Architektur Heft 12/2004

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Architektur Heft 12/2004
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BRÜCKENBAU
Ruhe vor dem Ansturm:
Bald sollen 14ˇ000 Fahr
zeuge jeden Tag über den
Viaduc de Millau rollen
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Gigant aus Stahlbeton
Ein Meisterwerk des Brückenbaus ist vollendet. Bald wird
in Südfrankreich der Viaduc de Millau eingeweiht: die höchste
Schrägseilbrücke der Welt, höher noch als der Eiffelturm
VON JENS FRANTZEN; OLIVER TJADEN (FOTOS)
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in scharfer Knall peitscht auf, als Glas unter dem Druck
von 28 900 Tonnen Stahl zersplittert. Doch niemand
erschrickt in der eigenartigen Versammlung 270 Meter
über dem südfranzösischen Fluss Tarn: Nur eine Champagnerflasche musste dran glauben, zur Taufe zerquetscht zwischen
zwei gigantischen Brückenhälften. Die Arbeiter auf dem Deck
sind gerührt. „Ich habe gestandene Männer zum ersten Mal
mit Tränen in den Augen gesehen“, sagt später Plattformchef
Jean-Paul Bordenkircher, ein sonst eher stoischer Elsässer.
Der 28. Mai 2004 war ein historischer Tag für ein paar
hundert Ingenieure, Statiker, Stahl- und Betontechniker. An
diesem Maifreitag wurde um 14.12 Uhr im wahrsten Wortsinn
eine Brücke geschlagen: der Viaduc de Millau, eine 2460 Meter
lange Verbindung zwischen zwei Hochebenen im Departement Aveyron. Genau über dem Fluss stieß der südliche Teil
auf sein nördliches Pendant. Geschafft! Die Teams der beiden
Brückenabschnitte schüttelten sich die Hände und feierten
den Abschluss der entscheidenden Bauphase der weltweit
höchsten Schrägseilbrücke. Deren Eröffnung, terminiert auf
den 17. Dezember dieses Jahres, steht nun nichts mehr im Weg.
Die Geschichte des Viaduc de Millau begann natürlich
früher, und zwar – zumindest aus Sicht der Autofahrer –
unerfreulich. Wer auf schnellstem Weg von Paris nach Barcelona fahren wollte, landete unweigerlich auf der Autobahn 75
Richtung Süden und musste zwischen Clermont-Ferrand und
Béziers jäh das Tempo drosseln. Hier trennt der Tarn die
beiden Hochplateaus Causse Rouge im Norden und Causse
de Larzac im Süden. Tiefe Canyons hat er in Jahrmillionen
durch das Kalk- und Mergelgestein der Region gefressen.
Der Straßenverkehr muss sich deshalb in langen Serpentinen
ins Tal hinab- und noch langwieriger wieder hinaufschieben.
Im Sommer sind auf diesem Streckenabschnitt Staus mit
E
Dirigenten der Beton-Sinfonie:
Plattformchef Jean-Paul
Bordenkircher (rechts oben)
und Bauleiter Jean-Pierre Martin
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PRO TAG WERDEN IM SCHNITT 14 000
AUTOS UND LASTWAGEN DIE BRÜCKE
BEFAHREN, WENN SIE ERÖFFNET IST
50 Kilometer Länge durchaus üblich. Mittendrin: das Städtchen Millau, einst bekannt für seine traditionelle Handschuhmanufaktur, später eher für Blechlawinen.
