynahrungsindustrie sich von der pharmazeu-
unter Verweis auf das, was er die ‘Kolonisierung’
tischen Industrie unterscheidet, wählten wir die
von Patientenzusammenschlüssen nennt, aller-
Organisation nichtsdestotrotz aus, und zwar
dings, dass die hauptsächlichen Kolonisatoren
nicht nur wegen der Ablehnung des Industrie-
forschungsorientierte Ärzte und Pharmaunter-
sponsorings aus bestimmten Quellen, sondern
nehmen waren.21
auch, weil es eine lange bestehende Organisation
ist, die vollständig von Freiwilligen betrieben
Im Rahmen der Befragung wurden aber nicht nur
wird. Sie reflektiert damit einen atypischen orga-
Daten generiert, mit denen Gesundheitsorganisa-
nisatorischen Weg im irischen Kontext: 72 Pro-
tionen in Irland allgemein porträtiert werden
zent der befragten Organisationen unterhält be-
können. Die gesammelten Angaben wurden zu-
zahlte Mitarbeiter.
sammen mit den Dokumentationen der Organisationen darüber hinaus dazu genutzt, für eine
Die dritte ausgewählte Organisation ist AWARE,
vertiefte Fallstudien-Analyse vier Organisationen
eine Organisation für psychische Gesundheit, die
auszuwählen, die unterschiedliche Orientierun-
dafür arbeitet, „die Depression zu besiegen“. Sie
gen widerspiegeln. Zwei Organisationen wurden
gab an, für ihre jährliche landesweite ‚Woche der
ausgewählt, deren Antworten vermuten ließen,
Depression’22 Mittel der pharmazeutischen In-
im Widerspruch zu der von Bruce Woods ange-
dustrie erhalten zu haben. Außerdem erhielt ihre
sprochenen Art der Kolonisierung durch Konzer-
Schwesterorganisation in Nordirland 2004 eine
ne zu stehen. Eine der beiden ist die AIDS-Allianz
von zehn von GlaxoSmithKline (GSK) an briti-
Dublin (Dublin AIDS Alliance, DAA), die auf die
sche Gesundheitseinrichtungen vergebenen Aus-
Frage nach einer Finanzierung durch die phar-
zeichnungen. GSK steht im Zentrum einer Kon-
mazeutische Industrie wie folgt antwortete: „DAA
troverse zum Medikament Seroxat und es wurde
vertritt eine Politik, die die Annahme von Mitteln
entschieden, dass es von Interesse ist, die Ansich-
der pharmazeutischen Industrie aufgrund von
ten der Organisation in dieser Auseinanderset-
deren Vorgehen bei der Verteilung und den Kos-
zung zu erkunden.
ten von HIV/AIDS-Medikamenten in Entwicklungsländern nicht erlaubt.“ DAA beschäftigt
Die vierte Organisation ist die Irische Plattform
heute neun Angestellte und nimmt an verschie-
für Patientenorganisationen, Wissenschaft und
20
21
Baggott, Allsop and Jones 2004.
Wood 2000, S.17.
22 Im Original „depression awareness week“, also „Woche
der Aufmerksamkeit für Depression“.
16
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Industrie (Irish Platform for Patients’ Organi-
Kapitalisten stehend betrachtet wurden.23 Diese
zations, Science and Industry, IPPOSI). Diese
jüngste Welle des Bewegungsaktivismus ist als
Dachorganisation ist nach dem Vorbild der
Zusammenführung von ‘alten’ und ‘neuen’ sozia-
Europäischen Plattform für Patientenorganisati-
len Bewegungen bezeichnet worden, als eine
onen gestaltet, der sie auch angehört. Sie tritt für
Wiedervereinigung der Politik der Umverteilung
eine enge Zusammenarbeit zwischen Patienten-
mit der Politik der Anerkennung.24
organisationen und der pharmazeutischen Industrie ein. Im organisationseigenen Informations-
Wenn die Bewegung auch heterogen ist und
material wird IPPOSI als „Koalition zwischen
unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen,
Patienten, Wissenschaft und Industrie“ beschrie-
gegen was sie sich richtet, so werden jedenfalls
ben, die darauf gerichtet ist, „die zur Förderung
(globale) Konzerne als Feind angesehen.25 Sie
der frühen Entwicklung von Therapien in ganz
werden als inhärent antidemokratische Organisa-
Europa notwendigen gesetzlichen und verwal-
tionen verstanden, die nicht nur bereit dazu sind,
tungsrechtlichen Verfahren zu verbessern.“
in nicht-demokratischen Ländern zu operieren,
sondern auch demokratische Prozesse und Insti-
Die Fallstudien-Analyse dieser Organisationen
tutionen so zu manipulieren, dass sie ihren
wird hoffentlich Licht auf die Faktoren werfen,
kommerziellen Interessen dienen.
die zu differenzierteren Interpretationen des
Industriesponsorings und dem unterschiedlichen
Insbesondere im Kontext staatlicher Regulierung
Umgang damit geführt haben. Wie aus der fol-
der pharmazeutischen Industrie in den USA und
genden Diskussion ersichtlich wird, legen die
Großbritannien ist empirisch gezeigt worden,
Diskurse der Konzern-Kritiker nahe, die ersten
dass private kommerzielle Interessen sich gegen-
beiden Organisationen als „authentische“ Basis-
über öffentlichen Interessen der Gesundheitsver-
organisationen zu verstehen, während die letzte-
sorgung durchsetzen; dass sie den Vorrang erhal-
ren beiden sich nach dieser Lesart in der für
ten, gilt als Beweis für eine „Vereinnahmung der
künstliche Gruppen typischen Gefahr befinden,
Regulierung“.26 Marcia Angell, frühere Chefre-
von Unternehmen kolonisiert zu werden.
dakteurin des New England Journal of Medicine,
meint, dass die US-amerikanische Regulierungsbehörde (Food and Drug Administration, FDA)
im vergangenen Jahrzehnt zunehmend von der
Der Dualismus von Astroturf und
pharmazeutischen Industrie vereinnahmt wur-
Graswurzel
de.27 Dabei wurde die FDA einst als Paradebeispiel
Die am stärksten wahrgenommenen Äußerungen
einer
starken
staatlichen
Regulierung
betrachtet.
der gegen Ende des 20. Jahrhunderts aufgekommenen Anti-Konzern-Bewegung waren die Pro-
Dieser Prozess der Eroberung, in deren Verlauf
teste gegen Institutionen wie die Welthandelsorganisation und den Internationalen Währungs-
Sklair 2002.
Crossley 2003.
25 Starr 2000.
26 Abraham 1995.
27 Angell 2005.
23
24
fonds, die als im Dienste der Interessen globaler
Unternehmen und der transnationalen Klasse der
17
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Regulierungsbehörden sich die Perspektive der-
Organisationen in den USA auf, so etwa die wohl-
jenigen Industrien zu eigen machen, die sie
tätig klingende Alliance to keep America wor-
angeblich regulieren, ist dem Prozess verwandt,
king (etwa: Allianz für den Erhalt von Arbeits-
den der Begriff ‚Astroturf’ nahe legt: Er bezieht
plätzen in Amerika), den American Council on
sich auf Gruppen, die von der pharmazeutischen
Science and Health (Amerikanischer Rat für Wis-
Industrie in ähnlicher Form vereinnahmt werden
senschaft und Gesundheit) und das Institute for
und die auf eine Art operieren, die die Interessen
Justice (Institut für Gerechtigkeit).30
der Industrie unterstützt.
In einer in PR Watch veröffentlichten Rezension
Veröffentlichungen des US-amerikanischen Zent-
von Sharon Beder’s Buch Global Spin: The Cor-
rums für Medien und Demokratie (Center for
porate Assault on Environmentalism31 von 1998
Media and Democracy) liefern ein gutes Beispiel
wird die Autorin dafür gelobt, Licht auf das Drei-
für den Gebrauch des Dualismus von Astroturf-
gespann zu werfen, das das 20. Jahrhundert ge-
und authentischer Basisbewegung in Diskursen
formt habe: Das Wachstum der Demokratie, das
der
Anti-Konzern-Bewe-
Anwachsen privater Macht und die Zunahme von
gung. Das Zentrum kündigt sich selbst als „eine
unternehmerischer Werbung als Mittel, private
Non-Profit-Organisation“ an, die „durch die Un-
Macht vor der Demokratie zu schützen. Die
terstützung von Medien, die von, durch und für
Gründung von künstlichen Interessenvertretun-
Menschen gemacht werden – das heißt wirklich
gen32 wird von Beder als eine relativ junge
informativ und weitgehend partizipativ – und
Unternehmenstaktik benannt, die dazu diene,
durch die Beseitigung von Hindernissen und
demokratische Institutionen und Prozesse zu
Verwerfungen der modernen Informationsland-
untergraben, die Konzerninteressen bedrohen.
schaft, die durch regierungs- oder unterneh-
Sie gibt detaillierte Beschreibungen einer Reihe
mensdominierte, hierarchische Medien entstan-
antidemokratischer Taktiken, die vom Privatsek-
den sind, für die Stärkung der Demokratie arbei-
tor angewendet werden und zu denen auch die
tet“. Dem geschäftsführenden Direktor des Zent-
Einrichtung solcher „Frontgruppen“ gehört. Der
rums zufolge ist „Interessenvertretung28 zu einem
Rezensent stellt diesen Gruppen „echte Bürger-
hierarchischen,29
privaten Unternehmen gewor-
initiativen“ und „echte soziale Bewegung(en)“
den“ und es gebe kaum noch „eine echte politi-
gegenüber und argumentiert, dass Aufmerksam-
sche
Astroturf-
keit gegenüber solchen Taktiken notwendig sei,
Prinzip als Taktik, so wird argumentiert, ersetze
um zu verstehen, „wie öffentliche Meinung und
die Unterwanderung und ordne „Angebote von
Politik in modernen Gesellschaften geformt und
Konzernen an Interessenvertretungen dem Weg
miteinander verflochten sind“.33 Beder unter-
des Geldes, der Macht und des Zugangs zum poli-
streicht in dem rezensierten Buch die Rolle, die
tischen System unter“. PR Watch, der Newsletter
PR-Firmen beim Ersinnen und Umsetzen der
des Zentrums für Medien und Demokratie, listet
Astroturf-Taktik gespielt haben. Während von
nordamerikanischen
Interessenvertretung“.
Das
eine Reihe von unter falscher Flagge segelnden
30
Alle Zitate und Angaben siehe Savage 1995, S.9
Etwa: Die globale Spirale: Der Anschlag der Konzerne auf
die Umweltschutzbewegung.
32 Im Original „Astroturfism“
33 Rampton 1998.
31
Im Original „grassroots politics“
Im Original: „top-down“, das heißt „von oben nach unten
regiert“.
28
29
18
Wer bewegt die Selbsthilfe?
ihnen in den 1980er Jahren so gut wie nichts zu
Zeitschriften zu finden. In einem Artikel in
hören war, entwickelten sie sich in den USA Ende
E Magazine, herausgegeben von der US-Umwelt-
der 1990er Jahre zu einer 800 Millionen Dollar-
organisation Earth Action Network, berichtet
Industrie. Beder stellt fest, dass einige PR-
David Helvarg, dass die Taktik des Aufbaus
Firmen sich als Kommunikationsexperten für die
künstlicher Basisorganisationen ihre Ursprünge
Öffentlichkeitsarbeit von Basisorganisationen auf
in den ‘greenwashing’ genannten Aktivitäten von
das ‘Coalition Building’ spezialisieren, das heißt
US-Unternehmen hat.36 Diese seit den 1970er
auf
Anzahl
Jahren zu beobachtenden Aktivitäten wurden von
zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Unter-
dem Anliegen getrieben, die Kritik der Umwelt-
Lobbyarbeit34.
Beder bringt das
bewegung abzuwehren, und bedeuten, dass
Beispiel von Bonner & Associates, zu deren Kun-
Unternehmen durch große Investitionen in die
den die Association of International Auto Manu-
Öffentlichkeitsarbeit ökologisches Bewusstsein in
facturers (Verband der Internationalen Autoher-
ihr Image integrieren,37 statt den eigentlichen
steller) gehört. Die Firma „bewerkstelligte es, ei-
Betrieb umweltfreundlicher zu gestalten. Ein Bei-
nige große zivilgesellschaftliche Gruppen, die
spiel einer solchen Gruppe sind die Concerned
keinerlei finanzielles Interesse an der Sache hat-
Alaskans for Resources and the Environment
ten, dazu zu bringen, gegen Änderungen des Ge-
(Besorgte Einwohner von Alaska für Ressourcen
setzes [für saubere Luft] Lobbyarbeit zu machen.
und Umwelt). Die Gruppe wurde mit finanzieller
Die Änderungen hätten Autohersteller dazu ver-
Unterstützung der Holzindustrie gegründet, um
pflichtet, energieeffizientere Autos zu bauen“.
für eine Erweiterung der klar umrissenen Abhol-
Laut Beder versetzen solche Gruppen „Unter-
zungsgebiete in einem Nationalpark in Alaska zu
nehmen in die Lage, an öffentlichen Debatten
kämpfen. Laut Helvarg „wurde diese Taktik zu
und Regierungsanhörungen unter dem Deck-
einem Muster für andere Industrien, die mit an-
mantel der gesellschaftlichen Bedeutung teilzu-
deren Problemen kämpfen“. Ganz ähnlich ent-
nehmen“, und stellen private Interessen so dar,
larvt ein Artikel in einer 1997er Ausgabe von Mo-
als würden sie mit einem „höheren öffentlichen
ther Jones die „Global Climate Coalition“ als ein
Interesse“ übereinstimmen.35
Beispiel für die Mobilisierung von „künstlichen
die
Sammlung
stützung privater
einer
großen
Graswurzel-Truppen an der Basis“, die LobbyarBeispiele für die Demaskierung von Astroturf-
beit gegen den in Kyoto verhandelten Vertrag zur
Gruppen sind in vielen anderen ähnlichen US-
Bekämpfung des Klimawandels machten.38
Anmerkung d. Hg. zur Situation in Deutschland: Genau
dies ist beispielsweise im Zusammenhang mit Brustkrebs,
zum Beispiel bei der „Koalition Brustkrebs“ etwa ab dem
Jahr 2000, passiert. Selbsthilfegruppen, die teilweise selbst
bereits industriell gesponsert wurden, erhielten von Konzernen beiseite gestellte Expertinnen, Gelder usw. mit dem
Ziel, weit reichende Veränderungen der medizinischen Versorgung von Brustkrebs in Deutschland - wie Etablierung
des Mammographie-Screenings, Einrichtungen von Brustzentren, in denen Patientinnen vermehrt in klinische Studien
eingeschrieben werden etc. - zu erreichen. Quelle: Koalition
Brustkrebs: Brustkrebs - Frauen in Deutschland auf dem
Weg nach Europa. 1. Aufl., März 2002.
35 Beder 1998, S.3.
34
In dieser Art von Literatur werden die Akteure in
den angeblich pseudo-öffentlichen Organisationen häufig so dargestellt, als seien sie naiv, würden hinters Licht geführt und unwissentlich die
Verzerrung der öffentlichen Meinung und Debat-
Helvarg 1996.
Im Original: „greening corporations image“’, also wörtlich
„das Firmenimage begrünen“.
38 Hammond 1997.
36
37
19
Wer bewegt die Selbsthilfe?
te ermöglichen. Das wird beispielsweise in dieser
werden kann, gibt es viele Beispiele für Aufklä-
Begriffsdefinition offensichtlich: Eine Astroturf-
rungsarbeiten darüber, wie die pharmazeutische
Organisation sei die „direkte Herstellung öffentli-
Industrie in die Kultivierung von Astroturf- oder
cher Unterstützung für eine bestimmte Sichtwei-
Schein-Patientenorganisationen verwickelt ist.
se, bei der entweder einheitlich agierende Akti-
Unter der Überschrift „Astroturf-Gruppen ver-
visten rekrutiert werden oder Instrumente der
schaffen der Pharmaindustrie noch mehr Ein-
Täuschung genutzt werden, um sie zu rekrutie-
fluss“ berichtete 2002 ein Artikel des Center for
ren“.39 In einem Kommentar zur Mobilisierung
Media and Democracy (Zentrum für Medien und
von Gruppen, die die Privatisierung des sozialen
Demokratie) über Millionen-Dollar-Werbekam-
Sicherungssystems in den USA unterstützen,
pagnen im Fernsehen durch industriegeförderte
meint Jason Pramas, nationales Vorstandsmit-
Gruppen, die sich gegen eine Kostensenkung bei
glied der Gray Panthers (Graue Panther), diese
verschreibungspflichtigen Medikamenten aus-
Gruppen seien „Astroturf-Organisationen im Stil
sprechen.41
sozialer Bewegungen, die hauptsächlich auf dem
Papier existieren“.40 Aber, so sagt er weiter, auch
Die United Seniors Association (Verband der
„wirklich fortschrittliche Gruppen“ würden „in
Vereinten Senioren) ist eine derjenigen Organisa-
eine von Unternehmen diktierte Agenda mit ent-
tionen, die sich gegen gesetzliche Maßnahmen
sprechenden Eckpunkten der Debatte hinein ge-
zur Senkung von Arzneimittelpreisen wenden. In
sogen“. Diese Gruppen akzeptierten finanzielle
ihrem neuesten Buch Hope or Hype: The Obses-
Förderung im Austausch für eine Teilnahme an
sion with Medical Advances and the High Cost of
einer laut Pramas unwahren und von Unterneh-
False Promises (Hoffnung oder Hype: Fort-
men gesteuerten „nationalen Diskussion“ die da-
schrittsbesessenheit in der Medizin und die
rauf abzielt, die US-amerikanische Öffentlichkeit
hohen Kosten falscher Versprechungen) von
davon zu überzeugen, dass das soziale Siche-
2005 untersuchen die Autoren Richard Deyo and
rungssystem sich in einer Krise befindet und ab-
Donald Patrick auch die Annahme von Pharma-
gebaut werden muss. Mit Blick auf die anhalten-
Geldern durch die United Seniors Association für
de Unterfinanzierung dieser Gruppen meint
eine 2002 ausgestrahlte Fernsehwerbung. Sie
Pramas, dass die Annahme der Finanzmittel ver-
machte sich für die Republikanische Partei und
ständlich ist, dass aber diese Gruppen damit dazu
für von der Industrie unterstützte Vorschläge ei-
überlistet werden, eine Agenda zu unterstützen,
ner Medikamentenvergünstigung für Medicare42
gegen
stark. Trotz anfänglicher Zurückweisung der
die
sie
eigentlich
sind.
Behauptung, die Kampagne werde vom Verband
der amerikanischen Arzneimittelforscher und
Die
Kultivierung
des
Kunstrasens
durch die pharmazeutische Industrie
-hersteller (Pharmaceutical Research and Manufacturers of America; PhRMA) bezahlt, kam später heraus, dass die Kampagne mit einem millio-
In der Literatur, die im weitesten Sinne als konzernkritisch im Gesundheitsbereich bezeichnet
39
40
Savage 1995, S.10.
Pramas 1998, S.8.
41 „Astroturf groups give drug industry even more clout“
http://www.prwatch.org/node/1584
42 Medicare ist ein US-amerikanisches Gesundheitsfürsorgeprogramm der Regierung für Bürger über 65.
20
Wer bewegt die Selbsthilfe?
nenschweren „unbegrenzten Bildungszuschuss“
einen Artikel, der ebenfalls auf dem Dualismus
der PhRMA unterstützt wurde.
der Astroturf- und der authentischen Basisorganisationen aufbaut.45 Der Artikel unter der Über-
Deyo und Patrick meinen, dass manche Patien-
schrift „Who represents the people? Industry in-
tenorganisationen nur im Gewand einer Selbst-
fluence and organized advocacy“ („Wer repräsen-
hilfeorganisation daherkommen, während andere
tiert das Volk? Der Einfluss der Industrie und die
Gruppierungen,
organisierte
die
als
Basisorganisationen
Interessenvertretung“)
outet
eigentlich allgemeinere Interessen und Ziele ver-
einige Organisationen von Krebspatienten in den
folgen, durch die Akzeptanz großzügiger Indust-
USA, die beträchtliche Mittel durch die pharma-
riespenden zum Wendehals werden. Indem sie
zeutische
das erleichtern, was in Industriekreisen unter der
Industrieinteressen und nicht die Interessen von
Bezeichnung „passion branding“ und „cause re-
Patienten vertreten. Organisationen wie Cancer
lated
marketing“43
Industrie
erhalten
und
angeblich
firmiert, ermöglichen sie die
Leadership Council und C-Change wird zur Last
verdeckte Verfolgung von Unternehmensinteres-
gelegt, der Krebsprävention keinerlei Aufmerk-
sen.
samkeit zu schenken, aber für Veränderungen zu
arbeiten, die den industriellen Interessen der
Obwohl sie die wichtigen Errungenschaften einiger
Gesundheitsorganisationen
anerkennen,
stimmen Deyo und Patrick darin überein, dass
verschiedene dieser Organisationen – insbesondere, aber nicht ausschließlich die industriegeförderten – zu etwas beitragen, das sie das „technokonsumtive“ Denken nennen.44 Dieses Denken
sieht Gesundheit in erster Linie durch innovative
medizinische Technologien voran gebracht und
befördert ein Vertrauen in teure neue Behandlungen, die – so die Kritik von Deyo und Patrick
– häufig wenig effektiv und manchmal gefährlich
sind.
Profitmaximierung dienen – etwa für den leichteren Zugang zu Anti-Krebs-Medikamenten oder
die Beschleunigung von Zulassungsverfahren für
neue
Arzneimitteltherapien.
