Das Wunder des Wortes Friedrich Weinreb (1910–1988), Mystiker

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Das Wunder des Wortes Friedrich Weinreb (1910–1988), Mystiker
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Das Wunder des Wortes
Friedrich Weinreb (1910–1988),
Mystiker und Thora-Gelehrter
Klaus W. Hälbig / Rottenburg
Der jüdische Erzähler chassidischer Herkunft und Mystiker in der Tradition der
Kabbala, Friedrich Weinreb, gilt als Ausnahmeerscheinung im Judentum des
20. Jahrhunderts. Geboren vor hundert Jahren am 18. November 1910 im österreichischen Lemberg, dem heutigen Lwiw in der Ukraine, ist er in Deutschland
trotz seiner über fünfzig auf Deutsch veröffentlichten Bücher noch weitgehend
unbekannt. In einschlägigen theologischen Lexika kommt sein Name nicht vor.
Auch im christlich-jüdischen Dialog spielt er keine Rolle, obwohl er wie kaum
ein anderer jüdischer Autor die innere Nähe, ja Einheit von Altem und Neuem
Testament herausstellt. In „Innenwelt des Wortes im Neuen Testament“, erschienen in seinem Todesjahr 1988, erklärte er unmissverständlich, dass die Botschaft von Jesus dem von jüdischer Seite freudig erwarteten Messias vollkommen
entspricht: „Die Geschichten im Neuen Testament erzählen genau das, was man
vom Wunder des Messias erwartet.“ Und: „Jesus, der Messias, der Christus ist
entscheidend für die ganze Bibel. Und wenn die Bibel unser Sein ist, das Sein der
ganzen Welt, ist er von dorther für alles entscheidend. Auch die Juden glauben
fest, als einzige Gewissheit, an den Messias. (…) Der Christus, der Messias ist
Ziel, Hoffnung, Gewissheit für jedes Leben, ist Basis der Schöpfung.“1
1 Die Bedeutung der biblischen Sprache: Buchstaben als Zahlen
Den Zusammenhang zwischen der ganzen Bibel und dem erlösenden Messias
als Grund und Ziel der Schöpfung verdeutlicht Weinreb in seiner Hermeneutik
der Schriftauslegung insbesondere durch die Methode der Gematrie, der Deutung der Zahlenwerte der hebräischen Buchstaben im Sinn der Kabbala. Absolut verstanden ermöglichen die Zahlen die Verbindung zur Wurzel der Sprache
oder zur Ursprache, die in den anderen Sprachen mit der ‚Sprachverwirrung‘ des
Turmbaus zu Babel (Gen 11,1–9) nicht mehr ungebrochen besteht: „Ursprache
und absolute Zahl sind das gleiche.“2 Der Mensch vor dem Sündenfall hat noch
1 Vgl. F. Weinreb, Innenwelt des Wortes im Neuen Testament. Eine Deutung aus den Quellen des Judentums. Weiler 1988, 171 u. 209.
2 Ders., Zahl, Zeichen, Wort. Das symbolische Universum der Bibelsprache. Weiler 1986, 22.
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diese Sprache als „Verbindung zwischen Himmel und Erde“: „Sie ist mit dem
Menschen erschaffen und ihm eingeboren. Jeder Mensch trägt sie tief in sich.“3
Weinreb unterscheidet vier Ebenen der Sprache, die dem Menschen in seinen vier Dimensionen entsprechen: 1. Die geschriebenen Konsonanten oder
Buchstaben analog zum Körper; 2. die gesprochenen Konsonanten analog zur
Körperseele; 3. die Vokale analog zum Geist; 4. die Sprachmelodie oder Betonung analog zur Geistseele. Das Wort gewinnt „eigentliches Leben erst durch
den Ton oder die Melodie, die man ihm verleiht. Man singt im Grunde genommen das Wort.“4 Im Sündenfall sinkt mit dem Menschen auch die Sprache gewissermaßen um eine Oktav tiefer, die dann mit der Erlösung wieder erhoben
oder höher gestimmt wird (s.u.).
Das griechische Alphabet geht auf das Hebräische zurück. Im Griechischen ist
aber durch Verschiebungen die durch ihre Zahlenwerte festgelegte Reihenfolge
der Buchstaben nicht mehr eindeutig. Außerdem bedeuten die Namen der Buchstaben nichts mehr, während sie im Hebräischen einen bestimmten Sinn haben:
Aleph bedeutet „Kopf eines Stieres“, Beth heißt „Haus“, Gimel „Kamel“ usw.5
Über die Zahlenwerte und die Namen der Buchstaben besteht so nur im biblischen Hebräisch noch eine Verbindung zwischen dem „tiefen Wissen“ und den
Lautzeichen der Sprache. Das Wort ist dann nicht bloß Beschreibung eines Bildes, sondern durch den quantitativen Ausdruck der Zahlen eine Brücke „zwischen unserer Welt des Zeiträumlichen und der Welt des Wesentlichen“; ohne
die Zahlen in ihrem absoluten Sinn verlieren hingegen die Worte diese Brückenfunktion, man hat sich dann „Bilder daraus gemacht“.6
Weil die Buchstaben ursprünglich aus den Zahlen hervorgehen und diese ihre
Rangfolge haben, ist das quantitative Verhältnis das Primäre, Maßgebliche. Diese
Proportion – analog zum Verhältnis etwa beim Element Wasser (H2O) zwischen
Wasserstoff (2) und Sauerstoff (1) – kann nicht „aus noch unartikulierten Tierlauten entwickelt worden sein, sondern sie ist dem Menschen gegeben worden
wie das Leben und wie er das Weltall und die Erde als eine Gegebenheit vorfand.
Die Sprache ist dem Menschen ‚fertig‘ gegeben.“7 Mit dem Johannes-Prolog sagt
Weinreb, dass die Sprache bzw. das Wort daher göttlich bzw. Gott sei: „In der
Überlieferung, auf die ich mich beziehe, stimmt diese Aussage buchstabengenau. Nur muss man wissen, was unter ‚Wort‘ zu verstehen ist. Es ist die Sprache,
sie ist bei Gott, und sie kommt zu uns.“8
3 Ebd. Angeboren ist die Sprachfähigkeit, nicht die Sprache. Das Dilemma, wie der Mensch zur Sprache
findet, wo er doch erst Mensch ist durch die Sprache, löst Weinreb mit dem Hinweis auf das „tiefe Wissen“ (abgesunken ins Unbewusste).
4 Vgl. aaO., 61.
5 Vgl. Ders., Schöpfung im Wort. Die Struktur der Bibel in jüdischer Überlieferung. Zürich ²2002, 70–72.
6 Vgl. aaO., 68f.
7 Vgl. aaO., 69 u. Zahl (Anm. 2), 19.
8 AaO., 59; vgl. die Literaturhinweise aaO., 14–16 (Überlieferung).
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Zu diesem Wort als Ursprung und Grundlage der Schöpfung besteht nach
der Sprachverwirrung aber keine innere Verbindung mehr. Der Kontakt mit
dem Wesen der Dinge ist verloren: „Dadurch wird nun alles ‚halbiert‘, es kommt
das Bild, das für den Menschen vom Kern getrennt ist. Außer der Sprache der Bibel werden alle Sprachen ‚halbiert‘.“9 Das hebräische Wort für „verlieren“, abed
(1-2-4), zeigt in den Zahlen die Entwicklung von der Einheit (1) über die Zweiheit (2) der Schöpfung (Himmel und Erde) zur Vielheit, die „das Prinzip der
‚Vier‘ zum Vorschein (bringt), und das bedeutet, dass damit eigentlich alles verlorengeht“.10 „Die ‚Vier‘ ist doch im Wesen das Prinzip der größten irdischen
Zahl.“11 Gemeint ist damit, dass die Zweiheit in der Begegnung mit sich selbst an
eine Grenze kommt, die nicht mehr überschritten werden kann. So ergibt die
Summe der ersten vier Zahlen 1+2+3+4 die Zahl 10, die die Wiederholung der
Eins oder der Einheit auf der nächsten Ebene ist und als kleinster Buchstabe Jod
(Jota) den „Ursprung der Zeichen“ bildet: „Alle nehmen sie ihren Anfang im
Jod.“12
Das Jod oder die Zehn als Urkeim der Buchstaben ist in der Gestalt des Aleph
(‫ )א‬doppelt enthalten: als Jod oben und als unteres Jod, verbunden durch eine
Waw („Haken“/„und“). Das obere Jod repräsentiert den Schöpfer, das um neunzig Grad gedrehte untere Jod den am 6. Schöpfungstag (Waw) geschaffenen
Menschen, gespalten in 5 und 5, seine rechte, innere, männliche und seine linke,
äußere, weibliche Seite. Der Mensch wird als letztes Geschöpf geschaffen „in
Gottes Bild, in Gottes Gleichnis, mit der ‚Eins‘ auch schon in sich, Mann und
Frau als ein Wesen“, mit dem wieder alles Geschaffene zur Einheit zurückkehren sollte: „So schuf Gott die Zehn auch unten, wie dies in den ersten zehn
Schöpfungsworten der ersten Schöpfungsgeschichte zum Ausdruck kommt. Und
so stand der Mensch also auch unten, mit allem um sich herum, gegenüber der
Zehn oben.“13
In dieser aus drei Komponenten zusammengesetzten Form stellt der Buchstabe Aleph dann auch den Gottesnamen dar, das heißt Bedeutung und Sinn des
Lebens oder das Tetragramm J-H-W-H, in Zahlen 10-5-6-5 = 26 oder 10 = 5
„und“ 5.14 Der Dekalog, die Zehn Worte, die den zehn Schöpferworten entsprechen, haben auf den zwei Gesetzestafeln die Struktur 5 und 5 wie der Gottesname. Die inneren 5 Gebote drücken die Haltung des Menschen gegenüber Gott,
die äußeren 5 Gebote die Haltung gegenüber Gott in der Weise der Haltung ge9 Schöpfung (Anm. 5), 510.
10 Vgl. aaO., 169f.
11 AaO., 516 u. 31–73 (Das Zählen bis vier).
12 Ders., Wunder der Zeichen – Wunder der Sprache. Vom Sinn und Geheimnis der Buchstaben. Bern
²1999, 19. Symbol des Jod ist auch das neugeborene Kind, das mit dem 10. (Mond-)Monat kommt; vgl.
Ders., Das jüdische Passahmahl und was dabei von der Erlösung erzählt wird. München o.J., 246.