Schon Anfang der 90er Jahre hatte das zuständige Verkehrsministerium die Lage erkannt und eine Tarn-Querung
beschlossen. Man bat verschiedene Ingenieurbüros und
Architekten um Vorschläge. 1996 stand der Sieger fest: Die
Jury entschied sich für den Entwurf von Lord Norman Foster,
dem britischen Stararchitekten, der auch den Berliner Reichstag und den Flughafen von Hongkong kreierte. Foster hatte
eine schlanke Schrägseilbrücke mit Vielseilsystem gezeichnet,
getragen von sieben Pfeilern. Bei diesem Brückentyp sitzt über
jedem Pfeiler ein Pylon, an dem mit Stahlseilen das so genannte
Deck aufgehängt ist, der Träger der Fahrbahn. Den Wettbewerb um den Bau und die Betriebskonzession des Viadukts
entschied die Unternehmensgruppe Eiffage für sich, hervorgegangen aus der Stahlbaudynastie des Turmbauers Gustave
Eiffel. Eiffage zahlt die Baukosten von rund 320 Millionen Euro
aus eigener Kasse. Dafür bekam das Unternehmen die Konzession, für die nächsten 75 Jahre nach Fertigstellung der
Brücke Mautgebühren zu erheben. Eine Investition, die sich
lohnen könnte: Pro Tag werden rund 14 000 Autos und Lkw
die Brücke befahren, errechneten die Statistiker des Unternehmens, in den Ferienmonaten Juli und August sogar bis zu
22 500 Fahrzeuge. Vier bis sechs Euro, je nach Jahreszeit und
Fahrzeugtyp sind dann für die Benutzung fällig.
Die Verwirklichung des Jahrhundertprojekts begann am
16. Oktober 2001. Jean-Pierre Martin, der verantwortliche
Projektleiter der eigens gegründeten Compagnie Eiffage du
Viaduc de Millau, musste eine Großbaustelle mit durchschnittlich 500 Mitarbeitern dirigieren, deren Arbeitsorte oft
kilometerweit verstreut waren. „Manchmal habe ich mich
gefühlt wie der Leiter eines Sinfonieorchesters“, sagt der
weißhaarige Chefingenieur. „Die größte Herausforderung war
die Koordination der vielen Einzelkomponenten des Baus.“
kurz gefasst
Die Tarnschlucht in Zentralfrankreich war ein zeitraubendes Hindernis für den Urlaubs- und Güterverkehr.
Ein ingenieurtechnisches Jahrhundertwerk soll den
Verkehr wieder frei fließen lassen und für Ruhe sorgen
im idyllischen Tal: der Viaduc de Millau, eine Schrägseilbrücke mit sieben riesigen Pylonen.
Jetzt fehlen noch Autobahnanschlüsse ausreichender
Kapazität, um die Staus tatsächlich aufzulösen, statt sie
nur zu verlagern.
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Jeder Satz des Stahlbeton-Opus forderte die Virtuosität der
Baumeister aufs Neue. So verlangte die Tarnschlucht nach
nichts Geringerem als dem höchsten Brückenpfeiler der Welt.
Auf der Nordseite steht er nun: der zweite von sieben Pfeilern,
245 Meter hoch. Damit schlägt der nur „P2“ genannte Riese
den bis dahin amtierenden Höhenrekordhalter, die deutsche
Kochertalbrücke, gleich um 67 Meter. Auf den letzten 90 Metern gabeln sich die sieben Pfeiler in eine schlanke Y-Form.
Und das nicht nur aus ästhetischen Gründen – die Brücke
wirkt im Profil filigraner –, sondern auch aus technischen. Die
Gabelung reduziert die Trägheit der Pfeiler in der Längsrichtung der späteren Fahrbahn. So können diese die Änderungen
in der Ausdehnung der Brücke besser kompensieren. Denn
jede Brücke bewegt sich: Allein durch Temperaturschwankungen zwischen Sommer und Winter dehnen sich Stahl und
Beton oder ziehen sich zusammen. Das Deck des Viaduc de
Millau ist an beiden Endpunkten mit Kämmen verzahnt, die
im Süden 90 Zentimeter, im Norden 120 Zentimeter Spielraum zur Ausdehnung geben.
Solch monumentale Pfeiler brauchen außergewöhnlich
feste Fundamente. Jeder von ihnen steht auf einer bis zu
fünf Meter dicken Betonplatte, die wiederum auf vier Schaften
ruht. Zwischen 9 und 16 Meter ragen diese Betonwurzeln in
den Erdboden. In tagelangen Gussvorgängen flossen bis zu
2100 Kubikmeter Beton in jede der Fundamentplatten. Der
verwendete Beton gehört zur Festigkeitsklasse B35, was
bedeutet, dass er einer Belastung von 35 Newton pro Quadratmillimeter standhält. Für die Pfeiler wurde später sogar
Beton mit B60-Festigkeit benutzt. Zeitgleich errichteten zwei
andere Teams an den beiden Endpunkten auf den Plateaus
die Widerlager der Brücke, ebenfalls aus B35-Beton: Es
waren gewissermaßen die Startblöcke für den Sprung des
Riesen über das Tal. Über sie dockt der tragende Brückenstahl
ans Festland an.