Breast
Cancer
Action setzt sich selbst ab von diesen durch die
Industrie korrumpierten Organisationen und
erklärt, dass es durchaus möglich sei, die Forschungsagenda bei Brustkrebs so umzustellen,
dass das Leben von Frauen vor dem Profit rangiert. BCA positioniert sich selbst als eine authentische Basisbewegung: „Breast Cancer Action gibt
von Brustkrebs betroffenen Menschen eine Stimme und will Veränderungen anstoßen und erreichen, die nötig sind, um die Epidemie Brustkrebs
Eine kürzlich erschienene Ausgabe des Newsletters der in den USA gegründeten internationalen
Organisation Breast Cancer Action (BCA) enthält
Beides Fachbegriffe aus der Werbebranche; „passion
branding“ bedeutet etwa „ein Produkt mit Leidenschaft verbinden zur „Marke“ machen oder markieren“ (branding, die
Markenentwicklung, der Begriff wurde auch abgeleitet von
dem Brandmarken, als Eigentum kenntlich machen von Tieren), „cause related marketing“ kann mit „zweckorientierter
Vermarktung“ übersetzt werden.
44 Deyo und Patrick 2005, S.151.
43
zu stoppen“.46 Außerdem erklärt BCA ihre kollektive oppositionelle Identität, die die kapitalistischen biomedizinischen Brustkrebs-Orthodoxien
anfechtet. Die Organisation versammele die
„bösen Mädchen“ der Brustkrebsbewegung.47
Eigentlich meinen sie damit natürlich, dass sie
die guten Mädchen der Brustkrebsbewegung sind
Sprague Zones 2004.
Breast Cancer Action 2004, S.3.
47 Im Original „The Bad Girls of Breast Cancer”.
45
46
21
Wer bewegt die Selbsthilfe?
und die Mitglieder in den Astroturf-Gruppen die
dem Hersteller eines Medikamentes zur Primär-
bösen.
behandlung von Hepatitis C. Angell zitiert den
Präsidenten des Hastings Centers, eines Bio-
Marcia Angell, eine führende Kritikerin der phar-
ethik-Think-Tanks, der sagt: „Es ist ethisch prob-
mazeutischen Industrie, stellt heraus, dass die
lematisch, wenn eine Firma Körperschaften krei-
Bereitstellung von Mitteln durch die pharmazeu-
ert und dann versucht, sie als authentische und
tische Industrie für Verbraucherinformationen
spontane
ganz einfach eine besondere Form des Marke-
Damit finden wir auch in Angells Arbeit die ver-
tings darstellt. Einige Kommentatoren sind für
breitete Unterscheidung zwischen Astroturf- und
die Annahme von Leitlinien durch Organisatio-
authentischen Gesundheitsorganisationen und
nen der Interessenvertretung. Dies würde „die
die Annahme, dass Akteure in Organisationen
Transparenz in den Organisationen sicherstellen
der Interessenvertretung getäuscht werden oder
und eine Gewähr dafür bieten, dass die Organisa-
sich falschen Hoffnungen hingeben.
Basisorganisationen
auszugeben.“50
tionen die Kontrolle über ihre Aktivitäten behalten“.48 Angell argumentiert hingegen, dass solche
Kritische Kommentare zur Finanzierung von Ge-
Leitlinien, die Informations- von Marketingakti-
sundheitsorganisationen durch die pharmazeuti-
vitäten unterscheiden, nutzlos sind. Ähnlich wie
sche Industrie sind nicht auf die USA begrenzt.
andere, weiter oben erwähnte AutorInnen geht
Die
sie davon aus, dass viele Patientenorganisationen
Action for Access (Aktion für Zugang), einer Or-
„Briefkastenunternehmen
Pharmaindust-
ganisation, die 1999 von Biogen ins Leben geru-
sind. Bezüglich der Akteure in den Gruppen
fen wurde, um über Lobbyarbeit den staatlichen
der Interessenvertretung, die Partnerschaften mit
Gesundheitsdienst (National Health Service,
der Industrie bereitwillig eingehen und deren
NHS) zur Bereitstellung von Interferon Beta für
Geldmittel annehmen, sagt sie: „Menschen, die
Menschen mit multipler Sklerose zu bewegen,
an einer bestimmten Erkrankung leiden, glauben,
wurden offen gelegt. Ebenso entlarvt wurden die
ein Netz der Unterstützung gefunden zu haben,
Ursprünge von Impotence Australia, einer von
das der öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber
Pfizer und anderen pharmazeutischen Unter-
der Krankheit verpflichtet ist. Dabei ist das für
nehmen finanzierten Gruppe, mit dem Ziel, Vi-
Pharmaunternehmen in Wirklichkeit eine Form,
agra und ähnliche Medikamente bekannt zu ma-
für ihre Medikamente zu werben. Manchen Leu-
chen.51 Die engen Verbindungen zwischen eini-
ten ist nicht einmal klar, dass hinter ihrer Orga-
gen globalen Patientenorganisationen wie dem
nisation eine Pharmafirma steht; andere glauben,
Internationalen Verband International Alliance
die Unternehmen wollten lediglich zu Informati-
of Patients’ Organizations (IAPO) oder dem Glo-
on und Bildung der Menschen beitragen.“ Als
balen Zusammenschluss der Interessenvertre-
Beispiel verweist sie auf die Hepatitis C-
tungen zu psychischer Gesundheit Europa (Glo-
Koalition, die wie eine Basisbewegung erscheint,
bal Alliance of Mental Illness Advocacy Europe,
finanziell aber von Schering-Plough abhängt,
GAMIAN) und der Industrie wurden ebenfalls
Wilson 1999, S.772.
Eigentlich: „fronts”, das heißt soviel wie “Strohmann” /
“Aushängeschild” / “Fassade”.
50
rie“49
der
Ursprünge
der
britischen
Organisation
48
49
51
Angell 2004, S.151 f.
Herxheimer 2003; Lofgren 2004.
22
Wer bewegt die Selbsthilfe?
gezeigt.52 Die IAPO wurde von einem Konsortium
Kritisch gegenüber der Tendenz der Europäi-
von Pharmaunternehmen namens Pharmaceuti-
schen Kommission (insbesondere von deren Un-
cal Partners for Better Healthcare (Pharmazeu-
ternehmensabteilung), sich vor allem mit ausge-
tische Partner für eine bessere Gesundheitsver-
prägt industriegestützten Patientenorganisatio-
sorgung) gegründet, das den als Stiftung in den
nen zu beraten, identifizieren Medawar und Har-
Niederlanden
Patientenverband
don einen speziellen Akteur im Bereich Patien-
auch finanziert. Bristol-Myers Squibb gründete
tenorganisationen, der Industrieinteressen in der
GAMIAN; die Verbindung zwischen beiden wur-
DTCA-Debatte unterstützt hat. Rodney Elgie,
de mittlerweile allerdings aufgelöst.
früherer Präsident von GAMIAN und Schatz-
registrierten
meister der IAPO, wird als Akteur in PatientenDie genannten Kommentatoren, von denen viele
organisationen herausgestellt, der den industriel-
Health Action International (HAI) Europe ange-
len „Schlachtplan“ für die Förderung von DTCA
hören, sehen diese internationalen Organisatio-
in Europa ermöglicht. Medawar und Hardon lie-
nen kritisch, weil sie im Prozess der Politikgestal-
fern ein kurzes biografisches Profil von Elgie und
tung in der EU zu einem falschen Bild von Pati-
machen unter anderem auf Unregelmäßigkeiten
enteninteressen beitragen. Die IAPO etwa spricht
in Verwaltung und Finanzen der Depression Alli-
laut HAI Europe bei der Lobbyarbeit in der Welt-
ance (Depressionsallianz) aufmerksam, einer Pa-
gesundheitsorganisation „für die Industrie“.53 Als
tientenorganisation, in der Elgie über viele Jahre
Beispiel der falschen Interessenvertretung wird
geschäftsführender Direktor war. Elgie tritt hier
die fortdauernde Debatte über Direct-to-Consu-
als Antiheld in Erscheinung, der das Problem des
mer-Advertising (Direktwerbung für verschrei-
Astroturf-Prinzips verkörpert.54
bungspflichtige Medikamente beim Endverbraucher, DTCA) in Europa genannt; sowohl IAPO als
Auch in Irland wird die Förderung von Gesund-
auch GAMIAN unterstützen die Bemühungen der
heitsorganisationen durch die pharmazeutische
Industrie, das EU-weite Verbot von DTCA aus
Industrie kritisch diskutiert. Jüngstes Beispiel ist
dem Weg zu räumen. Die beiden Mitglieder von
die Diskussion auf der irischen Indymedia-
HAI Europe, Charles Medawar und Anita Har-
Website über eine Industrie-Finanzierung von
don, stimmen darin überein, dass der Kampf vie-
AWARE, einer Organisation für psychische Ge-
ler Patientenorganisationen ums Überleben sie
sundheit.55 In dieser Diskussion wird eine Mei-
Angeboten der Industrie gegenüber öffnet. Orga-
nungsverschiedenheit deutlich, die Erklärungen
nisationen, die die Aufhebung des
DTCA-
aus den Reihen der Konzernkritiker zum Thema
Verbotes unterstützen, haben nicht nur die Chan-
auch generell auszeichnet. Einige Diskussions-
ce einer finanziellen Förderung, sondern auch
teilnehmer meinen, die Annahme von Geldern
einer größeren medialen Aufmerksamkeit für
aus der Pharmaindustrie werde AWARE korrum-
ihre Aktivitäten, was sie wiederum in die Lage
pieren, während andere versichern, es ginge nicht
versetzt, mehr Mitglieder zu gewinnen.
um die Industriefinanzierung an sich, sondern
um die fehlende Transparenz bezüglich dieser
Herxheimer 2003; Medawar and Hardon 2004; Health
Action International 2005.
53 HAI Europe 2005, S.1.
52
Medawar und Hardon 2004.
Indymedia ist ein Nachrichtenportal der Bewegung europäischer Globalisierungs- und Konzernkritiker.
54
55
23
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Gelder. Die letztere, moderate Position zeigt sich
aber als Marionetten58 beschrieben, die für die
zum Beispiel in den Texten des australischen
Industrie sprechen und von Unternehmen kon-
Wissenschaftlers Hans Lofgren, der meint, dass
trollierte Scheindebatten legitimieren. Einige Kri-
Verbindungen zwischen Gesundheitsorganisatio-
tiker des Astroturf-Prinzips fordern mehr Trans-
nen und der pharmazeutischen Industrie nicht
parenz bei Spenden von Unternehmen an zivilge-
notwendigerweise ungeeignet sind. Es müsse für
sellschaftliche Organisationen. Andere gehen
Verbraucher und die allgemeine Öffentlichkeit
weiter und meinen, dass durch die private Förde-
aber möglich sein, deren Ausmaß und Art ohne
rung von Organisationen wie etwa Patienten-
weiteres nachzuvollziehen.56 Im Gegensatz dazu
gruppen unvermeidlich deren Berechtigung aufs
wird von Health Action International eine härtere
Spiel gesetzt wird, für den Personenkreis zu spre-
Position eingenommen: Obwohl auch HAI mehr
chen, dessen Vertretung sie für sich beanspru-
Transparenz bei Industriespenden an Patienten-
chen.
organisationen fordert, wird im Grundsatzpapier
der Nichtregierungsorganisation zum Thema
Dieser Überblick über die diskursive Konstrukti-
festgestellt: „HAI Europe glaubt, dass die Kosten
on des Begriffs der Astroturf-Organisation in
für die Annahme von Mitteln der pharmazeuti-
Texten der konzernkritischen Bewegung wirft
schen Industrie – das wirkliche oder angenom-
eine Reihe theoretischer, methodologischer und
mene Risiko, zu Handlungen in Übereinstim-
empirischer Fragen auf. Kann das Phänomen der
mung mit der Agenda der Unternehmen bewegt
Astroturf-Gruppen mit dem Verweis auf Theorien
zu werden – die Vorteile des erhaltenen Geldes
weitergehender sozialer Veränderungen erklärt
überwiegen.“57
werden, die die Gegenwart kennzeichnen? Wie
unterscheiden wir die verzerrte von der nicht ver-
Zusammenfassend kann man sagen, dass das
zerrten
öffentlichen
dualistische Denken, das Astroturf- von authenti-
Grundlage können wir über die Repräsentativität
schen Basisorganisationen unterscheidet, in den
von Organisationen der Interessenvertretung
Diskursen der konzernkritischen Bewegung weit
beziehungsweise die Authentizität ihrer ‚Stimme’
verbreitet ist. Das Astroturf-Prinzip, also die
befinden? Liefert das Argument, viele Aktivisten
Kolonisierung beziehungsweise Vereinnahmung
aus solchen Zusammenschlüssen seien getäuscht
zivilgesellschaftlicher Organisationen durch Un-
oder korrumpiert worden, eine angemessene
ternehmen, wird als eine relativ neue, aber tücki-
Erklärung für die Art und Weise, in der sich das
sche Taktik angesehen, die die für eine wirklich
Vordringen von Konzernen in die Zivilgesell-
demokratische Politikberatung notwendigen Be-
schaft in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat?
dingungen weiter untergräbt. Akteure aus Astro-
Wie können die unterschiedlichen organisatori-
turf-Organisationen werden in der Regel entwe-
schen Umsetzungen der Idee der Interessenver-
der als willige oder als unwissende, in jedem Fall
tretung erklärt werden, insbesondere die unterschiedlichen
Meinung?
Haltungen
von
Auf
welcher
Organisationen
gegenüber der Finanzierung durch Konzerne?
Lofgren 2004, S.236.
57 HAI Europe 2005, S.2.
56
58 Im Original „ventriloquists’ mannequins”, das wären wörtlich übersetzt etwa “Vorführpuppen / Mannequins von
Bauchrednern”.
24
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Welche Implikationen hat die Unterscheidung
schaft, in der der Staat nur einen von mehreren
zwischen Astroturf- und authentischen Basis-
Schauplätzen der Politik darstellt.
organisationen für die Forschung zu Gesundheitsorganisationen? Ist dieser Dualismus empi-
Demokratie wird als etwas verstanden, das mehr
risch haltbar? Diese Fragen auch nur ansatzweise
ist als eine Regierungsform. Demokratische Pro-
zu betrachten, ist im vorliegenden Text nicht
zesse finden danach zwar in parlamentarischen
machbar. Allerdings werde ich jetzt diskutieren,
Arenen statt, aber auch und vor allem in den
wie Studien zum öffentlichen Raum dazu beitra-
informellen Netzwerken der Öffentlichkeit. Für
gen können, mit der Entwirrung dieser Fragen zu
Habermas hat die ideale Öffentlichkeit drei
beginnen.
Eigenschaften: Alle Bürger haben Zugang zu ihr,
alle Bürger debattieren in Offenheit, und sie diskutieren über Themen von allgemeinem Interesse.61 Der Begriff der Öffentlichkeit bezieht sich
Gesundheitsorganisationen und
also auf offen zugängliche Zusammenkünfte von
Studien zur Öffentlichkeit
Menschen
mit
unterschiedlichen
Interessen,
Erfahrungen und Ansichten. Sie ist eine Arena,
Das Konzept der Öffentlichkeit ist allgemein ver-
die sich von Staat, Markt und freien Zusammen-
bunden mit den Arbeiten von Jürgen Habermas
schlüssen unterscheidet. Während das Wählen
und seiner Theorie der deliberativen Demokra-
im liberalen Demokratiemodell der zentrale poli-
tie.59 Habermas fordert eine Rückkehr zur
tische Akt ist, besteht er im Habermas’schen nor-
ursprünglichen Bedeutung des Begriffs Demokra-
mativen Ideal der deliberativen Demokratie in
tie „im Sinne der Institutionalisierung eines all-
der Teilnahme an der uneingeschränkten diskur-
gemeinen Gebrauchs der Vernunft, ausgeführt
siven Interaktion.
durch autonome Staatsbürger“.60 Während das
liberale Demokratiemodell auf der Idee des
Habermas’ ursprüngliches Konzept von Öffent-
Marktes basiert, auf dem Wahlentscheidungen
lichkeit ist ausgiebig kritisiert worden, nicht
der von Käufern auf einem Marktplatz getroffe-
zuletzt von Feministinnen, die geltend machen,
nen Auswahl ähneln, ist der Marktkonkurrenz im
dass das Modell eine ausschließende und männli-
Modell der deliberativen Demokratie der Dialog
che Kommunikationskultur voraussetzt. Argu-
übergeordnet. Ein weiterer Unterschied besteht
mentiert wird, dass das deliberative Modell der
darin, dass das liberale Modell staatszentriert ist,
Versammlung, das dem Konzept von Öffentlich-
weil der Staat als Zentrum oder Haupt der
keit zugrunde liegt, „historisch, gesellschaftlich
Gesellschaft angesehen wird, das als ihr Hüter
und kulturell ein Raum für männliche Körper“
fungiert. Das deliberative Modell hingegen ba-
gewesen sei, „nicht nur in dem Sinne, dass nur
siert auf einer dezentralisierten Sicht der Gesell-
Männer aktive Bürger waren, berechtigt dazu,
Ämter zu bekleiden und in der Öffentlichkeit auf-
Das Modell betont die aktive Mitwirkung aller Bürgerinnen
und Bürger im Sinne einer partizipatorischen Demokratie.
Ihr wesentliches Kennzeichen ist ein öffentlicher Diskurs
über alle politischen Themen, der hier als „deliberation“ bezeichnet wird.
60 Habermas 1996, S.23.
59
zutreten, sondern auch in dem Sinne, dass die institutionelle
61
bildliche
Darstellung
früher
Asen and Brouwer 2001.
25
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Demokratietheorien die männliche Form der
sichts dieser Entwicklung findet Habermas Hoff-
bevorzugte“.62
nung in der Entstehung neuer sozialer Bewegun-
Selbstdarstellung
gen, die der Verarmung des öffentlichen Dialogs
Trotz dieser These und vielen anderen kritischen
widerstehen und die utopische soziale Verände-
Kommentaren ist die Theorie der Öffentlichkeit
rungen auf eine Art verfolgen, die die Öffentlich-
- wenn auch in veränderter Form - ein Schlüssel-
keit belebt und stärkt. Da Habermas über diese
konzept moderner Gesellschaftstheorie. In dieser
Themen in den 1980er Jahren schrieb und sich
Denktradition ist eine lebendige Öffentlichkeit
auf die Probleme des kapitalistischen Wohl-
die Grundvoraussetzung einer gesunden Demo-
fahrtsstaates bezog, war er in erster Linie mit der
kratie.
Kolonisierung der Öffentlichkeit durch den Staat
befasst. Diese Form der Vereinnahmung wurde
Es gab Versuche, die Analyse von Habermas zu
überdenken und mit Hilfe der Arbeiten anderer
Theoretiker neue Sichtweisen auf Öffentlichkeit
zu entwickeln.63 Ich werde kurz zwei dieser vielen
ausführlich in der Literatur zur staatlichen Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen untersucht und als ‘state building’ (etwa:
Staatsaufbau) konzeptualisiert.66
Versuche im Hinblick auf die Analyse der Astroturf-Organisationen diskutieren.
Allerdings ist Habermas’ Arbeit auch herangezogen worden, um die Kolonisierung durch den
Markt theoretisch zu fassen, die aufgrund des
Kolonisierung durch Inwertsetzung 64
Ein zentrales Thema in Habermas’ Arbeit ist,
dass die Öffentlichkeit in verschiedene Richtungen gezogen wird; es gibt Kräfte, die sie untergraben, und Kräfte, die sie ankurbeln.65 Habermas behauptet, dass die untergrabenden Kräfte
die Oberhand haben, mit dem Ergebnis einer
„Kolonisierung der Lebenswelt“ durch Staat und
Markt, die in der Bürokratisierung und dem
Warencharakter von immer mehr Aspekten des
gesellschaftlichen Lebens deutlich wird. Diese
Kolonisierung entfernt uns immer weiter von
seiner idealen Form des offenen Dialogs, weil sie
Kommunikation auf bürokratische Vorgänge und
ökonomische Transaktionen reduziere. Ange-
Aufstiegs des Neoliberalismus die vorherrschende Form geworden ist. Nick Crossley analysiert
auf der Basis von Habermas’ Theorie der sozialen
Bewegungen die Anti-Konzern-Bewegung und
kommt zu dem Schluss, dass diese Bewegung als
Antwort auf die ökonomische Kolonisierung
gesehen werden kann, die in den letzten Jahren
die staatliche Intervention als wichtigste die
Öffentlichkeit untergrabende Kraft ersetzt hat.
Aus dieser Perspektive bringt das Sponsoring
zivilgesellschaftlicher Organisationen einen Prozess des ‘corporation building’ mit sich, durch
den diese Organisationen zu Erweiterungen derjenigen Unternehmen werden, die sie fördern.
Aus der Perspektive der Anti-Konzern-Bewegung
riskieren diese Organisationen, Teile des „Feindes“ zu werden.67
Benhabib 1996, S.81.
Asen and Brouwer 2001, Crossley and Roberts 2004.
64 Der im Original benutzte Begriff „commodification“ bezeichnet das Zum-Wirtschaftsgut-Werden und -Machen einer Sache.
65 Roberts and Crossley 2004.
62
63
In einem kürzlich erschienen Essay verweist
66
67
Collins 2002.
Starr 2000.
