Architektur Heft 12/2004
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Architektur Heft 12/2004
tr.1204.062-071 15.11.2004 8:58 Uhr ©Seite 62 62 BRÜCKENBAU Ruhe vor dem Ansturm: Bald sollen 14ˇ000 Fahr zeuge jeden Tag über den Viaduc de Millau rollen © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.1204.062-071 15.11.2004 8:59 Uhr ©Seite 63 BRÜCKENBAU 63 Gigant aus Stahlbeton Ein Meisterwerk des Brückenbaus ist vollendet. Bald wird in Südfrankreich der Viaduc de Millau eingeweiht: die höchste Schrägseilbrücke der Welt, höher noch als der Eiffelturm VON JENS FRANTZEN; OLIVER TJADEN (FOTOS) TECHNOLOGY REVIEW Dezember 2004 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.1204.062-071 15.11.2004 9:00 Uhr ©Seite 64 64 BRÜCKENBAU in scharfer Knall peitscht auf, als Glas unter dem Druck von 28 900 Tonnen Stahl zersplittert. Doch niemand erschrickt in der eigenartigen Versammlung 270 Meter über dem südfranzösischen Fluss Tarn: Nur eine Champagnerflasche musste dran glauben, zur Taufe zerquetscht zwischen zwei gigantischen Brückenhälften. Die Arbeiter auf dem Deck sind gerührt. „Ich habe gestandene Männer zum ersten Mal mit Tränen in den Augen gesehen“, sagt später Plattformchef Jean-Paul Bordenkircher, ein sonst eher stoischer Elsässer. Der 28. Mai 2004 war ein historischer Tag für ein paar hundert Ingenieure, Statiker, Stahl- und Betontechniker. An diesem Maifreitag wurde um 14.12 Uhr im wahrsten Wortsinn eine Brücke geschlagen: der Viaduc de Millau, eine 2460 Meter lange Verbindung zwischen zwei Hochebenen im Departement Aveyron. Genau über dem Fluss stieß der südliche Teil auf sein nördliches Pendant. Geschafft! Die Teams der beiden Brückenabschnitte schüttelten sich die Hände und feierten den Abschluss der entscheidenden Bauphase der weltweit höchsten Schrägseilbrücke. Deren Eröffnung, terminiert auf den 17. Dezember dieses Jahres, steht nun nichts mehr im Weg. Die Geschichte des Viaduc de Millau begann natürlich früher, und zwar – zumindest aus Sicht der Autofahrer – unerfreulich. Wer auf schnellstem Weg von Paris nach Barcelona fahren wollte, landete unweigerlich auf der Autobahn 75 Richtung Süden und musste zwischen Clermont-Ferrand und Béziers jäh das Tempo drosseln. Hier trennt der Tarn die beiden Hochplateaus Causse Rouge im Norden und Causse de Larzac im Süden. Tiefe Canyons hat er in Jahrmillionen durch das Kalk- und Mergelgestein der Region gefressen. Der Straßenverkehr muss sich deshalb in langen Serpentinen ins Tal hinab- und noch langwieriger wieder hinaufschieben. Im Sommer sind auf diesem Streckenabschnitt Staus mit E Dirigenten der Beton-Sinfonie: Plattformchef Jean-Paul Bordenkircher (rechts oben) und Bauleiter Jean-Pierre Martin TECHNOLOGY REVIEW Dezember 2004 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.1204.062-071 15.11.2004 9:00 Uhr ©Seite 65 BRÜCKENBAU 65 PRO TAG WERDEN IM SCHNITT 14 000 AUTOS UND LASTWAGEN DIE BRÜCKE BEFAHREN, WENN SIE ERÖFFNET IST 50 Kilometer Länge durchaus üblich. Mittendrin: das Städtchen Millau, einst bekannt für seine traditionelle Handschuhmanufaktur, später eher für Blechlawinen. Schon Anfang der 90er Jahre hatte das zuständige Verkehrsministerium die Lage erkannt und eine Tarn-Querung beschlossen. Man bat verschiedene Ingenieurbüros und Architekten um Vorschläge. 