Sobald die Fundamente fertig waren, ließen die Ingenieure
die sieben Gussbeton-Pfeiler, auf der Baustelle nur „P1“ bis
„P7“ genannt, in die Höhe wachsen. Und das ziemlich schnell:
Alle drei Tage machten die Pfeiler einen Sprung um vier
Meter. Immer wieder gießen, aushärten lassen, und dann die
variable Verschalung weiter nach oben rücken. Da sich die
Grundrissabmessungen der Pfeiler über die gesamte Höhe
verändern – von einer Fläche von 200 Quadratmetern an der
Basis bis zu zwei 15 Quadratmeter messenden Flächen an der
Spitze –, kam eine starre Verschalung nicht in Frage. Der
variable Durchmesser soll helfen, die angreifenden Windkräfte
klein zu halten. Jede neue Position der Gussformen wurde erst
per Satellitennavigationssystem auf den Millimeter genau
überprüft, bevor ein Messtechniker die nächste Ladung Beton
freigab. Mit den Pfeilern wuchsen auch die mit Stahlklammern
an ihnen fixierten Kräne, die den B60-Beton aufwärts trans-
DIE STILLEN HELDEN DES BAUS
WAREN DIE KRANFÜHRER IN IHREN
KLIMATISIERTEN KABINEN
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Balanceakt: Bevor
die Stahlseile gespannt waren,
mussten Behelfsstützen zwischen
den Pylonen das
Brückendeck tragen
portierten. „Ein spezieller Hydraulik-Rahmen hebt die Kräne
immer so weit an, dass wir ein neues Segment einschieben
können“, erklärt Bauleiter Jean-Pierre Martin.
Die stillen Helden des Pfeilerbaus waren die Kranführer.
Sie machten ihren Job so weit über dem Geschehen, dass Kräne
und Ausleger rot-weiß angestrichen werden mussten, um den
zivilen Luftfahrtbestimmungen zu entsprechen. Nur mit einer
Videoverbindung nach unten konnten sie das Befüllen der
Betonbehälter überwachen. Immerhin, für ein wenig Komfort
in der Einsamkeit war gesorgt: Aufzüge brachten sie zu ihren
klimatisierten Führerkabinen, die mit einem Ruheplatz ausgestattet waren, Kühlschrank und Toilette inklusive.
Noch während die Pfeiler wuchsen, setzte Konzertmeister
Martin den nächsten Teil des Ensembles in Gang: die Deckkonstruktion. Bis auf die oberste Asphaltschicht besteht der
Fahrbahnträger aus Stahl. Die Entscheidung der französischen
Bauherren für dieses Material und gegen Beton war gut durchdacht: „Stahl hat ein viel geringeres Volumengewicht als Beton“, sagt Fabian Wilke, Brückenbau-Ingenieur am Institut für
Stahlbau der Universität Hannover, „außerdem hält er deutlich mehr Belastung aus.“ So spart man am Viaduc de Millau
Material: Die Pylone fallen kleiner aus, schließlich müssen sie
weniger Gewicht tragen. Dadurch wird die Gesamtkonstruktion weniger windanfällig. Zudem ließen sich bei der Stahlvariante die Teile des Decks leichter vorproduzieren.
Die Vorfertigung begann in Deutschland. Das Stahlwerk
Dillinger Hütte walzte bis zu 120 Millimeter dicke Stahlplatten, die dann per Schiff nach Lauterbourg im Elsass reisten.
„Insgesamt haben wir 36 000 Tonnen Stahl für das Deck und
nochmals 7000 Tonnen für die Pylone geliefert“, sagt der Dillinger-Ingenieur Falko Schröter. In einer Lauterbourger Fabrik
wurde der nächste Teil des Stahlpuzzles gelöst: Ein Hochleistungsroboter verschweißte die Bleche zu größeren Einheiten,
die menschliche Spezialisten dann zu den 4,20 Meter hohen
Kastenprofilstücken des Decks zusammenfügten. Per Schwerlasttransport – meist nachts und mit Polizeieskorte – legten die
wuchtigen Elemente ihre letzte Etappe nach Millau zurück.