26
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Crossley darauf, wie die Arbeit von Pierre Bour-
bei jedem Schritt die Standards und Praktiken
dieu dazu genutzt werden kann, Habermas’ Ana-
der Vergangenheit nicht nur aufgegeben, sondern
lyse des Prozesses der ökonomischen Kolonisie-
auch vergessen werden, und zwar in dem Maße,
rung auszuweiten und die Dynamiken zu zeigen,
in dem neue (reduzierte) Standards sich etablie-
durch die Kommunikation verzerrt wird.68 In
ren, die den Charakter der Naturgegebenheit und
einer anderen Arbeit bemerkt Crossley, dass bei
Unvermeidbarkeit annehmen – das heißt, sie ver-
Bourdieu die relative Autonomie von „Feldern“
wurzeln sich im Habitus.“70 Mit anderen Worten,
eine Vorbedingung ist.69 Im Bereich der Medien
kommerzielle Zugeständnisse können sehr lang-
beispielsweise hängen Journalisten davon ab,
sam vonstatten gehen und sich unbemerkt ein-
sich die Gunst der Verleger zu erhalten. Die wie-
bürgern.
derum sind daran interessiert, die Rentabilität
ihrer Zeitungen zu maximieren (anstatt von der
Mithilfe dieser Überlegungen können die Astro-
Vorstellung kritischer Nachfrage motiviert zu
turf-Gruppen als eine Form entgegengesetzten
sein), was die Medien in die Gefahr der Verzer-
Widerstands betrachtet werden: Genau die Kräf-
rung bringt. Die ökonomische Abhängigkeit von
te, die dem Vordringen des ökonomischen Sys-
Akteuren verschiedener Bereiche führt unver-
tems in die Sphäre der Öffentlichkeit widerstehen
meidbar zu Konzessionen.
und die Habermas in den Blick nimmt, ermöglichen dieses Vordringen. Das Sponsoring von Ge-
Dieser Prozess der Zugeständnisse kann langsam
sundheitsorganisationen durch pharmazeutische
vor sich gehen: „Der kommerzielle Kompromiss,
Unternehmen kann in dieser Perspektive als
der als solcher unbemerkt bleibt, erwirbt den
Verwandlung der Organisationen in Körperschaf-
Anschein des Gewohnheitsmäßigen und Natürli-
ten mit Warencharakter, als Inwertsetzung,
chen. Die ‚schiefe Ebene’ ist insofern schief, als
betrachtet werden. Dabei werden auch ihre Positionen und öffentlichen Äußerungen verzerrt; sie
Crossley 2004.
69 Crossley (1999, S.649-650) erklärt Bourdieus Begriff des
“Feldes” folgendermaßen: “Felder bestehen aus Netzwerken gegenseitiger Abhängigkeit, Konkurrenz und Macht
zwischen bestimmten Individuen und Gruppen. Diese sind
um einzelne ‘Güter’ versammelt, die unter ihnen ausgetauscht werden und die durch sie Wert bekommen. Teilnahme in einem Feld bringt die stillschweigende Akzeptanz
der willkürlichen Ziele, Werte und Regeln mit sich, die das
Feld beinhaltet, also einen ‘Glauben an das Spiel’ oder illusio...“ Anmerkung der Übersetzerin: Laut Wikipedia
(http://de.wikipedia.org/wiki/Soziales_Feld) umfasst das
„soziale Feld“ die Gesamtheit der gesellschaftlichen Interaktionen und Konstellationen, Felder sind darin u.a. Politik,
Wirtschaft oder Bildung und Subfelder wie beispielsweise
das Feld der Schule und das der Universität, die sich im
Feld der Bildung voneinander abgrenzen. Das “Feld” als
zentraler systematisch-theoretischer Begriff bei Pierre Bourdieu ist dabei das Pendant zum Konzept des Habitus.
Danach ist das Feld verdinglichte und der Habitus leibliche
Geschichte. Die jeweiligen Felder sind mit bestimmten
Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, also
einem Habitus verknüpft, über den Individuen wiederum auf
soziale Felder zurückwirken.
68
laufen Gefahr, sich von Beiträgen zu einem breiten öffentlichen Dialog zu ökonomischen Transaktionen zu wandeln.
Auf der Grundlage von Bourdieus Analyse können Astroturf-Organisationen also als Beispiele
der Manipulation des Gesundheitsaktivismus
durch dessen ökonomische Abhängigkeit vom
Unternehmensbereich betrachtet werden. Sein
Ansatz lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Dynamiken der Manipulation, den kaum merklichen Prozess, in dem aufgrund kommerzieller
Zugeständnisse neue Praktiken und Diskurse
aufkommen. Er stimmt uns ein auf die Bedeu-
70
Crossley 2004, S.96.
27
Wer bewegt die Selbsthilfe?
tung der politischen Ökonomie von Gesundheits-
der Untersuchung der Versuche der Organisati-
organisationen, auf die kommerziellen Kompro-
on, Menschen mit AIDS im exklusiven Reich me-
misse, die sie mit sich bringen kann, und auf die
dizinischer Expertise zu repräsentieren, be-
Bedeutung der zeitlichen Dimension: auf die Ma-
schreibt Brouwer, wie die Organisation zwischen
nipulationen in den stillschweigenden Überein-
einer Arbeit außerhalb und innerhalb konventio-
künften, die sich mit der Zeit einstellen können.
neller Bahnen politischer Einflussnahme hin und
her schwankt.72
Es gibt eine allgemeine Übereinkunft unter Theo-
Gegenöffentlichkeiten
retikerInnen der Öffentlichkeit, dass ein Charakteristikum von Gegenöffentlichkeit in der Artiku-
Habermas’ Konzeptualisierung der Öffentlichkeit
lation von oppositionellen Diskursen besteht.73
als einzigartiger Arena des öffentlichen Dialogs
Es sind diese widerständigen Diskurse, die sie zu
wurde mittlerweile verworfen; stattdessen wird
Gegenöffentlichkeiten und zu einer Kraft für die
Öffentlichkeit als Vielfalt einander sich überlap-
deliberative, die partizipative Demokratie ma-
pender öffentlicher Sphären gesehen, die über die
chen. Grundlegend für das Argument einer „Poli-
zivile Gesellschaft ausgebreitet sind. Einfluss-
tik der Präsenz“, die zuvor zum Schweigen
reich in dieser Hinsicht war die Arbeit von Nancy
gebrachte Gruppen in die öffentliche Debatte
Fraser, insbesondere ihre Theorie der „Gegen-
integriert, ist die Aussicht auf eine Vervielfälti-
öffentlichkeiten“ als „parallele diskursive Arenen,
gung der Diskurse durch diese Integration.74
in denen Angehörige untergeordneter sozialer
Allerdings werden dabei die Begrenzungen iden-
Gruppen Gegendiskurse erfinden und zirkulieren
titätsbasierter Konzepte von Gegenöffentlichkeit
lassen, um widerständige Interpretationen ihrer
deutlich, wenn sie auf Gruppen von Menschen
Identitäten, ihrer Interessen und ihrer Bedürfnis-
mit einer gemeinsamen Form der Marginalisie-
se zu formulieren“.71 Für Fraser haben diese Ge-
rung reduziert wird. „Darauf zu beharren, dass
genöffentlichkeiten einen Doppelcharakter: Zum
marginalisierte Identitäten per se oppositionell
einen sind sie geschützte Räume des Rückzugs, in
sind, heißt, die alltäglichen beziehungsweise an
denen marginalisierte Gruppen Themen unter-
der Hegemonie beteiligten Aktivitäten dieser
einander diskutieren und ihre eigenen oppositio-
Menschen zu übersehen.“75
nellen Ausdrucksformen entwickeln können, und
zum anderen Ausgangsbasen, von denen aus die-
Beide Argumente finden sich implizit auch in der
se Gruppen Argumente und Protestaktionen ent-
oben
wickeln, um die breitere öffentliche Debatte zu
Astroturf-Gruppen. Der Hauptvorwurf an Basis-
beeinflussen. Daniel Brouwers Arbeit gibt ein
organisationen, die als künstlich erachtet werden,
Beispiel dafür, wie das Konzept der Gegenöffent-
ist, dass sie für die Unternehmen sprechen, die
lichkeit für die Analyse einer Gesundheitsorgani-
sie fördern oder gegründet haben. Astroturf-
diskutierten
Auseinandersetzung
über
sation fruchtbar gemacht werden kann, in diesem
Fall der AIDS Coalition to Unleash Power (ACT
UP), die 1987 in New York gegründet wurde. Bei
71
Fraser 1992, S.123.
72
Brouwer 2001.
Asen 2000.
74 Phillips 1995.
75 Asen and Brouwer 2001, S.8/9.
73
28
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Organisationen werden bezichtigt, nur ohnehin
Durch zweckbezogenes Marketing78 konkurrieren
dominante
Gesundheits-
Unternehmen miteinander um das Sponsoring
diskurse von Unternehmen wiederzugeben, statt
von Gesundheitsorganisationen, wobei sie sich
bisher totgeschwiegene oder neu formulierte Dis-
die Themen, um die herum diese sich mobilisie-
kurse in die öffentliche Debatte zu bringen. Statt
ren, „aneignen“. Estée Lauder zum Beispiel
zur Vervielfältigung der Gesundheitsdiskurse bei
unternahm rechtliche Schritte, um sich die aus-
Themen wie der DTCA [Direktwerbung für ver-
schließlichen Eigentumsrechte an der rosa Brust-
schreibungspflichtige Medikamente beim End-
krebs-Schleife zu sichern.
„technokonsumtive“
verbraucher, siehe oben] beizutragen, verstärken
Homogenität.
Die Privatisierung des Brustkrebs-Aktivismus, so
Oft werden sie als Scheinorganisationen gesehen,
King, brachte über die vergangenen zwei Jahr-
häufig aber auch als Organisationen verführter
zehnte eine Verlagerung der Politik zu Brustkrebs
oder irregeleiteter Individuen. Die Identität der
zur Brustkrebs-Wohltätigkeit hervor. Unter be-
Mitglieder dieser Organisationen als Patienten
sonderer Berücksichtigung dessen, was Brust-
oder Nutzer von Gesundheitsdienstleistungen
krebs-Organisationen über die Krankheit sagen,
wird nicht als Hindernis des Astroturf-Prinzips
argumentiert King, die Krankheit werde „mitt-
gesehen. Daraus folgt, dass im Mittelpunkt einer
lerweile im Wesentlichen als eine Sache der
kritischen Analyse von Gesundheitsorganisatio-
Wohltätigkeit gedacht“ und „hauptsächlich als
nen stehen sollte, was Letztere sagen und wie sie
Kampf dargestellt, der auf dem Feld der Wissen-
ihr Verständnis von Gesundheit und Gesund-
schaft und Medizin stattfindet und stattfinden
erhaltung formulieren.
soll,
Astroturf-Organisationen
deren
finanziert
durch
Menschenfreundlichkeit
verbraucherorientierte
und
Freiwilligkeit“.79
In einer Analyse, die die politischen und kulturel-
Eine Konsequenz aus dem Industriesponsoring
len Konsequenzen des Astroturf-Prinzips auf Ba-
von Gesundheitsorganisationen besteht laut King
sis empirischer Forschung untersucht und sich
also darin, dass die Gesundheitsprobleme, um die
dabei auch auf Theorien der Öffentlichkeit be-
herum sie organisiert sind, dazu tendieren, in
zieht, zeigt Samantha King detailliert, wie Brust-
hegemonialen biomedizinischen Begriffen ge-
krebs in den USA zum „wohltätigen Zweck Nr. 1“
dacht zu werden.
wird.76
Laut King hat das beträchtliche Sponso-
ring von Brustkrebs-Organisationen durch Un-
Allerdings sind es nicht nur Vorstellungen von
ternehmen zu einer „Privatisierung des Brust-
Gesundheit und Krankheit, die im Ergebnis die-
krebs-Aktivismus“ und – ganz allgemein – zu
ser Privatisierung neu konstruiert werden, son-
einer „privatisierten öffentlichen Sphäre“ ge-
dern auch von Bürger-Sein.80 Das zweckgebun-
führt.77 Obwohl sie sich nicht auf Habermas’
dene Marketing läuft darauf hinaus, dass Autos,
Arbeit bezieht, veranschaulicht sie den Prozess
Kosmetik und andere Verbrauchsgüter zusam-
der Inwertsetzung, den Habermas als eine we-
men mit einer speziellen Interpretation dessen
sentliche antidemokratische Kraft betrachtete.
sog. cause related marketing (CRM) .
Ebda., S.476.
80 Im Original „citizenship“, das heißt Staatsbürgerlichkeit
bzw. -schaft, vor allem aber auch im ‚zivilgesellschaftlichen’
Sinne des ‚Bürger-Seins’.
78
79
76
77
Im Original „hot charity“.
King 2004, S.489.
29
Wer bewegt die Selbsthilfe?
verkauft werden, was als zivilgesellschaftliche
Problematisierung des Dualismus' von
Verantwortung
Astroturf- und authentischer Basis-
gilt.
Die
Privatisierung
der
Öffentlichkeit, so King, steigert die Macht von
organisation
Unternehmen, das als ‚Politik von der Basis’ Geltende zu gestalten und zu definieren. Die Gefah-
Wie oben gezeigt, können Studien der Öffentlich-
ren dieses Machtzuwachses im Kontext des
keit herangezogen werden, um die Kritik des
Brustkrebs-Aktivismus' bestehen darin, dass Dis-
Astroturf-Prinzips zu vertiefen. Allerdings ver-
kurse mit dem Gewicht auf hohen Geldausgaben
weist diese Literatur auf die Begrenzungen des
für riskante Forschung im Kampf gegen die
Dualismus' von künstlichen und authentischen
Krankheit diejenigen Argumentationen ersetzt
Basisorganisationen. Ähnliche Unterscheidungen
haben, die auf Maßnahmen wie eine allgemeine
können zwar auch in diesen Schriften gefunden
Gesundheitsversorgung oder einen strengeren
werden, so etwa Öffentlichkeit/Gegenöffentlich-
Umweltschutz setzen. Der Machtzuwachs der Un-
keit oder verzerrte/unverzerrte Kommunikation,
ternehmen hat außerdem dazu beigetragen, „von
aber sie erweisen sich eher im empirischen denn
durch die Öffentlichkeit überprüfbaren Bezie-
im theoretischen Gebrauch als problematisch.
hungen zwischen Unternehmensgewinnen, priva-
Die Idee, es existiere so etwas wie eine authenti-
ten Stiftungen und dem Staat abzurücken“.81 Die
sche Basisorganisation, die Stimme ihrer Mit-
Entfernung von Wut und Meinungsverschieden-
glieder ist, wird durch Bourdieus beharrliche Be-
heiten aus den öffentlichen Diskursen über
hauptung in Frage gestellt, dass der öffentliche
Brustkrebs ist laut King eine weitere Konsequenz
Dialog nur unter Berücksichtigung der gesell-
der Kolonisierung des Brustkrebs-Aktivismus'
schaftlichen und historischen Bedingungen ver-
durch Unternehmen.
standen werden kann, die ihn geformt haben. 83
Über die Konsequenzen dieser Privatisierung der
In ihrer Arbeit über die Nutzergruppen von
Öffentlichkeit lässt sich auch in Begriffen des
Dienstleistungen zur psychischen Gesundheit84
Kampfes um Bedeutungen nachdenken.82 Die
in Großbritannien wiederholen und illustrieren
Privatisierung steigert die kulturelle Macht von
Michele Crossley und Nick Crossley diesen Punkt,
Unternehmen zu bestimmen, was mit dem Be-
indem sie behaupten, die ‚Patientenstimme’ sei
griff Basisorganisation gemeint ist, aber auch ihre
immer sozial konstruiert und historisch beson-
Fähigkeit, sich selbst als menschenfreundliche
ders. Außerdem sei die Kolonisierung durch
Organisationen und Partner im Streben nach bes-
Unternehmen nur eine von vielen Formen, mit
serer Gesundheit neu zu definieren. Diese Art der
denen die Fähigkeit von Interessenvertretungs-
Analyse betont das Subtile der antidemokrati-
organisationen gefährdet wird, Stimme ihrer Mit-
schen Kräfte, die in den mit Astroturf bezeichne-
glieder zu sein.85 Andere Formen sind danach die
ten Prozessen wirksam sind, und unterstreicht
Professionalisierung, die Vereinnahmung durch
die Notwendigkeit, ihnen zu widerstehen.
den Staat oder die unvermeidbar begrenzten Systeme organisationsinterner Demokratie. Im bes-
Crossley 2004
Im Original „mental health service users’ groups”.
85 Michele Crossley und Nick Crossley 2001
83
King 2004, S.489
82 Snow and Benford 1992
81
84
30
Wer bewegt die Selbsthilfe?
ten Falle seien Gesundheitsorganisationen „brü-
Entweder-Oder, das oft zu vereinfacht, zu redu-
chige Modelle für Kommunikationsformen und -
ziert und ungenau ist.
kanäle, die einer wirklich demokratischen Gesellschaft angemessen wären“.86 So wie die Öffent-
Ähnlich wird auch in Maren Klawiters Arbeiten,
lichkeit ein Ideal darstelle, so seien es auch au-
die variierende „Aktionskulturen“ und verschie-
thentische Basisorganisationen mit von kommer-
dene Aspekte und Elemente des Brustkrebs-
ziellen und anderen Kompromissen unverfälsch-
Aktivismus' identifizieren und analysieren, deut-
ter Stimme.
lich, wie widersprüchlich einzelne Organisationen sein können. Beispielsweise schließt ihre
In der Literatur zum Brustkrebs-Aktivismus wird
Analyse zur Susan G. Komen Foundation, dass
auf eine Reihe von Begrenzungen der Unterschei-
diese sich paradoxerweise „sowohl als wegwei-
dung zwischen Astroturf- und authentischen
sender Vorreiter wie auch als konservative Kraft“
Hervorgeho-
verhalten hat.89 Die Stiftung war in vorderster
ben wird, dass dieses binäre Denken versagt,
Front an der Neudefinition von Brustkrebs betei-
wenn es um das Erkennen der Vielschichtigkeit,
ligt, nimmt aber zugleich eine unkritische Hal-
ja, der Widersprüche geht, die Gesundheitsorga-
tung zu Biomedizin und zu Konstruktionen von
nisationen charakterisieren. Pezzullo vertritt in
Weiblichkeit ein. Mit anderen Worten, die Ko-
ihrer kritischen Analyse des Dualismus von Öf-
men-Stiftung kann als dominante Öffentlichkeit,
fentlichkeit und Gegenöffentlichkeit die Ansicht,
aber zugleich auch als Gegenöffentlichkeit be-
diese Unterscheidung führe dazu, die zum Teil
trachtet werden.
Basisorganisationen
hingewiesen.87
fortschrittlichen Aspekte von durch die Industrie
gegründeten und finanzierten Brustkrebs-Orga-
Klawiters Analyse unterstreicht die Notwendig-
nisationen zu übersehen. Der vom pharmazeuti-
keit, „Schilderungen der Brustkrebsbewegung
schen Unternehmen Zeneca eingeführte ‚Natio-
und damit zugleich soziologische Darstellungen
nale Brustkrebs-Monat’ (National Breast Cancer
der Kultur in sozialen Bewegungen zu differen-
Awareness Month, NBCAM) beispielsweise habe
zieren“.90 Vor dem Hintergrund dieses Appells
dazu beigetragen, dass Brustkrebs ein Thema der
verweist Amy Blackstone in ihrer Untersuchung
öffentlichen Diskussion geworden ist. NBCAM
der Komen-Stiftung auf das Missverhältnis zwi-
könne nicht „auf einen Begriff wie ‚dominanter
schen dem, wie involvierte Frauen ihre Handlun-
öffentlicher Diskurs’ reduziert werden, weil der
gen gestalten, und der Art, wie Blackstone als
Brustkrebsmonat eben jenen öffentlichen Dialog
Akademikerin sie interpretiert. Die Mitglieder
am Laufen hält, der dem hegemonialen Rahmen,
der Stiftung widersetzen sich der Bezeichnung
in dem die Wichtigkeit von Brustkrebs an den
„Aktivistin“ zugunsten des Begriffs „Freiwillige“
Rand gedrängt wird, zuwiderläuft“.88 Brustkrebs-
und bestehen darauf, dass ihre Aktivitäten unpo-
organisationen entweder der Öffentlichkeit oder
litisch sind. Blackstone meint, dass diese Kon-
der Gegenöffentlichkeit zuzuordnen, so erklärt
struktion ihrer Handlungen als unpolitisch mit
sie, reduziere diese auf ein oberflächliches
einem Bezug auf den weiteren ideologischen Rahmen erklärt werden kann. Das Leben eines Groß-
Crossley 2004, S.88
Klawiter 1999, Pezzullo 2003, Blackstone 2004
88 Pezzullo 2003, S.361
86
87
89
90
Klawiter 1999, S.109
Ebda., S.123
31
Wer bewegt die Selbsthilfe?
teils der Frauen ist um eine heteronormative
Konstruktion von Geschlecht
organisiert.91
Konzernkritiker nachgegangen und habe darauf
Die
hingewiesen, dass Unterscheidungen und Vor-
Frage, ob die Frauen, die sich mit dem Begriff
annahmen für viele der Begriffe, die der Diskus-
nicht identifizieren, trotzdem als „Aktivistinnen“
sion von künstlichen Basisorganisationen zu-
bezeichnet werden sollten oder nicht, erinnere an
grunde liegen, noch längst nicht geklärt sind und
feministische Debatten darüber, ob der Begriff
einer näheren Untersuchung bedürfen.