13 Schöpfung (Anm. 5), 160.
14 Vgl. aaO., 134–161.
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genüber der Welt aus.15 Nach dieser Struktur des Namens, die sich im Aufbau der
10 bzw. 4 Stammbäume in der Genesis spiegelt, bestimmt sich der Lauf der biblischen Geschichte bis zu Mose als der 26. Generation nach Adam, dem der
Name im brennenden Dornbusch offenbart wird.16
Mit Abraham beginnt nach der Urgeschichte als vierfacher Sündenfall-Katastrophe die Bewegung der Rückkehr zur Einheit, und zwar durch den Bund der
Beschneidung: in die Namen von Abram und Sarai wird jeweils eine He = 5 eingefügt, bei Abraham in der Mitte, bei Sarah am Ende (Gen 17,5.15). Ihre gemeinsame Frucht Jizchak (Isaak) hat das Jod oder die 10 als Einheit der beiden
Fünfen am Anfang des Namens – Abraham ist bei seiner Geburt 100 Jahre alt
(Gen 21,5). Den biblischen Er-zählungen liegen somit bestimmte Zahlen-Proportionen und Sinnstrukturen zugrunde, wodurch sie erst verständlich werden.
Weinreb spricht von einem System, das so klar und eindeutig ist, dass sich jegliches „Jonglieren mit Zahlen“ verbietet: „Jeder Umgang mit Zahlen muss von einem eindeutigen Prinzip ausgehen, und dieses Prinzip darf niemals seine Gültigkeit verlieren. Wenn man Zahlen nur so addiert, subtrahiert oder multipliziert,
um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, ist dies nichts anderes als Betrug oder
extreme Dummheit.“17
Dieses System der Bibel, wie Weinreb es versteht und wohl als einziger dem
heutigen Menschen erschlossen hat, kann hier nur in wenigen Grundzügen vorgestellt werden. Es stellt freilich viele Grundannahmen der heutigen historischkritischen Exegese radikal in Frage. Dies zu akzeptieren und Weinreb zu rezipieren, würde für die wissenschaftliche Schriftauslegung einen vollkommenen
Paradigmenwechsel bedeuten. Insofern sich aber gegenwärtig ein solcher Wechsel in der Hinkehr zur kanonischen Schriftauslegung abzeichnet,18 gewinnt Weinrebs Bibeldeutung zweifellos neu an Bedeutung.
15 Vgl. aaO., 751–768. Die Zehn Worte haben 620 Buchstaben entsprechend dem Zahlenwert des Wortes für „Krone“, kether, 20-400-200, das im kabbalistischen Sefiroth-Baum die Einheit Gottes oder den Ursprung ausdrückt (769).
16 Die vier Stammbäume (ele toldot, unterschieden von den übrigen sechs we-ele toldot) der Genesis sind
genannt in 2,4; 6,9; 11,10 u. 37,2. Von Adam bis Noah sind es 10 Generationen, von Schem bis Peleg 5,
von Regu bis Isaak 6 und von Jakob bis Mose wieder 5 Generationen analog zum Tetragramm 10-5-6-5;
vgl. aaO., 143–147. Der Stammbaum Jesu nach Lukas zählt von Gott an 78 Generationen, d.h. dreimal die
26 des Gottesnamens JHWH, den Jesus oder JHS buchstäblich verkörpert.
17 AaO., 88. Zur zahlensymbolisch erschließbaren Systematik der Bibel gibt es außer den alten Quellen,
die Weinreb erschließt, kaum Literatur; vgl. H.A. Hutmacher, Symbolik der biblischen Zahlen und Zeiten.
Paderborn 1993, sowie die Art. Gematrie u. Numerologie in Wikipedia (Lit.). Für christliche Antike und
Mittelalter vgl. H. Meyer/R. Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen. München 1999.
18 Vgl. G. Steins, Kanon und Anamnese. Auf dem Weg zu einer Neuen Biblischen Theologie, in: E. Ballhorn/G. Steins (Hrsg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Stuttgart 2007, 129: „Anamnese ist Geschehen in der Gegenwart, keine Information über Gewesenes .. . Der genuine Ort einer solchen Schriftauslegung ist nicht die historische Forschung, sondern der Ritus.“; vgl. auch J. Ratzinger, Jesus von Nazareth,
1. Teil. Freiburg u.a. 2007, 16–23; außerdem das Nachsynodale Apostolische Schreiben ›Verbum Domini‹
(Nov. 2010), 29–49.
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2 Lebenslauf: Von der Ökonometrie zur Gematrie
Obwohl Weinreb überzeugt war von der Wahrheit des Neuen Testaments, hat
ihn dies in keiner Weise daran gehindert, orthodoxer Jude zu bleiben. Bereits
als Fünfjähriger realisierte Efraim Fischl Jehoschua – wie er eigentlich hieß – bei
einem Besuch seiner Großeltern in Wien, wohin die Familie nach Kriegsausbruch geflüchtet war, dass es noch eine „andere Welt“ gab, eine „Traumwelt“.
1916 floh die junge Familie, die stolz auf die deutsche Sprache und Kultur war
(der Vater hatte sich Deutsch im Selbststudium beigebracht), erneut, diesmal
nach Scheveningen in Holland. Hier wuchs der kleine Fischl zusammen mit seinem jüngeren Bruder auf, ging zur Schule und lernte nebenbei Hebräisch.
„Schon als Zwölfjähriger fühlte er sich zum orthodoxen Lebenswandel hingezogen“, schreibt Eugen Baer in seiner Einführung in Weinrebs Leben und Werk.
1937 wird Weinreb beim Kongress der Weltorganisation der orthodoxen Juden
in Marienbad über das Thema „Beruf und Leben“ sprechen. „Keiner wusste, dass
man zum letzten Mal eine solche Elite aus vielen Ländern an einem Ort versammelt sah.“19
Zunächst wählt er nach einem glänzenden Abitur aus finanziellen Gründen
das Studium der Volkswirtschaft in Rotterdam, das er nach dem Tod seiner Eltern 1931 wieder aufgeben wollte. Aufgrund einer frühen preisgekrönten Studie erhielt er aber eine Assistentenstelle, und bereits mit 26 Jahren wird er Professor für das damals neue Gebiet der Ökonometrie. So abgesichert heiratet er
Esther Gutwirth mit ebenfalls chassidischen Vorfahren, mit der er sechs Kinder
hat.
Eine neue Bibeldeutung
Bis heute umstritten ist Weinrebs Rolle während der nationalsozialistischen Besetzung der Niederlande zwischen 1940 und 1945. Nach eigenem Bekunden erreichte er durch eine fiktive Liste, dass etwa 1500 holländische Juden untertauchen konnten und so vor dem Abtransport bewahrt wurden. Er erfand nach
seiner Verhaftung einen Generalleutnant Herbert Joachim von Schumann, der
seine Liste unterstütze, was man ihm glaubte, so dass er wieder freikam. Bevor
man ihn erneut inhaftieren konnte, tauchte auch er mit seiner Familie auf einem Bauernhof unter. Nach dem Krieg kam er wegen des Verdachts, mit den
deutschen Besatzern zusammengearbeitet zu haben, für dreieinhalb Jahre in Un19 E. Baer, Ewiges Leben im Wort. Eine Einführung in Leben und Werk von Friedrich Weinreb. Zürich 2010,
29 u. 31. Das ausführlichste Lebensbild Weinrebs findet sich bei Ch. Schneider (Hrsg.), Weinreb Lesebuch.
Weiler 1997, 7–61; vgl. Ders., Im Lehrhaus des Wortes. Reden und Aufsätze – Friedrich Weinreb zum 100.
Geburtstag. Zürich 2010, 11–22.
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tersuchungshaft. In dieser Zeit hatte er sein bahnbrechendes Schlüsselerlebnis,
das er selbst als „Wunder“ bezeichnete: Im Studium der jüdischen Überlieferung
fand er zum einzigartigen Verstehen des inneren Sinns des biblischen Wortes.
Nach seiner Freilassung war er in den 50er Jahren im Auftrag der holländischen
Regierung als Ordinarius für Ökonometrie und Statistik in Djakarta, Kalkutta
und Ankara tätig und anschließend vier Jahre bei den Vereinten Nationen in
Genf und als Experte am Internationalen Arbeitsamt.
Eine im Auftrag der niederländischen Regierung erstellte historische Studie
rehabilitierte Weinreb 1965 vom Vorwurf der Kollaboration. Doch ein umfangreicher Bericht des „Reichsinstituts für Kriegsdokumentation“ einige Jahre
später kam zu einem entgegengesetzten Ergebnis, ohne allerdings Weinreb selbst
kontaktiert zu haben. Aufgrund dieser als „Affäre Weinreb“ bekannten Auseinandersetzung verließ Weinreb 1968 endgültig Holland. Er siedelte nach Jerusalem um, wo er in drei umfangreichen Bänden seine Erinnerungen an die
Kriegszeit festhielt (erschienen 1969/70 als „Kollaboration und Widerstand“,
wofür ihm der Literaturpreis der Stadt Amsterdam zugesprochen wurde).
Keine Resonanz fand er hingegen mit seiner Deutung der Bibel als Schöpfung
im Wort. 1963 hatte er sie in seinem Hauptwerk „Die Bibel als Schöpfung“ auf
Holländisch veröffentlicht und damit viel Aufsehen erregt. Unter dem Titel „Der
göttliche Bauplan der Welt“ war 1965 eine stark gekürzte Fassung in der Schweiz
erschienen und dort auf fruchtbaren Boden gefallen. So ließ er sich 1973 in Zürich nieder, um sich ganz seiner „anderen“ Berufung zu widmen. „Nun konnte
er endlich frei über sein ‚Wunder‘ sprechen, und so entwickelte sich nun eine
überaus fruchtbare Tätigkeit als Vortragender und Autor.“20
Weinreb hält Vorträge in Zürich, Basel und Bern, an Stätten kirchlicher
Erwachsenenbildung, in Rundfunkanstalten, an Universitäten, in der Lehrerfortbildung, in Klöstern und Schulen in Deutschland, Österreich, Belgien und
Holland. Ganze fünfzehn Jahre verblieben ihm, um das „Wissen des alten Judentums“ auf diesem Weg zu verbreiten. „Dieses alte Wissen basiert – wie jedes
Wissen in jeder Zeit das anstrebt – auf der Erkenntnis vom Sinn des Lebens.“21
Immerhin erreichte er mit seinen „Züricher Gesprächen“ und Seminaren in den
70er Jahren so namhafte Theologen und Philosophen wie Karl Rahner, Gabriel
Marcel, Ferdinand Ulrich, Heinrich Schipperges, Hans-Georg Gadamer, Ernesto
Grassi, Ivan Illich und Medard Boss.