Vor Ort an den Brückenköpfen hatten Arbeiter inzwischen
zwei Hangars in die Höhe gezogen, in denen Stück für Stück
das Deck zusammengesetzt wurde. Verantwortlich für diesen
Teil des Stahlbaus war Plattformchef Bordenkircher. „Wir hatten zwei Schichten mit je rund 50 Schweißern im Einsatz“, sagt
er, „und haben immer 171 Meter Deck am Stück gebaut.“ In
einer ersten Arbeitszone des Hangars setzten seine Männer die
zentralen Kastenprofile zusammen, in einer zweiten fügten
sie die seitlichen Elemente an und versteiften sie innen mit
Querstreben. Über vier Meter hoch und 32 Meter breit sind
die Stücke. In der dritten Zone fand das Finishing statt: die
Montage von Seitenbegrenzung und Windschutz sowie der
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Anstrich des fertigen Decks. Für die komplette Fertigstellung
eines Abschnitts brauchten die Stahlarbeiter am Ende nur noch
vier Wochen. Und dann, wenn wieder 171 Meter der Brücke
fertig waren, begann der schwierigste und spektakulärste Akt:
das so genannte Taktschieben. Die Brücke ging auf ihre Reise
über das Tal.
Dieses in seinem Ausmaß beispiellose Unterfangen startete
am 26. Februar 2003 – noch während des Pfeilerbaus. Durchführbar war es nur dank so genannter Taktschiebesonderkonstruktionen, eigens angefertigt vom Münchner Unternehmen
Maurer Söhne: Zunächst hoben hydraulische Zylinder mit
einer Hubkraft von je 250 Tonnen das Deck um Zweifingerbreite an, dann gaben zwei Zugzylinder mit je 60 Tonnen Kraft
den horizontalen Impuls und zogen das gesamte Deck um
60 Zentimeter über den Rand des Plateaus.
Kritisch bei diesem Kraftakt war, die Reibung gering zu
halten. „Wir haben einen neuen Gleitstoff verwendet, so
genanntes MGM, das wesentlich belastbarer ist als Teflon“,
erklärt Simon Hoffmann, Projektleiter bei Maurer Söhne.
„Teflon hätte diesen Druck gar nicht ausgehalten.“ Mit einer
Geschwindigkeit von rund zehn Metern pro Stunde kroch der
Stahlriese über das Tal hinweg. „Weil wir aber ständig neue
Sektionen des Decks hinten anfügten, erhöhte sich die zu
transportierende Gesamtlast kontinuierlich“, erklärt Plattformchef Bordenkircher, „entsprechend brauchten wir immer
mehr der hydraulischen Taktschieber.“ Am Ende waren es 64
Stück, koordiniert von einem Zentralcomputer. Ohne Feinabstimmung wäre das Taktschieben aus dem Rhythmus gekommen, mit Verwerfungen im Material als katastrophale Folge.
Doch der Viaduc de Millau wäre kein Jahrhundertprojekt,
wenn sich zweieinhalb Kilometer Brücke so einfach zusammenschieben ließen. „Wenn Sie ein paar hundert Meter Stahldeck ins Leere schieben“, sagt Brückenbauer Wilke, „dann
kragt es bald nach vorn aus.“ Zu deutsch: Die Konstruktion
krümmt sich unter ihrer eigenen Last. Da indes die Planer großen Wert darauf gelegt hatten, die Landschaft so wenig wie
möglich zu beeinträchtigen, gaben sie der Brücke nur sieben
Stützen, die zwangsläufig weit auseinander stehen – nämlich
genau 342 Meter. Für solche Sprünge war das Stahldeck nicht
starr genug. Und so griffen die Eiffage-Ingenieure zu einem
Trick: Auf halber Strecke zwischen den permanenten Pfeilern
errichteten sie die provisorischen Stützen Pi1 bis Pi7 aus Stahlfachwerk und halbierten so die zu bewältigende Strecke auf 171
Meter. Pi2 war mit 173 Metern und 1200 Tonnen Gewicht die
höchste der Hilfsstützen.