„Feministin“ für diejenigen benutzt werden kann,
die sich nicht mit ihm identifizieren, so Black-
In dem Bewusstsein, dass die grundsätzliche Kri-
stone. Sie schlägt vor, diese Frauen als „border
tik an Astroturf-Gruppen darin besteht, dass sie
acitivists“ zu begreifen.92
eher „für die Industrie sprechen“ als für PatientInnen oder für NutzerInnen von Gesundheits-
Diese Argumente deuten darauf hin, dass die
dienstleistungen, wandte ich mich den Studien
Analyse von Gesundheitsorganisationen dem
zur Öffentlichkeit zu, weil sie sich vor allem mit
häufig gegensätzlichen Charakter dieser Organi-
dem öffentlichen Dialog beschäftigen. Ich hoffe,
sationen mehrdimensional und offen begegnen
ich habe zeigen können, dass Studien zur Öffent-
muss, weil sie in ihren Beiträgen zum öffentli-
lichkeit eine fruchtbare Quelle konzeptioneller
chen Dialog zugleich widerständig wie auch kon-
Instrumente und Fragen bereit halten, die die
servativ sein können. Außerdem verweisen die
Kritik, die im Begriff der künstlichen Basisorga-
Argumente auf die Notwendigkeit einer kriti-
nisation enthalten ist, vertiefen und empirische
schen Annäherung an die Vorstellungen der
Untersuchungen einzelner Gesundheitsorganisa-
Akteure über ihre Arbeit wie auch an die der Or-
tionen wie etwa die laufenden Fallstudien irischer
ganisationen, mit denen sie verbunden sind.
Organisationen anleiten können.
Zusammenfassung
Wie aus der obigen Diskussion ersichtlich wird,
stimmen uns Studien zur Öffentlichkeit ein auf
Motivationen, die aus zwei einander überlappen-
die tückischen Formen, in denen die zunehmende
den Feldern stammen, haben diesen Text be-
kulturelle Macht von Unternehmen die Möglich-
stimmt. Erstens habe ich im Zusammenhang mit
keit offener demokratischer Debatten beschnei-
meiner akademischen Forschung das Konzept
det. Allerdings wirft die Gesamtheit der Literatur
der Astroturf-Gruppe aufgenommen und seine
Licht auf die Grenzen von Diskursen der Anti-
Brauchbarkeit für eine aktuelle Studie irischer
Konzern-Bewegung, die eine einfache Unter-
Gesundheitsorganisationen erkundet, von denen
scheidung zwischen künstlichen und authenti-
viele ein Sponsoring von der pharmazeutischen
schen Basisorganisationen unterstellen. Aus der
Industrie erhalten und es vorziehen, mit der
Literatur folgt der Appell, unser Verständnis von
Industrie zusammenzuarbeiten. Ich bin der Kon-
Gesundheitsorganisationen zu differenzieren und
struktion und Entstehungsgeschichte des Kon-
anzuerkennen, dass ihr Charakter widersprüch-
zeptes in Diskursen der jüngeren Bewegung der
lich sein kann. Dieses Ergebnis steht allerdings
im Widerspruch zu dem anderen Ausgangspunkt
Blackstone 2004, S.358.
Blackstone 2004,S.352, etwa „Grenz-“ oder „RandAktivistinnen.
91
92
meiner Untersuchungen. Mein Engagement in
der Organisation Health Action International
32
Wer bewegt die Selbsthilfe?
(HAI) Europe hat mich auf dieses Forschungsthema gebracht und ich hoffe, dass die Untersuchung der Gesundheitsorganisationen in Irland
in irgendeiner Weise zu den Versuchen von HAI
beiträgt, dem verzerrenden Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf die Gesundheitspolitik
etwas entgegen zu setzen. Auf dieser Ebene kann
sich die Aufmerksamkeit gegenüber der Vielfalt
und den Nuancen der Interaktionen zwischen
Gesundheitsorganisationen und der pharmazeutischen Industrie als ein Hindernis für den
Widerstand gegen die Privatisierung des Gesundheitsaktivismus'
erweisen.
Der
differenzierte
Blick auf die Interaktionen läuft Gefahr, die Vorstellung von dem zu verwischen, dem HAI sich
widersetzt, weil die Anti-Helden und Organisationen, die zunächst das Astroturf-Prinzip beispielhaft zu illustrieren schienen, nicht länger als
solche betrachtet werden können, und unterstreicht die Notwendigkeit von Forschung, die
sowohl akademischen wie aktivistischen Anliegen
dient.
33
Wer bewegt die Selbsthilfe?
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Wer bewegt die Selbsthilfe?
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Wer bewegt die Selbsthilfe?
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Wer bewegt die Selbsthilfe?
Die pharmazeutische Industrie und
ihre Verfahrensweisen
Industrielle Kolonisierung
der Gesundheitsbewegung?
Irische Gesundheitsorganisationen und ihre
Verbindungen zu
Pharmakonzernen
Orla O’Donovan
39
Wer bewegt die Selbsthilfe?
40
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Orla O’Donovan: The Pharmaceutical Industry
and Its Modus Operandi.
Corporate Colonization of Health Activism? Irish
Health Advocacy Organizations' Modes of
Engagement with Pharmaceutical Corporations
International Journal of Health Services,
Volume 37, Number 4, Pages 711–733, 2007
41
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Dieser Artikel basiert auf einer Studie, die zum
Zunahme gemeinschaftlicher Aktionen rund um
Ziel hatte, Licht auf die „Aktionskulturen“ iri-
Gesundheitsfragen. Diese Mobilisierungen rich-
scher Gesundheitsorganisationen zu werfen, ins-
ten sich auf eine große Bandbreite von Fragen.
besondere auf ihre Formen der Zusammenarbeit
Dazu gehören die Qualität von Gesundheits-
mit pharmazeutischen Konzernen. Diskussionen
dienstleistungen für bestimmte Patientengrup-
der
pen ebenso wie der Kampf um die Anerkennung
Gesundheitsbewegung durch Konzerne bezeich-
„neuer“ Krankheitszustände oder auch Kontro-
nen, bildeten den Hintergrund der Analyse. Die
versen, die aus gesundheitsgefährdenden bio-
empirische Dimension der Studie umfasste eine
medizinischen Eingriffen entstehen. Dieses Auf-
Befragung von 112 Organisationen und eine ver-
blühen der Gesundheitsbewegung hat die Entste-
tiefende Untersuchung einer kleinen Anzahl von
hung vieler neuer Gesundheitsorganisationen94
Organisationen, die verschiedene Formen der
mit sich gebracht, von denen einige die öffentli-
Zusammenarbeit mit der pharmazeutischen In-
che Debatte über die sozialen Verhältnisse der
dustrie praktizieren. Die unterschiedlichen For-
irischen Gesundheitsversorgung bestimmt haben.
men wurden entlang eines Kontinuums angeord-
Positive Action zum Beispiel, eine Organisation
net, das von korporatistisch über vorsichtig ko-
von Frauen, die durch Transfusionen verseuchten
operierend bis konfrontativ reicht. Dabei zeigte
Blutes, das vom staatlichen Blood Transfusion
sich die stark zunehmende Tendenz in irischen
Service Board geliefert wurde, mit Hepatitis C in-
Gesundheitsorganisationen,
pharmazeutische
fiziert worden waren, haben damit Geheimnis-
Unternehmen als Verbündete in ihrem Streben
krämerei und Verantwortungslosigkeit in der Ge-
nach besserer Gesundheit zu verstehen. Die Ana-
sundheitsversorgung erfolgreich zu einer öffentli-
lyse von vier konstitutiven Dimensionen der „Ak-
chen Angelegenheit gemacht. Dennoch wissen
tionskulturen“ der Organisationen ermöglichte
wir im Allgemeinen wenig über Gesundheitsor-
es, die Legitimationslogiken freizulegen, die den
ganisationen in Irland. Was sagen sie über Ge-
verschiedenen Positionen
zum Pharmaspon-
sundheit, Krankheit und andere Fragen? Ist die
soring zugrunde liegen. Obschon die Untersu-
behauptete zahlenmäßige Zunahme Zeichen ei-
chung zeigt, dass pharmazeutische Unternehmen
ner lebendigen öffentlichen Sphäre, in der bio-
weitgehend erfolgreich darin waren, sich als
medizinische Orthodoxien angefochten werden?
darüber, was manche als
„Vereinnahmung“93
wohltätige Kraft und der Gerechtigkeit verpflichteter Akteur der irischen Gesundheitsbewegung
Der Artikel basiert auf einer Studie, die diese
zu definieren, wird zugleich vor dem einfachen
Fragen aufnimmt. Sie hatte zum Ziel, Licht auf
Schluss gewarnt, damit sei die „industrielle Ver-
die Ursprünge von Gesundheitsorganisationen,
einnahmung“ bewiesen.
ihre Aktivitäten und ihre Wirkung auf Kultur und
Gesellschaft zu werfen. In einem globalen Kon-
Wie in vielen Ländern gab es auch in Irland in
text, in dem soziale Beziehungen zunehmend
den vergangenen Jahrzehnten eine sprunghafte
durch Märkte bestimmt werden und unternehmerisches Sponsoring – speziell der pharmazeu-
Im englischen Original wird von “corporate colonization”,
also einer „Kolonisierung durch Konzerne“ gesprochen. Da
hierzulande in der Regel die „Vereinnahmung“ von Patientenorganisationen durch die Industrie kritisiert wird, wurde
dieser Begriff auch für die Übersetzung gewählt.
93
tischen Industrie – international ein kontroverses
94
Im englischen Original „health advocacy organizations“.
42
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Thema für mehr und mehr Gesundheitsorganisa-
„Aktionskulturen“ 97 sehen wir als Modell, das es
tionen wird, richtet die Studie ihr Augenmerk
ermöglicht, die Legitimationslogiken freizulegen,
besonders auf die Verbindungen, die irische Ge-
die den verschiedenen Formen der Zusammenar-
sundheitsorganisationen zu pharmazeutischen
beit mit pharmazeutischen Unternehmen zu-
Unternehmen eingehen. Gleich zu Beginn möchte
grunde liegen.
ich darauf hinweisen, dass die in dieser Studie
verwendete Terminologie eine Quelle anhalten-
Darauf folgt eine kurze Beschreibung des sozio-
den Unbehagens geblieben ist: Die Organisatio-
kulturellen Kontextes, in dem irische Gesund-
nen, auf die die Analyse abzielt, entziehen sich
heitsorganisationen verankert sind. Danach be-
einer klar umrissenen Darstellung. Anfangs
trachte ich die empirischen Aspekte der Studie.
bestand unser Vorhaben in einer Studie von
Hier werden verschiedene Formen der Interak-
„Patientenorganisationen“, aber später gaben wir
tion mit der Industrie deutlich, aber auch der
diesen Begriff zugunsten von „Gesundheitsorga-
überwältigende Erfolg pharmazeutischer Unter-
nisationen“ auf, vor allem, weil Menschen, die in
nehmen, sich als legitime Partner irischer Ge-
einigen der Organisationen engagiert waren, die
sundheitsorganisationen im Streben nach besse-
uns interessierten, die Identität eines „Patienten“
rer Gesundheit zu definieren. Die Versuche einer
zurückweisen. Die wechselnden Begriffe, die un-
kleinen Anzahl von Organisationen, diese ‚Wohl-
terschiedliche Organisationen in verschiedenen
tätigkeit’ der Industrie in Frage zu stellen, sind
Zusammenhängen verwenden, um ihre Aktivitä-
größtenteils fehlgeschlagen. Allerdings warnt die
ten zu beschreiben, verkomplizieren außerdem
Studie vor dem einfachen Schluss, damit sei die
das Problem.
„Vereinnahmung“ der organisierten Gesundheitsbewegung in Irland bewiesen.
Ich beginne damit, die Debatten kurz zu umreißen, die mein Forschungsvorhaben inspiriert
haben; sie betreffen vor allem das, was Einige als
Vereinnahmung95 der Öffentlichkeit durch den
privatwirtschaftlichen Sektor interpretieren. Auf
der Basis von Theorien der sozialen Bewegung
und von Strömungen in der Gesundheitssoziologie meine ich, dass die Analyse dessen, was Maren Klawiter96 die „Aktionskulturen“ von Gesundheitsorganisationen
nennt, dabei helfen
kann, der unterschiedlichen Einordnung des
Pharmasponsorings in diesen Zusammenschlüs-
Die Vereinnahmung durch Konzerne
Soziologische Forschung zu Gesundheitsorganisationen tendiert dazu, radikale Gruppierungen
in den Blick zu nehmen und sie begrifflich als
Organisationen sozialer Bewegung zu fassen, die
die kulturelle Autorität der Biomedizin herausfordern. In manchen Untersuchungen werden
Aktionen bestimmter psychiatriekritischer Grup-
sen auf den Grund zu gehen. Die Analyse der Organisationen entlang von vier Dimensionen ihrer
Im engl. Original „colonization“, Kolonisierung.
Klawiter, M. Racing for the cure, walking with women, and
toxic touring: Mapping cultures of action within the Bay Area
terrain of breast cancer. Soc. Probl. 46:104–126, 1999.
95
96
Die Übersetzung „Aktionskultur“ ist möglicherweise irreführend. In dem Begriff „cultures of action” schwingt auch
die Routine mit, die Handlungen durch Wiederholung mit
der Zeit bekommen; „cultures of action“ sind hier also eigentlich die Handlungsweisen, die sich in den Gruppen beziehungsweise Organisationen eingespielt haben und üblich
sind.
97
43
Wer bewegt die Selbsthilfe?
pen98 beispielsweise als „praktizierte Utopie“
dass die Theorie sozialer Bewegungen in Studium
konzeptualisiert, weil diese Organisationen dar-
und Analyse des Gesundheitsaktivismus nicht
um kämpfen, die Hegemonie der Psychiatrie zu
anwendbar ist. Mit diesem Fokus wird aber der
brechen und die Art, wie zu psychischer Gesund-
Automatismus der Annahme, dass alle Patienten-
heit gedacht, gehandelt und gesprochen wird, zu
und Gesundheitsorganisationen Organisationen
verändern.99
sozialer Bewegung sind, in Frage gestellt.
Ähnlich wurden einige AIDS-Orga-
nisationen, die für ihre unkonventionellen Protestmethoden bekannt sind, als „Gegenöffentlich-
Solche und andere Veränderungen wie etwa das
keiten“ analysiert.100 Die Tendenz, Patienten-
Aufkommen des Internetaktivismus haben dazu
und Gesundheitsorganisationen als soziale Bewe-
geführt, die Interpretationen des Gesundheits-
gungen aufzufassen, wird sowohl im Titel „Sozia-
aktivismus zu überdenken und erneute Versuche
le Bewegungen im Gesundheitsbereich“ der Fach-
mit sich gebracht, Typologien von Gesundheits-
zeitschrift Sociology of Health and Illness101 wie
organisationen zu entwickeln. Einige Wissen-
auch in einer Spezialausgabe der Zeitschrift Soci-
schaftler und Aktivisten aus der Bewegung der
al Science and Medicine102 mit dem provokanten
Konzernkritiker
Titel „Die Bewegung der Patientenorganisatio-
Gruppierungen und meinen damit von der
nen“ deutlich.103
Industrie etablierte Gruppen, die die verdeckte
sprechen
von
„Astroturf“-
Verfolgung unternehmerischer Interessen ermögDie wachsende Tendenz der globalisierten phar-
lichen und sich von ‚echten’ Basisorganisationen
mazeutischen Industrie, Gesundheitsorganisati-
unterscheiden lassen. Unter Überschriften wie
onen zu gründen und zu finanzieren, hat die
„Astroturf-Gruppen verschaffen der Pharma-
Aufmerksamkeit allerdings auf Organisationen
industrie noch mehr Einfluss“104 behaupten
gelenkt, die dazu beitragen, die Autorität der
Kritiker, dass pharmafinanzierte Organisationen
Biomedizin zu verstärken und ihren Geltungs-
den ohnehin beträchtlichen und verzerrenden
bereich auszuweiten. Diese Verschiebung der
Einfluss der Industrie auf die Gesundheitspolitik
Betrachtung bedeutet nicht notwendigerweise,
noch intensivieren.
Im Original wird von „mental health movement groups“
gesprochen, also ‚Gruppen aus der Bewegung zur psychischen Gesundheit’. Hierzulande ist mit dem Stichwort “psychiatriekritisch“ dieser Sinn in etwa getroffen, auch wenn die
Übersetzung nicht ganz korrekt ist.
99 Crossley, N. Working utopias and social movements: An
investigation using case study materials from radical mental
health movements in Britain. Sociology 33:809–830, 1999.
100 Brouwer, D. ACT-ing UP in Congressional hearings. In
Counterpublics and the State, ed. R. Asen and D. Brouwer.
State University of New York Press, New York, 2001
101 Soziologie der Krankheit und der Gesundheit; die Ausgabe erschien im September 2004. (Anm. d. Übers.)
102 Sozialwissenschaft der Medizin; die Ausgabe erschien
2006. (Anm. d. Übers.)
103 Landzelius, K. Introduction: Patient organization movements and new metamorphoses in patienthood. Soc. Sci.
Med. 62:529–537, 2006. (Anm. d. Hrsg.: Der Titel dieser
Online-Broschüre „Wer bewegt die Selbsthilfe“ nimmt diese
Provokation auf.)
98
Laut Marcia Angell, einer international führenden Kritikerin der pharmazeutischen Industrie,
ist das Sponsoring von Patientenorganisationen
ganz einfach eine verschleierte Form des Marketings, angewandt von einer Industrie, die mittlerweile „hauptsächlich eine Marketingmaschine
für den Verkauf von Medikamenten mit zweifelhaftem Nutzen“ ist.105 Für Länder wie Irland und
Centre for Media and Democracy. Astroturf Groups Give
Drug Industry Even More Clout. PR Watch, 2002.
www.prwatch.org/node/1584 (October 2005)
105 Angell, M. The Truth About Drug Companies - How They
Deceive Us and What to Do About It. Random House, New
York, 2004, S.xviii.
104
44
Wer bewegt die Selbsthilfe?
überhaupt Europa, in denen Werbung für verschreibungspflichtige
Medikamente106
trierten Gesundheitsdiskurs durchzusetzen und
verboten
die ungeheure Profitabilität des Sektors weiter in
ist, ist gezeigt worden, dass das Sponsoring von
die Höhe zu treiben – Ziele, die sich häufig nicht
Patientenorganisationen
Pharmaunternehmen
mit denen öffentlicher Gesundheit vertragen.
eine alternative Möglichkeit bietet, Patienten
Habermas’sche Ideen über die Kolonisierung der
Andere
Lebenswelt durch den Markt, die in der waren-
Gegner enger Verbindungen zwischen Industrie
förmigen Inwertsetzung111 von mehr und mehr
und Gesundheitsorganisationen bemühen sich,
Aspekten des Lebens deutlich wird, finden ihren
die Strategie108 der Industrie aufzudecken, die
Widerhall in einer Anzahl von Studien zum Phar-
laut Generaldirektor der Vereinigung der Briti-
masponsoring von Gesundheitsorganisationen.
schen Pharmazeutischen Industrie (ABPI, Asso-
Sie betonen das Problematische der Vorannah-
ciation of the British Pharmaceutical Industry)
me, Gesundheitsorganisationen seien Organisati-
darin besteht, „Bodentruppen in Form von Pati-
onen sozialer Bewegungen: Für Habermas und
entengruppen, sympathisierender medizinischer
seine Schüler sind soziale Bewegungen Kräfte, die
Meinung und Professionellen aus dem Gesund-
der Kolonisierung durch den Markt wider-
heitsbereich zu beschäftigen“, um die Gesund-
stehen.112 Die Studien heben hervor, dass manche
heitspolitik zu beeinflussen.109
Gesundheitsorganisationen diesen Trend der
über ihre Produkte zu
„informieren“.107
Kolonisierung überhaupt erst ermöglichen.
Organisationen wie Health Action International
(HAI) Europe stellen sich nicht nur gegen das
Ein Beispiel ist Samantha Kings Analyse des um-
Sponsoring durch die pharmazeutische Industrie,
fänglichen Sponsorings von Brustkrebs-Organi-
sondern versuchen auch, die verborgenen Ver-
sationen in den USA durch Unternehmen.113 Das,
bindungen einzelner Organisationen mit der
so sagt sie, habe erst zur Privatisierung des
Industrie aufzudecken und damit ihre repräsen-
Brustkrebs-Aktivismus' und einer privatisierten
tative Legitimität in Frage zu
stellen.110
Für diese
Öffentlichkeit geführt. Sie zeigt auch, dass Unter-
Kritiker ist das Sponsoring von Gesundheitsor-
nehmen miteinander
konkurrieren, um die
ganisationen eine Strategie, die von der Industrie
Gegenstände und Symbole, mit denen Organisa-
angewandt wird, um einen auf Medikamente zen-
tionen Menschen mobilisieren, in die Warenförmigkeit zu überführen; so versuchte Estée
Bekannt als „direct-to-consumer-marketing“, DTCM bzw.
“direct-to-consumer-advertising”, DTCA. Diese direkte Bewerbung von verschreibungspflichtigen Medikamenten ist
weltweit aus Gründen des Verbraucherschutzes verboten,
nur in den USA und Neuseeland nicht.
107 Herxheimer, A. Relationships between the pharmaceutical industry and patients’ organizations. BMJ 326:12081210, 2003.
108 Im Original „battle plan“.
109 Medawar, C., and Hardon, A. Medicines out of Control?
Antidepressants and the Conspiracy of Goodwill. Aksant,
Amsterdam, 2004. S.121.