Die 1980 gegründete Weinreb-Stiftung nahm sich nach seinem unerwarteten
Tod am 19. Oktober 1988 seines reichen Erbes an, das unter anderem auch in
über 3000 Mitschnitten von Vorträgen der Jahre 1971 bis 1988 besteht, die alle
im Tonarchiv der Stiftung öffentlich zugänglich sind (www.weinreb-tonarchiv.de). Bei aller Betonung der Zahlensymbolik blieb Weinreb doch vor allem
20 E. Baer, Ewiges Leben (Anm. 19), 34.
21 Schöpfung (Anm. 5), 13 u. 24: „Das alte jüdische Wissen war die Kenntnis der Bibel als Schöpfung.“
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ein großer Erzähler. 1994 veröffentlichte die Stiftung unter dem Titel „Schöpfung
im Wort“ erstmals ungekürzt das Hauptwerk auf Deutsch. Der Untertitel „Die
Struktur der Bibel in jüdischer Überlieferung“ weist auf das Anliegen Weinrebs
hin, eine innere, ewige Wesensstruktur in den biblischen Erzählungen aufzudecken, die – in den ersten beiden Kapiteln der Bibel grundgelegt – die ganze Offenbarung (einschließlich des Neuen Testaments) bestimmt und ihr erst ihren eigentlichen Sinn verleiht.
Dieser tiefere Sinn ist wie der Kern einer Nuss unter der Schale der Buchstaben oder des Literalsinns des biblischen Wortes verborgen. Wie die frühchristliche Bibeldeutung kennt auch die jüdische die Unterscheidung zwischen Geist
und Buchstaben, Wesen und Erscheinung, Innen und Außen, Frucht und Blättern, wie Hieronymus von Ps 1,3 her sagt.22 Diese Unterscheidung entspricht der
von Seele und Leib im Menschen selbst, was sich auch in seiner Sprache niederschlägt. Baer schreibt: „Die Sprache lebt ganz natürlich und wie von selbst im
Sinnlichen und Übersinnlichen. Weinrebs ganzes Werk ist geprägt von dieser
Doppelwelt der Sprache. (…) Was beide Welten zusammenhält, ist bei ihm die
Traumwelt, die Tag und Nacht in sich vereint und dennoch als unterschiedlich
gelten lässt.“23 In diesem Sinn ist Weinreb „geistesverwandt mit Sprachphilosophen, welche die Sprache aller Sinnstiftung voranstellten, wie etwa Novalis, der
spätere Wittgenstein, Heidegger, Rosenstock-Huessy und Bruno Liebdrucks.“24
Weinreb hat seine Kindheit nach eigenem Bekunden als nicht glücklich, seine
Schulzeit als Qual erlebt. Die großen Fragen des Lebens nach dem Sinn und der
Aufgabe des Menschen kamen dort nicht vor. Als 15-Jähriger entdeckt er die
Philosophen, von denen er sich sofort angezogen fühlte, angefangen mit Schopenhauer. „Nun folgten bald Kant, Hegel, Nietzsche, kurz, alles was ich von deutschen Philosophen auftreiben konnte.“25 Leibniz, Descartes, Spinoza und Bergson waren die nächsten, um „das Träumen über das Leben“ zu lernen. „Es ging
ihm auf, dass die Leute, die den Talmud, die Midraschim und die Kabbala hervorgebracht hatten, ‚Wortträumer‘ waren, also Leute, die mit der anderen Seite
der Sprache in Verbindung standen.“26
Mit zwanzig Jahren begegnete er der dichterischen Welt des belgischen Literatur-Nobelpreisträgers Maurice Maeterlinck (1862–1949), eines der wichtigsten Vertreter des Symbolismus. „Der Dichter hatte dieses Andere. Bei ihm ist
der Stein von der Öffnung des Brunnens hinweggerollt, und der Strom des WasAls Kern-Erzählung wurden die ersten fünf Bücher angesehen.
22 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, „Er wird wie Christus sein.“ Psalm 1 in der Auslegung von Hieronymus, in: E. Ballhorn/G. Steins, Bibelkanon (Anm. 18), 226f. Schwienhorst-Schönberger betont, dass der Ursprung des zweifachen (später vierfachen) Schriftsinns in einer geistig-spirituellen Christuserfahrung gründet.
23 Vgl. E. Baer, Ewiges Leben (Anm. 19), 19.
24 Vgl. aaO., 16.
25 AaO., 45.
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sers kann fließen.“27 Ihm wurde
klar, dass im Menschen beide gegensätzlichen Seiten
der Wirklichkeit
zusammenfallen.
Hinzu kam die
Entdeckung des
englischen Astronomen, Physikers
und Mathematikers Sir James
Hopwood Jeans
Friedrich Weinreb (1910–1988). © Friedrich-Weinreb-Stiftung
(1877–1946), wodurch ihm „Mathematik erst richtig lebendig“ wurde.28 Er studiert Einstein,
Bohr, Cantor, dann Pythagoras und die Mathematik der alten Araber, schließlich die Kabbala und den Talmud.
Sinn- und Weltschöpfung
Von 1933 bis 1943 lernte er die alte chassidische Lebensweise von seinem Großvater mütterlicherseits, der dann in Treblinka ums Leben kam. Im Sommer 1945
fragt er sich in der U-Haft, wer diese in der jüdischen Überlieferung lebendige
„ewige Seite“ in ihm sei: „Ist das Gott in mir? Ist das Gottes Odem, sein ‚neschem‘, sein Atem? Also meine ‚neschama‘, der eigentliche Kern, der Sinn meines Lebens?“29 Weinreb erkennt in der physischen Unendlichkeit der Welt ein
„bloß äußeres Gleichnis für die innere unendliche Größe des Wortes Gottes
selbst, der Bibel, die der Schöpfung vorausgeht, nicht chronologisch, aber mythologisch. Gott schaute in die Thora, als er die Welt erschuf.“30
Die christliche Tradition spricht von Bibel und Schöpfung als Wort- und
Werk-Offenbarung oder zwei „Büchern“, die innerlich aufeinander verweisen
und im Wort Gottes ihren Schlüssel haben. Die Welt im Sinn der Bibel ist eine
27 AaO., 47.
28 Vgl. aaO., 48.
29 AaO., 52. Zur neschama als „göttliche Seele“ (Freiheit), wodurch der Mensch Bild Gottes ist, vgl. Schöpfung (Anm. 5), 167 u. Wunder (Anm. 12), 237: „Erlösung ist nichts anderes als die Erfahrung des Menschen,
dass er frei ist. In seinem Glauben, in seinem Vertrauen und in seiner Treue singt die Melodie des Lebens.
(…) Die Auferstehung der Toten ist dieses Zurückkommen der (körperlichen) Zeichen zur Melodie. Dann
wird das ‚neue Lied‘ gesungen werden, womit alles wieder zusammenkommt.“
30 Vgl. E. Baer, Ewiges Leben (Anm. 19), 53. Danach betrachtet man die Welt „als einen von Gott geschaffenen Ausdruck der Bibel in Zeit und Raum“ (vgl. Schöpfung [Anm. 5], 141).
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Sinn-Schöpfung, in der die unsichtbare und die sichtbare Welt, Wesen und Erscheinung oder Himmel und Erde zwar Gegensätze sind, aber zugleich ausgerichtet auf die Einheit Gottes, die im Symbol (bzw. im Sakrament) als In-eins
von Sichtbarem und Unsichtbarem antizipiert wird. Wenn Gott in die fünf Bücher Mose schaut, dann sieht er den Schöpfungsplan oder „die innere und unerschöpfliche Struktur der Thora als Modell für die Erschaffung des physischen
Universums. Es sind diese inneren Strukturen der Bibel, die sich Weinreb wie in
einem Wunder vor seinem inneren Auge enthüllen. Er lernte im Gefängnis die
Thora.“31
Die Nachricht von seiner Freilassung erreicht ihn mitten im Sabbat-Gebet.
Deshalb ließ er sich weder stören, noch leistete er wegen des Sabbats die geforderte Unterschrift. Das Gebet, das er tagtäglich auch in den schlimmsten Kriegszeiten praktizierte, war ihm heilig und existentielles Bedürfnis, ein Relativieren
des alltäglichen Lebens in stetiger Präsenz zum göttlichen Gegenüber. Weinreb
sprach und handelte zeitlebens aus einer inneren Ruhe heraus. In seinem Buch
über die Haft erzählt er gegen Ende, wie er in der Zelle im Worte Gottes lebte und
wie er alles Leben als Wort Gottes erlebte. Wie ein Strom aus dem Ewigen kam
ihm das Wort.32
Nach zwei Jahren Gefangenschaft hatte Weinreb tausende Seiten mit Notizen gefüllt. „Das war meine Jeschiewe (Lehrhaus); ich saß und lernte Worte Gottes. Die wichtigsten Bücher hatte ich um mich herum. Alles war mir neu.“33
Weinreb entdeckt, dass Gottes Wort ihn selber meint, dass im Ewigen das Geheimnis jedes Weges verborgen ist. Dieser Weg „in der Doppelheit der beiden
Ufer“ führt in der gegenseitigen Suche der Liebenden zur Einswerdung. Baer
fasst Weinrebs Erfahrung so zusammen: „Der eigentliche Weg des Menschen
beginnt mit seiner Geburt im Worte Gottes, und diese Geburt findet jeden Augenblick statt, wie es auch das Psalmwort bezeugt: ‚Heute habe ich dich gezeugt.‘
(Ps 2,7). (...) Dies ist ein Bild der Ewigkeit. Die Bilder der Bibel beziehen sich
nicht hauptsächlich auf das damals Geschichtliche. Sie beziehen sich auf dich. Es
sind Sinnbilder für jede Zeit. (…) Ich lese die Bibel und wie in einem Spiegel
entdecke ich, wer ich bin.“34
31 Vgl. E. Baer, Ewiges Leben (Anm. 19), 53.
32 Vgl. F. Weinreb, Was ist beten? Lebenspraxis als Gebet. Weiler ³2009.
33 E. Baer, Ewiges Leben (Anm. 19), 55.
34 Vgl. aaO., 59. In Apg 13,33 wird Ps 2,7 auf die Auferweckung Jesu bezogen (vgl. Hebr 1,5). In Hebr
5,5 dient die Stelle als Beleg für die Hohepriesterwürde Christi. Zum Sinnbildcharakter der Bibel vgl. Hebr
11,19; zur Neugeburt im ewigen Wort Gottes vgl. 1 Petr 1,23.25.
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3 Weinrebs Schriftverständnis
Weinrebs Hauptwerk „De Bijbel als Schepping“ von 1963 ist nach seinen eigenen Worten „ein ungewöhnliches Werk“, weil es die Bibel „nicht als eine historische Mitteilung, nicht als eine Quelle der Moral, des Rechts, der Theologie, der
Ethik, der Hygiene usw. darstellt, sondern als ein reines Wunder, als ein wie das
Weltall oder das Leben nachweisbares Wunder“.35 Im Sinn der kabbalistischen
Hermeneutik wird die Bibel als ewiges Wort Gottes gelesen, so dass alles zeitlos
oder jetzt gleichzeitig geschieht und das heißt je für mich, was durchaus auch
die Lesart der Kirchenväter und der spirituellen Tradition im Christentum ist.