1996 stand der Sieger fest: Die Jury entschied sich für den Entwurf von Lord Norman Foster, dem britischen Stararchitekten, der auch den Berliner Reichstag und den Flughafen von Hongkong kreierte. Foster hatte eine schlanke Schrägseilbrücke mit Vielseilsystem gezeichnet, getragen von sieben Pfeilern. Bei diesem Brückentyp sitzt über jedem Pfeiler ein Pylon, an dem mit Stahlseilen das so genannte Deck aufgehängt ist, der Träger der Fahrbahn. Den Wettbewerb um den Bau und die Betriebskonzession des Viadukts entschied die Unternehmensgruppe Eiffage für sich, hervorgegangen aus der Stahlbaudynastie des Turmbauers Gustave Eiffel. Eiffage zahlt die Baukosten von rund 320 Millionen Euro aus eigener Kasse. Dafür bekam das Unternehmen die Konzession, für die nächsten 75 Jahre nach Fertigstellung der Brücke Mautgebühren zu erheben. Eine Investition, die sich lohnen könnte: Pro Tag werden rund 14 000 Autos und Lkw die Brücke befahren, errechneten die Statistiker des Unternehmens, in den Ferienmonaten Juli und August sogar bis zu 22 500 Fahrzeuge. Vier bis sechs Euro, je nach Jahreszeit und Fahrzeugtyp sind dann für die Benutzung fällig. Die Verwirklichung des Jahrhundertprojekts begann am 16. Oktober 2001. Jean-Pierre Martin, der verantwortliche Projektleiter der eigens gegründeten Compagnie Eiffage du Viaduc de Millau, musste eine Großbaustelle mit durchschnittlich 500 Mitarbeitern dirigieren, deren Arbeitsorte oft kilometerweit verstreut waren. „Manchmal habe ich mich gefühlt wie der Leiter eines Sinfonieorchesters“, sagt der weißhaarige Chefingenieur. „Die größte Herausforderung war die Koordination der vielen Einzelkomponenten des Baus.“ kurz gefasst Die Tarnschlucht in Zentralfrankreich war ein zeitraubendes Hindernis für den Urlaubs- und Güterverkehr. Ein ingenieurtechnisches Jahrhundertwerk soll den Verkehr wieder frei fließen lassen und für Ruhe sorgen im idyllischen Tal: der Viaduc de Millau, eine Schrägseilbrücke mit sieben riesigen Pylonen. Jetzt fehlen noch Autobahnanschlüsse ausreichender Kapazität, um die Staus tatsächlich aufzulösen, statt sie nur zu verlagern. TECHNOLOGY REVIEW Dezember 2004 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.1204.062-071 15.11.2004 9:00 Uhr ©Seite 66 66 BRÜCKENBAU Jeder Satz des Stahlbeton-Opus forderte die Virtuosität der Baumeister aufs Neue. So verlangte die Tarnschlucht nach nichts Geringerem als dem höchsten Brückenpfeiler der Welt. Auf der Nordseite steht er nun: der zweite von sieben Pfeilern, 245 Meter hoch. Damit schlägt der nur „P2“ genannte Riese den bis dahin amtierenden Höhenrekordhalter, die deutsche Kochertalbrücke, gleich um 67 Meter. Auf den letzten 90 Metern gabeln sich die sieben Pfeiler in eine schlanke Y-Form. Und das nicht nur aus ästhetischen Gründen – die Brücke wirkt im Profil filigraner –, sondern auch aus technischen. Die Gabelung reduziert die Trägheit der Pfeiler in der Längsrichtung der späteren Fahrbahn. So können diese die Änderungen in der Ausdehnung der Brücke besser kompensieren. Denn jede Brücke bewegt sich: Allein durch Temperaturschwankungen zwischen Sommer und Winter dehnen sich Stahl und Beton oder ziehen sich zusammen. Das Deck des Viaduc de Millau ist an beiden Endpunkten mit Kämmen verzahnt, die im Süden 90 Zentimeter, im Norden 120 Zentimeter Spielraum zur Ausdehnung geben. Solch monumentale Pfeiler brauchen außergewöhnlich feste Fundamente. Jeder von ihnen steht auf einer bis zu fünf Meter dicken Betonplatte, die wiederum auf vier Schaften ruht. Zwischen 9 und 16 Meter ragen diese Betonwurzeln in den Erdboden. In tagelangen Gussvorgängen flossen bis zu 2100 Kubikmeter Beton in jede der Fundamentplatten. Der verwendete Beton gehört zur Festigkeitsklasse B35, was bedeutet, dass er einer Belastung von 35 Newton pro Quadratmillimeter standhält. Für die Pfeiler wurde später sogar Beton mit B60-Festigkeit benutzt. Zeitgleich