110 Health Action International Europe. Does the European
Patients’ Forum Represent Patient or Industry Interests? A
Case Study in the Need for Mandatory Financial Disclosure.
Amsterdam, 2005.
106
Lauder, sich die rosa Brustkrebsschleife als ausschließliches Eigentum zu sichern. Die Privatisierung des Brustkrebs-Aktivismus, so King, führte
in den vergangenen zwanzig Jahren zu einer Verdrängung von der „Brustkrebsgesundheitspolitik“
Der im Original benutzte Begriff „commodification“ bezeichnet das Zur-Ware-Werden und -Machen einer Sache.
112 Kelleher, D. New social movements in the health domain.
In Habermas, Critical Theory and Health, ed. G. Scambler.
Routledge, London, 2001.
113 King, S. Pink Ribbons Inc: Breast cancer activism and
the politics of philanthropy. Int. J. Qual. Stud. Educ. 17:473–
492, 2004.
111
45
Wer bewegt die Selbsthilfe?
zur „Brustkrebs-Charity“. Die Krankheit werde
Klawiters Analyse unterstreicht die Notwendig-
heute weitgehend als Feld der Wohltätigkeit ver-
keit eines komplexeren Blicks auf die Brustkrebs-
standen, die sich auf verbraucherorientierte Men-
Bewegung und zugleich eines vielschichtigeren
schenfreundlichkeit stützt.
soziologischen Verständnisses der Kultur in sozialen Bewegungen. Ein Stichwort von Maren Kla-
Andere Anmerkungen zum privaten Sponsoring
witer aufnehmend behaupte ich, dass die Analyse
von Brustkrebs-Aktivismus warnen vor Schwarz-
von Aktionskulturen in Gesundheitsorganisatio-
Weiß-Denken in einfachen Kategorien von Gut
nen helfen kann, die Verschiedenheit ihrer Ver-
und Böse, wie es sich in Begriffen wie „Astroturf“
bindungen zu pharmazeutischen Unternehmen
und „authentischen“ Selbsthilfe-Organisationen
zu verstehen. Klawiter benutzt das Konzept, „um
widerspiegelt. Ein solches Denken könne dazu
hervorzuheben,
führen, die kulturelle Komplexität und die oft be-
Bewegungen durch eine Zusammenstellung von
stehenden Widersprüche zu übersehen, die Ge-
Praktiken öffentlich hergestellt und vollzogen
sundheitsorganisationen charakterisieren. Wie
wird, die sich abspielen, formuliert und auch
Phaedra Pezzullo zeigt, hat der von dem Pharma-
dramatisiert werden und die verkörpert sind“.118
unternehmen
Zeneca114
dass
die
Kultur
sozialer
eingeführte Nationale
Allgemeiner ausgedrückt bezieht sich der Begriff
Brustkrebsmonat (National Breast Cancer Awa-
der „Aktionskultur“ auf Bedeutungen, Werte,
reness Month) in den USA beispielsweise dazu
stillschweigendes Wissen und Verhaltensformen,
beigetragen, dass Brustkrebs ein Thema der öf-
die Organisationen äußern.
fentlichen Debatte geworden und das zuvor
bestehende Stillschweigen über die Krankheit
Dieser Ansatz ist der Perspektive der Theorie
aufgeweicht worden ist.115 Auch Maren Klawiters
sozialer Bewegungen verwandt, die die soziale
Untersuchungen
Aus-
Konstruktion von Bedeutungen durch Bewe-
drucksformen des Brustkrebs-Aktivismus be-
gungsaktivisten und Organisationen in den Blick
leuchten, wie widersprüchlich einzelne Organisa-
nimmt.119 Ein Fokus auf Aktionskulturen bringt
tionen sein können.116 Ihre Analyse einer US-
uns dazu, Organisationen als Schauplätze der
amerikanischen Brustkrebsstiftung kommt zu
Auseinandersetzung zu begreifen, die durch
dem Ergebnis, diese habe „sowohl als bahnbre-
interne Aushandlungen – etwa über den Rahmen
chende Vorreiterorganisation wie auch als kon-
von Themen, um die herum die Organisationen
servative Kraft“ agiert.117 Die Stiftung stehe an
aktiv werden – gekennzeichnet sind. Aktionskul-
vorderster Front bei der kulturellen Neudeutung
turen von Organisationen werden auch durch
von Brustkrebs, nimmt zugleich aber auch eine
externe Kräfte geformt, wie es etwa der soziokul-
unkritische Haltung gegenüber der Biomedizin
turelle Kontext ist, in dem sie operieren, oder
und hegemonialen Weiblichkeitskonzepten ein.
ihre Vernetzung mit anderen Organisationen, die
über
unterschiedliche
sich um ähnliche Anliegen mobilisiert haben –
das, was Nick Crossley das „Feld der KontroverSeit 1999 AstraZeneca, Anm. d. Übers.
Pezzullo, P. Resisting “National Breast Cancer Awareness Month”: The rhetoric of counterpublics and their cultural performances. Q. J. Speech 89:345–365, 2003.
116 Klawiter, a.a.O.
117 Klawiter, a.a.O., S.109.
114
115
Klawiter, a.a.O., S.106.
Benford, R., and Snow, D. Framing processes and social
movements: An overview and assessment. Annu. Rev. Sociol. 26:611–639, 2000.
118
119
46
Wer bewegt die Selbsthilfe?
se“ genannt hat, auf dem sie wirken.120 Aktions-
deln. In der Rahmenanalyse werden diese Artiku-
kulturen können zu verschiedenen Zeitpunkten
lationen des für die Beseitigung der Probleme,
der Organisationsgeschichte variieren und sich in
die zur Organisationsentstehung geführt haben,
unterschiedlichen Zusammenhängen auf vielfäl-
notwendigen Vorgehens als „prognostischer Rah-
tige Weise abspielen und ausdrücken.
men“ bezeichnet. Abschließend betrachte ich die
Positionierung der Organisationen gegenüber
Da die Kategorie der Aktionskulturen in man-
anderen Akteuren, Organisationen und Instituti-
cherlei Hinsicht verschwimmen kann, sollten die
onen. Dazu gehört der Rahmen, in dem Haupt-
sie bestimmenden Dimensionen festgestellt wer-
figuren und Widersacher, Freund und Feind,
den, die im Rahmen der empirischen Untersu-
Held und Anti-Held angeordnet werden. Mit die-
chung der Aktionskulturen zwischen den Organi-
ser vierten Dimension verbunden sind auch die
sationen verglichen werden können. In der fol-
Grenzziehungen der Organisation zwischen den
genden Analyse dreier Organisationen richte ich
Quellen „schmutzigen“ Geldes, das den Ruf der
den Blick auf vier miteinander verbundene
Organisation irgendwie gefährdet, und denen
Dimensionen der jeweils vorherrschenden Akti-
„sauberen“ Geldes, welches das nicht tut.
onskulturen. Zunächst betrachte ich die Konstruktionen des Gegenstandes, um die herum die
Organisationen aktiv sind. In der Analyse des
Rahmens sozialer Bewegungen wird dieser Pro-
Der Kontext irischer Gesundheits-
zess der Problemidentifizierung und -definition
organisationen
als „diagnostische
Einteilung“121
bezeichnet. Ähn-
lich wie C. Wright Mills’ „Wortschatz der Motive“
Ich werde kurz einige Besonderheiten des natio-
ist das der Komplex von Bedeutungen, die die
nalen Kontextes umreißen, in den die im Mittel-
Grundlage für die kollektive Handlung bilden. 122
punkt dieser Studie stehenden Organisationen
Zweitens betrachte ich die Identifikationssymbo-
eingebettet sind. In Irland gibt es eine lange Tra-
lik näher, die die Organisationen sich zueigen
dition der zivilgesellschaftlichen Organisierung.
gemacht haben. Wie zu sehen sein wird, vereinen
Allerdings veranschaulicht Irland (auch) die Be-
die drei Organisationen Menschen mit stigmati-
grenztheit der Annahme, eine Fülle zivilgesell-
sierten Patientenidentitäten, und jede Organisa-
schaftlicher Zusammenschlüsse sei Zeichen einer
tion versucht auf unterschiedliche Weise, diese
gesunden Demokratie. Während gegenkulturelle
Identitäten neu zu fassen oder – um Kyra Land-
Bewegungen sich in der Regel als freie Zusam-
zelius zu zitieren – „die Umdefinierung des
menschlüsse organisieren, ist die Kultur irischer
Patient-Seins“.123 Die dritte Dimension ist die
ziviler Zusammenschlüsse überwiegend konser-
Form, in der die Organisationen politisch han-
vativ. In der irischen Frauenbewegung beispielsweise
. Crossley, N. The field of psychiatric contention in the
UK, 1960–2000. Soc. Sci. Med.62:552–563, 2006.
121 In Original: “diagnostic framing”.
122 Mills, C. W. Situated actions and vocabularies of motive.
Am. Sociol. Rev. 5:904–913, 1940.
123 Landzelius, a.a.O., S.533, im Original: “represcribe patienthood”.
120
herrschte
der
liberale
Mainstream-
Feminismus vor. Ganz ähnlich sind die Ideologien vieler ländlicher Community-Organisationen
von einem kommunitären Populismus und der
Verneinung von Unterschieden, insbesondere
Klassenunterschieden, gekennzeichnet. Die iri-
47
Wer bewegt die Selbsthilfe?
sche politische Kultur ist hochgradig empfindlich
Weitere besondere Aspekte des nationalen Kon-
gegenüber Dissens und wird als extremes Beispiel
textes, in dem irische Gesundheitsorganisationen
eingestuft.124
agieren, sind die starke Tradition einer markt-
für eine verarmte öffentliche Sphäre
basierten Medizin und die Abhängigkeit der iriNationalismus und der damit verbundene My-
schen Wirtschaft von der globalisierten pharma-
thos gemeinsamer Interessen des irischen Volkes,
zeutischen Industrie als einem Motor des wirt-
der im Anschluss an die Teilunabhängigkeit von
schaftlichen Wachstums. Irland ist heute pro
Großbritannien 1922 seine Blütezeit hatte, hat
Kopf gerechnet der größte Nettoexporteur von
zusammen mit der jüngeren Hegemonisierung
Medikamenten weltweit. 2005 stammten 44 Pro-
neoliberaler Werte dazu beigetragen, dass die
zent des irischen Exports von der hauptsächlich
Leugnung von Interessenskonflikten allgemein
im Besitz ausländischer Unternehmen befindli-
vorherrscht. Der ökonomische Boom, der in den
chen Pharmaindustrie.127 In der öffentlichen Vor-
1990er Jahren zu einer Neuerfindung von Irland
stellung wird die pharmazeutische Industrie als
als dem „keltischen Tiger“ führte, wird in staatli-
Bereich wahrgenommen, der eine Schlüsselrolle
chen Diskursen größtenteils den unternehmeri-
bei der Transformation Irlands von einem der
schen Institutionen der „Sozialpartnerschaft“
ärmsten Länder Europas zum „keltischen Tiger“
zugeschrieben.125
gespielt hat.
Andere behaupten, dass die
Sozialpartnerschaft mit Unternehmen zur ökonomischen Transformation des Landes nur insofern beitrug, als sich dadurch das Stillhalten der
Gewerkschaften verfestigte; sie erklären den öko-
Die Befragung irischer Gesundheits-
nomischen Boom hauptsächlich aus der Wand-
organisationen
lung Irlands zu einer der offensten Ökonomien
der Welt und der Anpassung an das Diktat des
Im Jahr 2004 richteten wir eine Informations-
Neoliberalismus.126
In jedem Fall stützt sich das
datenbank zu 167 Organisationen ein. Aufgrund
Paradigma der sozialpartnerschaftlichen Politik
der oben erwähnten terminologischen Schwierig-
auf die irische Vorliebe für den Konsens und hält
keiten war der Entscheidungsprozess darüber,
sie zugleich aufrecht. Kern dieser Vorliebe ist die
welche Organisationen einzuschließen sind, nicht
korporatistische Idee, dass es keine Feinde gibt
einfach. Folgende Kriterien – von denen keines
und dass durch den Dialog Interessenskonflikte
wirklich klar umrissen ist – fanden Anwendung:
zwischen verschiedenen sozialen Gruppen ver-
Die Organisationen waren non-profit-orientiert,
söhnt werden können.
hauptsächlich auf Gesundheitsfragen gerichtet,
verstanden sich als Repräsentanten von Patienten oder von Gesundheitsdienstleistungen nutzenden Gruppen und sie waren in laufende,
O’Carroll, P. Culture lag and democratic deficit in Ireland
or: “Dat’s outside de terms of d’agreement.” Community
Dev. J. 37:10–19, 2002.
125 Kirby, P., Gibbons, L., and Cronin, M. (eds.). Reinventing
Ireland: Culture, Society and the Global Economy. Pluto
Press, London, 2002.
126 Allen, K. The Celtic Tiger: The Myth of Social Partnership
in Ireland. Manchester University Press, Manchester, 2000.
124
organisierte, kollektive Handlungen involviert.
Ein Fragebogen wurde entwickelt und getestet,
mit dem Informationen zu den Hintergründen
Irish Pharmaceutical Healthcare Association. Pharma
Ireland: An Industry Report.Dublin, 2005.
127
48
Wer bewegt die Selbsthilfe?
der Organisation, ihren Zielen, ihrer Bandbreite,
Prozent) berichteten von internationaler Anbin-
den Finanzen und Aktivitäten sowie den Kontak-
dung und bestätigten damit die These, dass Ge-
ten mit der pharmazeutischen Industrie gewon-
sundheitsaktivismus in hohem Grad internatio-
nen wurden. Der Fragebogen wurde nach der
nalisiert ist. Nachfolgende Forschungen zeigten
Pilotphase per Post und – wo möglich – per
eine starke Präsenz von Akteuren aus irischen
eMail verschickt. Insgesamt 112 Fragebögen wur-
Gesundheitsorganisationen in den Leitungsgre-
den ausgefüllt, das entspricht einer Rücklaufquo-
mien der wachsenden Zahl „europäischer“ Pati-
te von 67 Prozent. Darüber hinaus ermöglichte
entenorganisationen, die darauf gerichtet sind,
uns die Befragung, eine beträchtliche Anzahl von
die EU-Politik zu beeinflussen, und die häufig in
Veröffentlichungen der Organisationen zu sam-
weit stärkerem Maße als ihre nationalen Mit-
meln, da die meisten unserer Bitte nachkamen,
gliedsorganisationen vom Sponsoring der phar-
Kopien ihrer Veröffentlichungen mitzuschicken.
mazeutischen Industrie abhängen.
Außerdem verfügen 82 Prozent der befragten
Zusammen mit den Veröffentlichungen der
Organisationen über eine Website.
Organisationen versetzten uns die Daten der
Die Daten der Untersuchung bezeugen das Auf-
Befragung in die Lage, eine kleine Anzahl von
blühen von Gesundheitsorganisationen in Irland
Organisationen mit unterschiedlichen Verhält-
in den vergangenen Jahrzehnten. Nur 17 Prozent
nissen zur Pharmaindustrie für die vertiefte Ana-
der befragten Organisationen wurden vor 1970
lyse auszuwählen. Bei dieser Auswahl ging es
gegründet. Die Daten zeigen außerdem, dass die
nicht darum, eine repräsentative Stichprobe zu
Organisationen sehr unterschiedlich sind. So
identifizieren, sondern Organisationen herauszu-
haben beispielsweise 32 Prozent ein jährliches
greifen, die voneinander verschiedene Beziehun-
Budget von weniger als 25.000 Euro, während
gen zur Industrie aufweisen. Ein Schlüsselkrite-
das Jahresbudget von 22 Prozent der Organisati-
rium der Auswahl waren Einkünfte durch das
onen eine Million Euro übersteigt. 71 Prozent der
Sponsoring der pharmazeutischen Industrie. Wir
befragten Organisationen beschäftigen bezahlte
wollten sowohl Organisationen einschließen, die
Mitarbeiter, die restlichen Zusammenschlüsse
solche Gelder erhalten hatten, wie auch Organi-
werden ausschließlich von Freiwilligen betrieben.
sationen, die keine Zahlungen bekamen. Ebenso
Beinahe die Hälfte der Organisationen (47 Pro-
sollten Organisationen, die ihre Beziehungen ge-
zent) berichtete, dass sie Finanzierungen und/
genüber der Industrie als freundlich beschreiben,
oder vergleichbare Unterstützungen von der
wie auch solche, die sich feindlich positionieren,
pharmazeutischen
genauer untersucht werden.
Industrie
erhalten
haben.
Allerdings werden detaillierte Informationen in
den Publikationen der Organisationen und auf
Hinweise auf diese Positionierungen gingen aus
ihren Websites im Allgemeinen nicht zur Verfü-
den Daten hervor. Eine kleine Anzahl der Organi-
gung gestellt.
sationen beispielsweise gab im Fragebogen an,
Pharmasponsoring aufgrund von Praktiken der
Die Untersuchung förderte auch die zahlreichen
Industrie zurückzuweisen, die sie als unethisch
internationalen Verbindungen der Organisatio-
ansehen. Dagegen gestanden andere Organisati-
nen zutage. Zwei von drei Organisationen (66
onen in ihren Publikationen und auf ihren Web-
49
Wer bewegt die Selbsthilfe?
sites Unterstützung durch die pharmazeutische
tonen, dass diese Organisationen als Arenen der
Industrie ein, die in manchen Fällen auch die
Verhandlung verstanden werden müssen, in
Veröffentlichung von Links zu Websites der
denen der organisatorische Rahmen beständig
Unternehmen oder deren Logos umfasste.
ausgehandelt wird.
In der zweiten Phase unserer Forschung führten
wir Interviews durch und analysierten die von
den und über die Organisationen veröffentlichten
Medical Research Charities Group:
Dokumentationen. Von den Organisationen ver-
Die Gruppe medizinischer
anstaltete Konferenzen und Seminare boten wei-
Forschungseinrichtungen
tere Gelegenheiten für die ethnographische Forschung. Ich werde mich hier auf drei Organisati-
Die Gruppe medizinischer Forschungseinrich-
onen konzentrieren: die Gruppe medizinischer
tungen (Medical Research Charities Group,
Forschungseinrichtungen
Research
MRCG), ein Zusammenschluss karitativer Orga-
Charities Group), AWARE - Hilfe im Kampf ge-
nisationen, wurde 1998 gegründet, um „die
gen die Depression (AWARE - Helping to Defeat
Finanzierung biomedizinischer Forschung durch
Depression) und die AIDS-Allianz Dublin (Dub-
Wohlfahrtsorganisationen in Irland zu unter-
lin AIDS Alliance). Insgesamt 15 Interviews wur-
stützen, voran zu bringen und praktisch zu
den im Jahr 2005 mit Akteuren aus diesen Orga-
ermöglichen“.128 Ihr gehören einige der größten
nisationen geführt. Die meisten der Interviewten
Gesundheitsorganisationen des Landes an, so
waren leitende Angestellte oder Leitungsmitglie-
etwa die viele Millionen Euro schwere irische
der.
Krebsgesellschaft. Zu den Mitgliedern gehören
(Medical
aber auch kleinere Organisationen wie die AsthIch untersuche die Beziehungen der Organisatio-
ma-Gesellschaft von Irland. Sitz der MRCG sind
nen zur pharmazeutischen Industrie im Hinblick
die Büros von Fighting Blindness (etwa: Kampf
auf eine Analyse ihrer Aktionskulturen. Im Er-
der Blindheit). Der Direktor der Organisation
gebnis der Konzentration auf die Darstellungen
spielte auch eine wesentliche Rolle bei der Grün-
von Leitungsmitgliedern in den Organisationen
dung der MRCG. Deren Aktivitäten sind darauf
und auf veröffentlichtes Material bezieht sich die
gerichtet, die Regierungspolitik so zu beeinflus-
Analyse vor allem auf die derzeit vorherrschen-
sen, dass sie eine „hilfreiche Umgebung“ für bio-
den Aktionskulturen. Drei verschiedene Formen
medizinische Forschung schafft. Außerdem will
der Interaktion der Organisationen mit der phar-
die MRCG den Umfang der finanziellen Mittel für
mazeutischen Industrie sehe ich: die korporati-
Forschungsaktivitäten medizinischer Wohltätig-
stische Zusammenarbeit, das verhaltene Mitein-
keitsorganisationen steigern und Mitgliedsorga-
ander und die Konfrontation. Diese Charakteri-
nisationen bei der Planung und Durchführung
sierungen sollen die Komplexität der dynami-
biomedizinischer Forschungsprojekte behilflich
schen Aktionskulturen in den Organisationen
sein. Die MRCG wird mittlerweile offiziell aner-
nicht unterschlagen. Ich verstehe sie als Möglich-
kannt: Sie ist im Leitungsgremium der offiziellen
keit, kulturelle Tendenzen innerhalb der Organisationen zu benennen, möchte dabei aber be-
128 Medical Research Charities Group. Building a Network of
Irish Research Charities.Dublin, 2005.