Auch damit war das Problem noch nicht gelöst. Denn
zwischen den Pfeilern P2 und P3, den beiden höchsten des
Viadukts, liegt der tiefste Punkt des Tals. Rund 700 Meter vom
nördlichen Rand des Plateaus fließt hier der Tarn, in dessen
Flussbett kein provisorischer Stützpfeiler Halt fände. Also blieb
noch immer eine 342-Meter-Lücke ohne Zwischenstütze.
Nicht zu schaffen, die Konstruktion würde zu weit durchhängen. „Es sei denn, man kann die Segmente schon vor der
endgültigen Positionierung der Brücke stabilisieren“, erklärt
Wilke. Genau dies taten die Franzosen: Sie errichteten je einen
WIE IST DIESE PRÄZISION MÖGLICH?
»MAN MUSS AUCH GLÜCK HABEN«,
SAGT JEAN-PAUL BORDENKIRCHER
Pylon auf dem ersten Segment des Nord- und des Südteils der
Brücke, zogen Schrägseile ein und spannten sie bereits auf festem Boden vor. Die Hilfspylone rutschten also mit dem Deck
über das Tal. Nun war die Konstruktion stabil genug, um die
mehr als 171 Meter zu schaffen, der Abstand zwischen P2 und
P3 blieb aber so groß, dass sich die Brückenhälften nur dort
treffen konnten – mit der Konsequenz zweier extrem ungleicher Einschublängen. Von Norden her setzten sich 717 Meter
Deck in Bewegung, während sich aus Süden 1743 Meter heranschoben. In 171-Meter-Intervallen krochen die Fahrbahnteile aufeinander zu, auf jedem erreichten Pfeiler bekamen sie
vier Wochen Pause. Dann erst wurde wieder ein neues Segment im Hangar hinten angefügt. Als letzte Finesse des Baus
schrieb der Entwurf eine leichte Kurve mit einer Längsneigung
von drei Grad vor. Geschicktes Austarieren beim Taktschieben
hielt das Deck in der sanft gekrümmten Bahn.
Nord- und Südteil trafen sich millimetergenau. Wie ist
solche Präzision möglich? „Man muss ja auch mal Glück
haben“, sagt Jean-Paul Bordenkircher. Wobei die Technik dem
Schicksal kräftig nachhalf: Jeder Schritt des fünfmonatigen
Präzisionsschiebens wurde mit Satellitennavigation und Laserführung überwacht.
Zwar war das 36 000-Tonnen-Deck nun vereint, aber noch
nicht stabil. Erst jetzt konnten Bordenkirchers Männer die
restlichen Pylone aufstellen, um die Konstruktion auszusteifen. „Diese Pylone schon vorher zu montieren, hätte das Gesamtgewicht der Brücke zu sehr erhöht“, sagt Bordenkircher.
Jeder der 87 Meter hohen Stahlpylone, die ähnlich wie die
Stützpfeiler gegabelt sind, allerdings nach unten, wiegt 650
Tonnen. Spezialkräne wuchteten sie fertig verschweißt an ihre
Plätze. An der Spitze tragen sie als Schmuckwerk 17 Meter
hohe „Caps“, im funktionellen Teil darunter sind elf Paare
hochbelastbarer Schrägseile verankert. Als diese Seile gespannt
waren, stand die Brücke endlich von allein – die roten Stützpfeiler hatten ihre Schuldigkeit getan.
Insgesamt erreicht der Viaduc de Millau eine Gesamtbauhöhe
von 343 Metern und überragt so den Eiffelturm – mit dem die
Geschichte der Eiffage einst begann – um 19 Meter. Gemessen
an der Höhe der Fahrbahn über dem Boden wäre dies aber kein
Rekord: Die 270 Meter von Millau werden von der Royal
Gorge Bridge übertroffen, die rund 321 Meter über einem
Canyon im US-Bundesstaat Colorado schwebt. Allerdings ruht
sie auf zwei relativ kurzen Pfeilerpaaren, die nahe an den Rändern des Abgrunds stehen. Die Gesamtbauhöhe des Viaduc de
Î
Millau ist es, die ihn zur höchsten Brücke der Welt macht.