errichteten zwei andere Teams an den beiden Endpunkten auf den Plateaus die Widerlager der Brücke, ebenfalls aus B35-Beton: Es waren gewissermaßen die Startblöcke für den Sprung des Riesen über das Tal. Über sie dockt der tragende Brückenstahl ans Festland an. Sobald die Fundamente fertig waren, ließen die Ingenieure die sieben Gussbeton-Pfeiler, auf der Baustelle nur „P1“ bis „P7“ genannt, in die Höhe wachsen. Und das ziemlich schnell: Alle drei Tage machten die Pfeiler einen Sprung um vier Meter. Immer wieder gießen, aushärten lassen, und dann die variable Verschalung weiter nach oben rücken. Da sich die Grundrissabmessungen der Pfeiler über die gesamte Höhe verändern – von einer Fläche von 200 Quadratmetern an der Basis bis zu zwei 15 Quadratmeter messenden Flächen an der Spitze –, kam eine starre Verschalung nicht in Frage. Der variable Durchmesser soll helfen, die angreifenden Windkräfte klein zu halten. Jede neue Position der Gussformen wurde erst per Satellitennavigationssystem auf den Millimeter genau überprüft, bevor ein Messtechniker die nächste Ladung Beton freigab. Mit den Pfeilern wuchsen auch die mit Stahlklammern an ihnen fixierten Kräne, die den B60-Beton aufwärts trans- DIE STILLEN HELDEN DES BAUS WAREN DIE KRANFÜHRER IN IHREN KLIMATISIERTEN KABINEN TECHNOLOGY REVIEW Dezember 2004 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.1204.062-071 15.11.2004 9:01 Uhr ©Seite 67 BRÜCKENBAU 67 Balanceakt: Bevor die Stahlseile gespannt waren, mussten Behelfsstützen zwischen den Pylonen das Brückendeck tragen portierten. „Ein spezieller Hydraulik-Rahmen hebt die Kräne immer so weit an, dass wir ein neues Segment einschieben können“, erklärt Bauleiter Jean-Pierre Martin. Die stillen Helden des Pfeilerbaus waren die Kranführer. Sie machten ihren Job so weit über dem Geschehen, dass Kräne und Ausleger rot-weiß angestrichen werden mussten, um den zivilen Luftfahrtbestimmungen zu entsprechen. Nur mit einer Videoverbindung nach unten konnten sie das Befüllen der Betonbehälter überwachen. Immerhin, für ein wenig Komfort in der Einsamkeit war gesorgt: Aufzüge brachten sie zu ihren klimatisierten Führerkabinen, die mit einem Ruheplatz ausgestattet waren, Kühlschrank und Toilette inklusive. Noch während die Pfeiler wuchsen, setzte Konzertmeister Martin den nächsten Teil des Ensembles in Gang: die Deckkonstruktion. Bis auf die oberste Asphaltschicht besteht der Fahrbahnträger aus Stahl. Die Entscheidung der französischen Bauherren für dieses Material und gegen Beton war gut durchdacht: „Stahl hat ein viel geringeres Volumengewicht als Beton“, sagt Fabian Wilke, Brückenbau-Ingenieur am Institut für Stahlbau der Universität Hannover, „außerdem hält er deutlich mehr Belastung aus.“ So spart man am Viaduc de Millau Material: Die Pylone fallen kleiner aus, schließlich müssen sie weniger Gewicht tragen. Dadurch wird die Gesamtkonstruktion weniger windanfällig. Zudem ließen sich bei der Stahlvariante die Teile des Decks leichter vorproduzieren. Die Vorfertigung begann in Deutschland. Das Stahlwerk Dillinger Hütte walzte bis zu 120 Millimeter dicke Stahlplatten, die dann per Schiff nach Lauterbourg im Elsass reisten. „Insgesamt haben wir 36 000 Tonnen Stahl für das Deck und nochmals 7000 Tonnen für die Pylone geliefert“, sagt der Dillinger-Ingenieur Falko Schröter. In einer Lauterbourger Fabrik wurde der nächste Teil des Stahlpuzzles gelöst: Ein Hochleistungsroboter verschweißte die Bleche zu größeren Einheiten, die menschliche Spezialisten dann zu den 4,20 Meter hohen Kastenprofilstücken des Decks zusammenfügten. Per Schwerlasttransport – meist nachts und mit Polizeieskorte – legten die wuchtigen Elemente ihre letzte Etappe nach Millau zurück. Vor Ort an den Brückenköpfen hatten Arbeiter inzwischen zwei Hangars in die Höhe gezogen, in denen Stück für Stück das Deck zusammengesetzt wurde. Verantwortlich für diesen Teil des Stahlbaus war Plattformchef Bordenkircher. „Wir hatten zwei Schichten mit je rund 50 Schweißern im Einsatz“, sagt er, „und haben immer 171 Meter Deck am Stück gebaut.