50
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Behörde für die Forschung, dem Ausschuss für
cherweise eines Tages durch biomedizinische
Gesundheitsforschung (Health Research Board,
Forschung entwickelt werden. Wie auch der Na-
HRB), vertreten.
me der Organisation, die eine wesentliche Rolle
bei der Etablierung der MRCG gespielt hat –
Im August 2005 starteten MRCG und HRB ge-
Fighting Blindness – nahelegt, sind es Krankhei-
meinsam ein Programm, in dessen Rahmen For-
ten, die mit den Waffen der Biomedizin bekämpft
schungsstipendien zu seltenen Erkrankungen
werden sollen. Die optimistische Darstellung
vergeben werden. Die irische „Plattform für Pati-
über technologische Fortschritte der Biomedizin
entenorganisationen, Wissenschaft und Industrie
als Mittel zur Verbesserung der Gesundheit und
(IPPOSI)“ wurde aus der MRCG heraus gegrün-
zur Bekämpfung von Leiden wird auch in einer
det. Sie existiert bereits seit 2000, ist aber eine
Pressemitteilung des Vorsitzenden der MRCG
spontane, an Themen orientierte Plattform ge-
anlässlich des Starts des Stipendienprogramms
blieben. IPPOSI wurde nach dem Vorbild der
für seltene Erkrankungen deutlich: „Dieses neue
„Europäischen Plattform für Patientenorganisa-
Programm wird den Betroffenen und ihren Fami-
tionen, Wissenschaft und Industrie (EPPOSI)“
lien Hoffnung auf eine künftige Behandlung ihrer
gebildet, einer „Koalition zwischen Patienten,
Erkrankung geben.“ 130
Wissenschaft und Industrie“. Diese hat das Ziel,
„die gesetzgeberischen und rechtlichen Prozedu-
Die Papiere zu einem 2003 durchgeführten
ren zur schnellen Entwicklung von Therapien in
IPPOSI-Seminar sind vom Tenor beherrscht, das
verbessern.“129
Die Mitgliedsor-
gesetzgeberische und regulatorische Umfeld in
ganisationen der MRCG repräsentieren innerhalb
Irland behindere zum Teil die biomedizinische
von IPPOSI die „Patientenorganisationen“. Bis-
Suche nach Behandlungen und müsse deshalb
her hat sich die Arbeit der Plattform auf die Or-
verändert werden. Auf meine Frage nach konkre-
ganisation von Seminarreihen beschränkt. Au-
ten Aspekten der Gesetzgebung und Regulierung,
ßerdem wurden Anstrengungen unternommen,
die die MRCG zu ändern hofft, sprach deren Vor-
öffentliche Mittel zu erhalten, um den IPPOSI-
sitzender über die Schwierigkeiten, die die von
Seminaren ein sichereres Standbein zu verschaf-
den Regulierungsbehörden verlangte Menge an
fen.
Informationen pharmazeutischen Unternehmen
ganz Europa zu
bei der Marktzulassung ihrer Produkte bereitet.
Der inhaltliche Rahmen, in dem sich MRCG und
Überregulierung, so seine Antwort, würde ver-
IPPOSI bewegen, wird im Titel eines von IPPOSI
hindern, dass Medikamente auf den Markt kom-
2003 veranstalteten Seminars deutlich: „For-
men.131 Während diese Interpretation des Sach-
schung in Behandlungsmethoden verwandeln“.
verhalts mit Forderungen der Industrie nach be-
Die Krankheiten, die den Fokus der Mitglieds-
stimmten Formen von Deregulierung überein-
organisationen bilden, sind allgemein als Erkran-
stimmt, weist die Lobbyarbeit der MRCG bezüg-
kungen konstruiert, für die Behandlungen mögli-
lich der EU-Direktive zu klinischen Studien
Irish BioIndustry Association. Turning Research into
Cures. www.biotechnologyireland.com/pooled/articles/
BF_NEWSART/view.asp?Q=BF_NEWSART_54632
(October 2005).
130 New body awards funding for rare diseases. Irish Times,
September 9, 2005.
131 Medical Research Charities Group Chairman. Interview
with the author, Dublin, February 15, 2005.
129
51
Wer bewegt die Selbsthilfe?
darauf hin, dass die von der Organisation ange-
Patienten gehen neue Allianzen mit Forschern
strebten Veränderungen des regulatorischen Um-
und Klinikern ein.133 Es gibt Hinweise darauf,
feldes sich nicht immer mit Industrieinteressen
dass das Ausmaß, in dem die von der MRCG rep-
decken. Hier äußerte die MRCG Bedenken wegen
räsentierten
möglicher gegenläufiger Effekte der vorgeschla-
schungsaktivitäten steuern, variiert. In einigen
genen
‚akademisch/
Mitgliedsorganisationen bestehen die medizini-
investigator-geleiteter’ Forschung, und zwar in
schen Forschungskomitees ausschließlich aus
Opposition zu der von multinationalen pharma-
Professionellen.
Gesetzgebung
bezüglich
Patienten
biomedizinische
For-
zeutischen Unternehmen betriebenen Art von
Das Politikverständnis, das sich in den Praktiken
Forschung.132
von MRCG und IPPOSI ausdrückt, betont die für
Sowohl MRCG wie IPPOSI beanspruchen als
die Beteiligten gewinnbringende Konsensbildung
Identifikationssymbol den Begriff des ‚Patienten’.
zwischen verschiedenen „Interessenvertretern“
Dabei werden ‚Patienten’ als wissende, aktiv han-
durch Dialog – eine Handlung, die von Korpora-
delnde und nicht als passive Empfänger von Ge-
tismus gekennzeichnet ist. Die Notwendigkeit des
sundheitsfürsorge
die
Konsenses zwischen verschiedenen Interessen-
Bedeutung des Einschlusses von Patienten in die
gruppen wurde vom Vorsitzenden während des
Entwicklungsprozesse neuer medizinischer The-
Interviews betont: Als ich von der ‚Lobbyarbeit
rapien betont wird, befördert diese Konstruktion
der IPPOSI’ sprach, korrigierte er mich: „Lobby-
eine Neuformierung des Patient-Seins, die eine
arbeit ist nicht das richtige Wort für IPPOSI,
Transformation herkömmlicher sozialer Bezie-
denn wir versuchen, auf der Basis von Konsens
hungen in der biomedizinischen Forschung mit
zu arbeiten. ... (Wir) sehen es so, dass die alte
sich bringt und die Grenzen zwischen Subjekten
Form der Lobbyarbeit auf lange Sicht längst nicht
und Objekten wissenschaftlicher Untersuchung
so effektiv ist. Viel besser geht man das auf der
verwischt. Auf die Frage, in welchem Ausmaß
Grundlage des Versuchs an, einen Konsens zwi-
Patienten biomedizinische Forschungsaktivitäten
schen allen Gruppen zu erreichen.“134 Diese Dis-
bestimmen, antwortete der Vorsitzende der
tanzierung der Organisation von der „alten
MRCG: „Jedes einzelne der Forschungsprojekte,
Form“ des Lobbying spiegelt das Politikverständ-
die wir [Fighting Blindness] begonnen haben,
nis wider, das in Irland seit der Ära der Sozial-
wurde von uns geleitet (...) Patienten überneh-
partnerschaft allgegenwärtig ist. Es gleicht außer-
men die Führung in dem, was sie getan wissen
dem stark dem Ansatz der Organisation, nach
wollen, weil Patienten besser informiert sind und
deren Vorbild IPPOSI geformt wurde: Der Ansatz
die Forschungsbereiche kennen, in denen Resul-
bei EPPOSI ist ein „integrierender und strikt
tate zu erwarten sind.“ Diese Auffassung des Pa-
konsensorientierter“, in den „Patienten, Wissen-
tient-Seins gleicht dem, was als Partnerschafts-
schaftler, Kliniker, Finanziers und Industrie
konstruiert.
Indem
modell in der Forschung bezeichnet worden ist:
Rabeharisoa, V. The struggle against neuromuscular
diseases in France and the emergence of the “partnership
model” of patient organization. Soc. Sci. Med. 57:2127–
2136, 2003.
134 Medical Research Charities Group Chairman. Interview
with the author, Dublin, February 15, 2005.
133
Medical Research Charities Group. Medical Research
Charities Group caution Minister for Health. January 20,
2004. www.research-charities.org/ClinicalTrials
Directivestatement.doc (October 2005).
132
52
Wer bewegt die Selbsthilfe?
ebenso wie andere gesundheitspolitische Entscheidungsträger“ eingeschlossen
sind.135
MRCG organisierten Seminar sprach ein Vertreter von Merck Sharp & Dohme über die Vorteile
einer Partnerschaft zwischen Patientenorganisa-
MRCG und IPPOSI verstehen Patientenorganisa-
tionen und Industrie für beide Seiten. Er betonte,
tionen, Industrie, Wissenschaftler und Regierun-
dass viele pharmazeutische Unternehmen eher
gen als Freunde und Partner im Streben nach
an einer Verbindung137 mit Patientenorganisatio-
besserer Gesundheit. Die pharmazeutische In-
nen als am Sponsoring interessiert seien, also
dustrie wird als essentieller Verbündeter in der
mehr an „direktem Kontakt“ als an reiner Förde-
Suche nach Lösungen für medizinische Probleme
rung.
gesehen. Wie es in einer IPPOSI-Vorlage an die
Regierung heißt, „ist heutzutage allgemein akzep-
Gefragt nach der Gefahr, Interessenkonflikte zwi-
tiert, dass neue Therapien und Diagnostika nur
schen Patienten und Industrie zu übersehen,
unter Einbeziehung der Industrie entwickelt wer-
unterstreicht der Vorsitzende der MRCG das
den können“.136 Unter Verweis auf die Größen-
Ausmaß gemeinsamer Interessen. Obwohl er die
ordnung der für biomedizinische Forschung not-
Möglichkeit dieses Problems einräumt, bleibt er
wendigen Investitionen wird darin argumentiert,
dabei, dass die Gefahr gebannt werde, weil man
dass neue Therapien nur in einem industriellen
gemeinsam Bilanz ziehe und auch, weil die
Umfeld entwickelt werden können. In dem
Akteure aus der Industrie „wirklich interessiert
Papier wird festgestellt, dass „Forschungseinrich-
und aufrichtig in ihrem Umgang mit Patienten-
tungen zu erkennen beginnen, dass es absolut
organisationen sind. Deshalb müssen sie Men-
grundlegend ist, eng mit der Industrie zusammen
schen mit hohem moralischem Standard sein.“137
zu arbeiten ... wenn ernsthaft Lösungen für die
Ähnlich beschreiben viele Interviewpartner aus
medizinischen Probleme gefunden werden sollen,
anderen MRCG-Mitgliedsorganisationen, wie sie
um die es ihnen geht“.
ihre Beziehungen mit Sponsoren aus der Pharmaindustrie so „managen“, dass ihre Organisati-
Anreize für die Pharmaindustrie, an IPPOSI teil-
on nicht kompromittiert wird. Für Einige bedeu-
zunehmen, sind ebenfalls erkennbar. Dazu gehö-
tet das die Einhaltung der Leitlinien der irischen
ren ein leichterer Zugang zu Freiwilligen für kli-
pharmazeutischen Industrie zur Zusammenarbeit
nische Studien, eine Verstärkung der Anstren-
mit Patientenorganisationen. Diese Richtschnur
gungen, die Gesetzgebung zu beeinflussen, und
befürwortet eine stärkere Zusammenarbeit zwi-
die Möglichkeit für die Industrie, ihr öffentliches
schen Industrie und Patientenzusammenschlüs-
Image zu verbessern. Auf einem 2005 von der
sen und macht geltend, dass die Unabhängigkeit
der Patientenorganisationen sichergestellt wer-
European Platform for Patients’ Organizations, Science
and Industry. Fifth Workshop on Partnering for Serious Disease Therapy Development: A Responsible System for
Healthcare Innovation and Access to Care, Berlin, November 23–24, 2004. www.epposi.org/frameconferences.html
(February 2005).
136 Irish Platform for Patients’ Organizations, Science and
Industry. Advantages of IPPOSI. Document presented to the
Minister for Trade, Enterprise and Employment, Dublin,
June 2004.
135
den kann, wenn die vorgeschriebenen Praktiken
befolgt werden. Deshalb überrascht es auch nicht,
dass die MRCG Gelder und andere Formen der
Unterstützung von der pharmazeutischen Industrie akzeptiert. Der Vorsitzende betont, dass das
137
Im engl. Original: „interfacing“.
53
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Fehlen staatlicher Förderung für die Kernaktivi-
aus der Industrie befragt wurde. Er sagte: „Un-
täten der MRCG die Organisation von unterneh-
glücklicherweise können Bettler nicht wählen.“141
merischer Förderung abhängig macht. Alle Mitgliedsorganisationen der MRCG, die an der Um-
Die Befragten einiger anderer Mitgliedsorganisa-
frage teilnahmen, gaben an, Gelder von der
tionen äußern eine ambivalentere Einstellung zu
pharmazeutischen Industrie erhalten zu haben.
ihren Sponsoren aus der pharmazeutischen Industrie. Der Kommunikationsmanager der iri-
Allerdings stehen dahinter unterschiedliche Be-
schen Krebsgesellschaft beispielsweise unter-
gründungsmuster. In der Regel erhalten die
scheidet sie von den „sicheren“ Sponsoren wie
Organisationen nur einen kleinen Anteil ihrer
etwa Banken und Versicherungsgesellschaften
Einkünfte vom Staat. In dieser Beziehung unter-
und merkt an, dass sie „als ein gesondertes The-
scheiden sich irische Zusammenschlüsse von Ge-
ma behandelt werden müssen“. Sponsoren aus
sundheitsorganisationen in einigen anderen eu-
der pharmazeutischen Industrie seien „im Hin-
ropäischen Ländern wie Deutschland oder den
blick auf Kommunikation ein Lager für sich“.142
Niederlanden, wo staatliche Förderung in der
Regel beträchtlich größer ist. Weniger als zehn
Organisationen, die stark von öffentlicher Förde-
Prozent der jährlichen Einkünfte der irischen
rung abhängen, sind ständig wachsam in Bezug
Diabetes-Föderation
stammen
auf ihr öffentliches Image. Einige Interviewpart-
vom Staat, während etwa 30 Prozent von Unter-
ner sprechen über ihre Beziehungen zu Sponso-
nehmen bereitgestellt werden.138
ren aus der pharmazeutischen Industrie vor dem
beispielsweise
Hintergrund der Notwendigkeit, zu „managen“,
Innerhalb der MRCG kann diese Organisation als
wie diese Beziehungen in der Öffentlichkeit
besonders „pharmafreundlich“ eingestuft wer-
ankommen. Im Ergebnis offenbart die MRCG
den, was sich auf ihrer Website widerspiegelt: Sie
eine Form der Interaktion mit der pharmazeuti-
zeigt das Logo des Hauptsponsors aus der
schen Industrie, die als korporatistisch bezeich-
Industrie ebenso wie eine Liste der „Top-Sponso-
net werden kann. In ihrer Aktionskultur wird
renunternehmen“139
der Organisation. Die Gene-
Gesundheit als eine Suche nach biomedizinischen
ralsekretärin der irischen Asthmagesellschaft
Lösungen für Krankheit aufgefasst, die durch
betont, dass die Gelder der pharmazeutischen
Konsens voran gebracht wird und in der freundli-
Industrie die Organisation in die Lage versetzen
che Beziehungen zwischen Patientenorganisatio-
würden, Aufmerksamkeit für die Erkrankung zu
nen und der pharmazeutischen Industrie geboten
wecken, die Zahl der Behandlungen von Asthma
sind. Pharma-Zuwendungen werden nicht nur als
zu steigern und andere wichtige Arbeit zu tun.140
„sauberes Geld“ konstruiert, sie bilden auch die
Sie wiederholt die Ansichten ihres Vorgängers,
materielle Basis wichtiger Aspekte der von der
der den Kampf seiner Organisation ums Überle-
Organisation betriebenen Arbeit.
ben betonte, als er zur Akzeptanz von Geldern
Diabetes Federation of Ireland CEO. Interview with the
author, Dublin, July 22, 2005.
139 Im Original heißen sie “Gold Card Corporate Sponsors”.
140 Asthma Society of Ireland CEO. Interview with the
author, Dublin, July 22, 2005.
138
141 Barrington, K. Drug prices: Is there a cure? Sunday
Business Post, June 1, 2003.
142 Irish Cancer Society Communications Manager. Interview with the author, Dublin, July 26, 2005.
54
Wer bewegt die Selbsthilfe?
AWARE – Hilfe im Kampf gegen
Regierungskommission erklärte, kämpft die Or-
Depression
ganisation darum, zu vermitteln, dass „Depression eine Erkrankung ist, dass sie behandelt wer-
Die Ursprünge der 1985 gegründeten Organisati-
den und unbehandelt mit Selbstmord enden
on AWARE - Helping to defeat depression (Hilfe
kann“.147 Auf der Website von AWARE wird dar-
im Kampf gegen Depression) liegen in einer
auf hingewiesen, dass Depression viele Formen
Selbsthilfegruppe namens „Irische Gruppe für
annehmen kann, die von Gefühlen der Traurig-
psychische Erkrankungen“143, die von einem Psy-
keit bis zu Krankheiten reichen, die medizinische
chiater an einem Dubliner psychiatrischen Kran-
Behandlung erfordern. Drei Arten der Depression
kenhaus betrieben wurde. Die Organisation ist
werden genannt: Reaktive, unipolare und bipola-
mittlerweile in ihre eigenen Räumlichkeiten um-
re, wobei die letzteren beiden als in erster Linie
gezogen, verfügt über Einkünfte in Höhe von
biologische,
jährlich 1,3 Millionen Euro und beschäftigt 15 fest
sind. Die Organisation bemerkt weiter, dass
ererbte
Krankheiten
konstruiert
Sie will „an Depression
„depressive Erkrankungen sehr stark auf Behand-
leidende Menschen und ihre Familien unterstüt-
lungen ansprechen“ und dass „Heilung“ mit Hilfe
zen und die Mythen und Missverständnisse rund
von Psychotherapien und „die geistige Verfas-
um diese zerstörerische Krankheit auflösen“.145
sung nicht beeinflussenden Antidepressiva“ mög-
Hauptaktivitäten der Organisation bestehen in
lich ist.
angestellte
Mitarbeiter.144
einem Telefondienst, einem Netzwerk von Unterstützungsgruppen, Programmen für mehr Auf-
Wie anderswo auch wird diese biomedizinische
merksamkeit gegenüber der Erkrankung und in
Konstruktion von Depression in Irland von Akti-
Forschung. Wie viele der untersuchten Organisa-
visten angefochten. Sie fassen Depression als
tionen hat auch AWARE starke internationale
Emotion, nicht als Krankheit auf und wenden
Verbindungen mit Organisationen wie GAMIAN
sich gegen medikamentenbasierte Behandlungs-
Europa, der „Globalen Allianz von Fürsprecher-
formen.148 Kürzlich räumte ein in der Öffentlich-
organisationen psychisch Erkrankter“.146
keit viel beachteter Psychiater, der Depression als
Krankheit versteht, nichtsdestotrotz ein, dass sie
Bei AWARE ist Depression als Krankheit gefasst,
in Irland ‚überdiagnostiziert’ wird und dies zu
die biomedizinisch zwar effektiv behandelt wer-
ungeeigneten Behandlungen führt.149
den kann, aufgrund fehlenden Wissens und verbreiteter Stigmatisierungen in der Öffentlichkeit
Begriffe wie ‚die psychisch Kranken’, ‚Leidende’
aber nicht ausreichend behandelt wird. Depressi-
und ‚Patienten’ gehören zum Vokabular von
on ist konstruiert als gesellschaftlich noch nicht
AWAREs Beschreibungen der von Depression
vollständig anerkannte Krankheit. Wie die Gene-
betroffenen Individuen. Allerdings werden diese
ralsekretärin von AWARE 2004 gegenüber der
Aware. Presentation to the Joint Committee on Arts,
Sport, Tourism, Community, Rural and Gaeltacht Affairs,
Dublin, February 18, 2004.
148 Corry, M., and Tubridy, A. Depression: An Emotion Not a
Disease. Mercier Press, Cork, 2005.
149 Houston, M. Psychiatrist warns of overdiagnosing depression. Irish Times, September 20, 2005.
147
Der Originalname lautete „Mood Disorder Fellowship of
Ireland“.
144 Aware Annual Report for 2004. Dublin, 2005.
145 Aware. www.aware.ie (October 2005).
146 Der Originalname lautet „Global Alliance of Mental Illness
Advocacy Networks“.