Weinreb geht aber darüber hinaus, indem er unterstreicht, dass die Bibel nicht
von Menschenhand gemacht, sondern eben ein göttliches Wunder ist oder eine
Schöpfung: „Dieses Buch zeigt, dass die Bibel tatsächlich eine Schöpfung ist, dass
sie mehr noch als das Weltall und das Leben alle Merkmale davon aufweist. (…)
Über eine Schöpfung kann man nicht diskutieren – entweder man erkennt sie
oder man erkennt sie nicht.“36
Das 1–4-Prinzip
Weinreb will mit seinem Werk – ausgehend vom hebräischen Urtext – ermöglichen, „in eine andere Welt“ zu blicken, in die Welt des Wesentlichen oder der
Einheit im Unterschied zur Welt der Erscheinungen oder der Zweiheit. Zugleich
will er den über die Bibel publizierten falschen und irreführenden Meinungen
und Kommentaren entgegentreten, „denn wer schweigt, stimmt zu“.37 Dass er
trotz des möglichen Missverstehens seiner Methode der Gematrie die Thora in
dieser Weise allen Interessierten zugänglich machen will, erklärt er auch damit,
dass in Zeiten der ernsten Gefahr die Thora nicht im Lehrhaus bleibt, sondern
nach altem jüdischem Brauch (wie die Monstranz an Fronleichnam) „durch die
Straßen der vom Untergang bedrohten Stadt getragen (wird), damit die Plage
ende“.38
Marian von Castelberg begründet die Publikation der ungekürzten Ausgabe
im Jahr 1994 mit dem Argument, dass die heutigen Menschen mit wissenschaftlicher Radikalität „im Profanen ausgesetzt und dort sich selber überlassen“ seien. „So vom Heiligen abgeschnitten, ist für uns die Bibel, die Heilige
Schrift, zu einem Buch mit sieben Siegeln geworden. (…) Die Folge ist, dass wir
uns auch der Welt immer mehr entfremden, denn die ‚Maßstäbe der Welt‘, so
35 Vgl. Schöpfung (Anm. 5), 11 u. 19f.
36 Vgl. aaO., 22.
37 Vgl. aaO., 21.
38 Vgl. aaO., 20.
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Friedrich Weinreb, ‚sind in der Bibel gegeben …‘.“39 Diese Maßstäbe oder Prinzipien im Wesentlichen haben mit den irdischen Maßstäben „praktisch nichts …
gemein“; ihre Grundlage ist das 1–4-Prinzip: „Nach den Maßstäben der Bibel
ist diese Welt dadurch, dass sie in der Lage ist, die ‚Eins‘ mit der ‚Vier‘ verbinden zu können, tatsächlich das Zentrum des Weltalls. Nur war es niemals die
Absicht, das im zeiträumlichen Sinn bildlich auszudrücken.“40
Nach Weinreb hat das Wortbild den Bezug zum Wesen in der Sprache verloren. Die Frage, weshalb die Bibel nur Bilder einer bestimmten Zeit benutzt und
offensichtlich eine historische Geschichte aus ferner Vergangenheit erzählt, beantwortet er mit dem Hinweis, dass die Darstellung der Zeit-Geschichte dieses
besonderen Zeitraums ersehen lasse, „wie sich dieses Wesentliche in der Zeit
ausdrückt und dass es sich dort und damals zum ersten Mal in der Zeit ausdrückte, erschaffen wurde. Wir werden die ‚Sklaven‘ und ‚Zelte‘, ‚Ägypten‘ und
‚Babylon‘ in jedem Fall zurückübertragen und mit dem Wesentlichen verbinden
müssen, um damit wieder einen Maßstab für das Tun und Lassen, für das Geschehen heute und in Zukunft zu gewinnen. Losgelöst von diesem Wesentlichen
ist das Geschehen in jener fernen Vergangenheit für unsere Zeit uninteressant.“41
Zwischen dem Wesentlichen und dem Bildhaften, dem Wort (Logos) und
dem Erscheinenden, waltet nach Weinreb das 1–4-Prinzip, das die Grundstruktur des Gott-Welt-Verhältnisses überhaupt beschreibt, die sich auf allen Ebenen
in der Schöpfung und in der Bibel fortsetzt. Um diese Struktur zu erkennen, bedarf es einer gewissen Kenntnis des Hebräischen und der Zahlenwerte der 22
Konsonanten-Buchstaben. Die Einer von 1 bis 9 stehen dabei für das Fundament der Vergangenheit, die Zehner von 10 bis 90 für die Handlungswelt der
Gegenwart und die Hunderter von 100 bis 400 für die absolute Zukunft. Aleph
ist 1, Beth 2, Daleth 4 und der kreuzförmige Buchstabe Taw, der das Alphabet abschließt, hat den Wert 400, das heißt die Vier in der größtmöglichen Ausdehnung des Irdischen. Die letzten vier Buchstaben ergeben 1000, hebr. eleph, wie
Aleph.42
Diese 1–4-Struktur zeigt sich auf allen Ebenen: im Namen des Menschen
Adam (hebr. 1-4-40), im Bild des Paradieses mit seinen vier Flüssen aus dem einen Strom (Gen 2,10), im Pentateuch mit der einen Genesis und den vier ande39 Vgl. aaO., 5; vgl. auch A.J. Heschel, Erneuerung des Protestantismus: Eine jüdische Stimme (1963), in:
Ders., Die ungesicherte Freiheit. Neukirchen-Vluyn 1985, 140: „Das Gefühl für das Mysterium und die
Transzendenz dessen, worum es in der Bibel geht, verliert sich im Prozess der (kritischen) Analyse. Das Ergebnis ist, dass wir die Bibel entheiligt haben.“
40 Vgl. aaO., 609 u. J. Ratzinger, Jesus (Anm. 18), 64: „Heute wird die Bibel weithin dem Maßstab des sogenannten modernen Weltbildes unterworfen, dessen Grunddogma es ist, dass Gott in der Geschichte gar
nicht handeln kann.“
41 Vgl. Schöpfung (Anm. 5), 107 u. 109f. Auch Ratzinger geht es in seiner Jesus-Deutung darum, die
„Wahrheit hinter allen Daten und Bildern“ und so den „wirklichen Jesus“ zu finden, der sich „im Faktum
verbirgt“ (vgl. Jesus [Anm. 18], 275ff.).
42 Zur Deutung der Buchstaben vgl. F. Weinreb, Buchstaben des Lebens. Das hebräische Alphabet, erzählt nach jüdischer Überlieferung. Weiler ²1990.
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ren Büchern Mose, in der greifenden Hand mit dem einen Daumen und den
vier Fingern, in der menschlichen Gestalt mit dem einen Kopf und den vier
Gliedmaßen, in der Atemluft mit dem einen Teil Sauerstoff und den vier Teilen
Stickstoff und nicht zuletzt im Kreuz mit der einen Mitte und den vier Enden,
um nur einige der wichtigsten Beispiele zu nennen.43 Zum Kreuz (hebr. zlaw)
sagt Weinreb: „Es ist die Form der Vierheit zur Einheit. Alle Vierheit im Leben;
der im Raum, in der Zeit, im Namen des Herrn, im Tetragramm also, der 4 Mütter, der 4 Erzengel, der 4 Wesen um Gottes Thron, der 4 Evangelien, der 4 Ecken
der Welt, der 4 Ecken des menschlichen Kleides, der 4 Wenden im Leben. Die
‚4‘ enthält doch die ‚10‘ in sich, da sie eigentlich das Äußerste ist, der Schluss
vom Vorhergehenden, von der 3, 2 und 1. Mit der 4 ist es also die ‚10‘. So ist in
der ‚4‘ im Prinzip ‚alles‘ anwesend, die ganze Basis der ‚10‘.“44 Nicht zuletzt bestimmen sich von diesem Prinzip her das Verständnis der zwei Bäume in der einen Mitte des Paradieses (Gen 2,9) und damit auch das Verständnis des Sündenfalls Adams und der Erlösung von der Sünde. Baum des Lebens ist in Zahlen
70-90-5-8-10-10-40 = 233; Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen ist 70-905-4-70-400-9-6-2-200-70 = 932; das Verhältnis ist genau 1–4: „Das Wesen des
Wortes, der 1 in diesem Prinzip (1–4) entsprechend, ist das, was in Worten ausgedrückt ‚Baum des Lebens‘ heißt, und das Bild, worin das Wesen seinen Ausdruck im Stofflichen findet, entspricht der 4 in diesem Prinzip, ist also das, was
in Worten ausgedrückt ‚Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen‘ genannt
wird. Vielleicht beginnt man jetzt zu ahnen, was für eine Bewandtnis es mit dem
Gebot hat, nicht vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen.
Geboten wird also, die Bilder von den Dingen nicht in sich aufzunehmen, weil
dadurch der Weg zum Baum des Lebens versperrt wird. Damit versperrt wird
also auch der Weg, das Wesen der Dinge über das Wort in sich aufzunehmen.“45
Weinreb verweist darauf, dass der Erkenntnisbaum ein Feigenbaum ist (vgl.
Gen 3,7), die Feige (als 4. Frucht; vgl. Dtn 8,8) also „dieses Prinzip des Baumes
der Erkenntnis verkörpert“, wohl auch, weil die vielen kleinen Kerne der Feigenfrucht „den Drang zur Vielheit, zur großen Fruchtbarkeit darstellen. Man
sieht darum in der Tat des Menschen, vom Baum der Erkenntnis zu essen, auch
die Tat des Geschlechtsaktes.“46 Ähnlich wurde in der christlichen Deutung nicht
43 Zum Pentateuch vgl. Schöpfung (Anm. 5), 661f. Die ganze Bibel mit ihren vier Schriftsinnen besteht aus
vier Teilen: Weisheitsschriften, Propheten, Geschichtsschriften und Thora. Analog dazu besteht auch der
Tempel aus vier Teilen: dem Vorhof der Frauen, dem Vorhof Israels, dem Vorhof der Priester und dem Heiligtum. „Der Bau und die Einrichtung der Stiftshütte sind laut Überlieferung auf der Ebene dieser Welt mit
dem Bau und der Einrichtung der ganzen Schöpfung identisch.“ (623).
44 Innenwelt (Anm. 1), 193. Zur 1–4-Struktur des Kreuzes bei den Kirchenvätern vgl. H. Kaffka, „Die Schädelstätte wurde zum Paradies“. Das Kreuz im orthodoxen Gottesdienst der byzantinischen und slawischen
Tradition. Erlangen 1995, bes. 148.
45 Schöpfung (Anm. 5), 106. Würde es etwa heißen: Baum von der Erkenntnis, wäre die Struktur nicht
mehr lesbar. Das gilt für die Bibel im Ganzen. Deshalb darf kein Jod (Jota) verändert werden; vgl. Dtn 4,2;
13,1; Mt 5,18 u. Offb 22,18f.