“ In einer ersten Arbeitszone des Hangars setzten seine Männer die zentralen Kastenprofile zusammen, in einer zweiten fügten sie die seitlichen Elemente an und versteiften sie innen mit Querstreben. Über vier Meter hoch und 32 Meter breit sind die Stücke. In der dritten Zone fand das Finishing statt: die Montage von Seitenbegrenzung und Windschutz sowie der TECHNOLOGY REVIEW Dezember 2004 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.1204.062-071 15.11.2004 9:01 Uhr ©Seite 68 68 BRÜCKENBAU Anstrich des fertigen Decks. Für die komplette Fertigstellung eines Abschnitts brauchten die Stahlarbeiter am Ende nur noch vier Wochen. Und dann, wenn wieder 171 Meter der Brücke fertig waren, begann der schwierigste und spektakulärste Akt: das so genannte Taktschieben. Die Brücke ging auf ihre Reise über das Tal. Dieses in seinem Ausmaß beispiellose Unterfangen startete am 26. Februar 2003 – noch während des Pfeilerbaus. Durchführbar war es nur dank so genannter Taktschiebesonderkonstruktionen, eigens angefertigt vom Münchner Unternehmen Maurer Söhne: Zunächst hoben hydraulische Zylinder mit einer Hubkraft von je 250 Tonnen das Deck um Zweifingerbreite an, dann gaben zwei Zugzylinder mit je 60 Tonnen Kraft den horizontalen Impuls und zogen das gesamte Deck um 60 Zentimeter über den Rand des Plateaus. Kritisch bei diesem Kraftakt war, die Reibung gering zu halten. „Wir haben einen neuen Gleitstoff verwendet, so genanntes MGM, das wesentlich belastbarer ist als Teflon“, erklärt Simon Hoffmann, Projektleiter bei Maurer Söhne. „Teflon hätte diesen Druck gar nicht ausgehalten.“ Mit einer Geschwindigkeit von rund zehn Metern pro Stunde kroch der Stahlriese über das Tal hinweg. „Weil wir aber ständig neue Sektionen des Decks hinten anfügten, erhöhte sich die zu transportierende Gesamtlast kontinuierlich“, erklärt Plattformchef Bordenkircher, „entsprechend brauchten wir immer mehr der hydraulischen Taktschieber.“ Am Ende waren es 64 Stück, koordiniert von einem Zentralcomputer. Ohne Feinabstimmung wäre das Taktschieben aus dem Rhythmus gekommen, mit Verwerfungen im Material als katastrophale Folge. Doch der Viaduc de Millau wäre kein Jahrhundertprojekt, wenn sich zweieinhalb Kilometer Brücke so einfach zusammenschieben ließen. „Wenn Sie ein paar hundert Meter Stahldeck ins Leere schieben“, sagt Brückenbauer Wilke, „dann kragt es bald nach vorn aus.“ Zu deutsch: Die Konstruktion krümmt sich unter ihrer eigenen Last. Da indes die Planer großen Wert darauf gelegt hatten, die Landschaft so wenig wie möglich zu beeinträchtigen, gaben sie der Brücke nur sieben Stützen, die zwangsläufig weit auseinander stehen – nämlich genau 342 Meter. Für solche Sprünge war das Stahldeck nicht starr genug. Und so griffen die Eiffage-Ingenieure zu einem Trick: Auf halber Strecke zwischen den permanenten Pfeilern errichteten sie die provisorischen Stützen Pi1 bis Pi7 aus Stahlfachwerk und halbierten so die zu bewältigende Strecke auf 171 Meter. Pi2 war mit 173 Metern und 1200 Tonnen Gewicht die höchste der Hilfsstützen. Auch damit war das Problem noch nicht gelöst. Denn zwischen