Die Rache (...) Die Soldaten waren auf dem Weg zur Front, und da

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Die Rache (...) Die Soldaten waren auf dem Weg zur Front, und da
Die Rache
(...) Die Soldaten waren auf dem Weg zur Front, und da es sehr weit war, mussten sie ja
zwischendurch irgendwo schlafen. So bekam jede Familie, die ein Bett frei hatte,
Soldaten zur Übernachtung. Meine Oma bekam nur einen Soldaten, bei uns war ja wegen
der vielen Cousins und Cousinen, die im Sommer alle zu Oma kamen, nicht viel Platz.
Der Soldat faszinierte mich vor allem weil er so gut Schuhe putzen konnte. Es waren
halbhohe Stiefel, die er Knobelbecher nannte. Jeden der drei Morgen, die er bei uns war
bis er weiter musste, stand er vor der Hoftür und putze und putzte, obwohl seine Stiefel
vor dem zweiten und dritten Mal putzen kaum schmutzig waren. Das besondere war,
dass er erst Schuhcreme auftrug, dann bürstete und dann auf die Schuhe spuckte und
wieder bürstete. Als ich fragte, warum er denn auf die Schuhe spucke, meinte er, das
gäbe erst den richtigen Glanz und tatsächlich, seine Knobelbecher glänzten, dass man
sich fast darin spiegeln konnte. Während er so putzte, erzählte er mir, dass er eine
Tochter habe, die so alt wie ich sei.
Am zweiten Tag, als mich Hans wieder einmal geärgert hatte, sagte er: „Du musst dich
wehren, wenn Hans dich ärgert.“ Ich meinte: „Ich trau mich nicht, er ist größer und
stärker als ich.“
„Dann gebe ich dir einen guten Rat: Wenn dich jemand ärgert, der größer und stärker ist
als du, ist er feige, weil er sich nur schwächere Kinder aussucht und dann ist alles
erlaubt.“
„Wie meinen Sie das?“
„Spring ihn an, beiß und kratz ihn, dann wirst du schon sehen was er macht.“
Die Soldaten zogen ab, und es war wieder der Alltag im Ort.
Es dauerte nicht lang, da hatte Hans es wieder einmal auf mich abgesehen. Als ich aus
Omas Zimmer kam, wollte Hans gerade hinein. Ehe ich denken konnte, boxte er mich in
den Bauch, und da brannte bei mir die Sicherung durch: Ich sprang ihn an, biss ihn in die
Schulter und kratzte ihn am Arm.
Er brüllte wie ein Stier, Oma stürzte aus dem Zimmer und sagte, ich solle Hans loslassen,
aber ich reagierte nicht. Da riss sie mich von Hans los. Weil ich mich aber festgebissen
hatte, riss die Haut bei Hans auf. Er blutete ganz doll, und ich musste spucken, da ich
den Mund voll Blut hatte. Das war richtig eklig.
Oma verband Hans, obwohl er nicht wollte. Aber Oma meinte, es müsse sein. Und wenn
Oma etwas meinte, wurde es gemacht.
Danach fragte mich Oma, was ich mir denn gedacht hätte, Hans so etwas anzutun. Ich
erzählte ihr, was mir der Soldat geraten hatte. Da meinte sie, das nächste Mal solle ich
zu ihr kommen und sie würde mit Hans reden. Das aber war nicht mehr nötig, denn von
diesem Tag an ließ mich Hans in Ruhe. Ich war dem Soldaten für seinen Rat dankbar.
(...)
Meine Tat verbreitete sich schnell im Ort und von diesem Tag an war ich das „Leipzscher
Räbchen“, was soviel heißt wie kleiner, frecher Rabe.