46 Vgl. aaO., 895b.
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nur „im Bann des Augustinus“ der Sündenfall mit dem Geschlechtsakt identifiziert. Willibald Sandler sieht in dieser Deutung das „Gottesgeschenk der Sexualität“ entwertet, räumt aber ein, dass „der verbotene Baum auch für die Sexualität stehen“ könne: „nicht für die Sexualität an sich, denn sie ist wesentlich gut,
sondern für die unzeitige und deplatzierte Ausübung der Sexualität. Sie verwüstet den Garten.“47 Das heißt, Sexualität hat ihren Wesenssinn in der Liebe als
vollkommener Hingabe: „Der Sinn ist eigentlich einzig die völlige Hingabe.“48
Christlich steht der Baum des Lebens einmal für das Kreuz, sodann aber auch
für Christus als das fleischgewordene Wort Gottes. Die wahrhaft lebenspendende
Frucht des Kreuzes ist entsprechend die Eucharistie als Sakrament der Einheit
(= 1), die im Kreuz ihren Ursprung und ihr Zentrum hat.49 Das Essen vom Baum
des Kreuzes als Einswerden bedeutet folglich die Umkehr des Essens vom Baum
der Erkenntnis (als Verlust der Einheit in der Vielheit) und ist identisch mit der
Rückkehr ins Paradies (vgl. Offb 2,7; 22,2), das „Urbild des Tempels“ (H. Gese).
Was Weinreb also über das eine Wort Gottes in der fünfteiligen Thora und den
Tempel schreibt, lässt sich christlich ohne weiteres von Christus und der Kirche
sagen, so dass schon von dieser Übereinstimmung im Grundsätzlichen her der
Wahrheitsanspruch seiner Bibeldeutung kaum abgewiesen werden kann.
Der Auferstehungsglaube im Alten Testament
Diese Übereinstimmung bezieht sich nicht nur auf das Kreuz im engeren Sinn,
sondern schließt ganz selbstverständlich auch die Auferstehung mit ein. Nach bis
heute gängiger Lehrmeinung der Bibelwissenschaft ist im Alten Testament die
Hoffnung auf ewiges Leben im Gefolge einer Auferstehung der Toten „erst verhältnismäßig spät und über einen langen Entwicklungsweg zur Ausbildung gekommen“, der Blick des alttestamentlichen Gläubigen bleibe „zunächst auf das
Diesseits gerichtet“.50 Weinreb pflichtet dieser Meinung einerseits bei, widerspricht ihr aber andererseits zugleich fundamental: „Wenn man also sagt, dass
in der Bibel nichts über das Leben im Jenseits zu finden ist und keine Gedanken
zum Sinn des Lebens vorkommen, und wenn man diese Feststellung auf die Geschichte der Bibel in Bildern gründet, so hat man völlig recht, obwohl man der
Bibel damit im hohen Maße Unrecht tut. Denn man hat sie ja so nur über das
Bild in den Blick bekommen. Ein Bild aber kann sich ja nur in dieser Welt aus47 Vgl. W. Sandler, Der verbotene Baum des Paradieses. Was es mit dem Sündenfall auf sich hat. Kevelaer
2009, 120–125 (Sündenfall und Sexualität).
48 Wunder (Anm. 12), 200.
49 Vgl. Bonaventura, Lignum Vitae. Übers. und komm. von M. Schlosser, in: Ch. Mülling (Hrsg.), Der Baum
des Lebens. Ein Arbeits- und Exerzitienbuch zur Franziskanischen Spiritualität. Paderborn 2002, 274–318.
Für Bonaventura ist der Lebensbaum „gewissermaßen das ‚Sakrament‘ des Paradieses“ (280).
50 Vgl. Th. Marschler, „Ich erwarte die Auferstehung der Toten“, in: zur debatte 3/2010, 45f.
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drücken, es ist eine Erstarrung im Stofflichen. (…) Und gerade deshalb gibt es
die Brücke des Wortes, des biblischen Wortes, das uns erzählt, was das Wesen
des Bildes ist. Dadurch wird uns die Möglichkeit gegeben, nun doch in andere
Welten durchzudringen, jetzt doch den Sinn des Lebens kennenzulernen.“51
Dieses Durchdringen in andere Welten, dieser Durchbruch ins Jenseitige beschreibt die Bibel einerseits im Exodus aus Ägypten und dem Einzug ins Gelobte
Land, andererseits im Bau des Neuen Tempels nach den Maßen 500 x 500
(Ez 42,15–20). Die Zahl 500 (vgl. 1 Kor 15,6) übersteigt die Zahl des letzten Zeichens 400, des Taw-Kreuzes, weshalb sie nicht mehr der Welt der BuchstabenZeichen und damit der körperlichen Erscheinungen angehört, sondern der jenseitigen geistigen Welt. Im Grunde dasselbe bedeutet die Zahl 50 im Gegenüber
zur 49 als 7 x 7 und so als Zahlbild der 7-Tage-Schöpfung. Am 50. Tag nach
Ostern (= Pfingsten) geschieht darum die Herabkunft des Schöpfergeistes von
oben. Der Zahl 50 wiederum entspricht die Zahl 8 nach der 7, weshalb der 8. Tag
nach der 7-Tage-Schöpfung auch prinzipiell der Tag der Auferstehung als Neuschöpfung ist. Wie der Mensch Adam am 6. Tag als achtes Werk erschaffen wird
und gleich in der Versuchung am Freitagnachmittag »fällt«, so auch kann er nur
durch den Kreuzestod Christi am 6. Tag (= Kar-Freitag) und seine Auferstehung
am 8. Tag (= Sonntag) erlöst werden.52
Diese Grundstruktur der drei Tage besteht aber – wie Weinreb ausführlich
darstellt – für die biblischen Erzählungen von Anfang an. So ist Josua oder Jehoschua („der Herr hilft“), der anstelle des Mose das Volk in das Gelobte Land
führt, von daher wesensnotwendig der Sohn des Nun, das heißt der „Fünfzig“
(vgl. Num 27,18.23). „Es ist Jehoschua, welchem der Durchbruch vorbehalten ist,
der Übergang aus der Welt des Siebten in die Welt des Achten. Jehoschua verbindet die Sechs mit der Sieben und der Acht: Er ist in Ägypten ‚Mizraim‘, in
der Wüste ‚midbar‘ und in Kanaan da. Durch ihn wird die Welt der Vier mit der
Eins verbunden. (…) Leben hier und dort; das Leben kann nicht nur hier lokalisiert werden. Eigentlich ist Leben die ‚doppelte Acht‘, die doppelte ‚cheth‘. Das
Wort für Tod hingegen, ‚maweth‘, 40-6-400, oder ‚meth‘, 40-400, kennt bloß
diese Seite, es erschöpft sich in der 40 und 400.“53
Die Zahl 400 als Bild der äußersten Ausdehnung in der materiellen Welt ist
nach den biblischen Maßstäben, die keine profan-weltgeschichtlichen sind, die
51 Vgl. Schöpfung (Anm. 5), 106f. u. 887: „Die Bibel erzählt in ihrer Struktur, in ihrer Seele, vom Ewigen.“
52 Vgl. Bonaventura, Hexaemeron, XV 17f.: „Am sechsten Tag wurde der Mensch als Herrscher der Tiere
geschaffen .. . Es entspricht dem sechsten Alter, von Christus bis zum Weltenende. Und im sechsten Alter
ist Christus geboren, am sechsten Tage wurde er gekreuzigt, im sechsten Monat nach der Empfängnis des
Johannes wurde er empfangen. (…) Das siebte Alter eilt mit dem sechsten, es ist die Ruhe der Seelen nach
dem Leiden Christi. – Darauf folgt das achte Alter, die Auferstehung“. Ähnlich schon Irenäus, Adversus
haereses, V 23,2.
53 Vgl. Wunder (Anm. 12), 22f. u. Ders., Die Freuden Hiobs. Eine Deutung des Buches Hiob nach jüdischer
Überlieferung. Zürich 2006, 424f.: Der „Führer des Menschen vom Weg ins Land, ins Paradies, in den Himmel, der die Grenze vom Diesseits zum Jenseits durchbricht“, ist Josua, was „im Griechischen dann zu Jesus“ wird.
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Zahl der Jahre, die Israel in der Knechtschaft, im Sklavenhaus Ägypten verbringen muss (Gen 15,13). Die 400 bedeutet dabei 5 x 80: „80 Jahre vor dem Auszug
wird Mose, der Erlöser, geboren, so dass es neben den 80 Jahren 320 Jahre gibt“
im Sinn der 1–4-Struktur.54 Nach Ex 12,40f. dauert der Aufenthalt in Ägypten allerdings 430 Jahre. Weinreb erklärt diese Differenz von 30 Jahren so: Bei der
Mitteilung, das Volk werde 400 Jahre in Ägypten sein (Gen 15,13), ist Abraham
70 Jahre alt; wo er 100 Jahre alt ist, wird Isaak geboren, ab dessen Geburt somit
die 400 zählt. 430 ist auch die Zahl der Leibseele (hebr. nephesch). „Die Knechtschaft in Ägypten ist also im Wesen diese Knechtschaft, die mit dem Kommen
der ‚Leibseele‘ entsteht. In dieser Welt der Zweiheit (= Ägypten) muss man dann
auch an diesem leiblichen Leben bauen. Das ist im Grunde Knechtschaft, und daraus wird man befreit. Die Knechtschaft beginnt mit dem Erscheinen der Nachkommenschaft Abrahams. Für diese Nachkommen ist die Knechtschaft bestimmt. (…) Mit Isaak beginnt diese unendlich lange irdische Zeit der ‚400‘, der
äußersten Ausdrucksmöglichkeit, des Buchstabens Taw in Erscheinung zu treten.“55
Das Wort »Ägypten« oder Mizrajim (40-90-200-10-40) hat in der Summe
den Zahlenwert 380, Kanaan (20-50-70-50) den Wert 190, beides steht also im
Verhältnis 2:1. Im gleichen Verhältnis stehen die 80 Jahre des Mose beim Auszug zu seinen 40 verbleibenden Lebensjahren (von insgesamt 120) sowie der
33. Tag in den sieben Wochen nach Pessach, der in der jüdischen Überlieferung
eine wichtige Rolle spielt, zu den verbleibenden 17 Tagen.56 Weinreb fasst seine
Auslegung der Bibel auf der Grundlage seiner Theologie der drei Tage (oder des
„Dreitags“) so zusammen: „Der achte Tag ist in der Bibel eine ebenso klare Realität wie der sechste oder siebte. Wäre es nicht so, würde der Tod am Ende des
siebten Tages eine zur Verzweiflung führende Tatsache sein müssen. Mit der
Realität der Struktur aber, die dem achten Tag eine ebenso deutliche Stellung
einräumt wie diesem siebten, bekommt der Tod einen ganz anderen Charakter.