den Pfeilern P2 und P3, den beiden höchsten des Viadukts, liegt der tiefste Punkt des Tals. Rund 700 Meter vom nördlichen Rand des Plateaus fließt hier der Tarn, in dessen Flussbett kein provisorischer Stützpfeiler Halt fände. Also blieb noch immer eine 342-Meter-Lücke ohne Zwischenstütze. Nicht zu schaffen, die Konstruktion würde zu weit durchhängen. „Es sei denn, man kann die Segmente schon vor der endgültigen Positionierung der Brücke stabilisieren“, erklärt Wilke. Genau dies taten die Franzosen: Sie errichteten je einen WIE IST DIESE PRÄZISION MÖGLICH? »MAN MUSS AUCH GLÜCK HABEN«, SAGT JEAN-PAUL BORDENKIRCHER Pylon auf dem ersten Segment des Nord- und des Südteils der Brücke, zogen Schrägseile ein und spannten sie bereits auf festem Boden vor. Die Hilfspylone rutschten also mit dem Deck über das Tal. Nun war die Konstruktion stabil genug, um die mehr als 171 Meter zu schaffen, der Abstand zwischen P2 und P3 blieb aber so groß, dass sich die Brückenhälften nur dort treffen konnten – mit der Konsequenz zweier extrem ungleicher Einschublängen. Von Norden her setzten sich 717 Meter Deck in Bewegung, während sich aus Süden 1743 Meter heranschoben. In 171-Meter-Intervallen krochen die Fahrbahnteile aufeinander zu, auf jedem erreichten Pfeiler bekamen sie vier Wochen Pause. Dann erst wurde wieder ein neues Segment im Hangar hinten angefügt. Als letzte Finesse des Baus schrieb der Entwurf eine leichte Kurve mit einer Längsneigung von drei Grad vor. Geschicktes Austarieren beim Taktschieben hielt das Deck in der sanft gekrümmten Bahn. Nord- und Südteil trafen sich millimetergenau. Wie ist solche Präzision möglich? „Man muss ja auch mal Glück haben“, sagt Jean-Paul Bordenkircher. Wobei die Technik dem Schicksal kräftig nachhalf: Jeder Schritt des fünfmonatigen Präzisionsschiebens wurde mit Satellitennavigation und Laserführung überwacht. Zwar war das 36 000-Tonnen-Deck nun vereint, aber noch nicht stabil. Erst jetzt konnten Bordenkirchers Männer die restlichen Pylone aufstellen, um die Konstruktion auszusteifen. „Diese Pylone schon vorher zu montieren, hätte das Gesamtgewicht der Brücke zu sehr erhöht“, sagt Bordenkircher. Jeder der 87 Meter hohen Stahlpylone, die ähnlich wie die Stützpfeiler gegabelt sind, allerdings nach unten, wiegt 650 Tonnen. Spezialkräne wuchteten sie fertig verschweißt an ihre Plätze. An der Spitze tragen sie als Schmuckwerk 17 Meter hohe „Caps“, im funktionellen Teil darunter sind elf Paare hochbelastbarer Schrägseile verankert. Als diese Seile gespannt waren, stand die Brücke endlich von allein – die roten Stützpfeiler hatten ihre Schuldigkeit getan. Insgesamt erreicht der Viaduc de Millau eine Gesamtbauhöhe von 343 Metern und überragt so den Eiffelturm – mit dem die Geschichte der Eiffage einst begann – um 19 Meter. Gemessen an der Höhe der Fahrbahn über dem Boden wäre dies aber kein Rekord: Die 270 Meter von Millau werden von der Royal Gorge Bridge übertroffen, die rund 321 Meter über einem Canyon im US-Bundesstaat Colorado schwebt. Allerdings ruht sie auf zwei relativ kurzen Pfeilerpaaren, die nahe an den Rändern des Abgrunds stehen. Die Gesamtbauhöhe des Viaduc de Î Millau ist es, die ihn zur höchsten Brücke der Welt macht. TECHNOLOGY REVIEW Dezember 2004 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.1204.062-071 15.11.2004 9:01 Uhr ©Seite 70 70 BRÜCKENBAU Sichtung durch die Benutzer: Halbdurchsichtiges Plexiglas außen an der Fahrbahnbegrenzung soll vor Höhenangst schützen Welch starken Naturkräften das Bauwerk trotzen muss, zeigte sich schon während der Errichtung. Im Tarntal kennt