143
55
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Bezeichnungen nicht verwendet, um „normale“
•
Forschung. Die von der Organisation unter-
von depressiven Menschen zu unterscheiden,
nommene Forschung beinhaltet Studien zu
sondern in einer Weise, die nahelegt, dass diese
biologischen, sozialen und psychologischen
Begriffe mehr Menschen unter uns beschreiben,
Aspekten der Depression; außerdem finan-
als bisher erkannt worden sind. Das wird in der
ziert sie die Abteilung für Depressionsfor-
Behauptung der Organisation deutlich, dass einer
schung an einem psychiatrischen Kranken-
von vier Iren „ein Risiko für eine Depression
haus in Dublin. Der Gründer und medizini-
hat“.150 Auch die Taktik, persönliche Geschichten
sche Berater von AWARE bezeichnet die
bekannter Persönlichkeiten zu veröffentlichen,
Organisation als wissenschaftsorientiert: Er
die ihre Erfahrungen mit Depression enthüllen,
weist darauf hin, dass AWARE Vorstellungen
konstruiert an Depression Leidende als normale
von Depression zurückweist, für die „es kei-
Menschen. Zusätzlich zu dem Vorgehen gegen die
nen vernünftigen wissenschaftlichen Grund
Stigmatisierung von Depression versucht die Or-
gibt“.153
ganisation, das Stigma zu bekämpfen, das mit der
•
gegenseitige Hilfe. Im Zentrum der Arbeit
Einnahme von Antidepressiva verbunden ist, so
von AWARE stehen Selbsthilfegruppen, und
der regionale Koordinator der Organisation im
auch sie teilen orthodoxe Vorstellungen von
Interview.151
Diese Versuche, Depression und ihre
Depression und ihrer Behandlung. Der regio-
medikamentöse Behandlung zu normalisieren,
nale Koordinator erklärt, dass diese Gruppen
sind Bestandteile eines Kampfes um die Erweite-
innerhalb der Organisation als Ergänzung
rung der Grenzen der depressiven Patienteniden-
der biomedizinischen Versorgung gesehen
tität. Solche Neuzuschreibungen zusammen mit
werden: „Sie helfen Menschen bei der Einhal-
dem Kampf um größere gesellschaftliche Aner-
tung der Therapie, sie bieten gegenseitige
kennung der Krankheit treffen eindeutig mit den
Hilfe und emotionale Unterstützung. Sie hel-
ökonomischen Interessen der pharmazeutischen
fen Menschen von Anfang an, was das Mana-
Industrie zusammen, die auf eine Erweiterung
gement und die Akzeptanz ihrer Erkrankung
des Marktes für Antidepressiva aus ist, den lukra-
betrifft ... sich an ihren Therapieplan zu hal-
tivsten unter den „Lifestyle“-Medikamenten.152
ten und einen Rückfall zu verhindern.“154 Neben der Ermöglichung gegenseitiger Unter-
Die Arbeit von AWARE umfasst
stützung von Menschen mit Depressionen
und der Unterstützung bei der Einhaltung
•
die Information der Öffentlichkeit. Dazu
gehört eine jährliche landesweite „Woche der
Depression“
und
das
Schulbildungspro-
gramm „Beat the Blues“.
der Therapiepläne, so der Koordinator weiter, kompensieren Selbsthilfegruppen Mängel
der bestehenden Gesundheitsversorgung wie
etwa die Kürze des Arztgesprächs. Er und andere sprechen auch über die „Grundregeln“
in diesen Selbsthilfegruppen, etwa dass Dis-
Aware. Submission to the Joint Committee on Health and
Children, Dublin, January 20, 2005.
151 . Aware Regional Coordinator. Interview with the author,
Waterford, September 23, 2005.
152 Business Insights. The Lifestyle Drugs Outlook to 2008.
London, 2003.
150
153 Aware Founder. Interview with the author, Dublin,
August 29, 2005.
154 Aware Regional Coordinator. Interview with the author,
Waterford, September 23, 2005.
56
Wer bewegt die Selbsthilfe?
kussionen über spezielle Therapien oder me-
blick auf Arzneimittelsicherheit verfügten. Mit
dizinisches Personal nicht gestattet sind –
anderen Worten nimmt AWARE an öffentlichen
eine Regel, die Möglichkeiten einer kollekti-
Debatten zur Behandlung von Depression eher
ven Kritik an biomedizinischer Autorität
nicht teil, weil für die Organisation solche
reduziert.
Diskussionen in den Bereich biomedizinischer
Expertise gehören und außerhalb ihrer Grenzen
Diskussionen über unerwünschte Nebenwirkun-
nicht zu führen sind.
gen von Psychopharmaka haben in den letzten
Jahren nicht nur in der irischen Öffentlichkeit,
In den Interviews mit den Angestellten von
sondern auch international zu einer Besorgnis
AWARE bestand ein wiederkehrendes Thema
über psychiatrische Praktiken geführt, die einige
darin, dass „Schlüssel-Freunde“ der Organisation
Beachtung in den Medien erfahren hat. Trotz
der Öffentlichkeit angehören, von der die Organi-
ihres Engagements für Information und Bildung
sation finanziell abhängig ist. 2004 kamen weni-
der Öffentlichkeit versucht AWARE, sich aus die-
ger als 17 Prozent der Einkünfte der Organisation
sen Debatten heraus zu halten. Die Generalsekre-
aus staatlichen Töpfen. Der Rest wurde größten-
tärin der Organisation erklärt, die Teilnahme an
teils durch öffentliche Fundraising-Initiativen
solchen öffentlichen Dialogen gehöre nicht zum
aufgebracht. Auf diese Abhängigkeit vom Fund-
Aufgabengebiet der Organisation. „Wir überlas-
raising wurde in den Gesprächen über die Bezie-
sen die Diagnose der Depression Leuten, die da-
hungen von AWARE zu pharmazeutischen Unter-
für ausgebildet sind, Ärzten. Ärzte sind die erste
nehmen wiederholt verwiesen. Seit ihrer Grün-
weiter.155
dung hat AWARE durchgängig Gelder aus der
Sie spricht von den Gefahren solcher Medien-
Pharmaindustrie bekommen, die Beziehungen
diskussionen, die sich auf „Menschen, die verletz-
waren freundschaftlich. Über mehrere Jahre wur-
lich und nicht in der Lage sind, eine Entschei-
de auch die landesweite Woche der Aufmerksam-
dung“ über ihre Medikamentenbehandlung zu
keit für Depression von der Industrie gesponsert.
treffen, negativ auswirken könnten.
Einige der Forschungsaktivitäten der Organisati-
Anlaufstelle“, so die Generalsekretärin
on werden ebenfalls von der Industrie finanziert.
AWAREs Unterwerfung unter die Autorität bio-
2005 ging AWARE außerdem eine Partnerschaft
medizinischer Institutionen wird auch in den
mit einem Internetportal für Gesundheitsinfor-
Antworten des medizinischen Beraters auf die
mationen ein, um eine internetbasierte „Depres-
Frage zur Haltung der Organisation in öffentli-
sions-Klinik“ anzubieten. Sie wird mit einer so
chen Diskussionen über Antidepressiva deutlich.
genannten „Bildungsbeihilfe“ des Pharmaunter-
Organisationen wie AWARE, so sein Statement,
nehmens Wyeth, einem Hersteller von Anti-
ließen sich bis zur bevorstehenden umfassenden
depressiva, unterstützt.
Prüfung des Wissens und der Praktiken im
Zusammenhang mit Antidepressiva von Arznei-
Allerdings gibt es Anzeichen eines Wandels in der
mittelregulierungs-Behörden leiten. Ihnen sollte
Positionierung der Organisation gegenüber der
vertraut werden, da sie über Expertise im Hin-
Pharmaindustrie hin zu einem vorsichtigeren
Verhältnis. Es wird versucht, sich in den Augen
Aware CEO. Interview with the author, Dublin, June 29,
2005.
155
der Öffentlichkeit von der Industrie zu distanzie-
57
Wer bewegt die Selbsthilfe?
ren. AWAREs Gründer und medizinischer Bera-
Augenmerk auf andere Krankheiten richten,
ter sprach von den Überschneidungen der Agen-
möglicherweise nicht auftreten, insbesondere,
da der Organisation mit der der Industrie, insbe-
wenn Erkrankungen gesellschaftlich bereits fest
sondere in Hinblick auf eine stärkere Aufmerk-
anerkannt sind wie etwa Diabetes oder Herz-
samkeit für Depression in der Öffentlichkeit und
Kreislauf-Erkrankungen. Für diese Organisatio-
unter Professionellen des Gesundheitssystems.
nen könne nicht so einfach behauptet werden, sie
Er betonte, dass die Zusammenarbeit mit der
würden Industrieinteressen bedienen.
Industrie von Anfang an „sehr genau kontrolliert
und genauestens strukturiert“ worden sei.
Für den regionalen Koordinator ist die Vorsicht
der Organisation beim Pharmasponsoring mit
AWARE und ihre Sponsoren halten sich an frei-
der Stigmatisierung der Einnahme von Anti-
willige Leitlinien, deutlich etwa darin, dass die
depressiva verknüpft. Er stellt die Abneigung der
Organisation sich niemals für einzelne Medika-
Organisation gegenüber engen Beziehungen mit
mente ausgesprochen hat. Ungeachtet dessen
pharmazeutischen Unternehmen allerdings in
sprachen einige Interviewpartner über die wach-
Frage. Das Sponsoring könne Unternehmen in
sende Vorsicht der Organisation im Kontakt mit
die Lage versetzen, den Menschen, die ihnen ihre
der pharmazeutischen Industrie. Die „Woche der
Profite ermöglicht haben, „etwas zurückzu-
Depression“ beispielsweise wird nicht mehr von
geben“. Außerdem stellt er die behauptete neue
der Industrie finanziert. Der Generalsekretärin
Vorsicht von AWARE gegenüber der Einstellung
zufolge ist das durch zwei Faktoren veranlasst
der europäischen Patientenorganisation, in der
worden: Erfahrungen mit „gerissenen Metho-
AWARE Mitglied ist, in Frage: GAMIAN Europe
den“156 von Seiten der Industrie, die zunehmend
scheue sich nicht, Gelder von der Pharmaindus-
eine „Nummer für ihr Geld“ erwarte, und die
trie zu nehmen. Die Industrie wird folglich als
Besorgnis, dass enge Verbindungen mit der
Verbündete gesehen, mit der allerdings in vor-
Industrie das öffentliche Bild der Organisation
sichtiger Kooperation interagiert werden muss.
beschädigen könnten. Sie befürworte daher über-
Geld kann nach wie vor angenommen werden;
schaubare Formen des Sponsorings wie die
das Sponsoring soll aber auf ein Minimum redu-
Zusammenarbeit mit Wyeth, bei der das Geld an
ziert bleiben und vor allem im Hinblick auf die
die Betreiber der Website gezahlt wird und nicht
Öffentlichkeit mit äußerster Sorgfalt behandelt
an AWARE. Im Gegensatz zu Repräsentanten
werden.
einiger anderer Organisationen in unserer Studie
ist für sie eine Finanzierung der organisations-
Die Generalsekretärin spricht von Quellen des
eigenen Website durch die pharmazeutische
Unternehmens-Sponsorings, die von AWARE als
Industrie undenkbar. Das würde die Glaubwür-
unannehmbar betrachtet werden, wie etwa eine
digkeit von AWARE in Frage stellen und das Pub-
Unterstützung durch die Alkoholindustrie. Weil
likum möglicherweise befremden. Interessanter-
Saufgelage und Selbstmord offensichtlich etwas
weise geht die Generalsekretärin davon aus, dass
miteinander zu tun haben, würde eine solche
diese Probleme bei Organisationen, die ihr
Finanzierung als „schmutziges Geld“ angesehen,
deren Akzeptanz im Widerspruch zu den unge-
156
„Sharp practice“ bedeutet auch „Gaunerei“...
58
Wer bewegt die Selbsthilfe?
schriebenen ethischen Gesetzen der Organisation
keit von freiwilliger Arbeit abgelegt. Aufgrund
stünde.
eines Prozesses, den ein Interviewpartner als
Spezialisierung der Organisation beschrieb, gab
Zusammenfassend können AWAREs Formen der
es außerdem eine Abkehr von der Schwulen-
Interaktion mit der pharmazeutischen Industrie
bewegung; die Aktivisten haben andere Gesund-
als verhaltenes Miteinander bezeichnet werden,
heitsorganisationen speziell für Homosexuelle
das einen Wandel der Positionierung der Organi-
gegründet.157
sation widerspiegelt. Heute werden Interaktionen
mit der Industrie „auf Abstand“ bevorzugt.
2005 beschäftigte die DAA neun bezahlte Ange-
AWAREs Abhängigkeit von Spenden aus einer
stellte. Das Ziel der Organisation besteht darin,
Öffentlichkeit, die der Industrie zunehmend
„die Bedingungen für Menschen, die mit HIV /
skeptisch
wichtiger
AIDS leben oder davon betroffen sind, zu verbes-
Aspekt für das Verständnis dieser Veränderung.
sern“.158 Dieses Ziel wird mit einer Reihe von
Von Akteuren aus der Organisation wurden die
Aktivitäten verfolgt, darunter die Förderung der
öffentliche Wahrnehmung der Depression, die
sexuellen Gesundheitserziehung, Informations-
Stigmatisierung der Einnahme von Antidepressi-
angebote über sexuell übertragbare Erkrankun-
va sowie negative Erfahrungen mit Unternehmen
gen, Kampagnen gegen Diskriminierung, der
als wichtige Umstände genannt, die das Verhält-
Menschen mit HIV / AIDS ausgesetzt sind, und
nis zur Industrie geformt haben.
die Unterstützung von Selbsthilfegruppen.
gegenübersteht,
ist
ein
Die Verbesserung der Bedingungen für mit HIV /
AIDS infizierte Menschen wird in der DAA als
Die AIDS-Allianz Dublin
eine Sache der Menschenrechte und ein „Beitrag
zu einer menschlichen und gerechten Gesell-
Die AIDS-Allianz Dublin (Dublin AIDS Alliance,
schaft“ verstanden.159 Dieses Verständnis spiegelt
DAA) wurde 1987 als spontaner Zusammen-
sich in der Politik der Organisation wider, Ge-
schluss von AIDS-Gruppen und Organisationen
sundheitserziehung und -informationen abzuleh-
homosexueller Männer gegründet, um einen
nen, die auf die biologischen Aspekte der Krank-
Hilfsdienst und ein Nottelefon einzurichten.
heit begrenzt sind.160 Der Ansatz der DAA geht
Nach einer Periode, in der einige der ursprüngli-
von der Annahme aus, dass die Krankheit ohne
chen Mitgliedsorganisationen sich abspalteten,
Bezug auf ihre sozialen Dimensionen und auf die
wurde die DAA 1993 formal zu einer juristischen
Unterdrückung in Form von Homophobie, Armut
Person. Turbulenzen in der Organisation blieben
und Rassismus nicht verstanden werden kann.
auch während der 1990er Jahre ein Thema; in
diesem Zeitraum stand die DAA aufgrund fehlender Finanzierung kurz vor dem Zusammenbruch.
Seitdem hat sie allerdings ihre Glaubwürdigkeit
in den Augen des Staates vergrößert, von dem sie
heute den Großteil ihrer Einkünfte bezieht. Sie ist
professionell geworden und hat ihre Abhängig-
157 Dublin AIDS Alliance Board Member. Interview with the
author, Dublin, October 10, 2005.
158 Dublin AIDS Alliance. www.dublinaidsalliance.com/
(October 2005). 732 / O’Donovan.
159 Dublin AIDS Alliance. www.dublinaidsalliance.com/
(October 2005).
160 Dublin AIDS Alliance Community Support and Treatment
Services Coordinator.
Interview with the author, Dublin, July 11, 2005.
59
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Wie ein Leitungsmitglied erklärt, liegt diesem
sich passiv mit AIDS infiziert haben, und Men-
Blick auf HIV / AIDS eine Klassenanalyse
schen, die sich den Virus „aktiv“ zugezogen
zugrunde: „In unserer Gesellschaft sind manche
haben, etwa durch homosexuelle Aktivitäten.163
Menschen im Hinblick auf den Umgang mit
Später stellte die Organisation Konstruktionen
einem positiven HIV-Test in einer wesentlich
von AIDS als „Krankheit aus einer Willensent-
besseren Lage als andere. Menschen haben sehr
scheidung“ in Frage und kritisierte die mediale
unterschiedliche Ausgangspositionen, um damit
Darstellung von Infizierten als „Selbstmord-
klar zu kommen. Die sozioökonomische Stellung
Schnorrer“.164 In einer öffentlichen Antwort auf
der Menschen ist bedeutsam. Die Zielgruppe, die
diese verunglimpfenden Bezeichnungen für Men-
unsere Unterstützungsangebote hauptsächlich
schen mit HIV / AIDS sagte der geschäftsführen-
beansprucht, kommt aus benachteiligten Berei-
de Direktor der DAA: „Niemand beschließt, sich
chen. Das sind Drogenabhängige, die eine Menge
HIV zuzuziehen, genauso wenig wie Menschen,
Probleme haben.“161 Außerdem betont die DAA
die einer verrauchten Umgebung ausgesetzt sind,
beim Thema Prävention die Notwendigkeit,
beschließen, sich dem Risiko von Herzerkran-
gesellschaftliche Einstellungen gegenüber Sex zu
kungen oder Krebs auszusetzen.“165
verändern. Die Organisation ist bestrebt, „die
Prämisse, dass Sex und Sexualität normale,
Vier Formen politischen Handelns kennzeichnen
natürliche und gesunde Bestandteile des Lebens
die Arbeit der DAA, und zwar
und des Wohlergehens sind“, zu verbreiten und
meint, dass „wir anfangen müssen, über Sex zu
•
die Verbreitung eines bestimmten Wertesystems durch die tägliche Arbeit der Organi-
sprechen“.162
sation,
Mit dieser Auffassung von HIV / AIDS sperrt sich
•
rungs-Organisationen (NGOs),
die Organisation nicht gänzlich gegen biomedizinisches Wissen über die Krankheit, aber sie
•
Kampagnen mit dem Ziel einer größeren
öffentlichen Aufmerksamkeit für AIDS und
bekämpft den Reduktionismus, der mit diesem
Wissen verbunden sein kann. Die DAA will errei-
Zusammenschlüsse mit anderen Nicht-Regie-
•
chen, dass Menschen mit HIV / AIDS – so wie an
die Teilnahme an vom Staat koordinierten
Partnerschaftsinitiativen.
Herzkrankheiten oder Krebs Erkrankte – als unschuldig an einer chronischen Krankheit leidende
Die Versuche der Organisation, ihr Wertesystem
Menschen anerkannt werden. Dieser Kampf um
und dessen Funktionieren im Alltag zu reflektie-
die Patientenidentität wird in der Kritik der
ren, sind von dem Gedanken geleitet, dass „das
Organisation an den in den späten 1980er Jahren
Private politisch ist“. Wie auf der Website festge-
veröffentlichten staatlichen Aufklärungsmateria-
stellt wird, „arbeitet die DAA mit dem Grundsatz
lien zu AIDS deutlich, in denen herabsetzend
der Gleichberechtigung und verpflichtet sich, Bei-
zwischen Menschen unterschieden wurde, die
träge zu einer humanen und gerechten Gesell-
Dublin AIDS Alliance Board Member. Interview with the
author, Dublin, October 10, 2005.
162 Dempsey, A. Let’s talk about sex. Irish Times, June 7,
2005.
Departments of Health and Education, Ireland. AIDS
Education Resource Materials. Dublin, 1987.
164 Myers, K. An Irishman’s Diary. Irish Times, July 22, 2004.
165 Nolan, A. Stigmatising AIDS victims (letter). Irish Times,
July 29, 2004.
163
161
60
Wer bewegt die Selbsthilfe?
schaft zu leisten. Wir wollen sicherstellen, dass
nisation der Frage, was aus solchen Unterneh-
unsere Angestellten, die Freiwilligen und die
mungen gewonnen werden kann, immer noch
Nutzer unserer Angebote zu jedem Zeitpunkt in
gespalten gegenüber steht.169 Sie erwähnte aller-
Würde und mit Respekt behandelt werden, und
dings als Vorteil, dass diese Partnerschaft für die
wir wollen eine Umgebung schaffen, die Chan-
Angestellten der DAA ein Mittel ist, um mit älte-
cengleichheit fördert und Diskriminierung unter-
rem medizinischen Personal zu kommunizieren,
bindet.“166
und dass sie ein Forum bietet, in dem die Organisation ihre gegenkulturellen Diskurse zu AIDS
Obwohl ihre Geschichte von Konflikten mit ande-
artikulieren kann. Die DAA versteht den Staat
ren Organisationen gekennzeichnet ist, hat die
und andere NGOs als Verbündete, obwohl diese
DAA die Bedeutung von Zusammenschlüssen mit
Beziehungen zu verschiedenen Zeiten in der Ge-
gleichgesinnten Organisationen immer hervorge-
schichte der Organisation offensichtlich Schwan-
hoben. Derzeit ist die DAA mit der irischen Orga-
kungen unterlagen.
nisation der Arbeitslosen, dem „Netzwerk der
HIV-Dienstleister“ und dem „Netzwerk AIDS und
Am Anfang verstand sich die Organisation vor-
Mobilität“ verbunden. Märsche und Demonstra-
wiegend als Gegnerin des Staates, nicht zuletzt,
tionen als Teil von Öffentlichkeitskampagnen
weil Homosexualität zum Zeitpunkt der Grün-
gehören ebenfalls zum Aktionsrahmen der Orga-
dung der DAA in Irland immer noch kriminali-
nisation. Als die DAA aufgrund fehlender Finan-
siert wurde. In jüngerer Zeit arbeitete sie bei ei-
zierung von der Auflösung bedroht war, wurde
ner Reihe vertrauensbildender Maßnahmen170
eine Demonstration vor dem Dáil, dem irischen
mit, und heute besteht ein substanzieller Teil der
Parlament, veranstaltet. Im Juni 2005 wurde ein
Einkünfte der DAA aus staatlicher Förderung. Im
Marsch zum Dáil organisiert, um auf den irischen
scharfen Gegensatz zu AWARE und der MRCG
AIDS-Tag aufmerksam zu machen und die Regie-
kamen 2004 neunzig Prozent der Einkünfte der
rung dazu aufzurufen, sexuelle Gesundheit auf
DAA aus staatlichen Töpfen. Von den Interview-
die politische Agenda zu setzen und Kondome
partnern wurden verschiedene Erklärungen für
leichter verfügbar zu machen.167
dieses außergewöhnlich hohe Niveau staatlicher
Förderung vorgebracht, aber die wichtigste unter
In den vergangenen Jahren hat die Organisation
ihnen führt das auf den Status von HIV / AIDS
ihre Ziele mittels Teilnahme an staatlich koordi-
als gefürchtete Krankheit zurück. Eine Ge-
nierten Unternehmensinitiativen wie etwa dem
sprächspartnerin sagte: „Ich denke, sie [der
Nationalen AIDS-Strategiekomitee verfolgt. Wie
Staat] empfinden andere Themen wie zum Bei-
ein Interviewpartner sagte, ist „jetzt Partner-
spiel Behinderung als etwas, das sie auch so las-
schaft die Form, in der gearbeitet
wird.“168
Die
Direktorin der DAA erzählte mir, dass die OrgaDublin AIDS Alliance Executive Director. Interview with
the author, Dublin, February 7, 2005.