Dann ist der Tod offenkundig, solange es diesen siebten Tag noch gibt, der Übergang in den achten Tag. (…) Diese Gewissheit ist es auch, welche die Bibel zum
Baum des Lebens macht, dem Baum mit den Maßen der ‚Fünfhundert‘, dem
Baum, der ‚Eins‘ gegenüber der Vielheit ist. Wer die Bibel als solch eine Einheit
kennt, … kennt den Baum des Lebens.“57
54 Vgl. Schöpfung (Anm. 5), 307 bzw. 268–327: Die Zeitrechnung der Bibel.
55 Vgl. aaO., 305f.
56 Vgl. aaO., 225 u. 255f.
57 Vgl. aaO., 881f. Die 500 ist nicht nur das „Maß“ des Lebensbaumes im Gegenüber zur 400 bzw. 4 des
Erkenntnisbaumes, sondern in der Summe auch der Wert des Schöpferauftrags „Seid fruchtbar und mehret euch“, (hebr. pru urebu, 80-200-6 u. 6-200-2-6 = 500). Gott gibt dem Menschen „diesen Weg zur Vollendung, zum Himmel mit“. „Diese 500 wird erfüllt sein, wenn die ganze Zeit erfüllt ist“, wenn „Körper und
Seele wieder solch eine Einheit bilden, dass ein neuer Mensch entsteht“ (aaO., 180), nämlich durch die Beschneidung am 8. Tag (christlich die Taufe als innere Beschneidung): „Der neue Mensch, der des achten Tages, ist schon durch sein Kommen zur ‚Einswerdung‘ in dieser Welt des siebten Tages von der verdunkelnden Umhüllung des Körperlichen befreit“ (aaO., 231). Der Schöpferauftrag erfüllt sich letztlich in der
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Das Wunder des Wortes
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Die innere Einheit von Altem und Neuem Testament
Wie der Exodus als Weg vom 6. zum 8. Tag verstanden wird, so zeigt sich in den
Zahlen der biblischen Er-zählungen dieselbe Grundstruktur bereits in der Geschichte von der Sintflut, bei deren Beginn Noah, der Zehnte nach Adam und der
„Achte“ in der Arche (1 Petr 2,5), 600 Jahre alt ist, also in den 7. Tag übergeht,
und am Ende der Flut die pyramidenartige Arche (= Tempel) mit der einen Elle
der Fensteröffnung nach oben die 49 auf die 50 hin übersteigt: Beim Fenster
(hebr. chalon, 8-30-50) „ist die 50 da, die die Verbindung mit der anderen Welt,
dem achten Tag, herstellt. (...) Der Weg nach oben, also auch bis zur 50. Elle, ist
geöffnet, die Verbindung ist endgültig.“58
Das Gleiche zeigt Weinreb für die Opferung oder Bindung Isaaks auf dem
Tempelberg Morijah („Jahwe ist mein Lehrer“), die immerhin als „der Schlüssel
zum Verständnis des Kreuzesopfers Christi“ gilt.59 Weinreb schreibt: „Das Wesentliche des ganzen Geschehens ist dieses Binden der ‚Vier‘ zur ‚Eins‘. Es bedeutet, nicht sehen zu wollen, was die Welt an Logischem, an Umständen, an
Schein vorbringt, und es bedeutet, deutlich darauf ausgerichtet zu sein, tun zu
wollen, was Gott verlangt, und dann am Moria zu hören und zu lernen, welchen
Sinn das hat. Und darum besteht am Moria, am Ort der Eins, wo Bild und Wesen zusammenfallen, die Tat im Bild in dieser Bindung der ‚Vier‘ zur ‚Eins‘.“60
Das Wort für diese „Bindung“, akedah (70-100-4-5), hat wie gan be-Eden
(„Garten Eden“) den Zahlenwert 179: „Was mit Isaak geschah, diese Bindung der
‚Vier‘ zur ‚Eins‘, ist also identisch mit dem Ins-Paradies-Kommen. Dadurch, dass
man die ‚Vier‘ der Welt zusammenbündelt und ‚eins‘ macht, ist man tatsächlich
im Zustand des Paradieses und besitzt man den Baum des Lebens, der ja auch die
‚Eins‘ gegenüber der ‚Vier‘ des Baumes der Erkenntnis war.“ Isaak ist bei seinem
Opfer nach der Überlieferung 37 Jahre alt: „Diese ‚37‘ will auch sagen, dass die
Phase der ‚Sechs‘ soeben vorbei war, die 36 [6 x 6] war gerade passiert, und dass
er also ins Siebte eintrat. Denn immer spielt sich dieser Weg der Einswerdung als
Prinzip des Siebten ab.“ Sarah ist bei Isaaks Geburt 90 und stirbt mit 127, das
heißt, ihr Tod fällt mit dem Opfer Isaaks zusammen.61
Jizchak oder Isaak ist der geliebte Sohn (Gen 22,2) oder die dem Weg (im Urzeichen 7) entwachsene Frucht. Als Sohn ist er wesenhaft „der Zweite“ nach dem
Vater als dem Ersten: „Sohn ist ‚ben‘, 2-50. Der Sohn (ben) hat zum Ausgangspunkt das Beth“, genauer: das Beth des Vaters. „In ihm ist der Weg durch diese
Auferstehung am 8. Tag. Zum Ganzen vgl. K.W. Hälbig, Der Baum des Lebens. Kreuz und Thora in mystischer Deutung. Würzburg 2011.
58 Vgl. aaO., 470. Schon 1 Petr 3,19–22 liest die Sintflutgeschichte als Bild für die Taufe.
59 Vgl. H. Hoping, Wie heute vom Tod Jesu sprechen? Der Opfertod Jesu als Mitte des christlichen Glaubens, in: G. Häfner/H. Schmid (Hrsg.), Wie heute vom Tod Jesu sprechen? Freiburg 2002, 92.
60 Schöpfung (Anm. 5), 545.
61 AaO., 545f.
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Welt angelegt. Er führt durch die Welt des Siebten Tages. Der Sohn ist es, der den
Weg zu Ende geht. Der Weg durch die Welt ist das Dritte, das Gimel.“ Während
Abraham der „Vater der Vielheit“ ist, bricht in Isaak die Gnade der Einheit
durch: „Jizchak ist nicht mehr Wiederholung, sondern Ruhe und Rückkehr. Der
Sinn der Schöpfung nimmt Gestalt an. Der Jüngste ist dem Uranfang gleich; auch
Gott sagt von Sich: Ich bin der Erste und der Letzte.“62
In Isaaks „Opfer“ (hebr. korban) der linken Leibseite als Annäherung an den
Ursprung kommt so der 8. Tag der Auferstehung in den Blick (vgl. Hebr 11,17–
19). Abraham erblickt „von weitem“ den „Ort“ des Opfers „am dritten Tag“ (Gen
22,4). Der Sohn ist der Weg als das Dritte, aber: „Der Weg öffnet sich erst, wenn
man aus der Gefangenschaft in der Zwei befreit ist“; das ist durch eigene Leistung
niemals möglich: „Es braucht den Gast von außerhalb – die Gegebenheit aus einer anderen Realität – als Voraussetzung für den Auszug aus Ägypten. Mit dieser Einsicht beginnt der Weg.“63
Der Gast von außerhalb ist in der biblischen Geschichte Gott selbst in Gestalt
der drei Engel, die die nicht machbare Geburt des Isaak ankündigen und in der
christlichen Tradition zum Bild des drei-einen Gottes werden (vgl. Gen 18,1–
33). Das drohende Strafgericht über Sodom und Gomorra will Abraham abwenden, indem er mit Gott über die ausreichende Zahl der Gerechten in der
Stadt verhandelt: von 50 bis 10 (18,23–32). Die Zahlen verweisen auf den notwendigen Überstieg über diese diesseitige Welt, auf den Weg vom 6. über den 7.
zum 8. Tag: „Der Sohn führt den Weg durch die 7 x 7 dieser Wirklichkeit, in der
man erschöpfend die Zweiheit erfährt. Er geleitet aber auch darüber hinaus. Er
hat die 50 in seinem Namen, er bricht durch in die Welt des Achten Tages. Die
Bestimmung des Sohnes ist, die Gegensätze zu vereinen: Diesseits und Jenseits.
Das Fünfzigste – nach der 7 x 7 – ist die Ruhe des Anfangs, die Welt, aus der
man kam, als der Weg begann. Der Weg drückt sich aus in den Begriffen 7 und
40, das Land ist 8 und 50. Auf dem Weg gibt es das Manna (‚man‘, 40-50). (…)
Erst im Land ist das Ziel erreicht. Dort ist der Gan Eden. (…) Im wiedergewonnenen Paradies baut der Sohn Davids, des Geliebten, das Haus für den Vater“,
das heißt den Tempel.64 Aber nur der Sohn, der vom Geist her wirklich Einsicht
(hebr. binah) in den vorherbestimmten Sinn und die Wahrheit des Weges der
Einswerdung hat, führt „uns den ganzen Weg von der 2 bis zur 50 treu“; dann
ist der Sohn „selber der Weg und das Leben“.65
62 Wunder (Anm. 12), 50f.
63 AaO., 51.
64 Vgl. aaO., 52f. Der Sohn Davids, des Siebten nach Mose, der das Haus baut, ist Salomo, der Achte: „Am
siebten Tag ist noch kein Platz da für das feste Haus. Erst am achten Tag kommt es, der Sohn baut es“ (aaO.,
216); vgl. 55: „Das Wort ‚ben‘ ist auch Stamm des Begriffs ‚boneh‘, bauen. Gebaut wird der Weg und gebaut wird das Haus. Es ist ein Wachsen.“
65 Vgl. aaO., 53 u. Joh 14,6.
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Letztlich wird in Weinrebs Deutung der ganze Pentateuch, insbesondere die
Gestalt des Josef von Ägypten, durch dieselbe Grundstruktur der drei Tage wie
dem 1–4-Prinzip durchgehend bestimmt.66 Deshalb hat die christliche Tradition
in der Feier der Osternacht als Vollendung der 7-Tage-Schöpfung die erste
Schöpfungserzählung, den Exodus und die Isaak-Opferung als Lesungstexte, und
zu Recht hat die Tradition in der Sintflut bzw. in Noah, im Durchzug durch das
Rote Meer und in Josef Typoi der Taufe bzw. des Erlösers gesehen, des Messias
als „Königs des achten Tages“ oder „Königs der neuen Welt“: „Der Messias wird
mit dem Öl gesalbt, das von der Frucht des sechsten Tages (= Olive) stammt.“67
Wenn Gott am Ende des 6. Schöpfungstages sein ganzes Werk gutheißt (Gen
1,31), so wird darin heute gewöhnlich eine Bestätigung der diesseitigen Schöpfung
gesehen. Nach der jüdischen Überlieferung werden die Worte „sehr gut“ (hebr. tob
meod) dagegen „auch als ‚der Tod ist gut‘ gelesen, was auf den Übergang von der
sechsten zur siebten Welt hinweist, der (wie in der Taufe) über den Tod erfolgt,
aber doch gut ist. So stellt auch die Sintflut-Erzählung diesen Übergang vom sechsten zum siebten Tag dar. (…) Und dieser Übergang ist auch ein Tod.“68 Erst im
Licht dieser Bibeldeutung Weinrebs wird wirklich die innere Einheit von Altem
und Neuem Testament einsichtig, die nach dem Alttestamentler Georg Steins
grundlegend für das Verständnis gerade auch der Auferstehung Jesu ist: „Ohne
diesen Zusammenklang von Altem und Neuem Testament hinge die Osterbotschaft förmlich in der Luft. Und umgekehrt enthalten die alttestamentlichen Texte