man Stürme mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 176 Kilometern pro Stunde. Daher wurde Fosters Entwurf lange vor dem Bau als Modell samt miniaturisierter Tarnschlucht im Windkanal des Forschungsinstituts CSTB in Nantes getestet. In der Konstruktionsphase wachte eine Wetterstation ständig über die äußeren Bedingungen. Ab prognostizierten 90 Kilometern pro Stunde Windgeschwindigkeit schlug sie Wetteralarm. Dann wurde das Personal evakuiert, die Kräne wurden wetterfest verzurrt. Um den Straßenverkehr nicht zu gefährden, ist das Viadukt mit Windmessern ausgestattet, die kontinuierlich Daten an das Sicherheitszentrum in der Mautstation sechs Kilometer weiter nördlich senden. Bei Sturmgefahr wird die Brücke gesperrt. BEI STURMGEFAHR WURDE DAS PERSONAL EVAKUIERT, DIE KRÄNE WURDEN WETTERFEST VERZURRT Das Sicherheitszentrum ist das elektronische Gehirn des Viaduc. Neben den Wetterdaten laufen hier auch Messwerte der Brücke selbst zur permanenten Analyse ein. Projektdirektor Jean-Pierre Martin: „Wir haben Dehnungssensoren an den Widerlagern im Norden und Süden, die millimetergenau die Veränderungen der Ausdehnung des Decks dokumentieren. Außerdem Temperaturdetektoren und Bodensensoren, die bis zu 30 Meter tief an den Fundamenten sitzen.“ Ferner sind in die Außenhaut der Pfeiler alle 20 Meter Prismen eingelassen, die von Kontrolleuren mit Lasermessgeräten angepeilt werden können. So erkennen sie Verschiebungen des Bauwerks selbst im Bereich von Millimeterbruchteilen. All diese Daten werden gesammelt und für Warnungen und Prognosen analysiert. Wovor Sensoren jedoch nicht schützen können, sind Höhen- angst und Schwindelgefühl. Deshalb versperren semitransparente Seitenverkleidungen aus Plexiglas durchfahrenden Autofahrern die direkte Sicht nach unten – geben aber den Blick frei auf die umliegende Landschaft. Bei der Bevölkerung kommt das gigantische Bauwerk erstaunlich gut an. Im Supermarkt des fünf Kilometer entfernten Ortes Millau hängen selbst gemalte Brückenbilder von Schülern der Oberschule, im Ingenieurscontainer auf der Baustelle sogar selbst verfasste Gedichte begeisterter Anwohner. Schließlich verspricht das Bauwerk nicht nur ein Ende der TECHNOLOGY REVIEW Dezember 2004 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. tr.1204.062-071 15.11.2004 9:01 Uhr ©Seite 71 BRÜCKENBAU 71 Staus, sondern auch neue Verdienstmöglichkeiten. Allein das Besucherzentrum 270 Meter unter der Brücke steigerte die Touristenzahl der Gemeinde um 15 Prozent. 450 000 Neugierige kamen bis November 2004, um die Baustelle des Viadukts zumindest von unten zu betrachten. Oben drauf dürfen Menschen und Autos erst nach der Einweihung am 17. Dezember. Danach aber bleibt Zeit genug: Eiffage gibt eine Nutzungsgarantie von 120 Jahren. y Jens Frantzen ist freier Wissenschaftsjournalist, nicht ganz schwindelfrei und lebt in Düsseldorf links www.viaducdemillaueiffage.com Homepage des Viaduc de Millau in französischer Sprache mit Videos, Bauchronik und Fotos www.brueckenweb.de Datenbank über alles, was Pfeiler hat. Daten und Bilder von mehr als 6000 Brücken, zusammengetragen von Fans www.structurae.de Internationale Galerie und Datenbank mit Hochbauprojekten von der Antike bis in die Gegenwart TECHNOLOGY REVIEW Dezember 2004 © Copyright by Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co. KG. Veröffentlichung und Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Heise Zeitschriften Verlags. Jetzt 3 Ausgaben zum Preis von nur 12 e testen + ein Geschenk aussuchen: www.die-chancen-frueher-begreifen.de Deutschlands Technologiemagazin.