170 Genannt werden im Original „professionalization and the
introduction of ‘performance management systems’, frei
übersetzt wäre das “Professionalisierung” und die “Einführung von ‚Systemen’, mit denen die Erscheinung der Organisation in der Öffentlichkeit gemanagt werden kann“.
169
Dublin AIDS Alliance. www.dublinaidsalliance.com/ (October 2005).
167 Dublin AIDS Alliance. Poster for march organized to
mark Irish AIDS Day, June 15, 2005.
168 Dublin AIDS Alliance Board Member. Interview with the
author, Dublin, October 10, 2005.
166
61
Wer bewegt die Selbsthilfe?
sen können, und nicht als Zeitbombe, auf der sie
„unsere Überzeugung, dass das Budget von GSK
sitzen.“171
[GlaxoSmithKline] und Roche besser für eine
stärkere Verbreitung von preiswerten Medika-
Anders als die beiden oben vorgestellten Organi-
menten in Entwicklungsländern verwendet wer-
sationen sieht die DAA die pharmazeutische In-
den sollte als für Werbekampagnen in der westli-
dustrie als Gegnerin. Die Organisation verbietet
chen Presse.“
die Akzeptanz finanzieller Unterstützung durch
die Industrie, weil deren Preis- und sonstige Poli-
Diese Auffassung von Geld aus der pharmazeuti-
tik den Zugang zu HIV- / AIDS-Medikamenten in
schen Industrie als „schmutzig“ sollte allerdings
den Ländern des globalen Südens versperrt. In
nicht als anti-unternehmerische Haltung miss-
dieser Sache äußert sich die Direktorin ganz ent-
verstanden werden. So akzeptiert die DAA das
schieden: „Weil unsere Organisation schon im-
Sponsoring durch globale Unternehmen aus der
mer in der Menschenrechtspolitik verwurzelt ist,
Kosmetik- und Kondomindustrie, lehnt aber wie
... würde ich von keiner Organisation Geld neh-
AWARE die Annahme von Geldern aus der Alko-
men wollen, die die Menschenrechte wo auch
holindustrie ab. Diese Aufzählung macht deut-
immer in der Welt missbraucht hat ... Unsere Or-
lich, was das ‚Konfrontative’ der Interaktionsform
ganisation würde ihren Namen schlicht für nichts
der DAA ist. Die Organisation begreift das, was
geben, das von einem pharmazeutischen Unter-
auch als Menschenfreundlichkeit von Unterneh-
nehmen unterstützt wird.“172 Dass diese Politik
men verstanden wird, als Werbung. Die Position
auch umgesetzt wird, zeigt die Ablehnung des
der Organisation macht angesichts ihrer Aktions-
Angebotes langfristiger Förderung durch einige
kultur Sinn, in der HIV / AIDS als Menschen-
pharmazeutische Unternehmen, die im Gegenzug
rechtsproblematik aufgefasst wird, die im Hin-
in der Zeitschrift „Gay Community News“ ihre
blick auf ihre gesellschaftlichen Dimensionen
Dienstleistungen bewerben wollten. Interessan-
verstanden werden muss.
terweise haben zwölf andere AIDS-Organisationen diese Förderung akzeptiert, was ein sich
unterscheidendes Verständnis von deren Bedeutung widerspiegelt. In einem in der Zeitschrift
veröffentlichten Brief erklärte die Direktorin der
DAA die Position der Organisation gegenüber der
Industrie. Sie gab der Verfolgung von Profitinteressen durch die Industrie die Schuld an der
„humanitären Krise“ im Afrika der südlichen
Sahara, wo „täglich 8.000 Menschen sinnlos
sterben“, weil sie keinen Zugang zu antiretroviralen Medikamenten haben. Sie fügte hinzu, es sei
Zusammenfassung
In der vorliegenden Studie wird eine starke
Tendenz in irischen Gesundheitsorganisationen
ausgemacht, pharmazeutische Unternehmen als
Freunde und Verbündete im Streben nach besserer Gesundheit anzusehen. Fast die Hälfte der
befragten Organisationen hat Gelder aus der
Industrie erhalten. Die Untersuchung ausgewählter Organisationen zeigt, dass einige Gruppen
freundschaftliche Beziehungen zur Industrie als
Dublin AIDS Alliance Executive Director. Interview with
the author, Dublin, February 7, 2005.
172 Dublin AIDS Alliance Executive Director. Interview with
the author, Dublin, February 7, 2005.
171
unumgänglich betrachten und also versuchen,
korporatistische Beziehungen mit pharmazeuti-
62
Wer bewegt die Selbsthilfe?
schen Unternehmen zu festigen – das betrifft ins-
medizinische Diskurse angreift, bleibt die medi-
besondere diejenigen, die sich selbst als „Einrich-
kamentöse Therapie bei HIV / AIDS für sie zen-
tungen medizinischer Forschung“ beschreiben.
tral. Der Grund, warum die DAA Gelder aus der
Der Glaube, dass die Autonomie dieser Organisa-
pharmazeutischen Industrie ablehnt, ist deren
tionen durch die richtige Handhabung ihrer Be-
Rolle bei den Zugangsbeschränkungen für Medi-
ziehungen zur pharmazeutischen Industrie und
kamente [nicht ihr Krankheitsverständnis].
die Einhaltung freiwillig aufgestellter Verhaltensregeln sichergestellt werden kann, ist weit ver-
Das Verständnis der Unterschiede in den Formen
breitet. Dies ähnelt der unter Medizinern weit-
der Zusammenarbeit von Gesundheitsorganisati-
verbreiteten Vorstellung, eigene klinische Ent-
onen mit der pharmazeutischen Industrie kann
scheidungen würden nicht von den „Geschenken“
durch die analytische Beachtung der Aktionskul-
pharmazeutischer
beeinflusst.
turen der Organisationen vertieft werden. Unter
Anders als die Alkoholindustrie scheint die phar-
dem Eindruck von Maren Klawiters Arbeit habe
mazeutische Industrie sich erfolgreich als men-
ich gezeigt, dass die Beachtung von vier Grund-
schenfreundliche Kraft und legitimer Partner der
dimensionen dieser Kulturen hilfreich sein kann:
Gesundheitsbewegung definiert zu haben. Kämp-
die Konstruktion des gesundheitlichen Gegen-
fe wie etwa die Versuche der AIDS-Allianz Dub-
standes, die von der Organisation angenommene
lin, der finanziellen Unterstützung von Gesund-
Identitätssymbolik, die Formen politischer Hand-
heitsorganisationen durch die pharmazeutische
lung und die Anordnung von Freund und Feind.
Industrie die Rechtmäßigkeit abzusprechen, sind
Es ist hilfreich, über die Formen der Zusammen-
in hohem Maße wirkungslos. Allerdings signali-
arbeit der Organisationen mit der Industrie in
siert der Fall von AWARE und ihrer nurmehr
diesen Dimensionen nachzudenken, sollen die
verhaltenen Kooperation mit der Pharmaindust-
Legitimationslogiken in den Positionen zur Indu-
rie möglicherweise, dass die Skepsis bezüglich
strie – die sich mit der Zeit ändern können – her-
Geldern aus der Industrie wächst. Widersprüchli-
ausgearbeitet werden.
Unternehmen
che Trends in der Positionierung von Gesundheitsorganisationen gegenüber der pharmazeutischen Industrie sind jedenfalls offenkundig. Diese Unterschiede in der Positionierung sind allerdings nicht notwendigerweise Anzeichen einer
Pluralisierung von Gesundheitsdiskursen. AWAREs Versuche der letzten Zeit, die Industrie auf
Abstand zu halten, sind weder von einer Abkehr
vom biomedizinischen Verständnis der Depression begleitet noch von einer Distanzierung zu Aktivitäten, die zur Erweiterung des Pharmamarktes führen. Ganz ähnlich liegt der Fall bei der
AIDS-Allianz
Dublin:
Obwohl
die
Organisation die Verschleierung sozio-ökonomischer Dimensionen von HIV / AIDS durch bio-
Die vorliegende Untersuchung beleuchtet außerdem, wie die Aktionskulturen irischer Gesundheitsorganisationen und ihre Zusammenarbeit
mit der pharmazeutischen Industrie durch den
soziokulturellen Kontext geformt werden, in den
sie eingebettet sind. Der verbreitete Diskurs, dem
zufolge Interessenkonflikte durch von Konzernen
bestimmte Dialoge versöhnt werden können,
schwingt in der Arbeit vieler Organisationen mit,
insbesondere derjenigen, die der Idee einer für
alle vorteilhaften Partnerschaft zwischen pharmazeutischen Unternehmen und Patientenorganisationen anhängen. Unterschiede in den Formen der Zusammenarbeit mit der Industrie
63
Wer bewegt die Selbsthilfe?
scheinen sowohl für verbreitete Vorstellungen
Krankheit, die durch Medikamente geheilt wer-
über das gesundheitliche Problem, um das herum
den kann, ist ein einschlägiges Beispiel dafür. In
die Gruppen mobilisiert werden, als auch für den
dieser Hinsicht fußt die These von der Verein-
Grad der gesellschaftlichen Anerkennung dieser
nahmung auf einer problematischen Annahme,
Erkrankungen entscheidend zu sein. Die anhal-
nämlich
tende Unklarheit über den Krankheits-Status der
soziale Bewegungen beginnen, deren vollständig
Depression beispielsweise scheint eine wichtige
antihegemoniale Aktionskultur durch partner-
Einflussgröße für AWAREs Form der Zusammen-
schaftliche Interaktionen mit privaten Unterstüt-
arbeit mit Sponsoren aus der pharmazeutischen
zern allmählich untergraben wird. Die Möglich-
Industrie zu sein.
keit muss Beachtung finden, dass Gesundheitsor-
dass
Gesundheitsorganisationen
als
ganisationen sowohl herkömmliche VorstellunDie Bedeutung staatlicher Förderung wird eben-
gen von Gesundheit, Krankheit und Patientsein
falls hervorgehoben. In Irland erhalten viele
stören können, wie sie zugleich auch zur Verbrei-
Organisationen nur geringe staatliche Unterstüt-
tung und Dominanz
zung und sind stark vom Fundraising abhängig.
Gesundheitsdiskursen und der Vereinnahmung
Für die Beantwortung der Frage, warum viele
des Gesundheitsaktivismus beitragen können.
173
von pharmakozentrierten
Organisationen Geld von Unternehmen annehmen und diese Einkünfte zu steigern versuchen,
sollte das niedrige Niveau öffentlicher Förderung
ebenfalls einbezogen werden. Zu warnen ist vor
Danksagung
dem Schluss, das derzeit vorherrschende Verhältnis zur Industrie könne als Privatisierung der
Dieser Artikel basiert auf einer von der Königli-
irischen Gesundheitsbewegung verstanden wer-
chen Irischen Akademie geförderten Studie, die
den. Die vorliegende Untersuchung zeigt zwar,
in Zusammenarbeit mit Kathy Glavanis-Grant-
dass pharmazeutische Unternehmen weitgehend
ham vom Institut für Soziologie der Universität
erfolgreich darin waren, sich selbst als gerechte
Cork durchgeführt wurde.174 Dem wissenschaft-
Akteure in der Gesundheitsbewegung zu etablie-
lichen Beratungskomitee gehörten an: Colin
ren, offen bleibt aber, ob sich ihr Einfluss auf die
Bradley, Department of General Practice, Univer-
Aktionskulturen von Gesundheitsorganisationen
sity College Cork; Dolores Dooley, Department of
verstärkt hat. Diese Frage zu beantworten würde
Philosophy, University College Cork; Martina
eine detailliertere historische Analyse einzelner
Kelly, Department of General Practice, University
Organisationen erfordern.
College Cork; und Pat O’Connor, Dean of
Humanities, University of Limerick. Besonderer
Ein wichtiger Punkt ist, dass bei manchen Orga-
Dank geht an die Organisationen, die an der
nisationen eine Vereinnahmung gar nicht notwendig ist, um die von ihnen vertretenen Belange
in Übereinstimmung mit den ökonomischen Interessen der Industrie zu bringen. Das Beispiel
von AWARE und ihrem Kampf um größere
gesellschaftliche Anerkennung der Depression als
Im Original „hegemonization”, was in etwa mit “alles
dominierende Verbreitung” übersetzt werden kann.
174 Das Original der Studie vom April 2005 mit Auflistungen
sämtlicher Selbsthilfeorganisationen und Firmen, die an der
Studie teilnahmen, findet sich im Internet (in englischer
Sprache) unter
http://www.ria.ie/committees/pdfs/tsrp/ODonovan.pdf
173
64
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Studie teilgenommen haben. Außerdem möchte
ich mich bei den Teilnehmern des Seminars “Gesundheitsorganisationen in Europa: Untersuchung unterschiedlicher Aktionskulturen” in der
School for Social Science Research Amsterdam
im Mai 2005 bedanken. Die Diskussionen, die
während und nach dem Seminar stattfanden,
haben mir geholfen, über “Aktionskulturen”
nachzudenken.
65
Wer bewegt die Selbsthilfe?
66
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Anhang
Policy on Corporate Contributions
Breast Cancer Action (BCAction), San Francisco, USA
Aktualisierte – zurzeit gültige – Version vom April 2000
Verpflichtende Richtlinie zur Beschaffung von Mitteln durch unterstützende
Organisationen
Einleitung
Unter keinen Umständen dürfen Grundsätze oder das Programm von BCAction beeinflusst werden
durch Firmen, die die Arbeit von BCAction mit Spenden unterstützen. BCAction kann nicht gekauft,
nicht beeinflusst und nicht an ihrem Ziel, Brustkrebs zu bekämpfen, gehindert werden. BCAction hat
sich während ihres gesamten Bestehens in erster Linie auf großzügige Privatspenden einzelner Mitglieder gestützt. Nichtsdestotrotz zwingen die realen finanziellen Umstände BCAction dazu, auch nach
anderen Finanzierungsquellen wie zum Beispiel solchen von Stiftungen und Organisationen zu suchen.
BCAction ist sich jedoch bewusst, dass die Wirksamkeit ihrer Arbeit
− bei der Information der Öffentlichkeit,
− in der Patientinnenvertretung und
− in der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen
insbesondere in den Augen ihrer Mitglieder und der Menschen, für die BCAction arbeitet, von der
Glaubwürdigkeit der Organisation abhängig ist. Die Quellen der Mittelbeschaffung jeder beliebigen
Patientenvertretung können ihre politische Legitimität besonders dann untergraben, wenn die Unterstützung durch Organisationen die Möglichkeit, Schlussfolgerung oder die Empfindung von einem Interessenkonflikt beinhalten kann.
Die Verbandspolitik von BCAction zielt darauf, das Bedürfnis nach Sicherstellung der langfristigen finanziellen Gesundheit der Organisation und ihrer Langlebigkeit in Einklang zu bringen mit dem
Wunsch, potentiell existierende oder bestehende Interessenkonflikte, die aus korporativen Spenden
resultieren, zu vermeiden.
Grundsätze
Die folgenden Grundsätze entsprechen BCActions Strategie der Mitteleinwerbung:
1.
Unabhängige, nicht tendenziöse Informationen über die Diagnostik und Therapie von Brustkrebs
setzen notwendig voraus, dass BCAction von jeglichem Anzeichen eines Interessenkonfliktes frei
ist. Deshalb akzeptiert BCAction keine finanzielle Unterstützung von solchen Organisationen, deren Produkte oder Dienstleistungen Brustkrebsdiagnostik oder die Behandlung von Brustkrebs betreffen.
2. Entsprechend dem Vorsorgeprinzip unterstützt BCAction jene Forderungen des öffentlichen Gesundheitswesens, welche bereits Anzeichen für Krebs und Brustkrebs erregende Umweltkarzinogene wahrnimmt, anstatt auf absolute Beweise für ihre Ursächlichkeit und Schädlichkeit zu warten.
67
Wer bewegt die Selbsthilfe?
In der Konsequenz daraus wird BCAction nicht wissentlich Mittel von solchen Organisationen annehmen, deren Produkte oder Herstellungsverfahren direkt umweltgefährdend sind und/oder Berufskrankheiten hervorrufen oder ein Ansteigen von Krebserkrankungen verursachen, noch nimmt BCAction wissentlich Spenden von Organisationen an, die Umwelt- und Klimaschäden oder Berufskrankheiten verursachen. Außerdem nimmt BCAction keine Spenden von Organisationen an, die ökologische oder berufsbezogene Vorschriften verwässern oder unterlaufen, die dem Schutze der öffentlichen
Gesundheitspflege dienen, und damit zu einem Ansteigen der Krebsinzidenz führen können.
Inakzeptable unterstützende Organisationen
Basierend auf diesen Leitprinzipien entsprechend ihrer Zielsetzung und Handlungsgrundsätze wird
BCAction wissentlich keine Mittelbeschaffung über Organisationen folgender Kategorien akzeptieren
(die folgende Liste ist nicht notwendig vollständig):
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Pharmazeutische Unternehmen
Chemische Fabriken
Öl-Konzerne
Tabak-Hersteller
Krankenversicherungen
Krebsbehandlungseinrichtungen
Mit dieser Richtlinie soll sichergestellt werden, dass BCAction unabhängig von äußeren Einflüssen ihren Aufgaben nachgehen kann und damit mögliche oder tatsächliche Interessenkonflikte vermeidet.
Obschon wir die Auswirkungen des globalen Kapitalismus’ und die Strukturen multinationaler Konzerne verstehen, soll diese Richtlinie BCAction nicht zur eingehenden Überprüfung jeder Organisation
zum Aufspüren von deren Einkommensquellen veranlassen. BCAction ist sich sehr bewusst, dass sich
die Arbeitsfelder vieler Organisationen schnell ändern und dass BCAction neue Informationen über
korporative Spender und die Auswirkungen solcher Information im Sinne dieser Richtlinie regelmäßig
auswerten muss. Wir bestärken unsere Mitglieder und andere Interessierte im Austausch von Informationen über Aktivitäten, von denen sie glauben, dass sie im Zusammenhang mit dieser Richtlinie
wichtig sind.
Mögliche Spenden von Organisationen, die problematisch sein könnten, die aber in dieser Richtlinie
nicht ausdrücklich genannt sind, werden durch das geschäftsführende Vorstandsmitglied von BCAction - und wenn notwendig vom Gesamtvorstand - bewertet. Wenn Fragen auftauchen, kann zusätzlich
ein Ausschuss aus Mitgliedern, Vorstand und neutralen Beteiligten gebildet werden, um Verbesserungen dieser Richtlinie zu empfehlen.
Diese Richtlinie zur Beschaffung von Mitteln durch unterstützende Organisationen dient dem verantwortlichen Vorstand und den Vorstandsmitgliedern bei den Aktivitäten zur Mittelbeschaffung als Leitlinie. BCAction wird den Fokus der Bemühungen um die Beschaffung von Mitteln weiterhin auf Privatspenden legen, entweder durch direkte Spenden oder durch Spendenkampagnen. Diese Richtlinie
soll nicht als Verbot für BCAction aufgefasst werden, Sammelspenden von Organisationen anzunehmen, die durch persönliche Spenden einzelner Angestellter von ihnen oder durch Spenden der Organisation zum Gedächtnis an jemanden auf Bitte einer Erblasserin oder eines Erblassers oder ihrer beziehungsweise seiner Familie gemacht werden. Spenden dieser Art werden zweckgebunden für BCActions
Arbeit in Umweltfragen oder für laufende Aktivitäten der Organisation für das Vorsorgeprinzip (Prävention) verwendet.
Angenommen vom Breast Cancer Action Vorstand im August 1998 und verbessert im April 2000.
Originaltext: http://bcaction.org/policy-on-corporate-contributions/
(Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Breast Cancer Action, San Francisco)
68
Wer bewegt die Selbsthilfe?
Impressum
Breast Cancer Action Germany (Hg.)
Gudrun Kemper, Berlin – Beate Schmidt, Bad Zwischenahn
www.bcaction.de
Eine Biographie von Orla O'Donovan sowie ein Publikationsverzeichnis finden Sie auf der
Website des University College of Cork, Ireland, (in englische rSprache):
http://www.ucc.ie/ga/DepartmentsCentresandUnits/AppliedSocialStudies/Staff/AcademicStaff/DrOr
laODonovan/
Weder Übersetzung noch Online-Veröffentlichung erhielten finanzielle Unterstützung von
dritter Seite.
Über Breast Cancer Action Germany
Wir sind eine unabhängige Gemeinschaft von Frauen, die sich im Kontext Brustkrebs engagieren. Wir
wollen die bestmögliche Behandlung für alle, die von dieser schweren Erkrankung betroffen sind. Wir
wollen aber auch, dass die Forschung über die Ursachen von Brustkrebs und über die Möglichkeiten
der Primärprävention endlich grundlegend verbessert wird.
Wir sind ein kreatives, privat finanziertes Low-Budget-Projekt, das grundsätzlich jegliche Finanzierung
im Interessenkonflikt ablehnt und insbesondere keine Pharmagelder annimmt. Lesen Sie dazu unsere
Leitlinie, entsprechend der Richtlinie zur Einwerbung von Drittmitteln von Breast Cancer Action (s.
http://www.bcaction.de/funding_policy.pdf).
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