bereits die Frohbotschaft: Gott will von Anfang an das Heil der Menschen. Wer
Ostern verstehen will, muss sich an alles erinnern, was Gott getan hat.“69
4 Was ist von Weinrebs Schriftverständnis zu lernen?
Der evangelische Religionspädagoge Michael Meyer-Blanck hat auf die Frage,
was für ihn das drängendste theologische Problem der Gegenwart sei, geantwortet: „Die Geschichtlichkeit Gottes, also das Verständnis von Inkarnation,
Christologie und Trinität. (…) Das umfasst die Fragen: Warum sollen die wenigen Jahre eines jüdischen Mannes in Palästina für (junge und suchende) Menschen heute schlechthin die Lösung ihrer existentiellen Fragen sein? Wie kann
sich uns das neu erschließen?“70
66 Zu Josef vgl. Schöpfung (Anm. 5), 591f. u. 602–623; Passahmahl (Anm. 12), 248–251. Dazu C.M. Martini, Der Pilger weiß, wohin er geht. Unterwegs mit Josef aus Ägypten und Ignatius von Loyola. Freiburg
u.a. 1993, 38f.: „Die Josefsgeschichte bildet im Buch Genesis den Höhepunkt der Wiederherstellung des
göttliches Heilsplanes.“
67 Schöpfung (Anm. 5), 247 u. 471.
68 Vgl. aaO., 456 u. Joh 16,7: „Es ist gut für euch, dass ich fortgehe“ (= sterbe).
69 G. Steins, Die Schlüsselrolle des Alten Testaments in der Ostervigil, in: Ders./E. Ballhorn, Licht – Wasser
– Leben. Die biblischen Lesungen in der Osternacht. Regensburg 2010, 28.
70 Vgl. M. Meyer-Blanck (Fragebogen), in: CiG 62/27 (2010), 308.
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Dieselbe Frage lässt sich noch verschärft für das ganze Alte Testament stellen:
Was sollen wir heute mit der Urgeschichte, den Patriarchen-Erzählungen, mit
den phantastischen Stammbäumen und Jahreszahlen, der Erzählung vom Exodus oder den Beschreibungen des Tempels und der kultischen Reinheitsvorschriften noch anfangen? Haben wir mit diesen alten Geschichten aus einer fernen Vergangenheit noch irgendetwas zu tun, von den Vorwürfen bezüglich eines
inhuman-gewalttätigen Gottesbildes ganz abgesehen?71
Die liturgisch-pneumatische Erinnerung
In der Tat muss der Anspruch der Bibel, das Wesentliche über Gott, den Menschen und die Welt zu offenbaren und die christliche Rede von der Welterlösung durch den Kreuzestod Jesu völlig unverständlich und absurd erscheinen,
wenn das Leben Jesu nicht vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Offenbarung und diese wiederum vor dem Hintergrund des ewigen göttlichen Heilsplans gelesen wird. Papst Benedikt XVI. sagt im Hinblick auf die „Stunde“ des
Kreuzestodes Jesu, dass der Sohn „immer im Einklang mit dem Willen des Vaters, immer von dem Plan des Vaters her“ handelt und entscheidet: Diese „messianische Stunde“ Jesu hat „ihren historischen Ort: In dem Augenblick, da die
Pascha-Lämmer geschlachtet werden, vergießt Jesus sein Blut als das wahre
Lamm. Seine Stunde kommt von Gott her, aber sie ist ganz genau im Zusammenhang der Geschichte festgemacht, an ein liturgisches Datum gebunden und
gerade so der Anfang der neuen Liturgie in ‚Geist und Wahrheit‘.“72
In der Bibel bilden Schöpfung (Kosmos), Geschichte (Rückkehr) und Liturgie (Tempel) eine innere Einheit, die zugleich noch einmal im Innern und Er-innern des Menschen verortet ist: sein Herz ist der Schauplatz der Geschichte und
sein Leib der Tempel des Heiligen Geistes. Diesem komplexen Wirklichkeitsverständnis, das Innen und Außen, Wesen und Erscheinung, das Universale und
das Konkrete, Himmel und Erde umfasst, entspricht die Mehrdimensionalität
der Schrift, die nicht eindimensional und linear gelesen werden kann. Alle biblischen Bilder und Daten sind, wie Weinreb nachdrücklich unterstreicht, zurückzubinden an das Wesentliche und Ursprüngliche. Dies ist mit dem Heraufkommen der historisch-kritischen Exegese nicht mehr geschehen, weshalb
71 Vgl. F. Buggle, Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder: warum man redlicherweise nicht mehr
Christ sein kann. Eine Streitschrift. Aschaffenburg 2004. Zur Erklärung des Buches Levitikus vgl. jetzt F.
Weinreb, Das Opfer in der Bibel. Näherkommen zu Gott. Zürich 2010.
72 Vgl. J. Ratzinger, Jesus (Anm. 18), 294f. Zum zentralen Symbol des Lammes als Fundament der Welt bei
Weinreb vgl. Schöpfung (Anm. 5), 722–727; Passahmahl (Anm. 12), 260–276; E. Baer, Ewiges Leben (Anm.
19), 112–115. Dazu Innenwelt (Anm. 1), 124f.: „Gott atmet, bläst durch das Horn des Lammes die Schöpfung mit dem Wort zum Erscheinen. Das Lamm des Passah ist ein Zeichen des Wunders des Überspringens
der Regel .. . (…) Denn dazu ist das Leben doch überhaupt da, dass es die Überraschung der Liebe als Auszug aus dem Gesetz erlebt.“
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Weinreb kritisiert, die Christen hätten „den Gesalbten auf einmal zu einer historischen Gestalt gemacht ..., wie der Mensch Vergangenheit wahrnimmt. Man
sieht dann nur das äußere Geschehen dessen, was entscheidend darin verborgen passiert.“73 Deshalb hängt nach Weinreb alles von dem Nach-innen-Gehen,
der wesentlichen Er-innerung ab, die nur im Heiligen Geist möglich ist. Von ihr
sagt Ferdinand Ulrich im Anschluss an Weinreb: „Die jüdische Überlieferung
verbindet den Sinn des Mannes mit der ‚Erinnerung‘. Er ‚freit‘, ist Befreier durch
die Erinnerung zum Ursprung, den Akt der Sammlung ins Wort. Er eint die sinnenhafte Vielfalt und Mannigfaltigkeit der leibhaftig erscheinenden Welt (Dimension des Weiblichen, Materiellen; des Leibes im Symbol der raumzeitlichen
‚4‘) zu ‚1‘ des Wesens. Im Symbol der 1:4 (40, 400) wird der ‚Bund‘ ausgetragen.
Ehe als Bund repräsentiert als Einheit von Mann und Frau die Versöhnungsgestalt von ‚Wesen und Erscheinung‘, ‚Geist und Leib‘, ‚Wort und Bild‘, ‚Sein und
Seiendem‘.“74
Nach Weinreb läuft die Harmonie zwischen Mann und Frau parallel zur Harmonie zwischen Wesen und Erscheinung. „Darum bedeutet das ‚nicht ehebrechen‘, dass man diese Harmonie in jeder Hinsicht respektiert. Auch in Gedanken darf man nicht ‚ehebrechen‘, und jede Wahrnehmung der Frau als nur
äußeres Wesen ist eine Schändung des Daseinssinns der Frau [vgl. Mt 5,27f.].
So etwas schneidet sie von der Verbindung mit dem Wesentlichen ab; es ist wie
Bilderdienst.“75 Abgeschnitten vom Wesentlichen aber wird das gegenwärtig Erscheinende bedeutungslos, es geht in der Zeit unter: „Das Gelesene verklingt.
Erlösend ist nur das Bleibende, ‚sachar‘, die Erinnerung, sowohl nach rückwärts
als auch voraus. Deshalb ist die Gestalt des Erlösers männlich. Nicht weil Männer besser oder mehr sind als Frauen; das Männliche ist im Menschen vielmehr
seine rechte Seite, die das Bleibende enthält, das Summierende der Zeit. Das
Weibliche ist das Jetzt, das Gegenwärtige. Das Erscheinende der Gegenwart kann
nur begriffen werden, wenn es vom Ganzen der [Thora-]Rolle, vom Zusammenhang erlöst wird, wenn Gegenwart begriffen wird als ausgespannt zwischen
den aufgerollten Teilen Vergangenheit und Zukunft.“76
Das liturgisch-pneumatische Erinnern der drei Zeitdimensionen liegt auch
dem biblischen Zeitverständnis zugrunde. Ratzinger schreibt: „Die Auferstehung
weckt das Erinnern, und das Erinnern im Licht der Auferstehung lässt den Sinn
des vorher unbegriffenen Wortes erscheinen und stellt es wieder in den Zusammengang der ganzen Schrift. Das Einssein von Logos und Faktum ist der Punkt,
auf den das Evangelium zielt.“77 Statt Logos und Faktum könnten wir auch Wort
73 Vgl. aaO., 209.
74 Vgl. F. Ulrich, Gegenwart der Freiheit. Einsiedeln 1974, 15f.; „er-innern“, hebr. sachar, bedeutet auch
„männlich“. Zum „Bund“ vgl. F. Weinreb, Opfer (Anm. 71), 616.