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Sichtung durch
die Benutzer: Halbdurchsichtiges Plexiglas
außen an der Fahrbahnbegrenzung soll vor
Höhenangst schützen
Welch starken Naturkräften das Bauwerk trotzen muss,
zeigte sich schon während der Errichtung. Im Tarntal kennt
man Stürme mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 176 Kilometern pro Stunde. Daher wurde Fosters Entwurf lange vor
dem Bau als Modell samt miniaturisierter Tarnschlucht im
Windkanal des Forschungsinstituts CSTB in Nantes getestet.
In der Konstruktionsphase wachte eine Wetterstation ständig
über die äußeren Bedingungen. Ab prognostizierten 90 Kilometern pro Stunde Windgeschwindigkeit schlug sie Wetteralarm. Dann wurde das Personal evakuiert, die Kräne wurden
wetterfest verzurrt. Um den Straßenverkehr nicht zu gefährden, ist das Viadukt mit Windmessern ausgestattet, die kontinuierlich Daten an das Sicherheitszentrum in der Mautstation
sechs Kilometer weiter nördlich senden. Bei Sturmgefahr wird
die Brücke gesperrt.
BEI STURMGEFAHR WURDE DAS
PERSONAL EVAKUIERT, DIE KRÄNE
WURDEN WETTERFEST VERZURRT
Das Sicherheitszentrum ist das elektronische Gehirn des
Viaduc. Neben den Wetterdaten laufen hier auch Messwerte
der Brücke selbst zur permanenten Analyse ein. Projektdirektor Jean-Pierre Martin: „Wir haben Dehnungssensoren an den
Widerlagern im Norden und Süden, die millimetergenau die
Veränderungen der Ausdehnung des Decks dokumentieren.
Außerdem Temperaturdetektoren und Bodensensoren, die bis
zu 30 Meter tief an den Fundamenten sitzen.“ Ferner sind in
die Außenhaut der Pfeiler alle 20 Meter Prismen eingelassen,
die von Kontrolleuren mit Lasermessgeräten angepeilt werden
können. So erkennen sie Verschiebungen des Bauwerks selbst
im Bereich von Millimeterbruchteilen. All diese Daten werden
gesammelt und für Warnungen und Prognosen analysiert.
Wovor Sensoren jedoch nicht schützen können, sind Höhen-
angst und Schwindelgefühl. Deshalb versperren semitransparente Seitenverkleidungen aus Plexiglas durchfahrenden
Autofahrern die direkte Sicht nach unten – geben aber den
Blick frei auf die umliegende Landschaft.
Bei der Bevölkerung kommt das gigantische Bauwerk
erstaunlich gut an. Im Supermarkt des fünf Kilometer entfernten Ortes Millau hängen selbst gemalte Brückenbilder von
Schülern der Oberschule, im Ingenieurscontainer auf der Baustelle sogar selbst verfasste Gedichte begeisterter Anwohner.
Schließlich verspricht das Bauwerk nicht nur ein Ende der
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Staus, sondern auch neue Verdienstmöglichkeiten. Allein
das Besucherzentrum 270 Meter unter der Brücke steigerte
die Touristenzahl der Gemeinde um 15 Prozent. 450 000
Neugierige kamen bis November 2004, um die Baustelle
des Viadukts zumindest von unten zu betrachten. Oben
drauf dürfen Menschen und Autos erst nach der Einweihung am 17. Dezember. Danach aber bleibt Zeit genug:
Eiffage gibt eine Nutzungsgarantie von 120 Jahren. y
Jens Frantzen ist freier Wissenschaftsjournalist, nicht
ganz schwindelfrei und lebt in Düsseldorf
links
www.viaducdemillaueiffage.com Homepage
des Viaduc de Millau in französischer Sprache mit
Videos, Bauchronik und Fotos
www.brueckenweb.de Datenbank über alles,
was Pfeiler hat. Daten und Bilder von mehr als 6000
Brücken, zusammengetragen von Fans
www.structurae.de Internationale Galerie und
Datenbank mit Hochbauprojekten von der Antike bis
in die Gegenwart
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