75 Schöpfung (Anm. 5), 759.
76 Wunder (Anm. 12), 82.
77 J. Ratzinger, Jesus (Anm. 18), 274.
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und Bild oder eben Wesen und Erscheinung sagen. Dieses Einssein ist aber im
Sinn des 1–4-Prinzips zu verstehen: der Lieblingsjünger als Zeuge für die Wahrheit des Geschehenen ist der eine Anonymus gegenüber den vier namentlich berufenen Jüngern (Joh 1,13–51); und er ist der eine Erinnernde gegenüber den
vier Frauen (dem vierfach Erscheinenden) unter dem Kreuz (19,25f.; vgl. das
eine nahtlose Untergewand gegenüber den vier Teilen des Obergewandes,
19,23f.). Die von dem Lieblingsjünger im Geist bezeugte Wahrheit der Öffnung
der einen Herzwunde gegenüber den vier Malen an Händen und Füßen (19,34)
hat eine umfassende, auch kosmologische Bedeutung, die von der Öffnung des
Osttores des neuen Tempels über die Öffnung des Wasserquells im Felsen bis zur
Geburt der Kirche als Neue Eva aus dem Neuen Adam reicht, was wiederum das
hochzeitliche Geschehen des Bundes zum Ausdruck bringt.78
Der neue und ewige Bund im Blut des Lammes und „Bräutigams“ (Offb 19,7;
Joh 3,29) wird am Kreuz geschlossen, dem End-Zeichen Taw, das Weinreb zufolge „beide Seiten hat: Einerseits ist es das Ende der Entwicklung, andererseits
ist es der Übergang zur Einheit. Der Weg der Einswerdung ist mit dem Erreichen
der 400 vollendet. (…) Die Eins, die als Frucht aus der Begegnung der Gegensätze kommt, hat nicht eine Beschaffenheit, die vom Weg aus erklärt werden
kann. Die 22 Zeichen können von ihr nicht erzählen.“79
Die 22 Zeichen des hebräischen Konsonanten-Alphabets verkörpern die
7-Tage-Schöpfung, die dem Tod unterworfen ist. Das Neue der Auferstehung
als Neuschöpfung ist darin verborgen schon da in Gestalt des 23. Buchstabens,
des Lammes, oder des 8. Tages. Aber dieses Neue kommt erst mit dem Geist,
der pneumatischen Erinnerung am 50. Tag, durch die auch die Schrift in ihrer
Einheit und Ganzheit erfahrbar wird (vgl. Lk 24,25–27.32). Weinreb legt die Bibel in diesem Geist und Sinn aus und zeigt mit Hilfe der Dimension der Buchstaben-Zahlen, die allen Erzählungen zugrunde liegen, dass alle Teile der Bibel
(einschließlich des Neuen Testaments) nicht nur eine innere Einheit bilden, sondern dass auch Bibel und Schöpfung eins sind. Derselbe Gedanke liegt auch der
Vätertheologie zugrunde, deren Neuentdeckung heute wesentlich zu einem Paradigmenwechsel in der Exegese hin zur kanonischen Schriftauslegung beiträgt.
Der Heilsplan vor der Grundlegung der Welt
Wie sehr Weinreb dabei gerade in seiner Buchstaben- und Zahlendeutung mit
der altchristlichen Exegese übereinstimmt, zeigt der Traktat vom „Mysterium
78 Vgl. aaO., 287–296, bes. 296: „In ihm (Jesus) werden auf unerwartete Weise Gott und Mensch eins,
wird ‚Hochzeit‘, die freilich … durch das Kreuz hindurchgeht“; dazu K.W. Hälbig, Die Hochzeit am Kreuz.
Eine Hinführung zur Mitte. München 2007 u. H. Schade, Der „Lanzenstich“, in: GuL 60 (1987), 99–124.
79 Vgl. Wunder (Anm. 12), 18 u. 144f.: „Wo die 400 erreicht ist, findet der Auszug aus Mizrajim statt; die
400 ist aber auch das Zeichen der Knechtschaft. (…) Das Taw endet eigentlich nie.“
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der Buchstaben“ eines anonymen christlichen Autors aus dem 6. Jahrhundert.80
Darin werden analoge Prinzipien wie bei Weinreb zur Deutung der griechischen
Buchstaben angewandt, die entsprechend der Zahl der hebräischen von 24 auf
22 reduziert sind. Für den Autor ist so selbstverständlich, dass das Alphabet göttlichen Ursprungs ist und verborgen die ganze Schöpfungs- und Heilsgeschichte
enthält, dass das Tau (analog zum hebr. Taw) das Kreuz Christi darstellt und
dass das „Mysterium des Neuen Bundes Christi“ in den Zahlen 8, 80 und 800 (als
Zahlenwert des griechischen Omega) besteht.
Der 8. Tag ist nicht bedeutsam und „genuin christlich“ (J. Daniélou), weil an
ihm die Auferstehung stattfand, sondern umgekehrt kann die Auferstehung als
Neuschöpfung nur am 8. Tag stattfinden und so erzählt werden. Entsprechend
erzählt das Markus-Evangelium das ganze Leben Jesu von der Taufe bis zum
Tod am Kreuz in sieben Wochen mit der Auferstehung am 50. Tag. Es geht hier
in keiner Weise um die wenigen Jahre eines jüdischen Mannes in Palästina (s.o.),
sondern um die Erfüllung und Vollendung des ewigen Heilsplanes Gottes vor
Grundlegung der Welt (vgl. 1 Petr 1,20; Eph 1,4).
Dieser Heilsplan besagt in der Deutung Weinrebs, dass der Weg der Entwicklung der Welt nur von der Eins bis zur Zwei bzw. zur Vier gehen kann, weil
ihr der Schöpfer das Prinzip der Rückkehr zur Einheit und zum Ursprung eingestiftet hat. Dieses Prinzip 1-2-1 findet sich im Wort für „Vater“, abba, 1-2-21, und für „erschaffen“, bara, 2-200-1: „‚Erschaffen‘ heißt also: die 2 machen,
welche die Vielheit mit sich bringt, die jedoch wieder zur Einheit zurückkehrt,
welche vor der Schöpfung, vor der 2-Machung bestand.“81 In der Rückkehr zur
Einheit (des Gelobten Landes) besteht nach Weinreb die Erlösung, die der Messias am 4-gliedrigen Kreuz, das zugleich der Baum des Lebens (1) ist, in der Auferstehung am 8. Tag bewirkt. Das Verhältnis von Gott und Welt drückt sich so
auch christlich im 1–4-Prinzip aus, das nach Weinreb für Bibel und Schöpfung
gleichermaßen grundlegend ist.
Der Messias am Kreuz erweist sich in diesem Sinn als der neue und wahre
Adam, der nicht nur der Versuchung durch die Satan-Schlange widersteht (Mk
1,13), sondern der erschienen ist, „um die Werke des Teufels zu zerstören“ (1 Joh
3,8). Nach Weinreb haben die Worte für „Messias“ (maschiach, 40-300-10-8)
und „Schlange“ (nachasch, 50-8-300) beide den gleichen Zahlenwert 358. Die
80 Der Traktat „Vom Mysterium der Buchstaben“. Kritischer Text mit Übers. hrsg. von C. Bandt. Berlin u.a.
2007. Die Klassifizierung des selbst unter Fachleuten kaum bekannten Traktats als gnostisches Werk wird
ihm, so Bandt, „in keiner Weise gerecht“; vielmehr handele es sich um das Werk „eines frommen, belesenen Christen des 6. Jahrhunderts“ (vielleicht der Kopist und Kalligraph Eustathius der Galater), der das griechische Alphabet auf das Mysterium des inkarnierten Logos als Vollendung der Schöpfung hin liest.
81 Schöpfung (Anm. 5), 115. Das Wort für „Vater“, ab, 1-2, und das Wort für „(zusammen)kommen“,
„wieder nach Hause kommen“, „einsammeln“, ba, 2-1, bilden zusammen das Abba; vgl. Zahl (Anm. 2), 84.
Die Wiederkunft Christi bedeutet auch ein „Einsammeln“ aus den „vier“ Windrichtungen (vgl. Mt 24,31).
Dieses „Sammeln“ (griech. légein) geschieht im Kreuz, dem am Himmel erscheinenden „Zeichen des Menschensohnes“ (vgl. Traktat [Anm. 80], V 30).
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Schlange im Paradies „verheißt die Erlösung, indem sie rät, selbst ans Werk zu
gehen, die Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen. (…) Das ist die List der
Schlange, dass sie sich als Erlöser darstellt.“ Der Mensch sieht die kommende
Katastrophe, „und er sieht zugleich, dass er wie durch ein Wunder durch diese
anderen, von ihm zurückgewiesenen und ihm nicht vertrauten Maßstäbe (der
anderen Welt) dennoch auf einmal zu Hause ist, am Ursprung. Er sieht, dass
nicht er es geleistet hat, sondern dass seine Erlösung nach ganz anderen Maßstäben vorbereitet worden war.“82
Im Hebräischen haben die Wörter nachasch („Schlange“), naphol („fallen“)
und nefesch (animalische Leibseele) alle die gleiche Struktur 50-8(0)-30(0): „Das,
was wir gefühlsmäßig als miteinander verwandt ansehen …, wird hier durch die
Sprache in auffallender Weise unterstrichen.“83 Nach Joh 3,14 entspricht der am
Kreuz Erhöhte der von Mose an der Signalstange erhöhten Kupfer-Schlange
(Num 21,8f.). Kupfer (hebr. nechoscheth, 50-8-300-400, wie „Schlange“, 50-8300) ist das Metall der Liebesgöttin Venus, die den 6. Tag bestimmt (frz. vendredi): „Die Schlange bringt also am Ende des sechsten Tages den Tod“; doch das
Kommen des Todes liegt nicht an den Entwicklungskräften als solchen, „sondern am Verhalten des Menschen gegenüber diesen Kräften der Entwicklung“.
In der Vertikalen erhöht ist die „Schlange aus Feuer“ (saraph) Ausdruck des
Übergangs zum 8. Tag.84
Der Auszug vom 6. zum 8. Tag wird dadurch bewirkt, dass sich der Mensch
am 6. Tag (Waw) als aufgerichtetes End- oder Kreuz-Zeichen (Taw) begreift und
im Geist den einen Ursprung in der Höhe erinnert. Das Heilig-Halten des Sabbats in Nachahmung der Ruhe des Schöpfers (Dtn 5,12–15) ist diese Erinnerung,
weshalb der Exodus mit dem Sabbat zusammenfällt. Beider Vollendung geschieht mit der Auferstehung am 8. Tag „nach der Schrift“ (1 Kor 15,4) oder
dem Heilsplan des Schöpfers. Diese letzte Ziel erreicht der nach der Weisung
der Zehn Worte handelnde Mensch nur „Hand in Hand“ (‚10‘ in ‚10‘) mit dem
handelnden Gott, was ein undurchdringliches Geheimnis bleibt.“85 In der Vereinigung des Gegensatzes von Vorherbestimmung und Freiheit ist der Mensch
eins im Gegenüber zur Vielheit der Entwicklung und erfüllt so „den Sinn seines
Daseins und erlebt die Freude, für die die Welt geschaffen ist“.86
82 Vgl. Schöpfung (Anm. 5), 168f.
83 Vgl. aaO., 79.
84 Vgl. aaO., 708f.; dazu K.W. Hälbig, Der Engel mit dem Siegel Gottes. Franziskus in der Geschichtsdeutung Bonaventuras, in: GuL 82 (2009), 336–357.
85 Vgl. Wunder (Anm. 12), 27. Ähnlich das „Ignatianische Füncklein“ zum 2. Januar: „Vertraue so auf
Gott, als hinge der Erfolg ganz von dir ab, nichts von Gott; dennoch mühe dich so, als ob du nichts, Gott
alles allein tun würde.“
86 Vgl. Schöpfung (Anm. 5), 761.