Leseprobe - Ullstein Buchverlage
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Leseprobe - Ullstein Buchverlage
Die Autorin Natascha Kribbeler, geboren 1965 in Hamburg, ist ausgebildete Rechtsanwaltsgehilfin. 2002 zog sie der Liebe wegen nach Bayern. Ihre großen Interessen Geschichte und Geographie lebt sie in ihren Hobbys Schreiben, Fotografieren und Reisen aus. Das Buch Luna und Leon sind schon ewig zusammen. Doch Luna merkt, dass sie nicht mehr glücklich damit ist, an den Wochenenden auf Leon zu warten, während er mit seinen Freunden feiert. Als er sie dann auch noch betrügt, und das nicht zum ersten Mal, macht sie endgültig Schluss. Schließlich hat sie gerade auch den attraktiven Mika kennen gelernt, der so ganz anders ist als der spießige Leon. Er ist entspannt, lustig und zu allem Überfluss auch noch ein begnadeter Gitarrist. Und als Luna mit ihrer besten Freundin Kiki zum Konzert ihrer Lieblingsrockband fahren, traut Luna ihren Augen nicht: Mika steht auf der Bühne und sieht mit seiner Gitarre einfach unheimlich gut aus! Doch Kiki predigt ihr: Küsse niemals einen Rockstar, denn sie sind alle Bad Boys. Schließlich will Luna auch kein x-beliebiges Groupie sein. Aber sie fragt sich, ob sie den Ratschlag ihrer Freundin wirklich befolgen kann … Von Natascha Kribbeler sind bei Forever bisher erschienen: Der kalte Kuss der Wölfe Der geheime Ruf des Raben Die Tränen des Bären Das Lied der Eule Küsse niemals einen Rockstar Natascha Kribbeler Küsse niemals einen Rockstar Roman Forever by Ullstein forever.ullstein.de In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt. Originalausgabe bei Forever. Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juni 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © Koch Roding ISBN 978-3-95818-103-8 Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. Kapitel 1 Lunas tastende Hand griff ins Leere. Im Halbschlaf runzelte sie die Stirn, drehte sich auf die Seite und ließ ihre Finger weiter über das Laken wandern. Noch weigerte sie sich, ihre Augen zu öffnen. Es wäre doch so schön, sich noch ein wenig an Leons Brust zu schmiegen und weiterdösen zu können, bevor sie endgültig wach wurde. Aber das Bett neben ihr war leer. Erschrocken riss Luna nun doch die Augen auf und schloss sie sofort wieder, als das helle Sonnenlicht, das durch das Fenster ins Zimmer flutete, sie blendete. Leons Bett war unberührt. Wo steckte er? »Leon?«, rief sie wider besseres Wissen und lauschte. Vielleicht war er nur auf der Toilette? Nein. Er war gar nicht hier gewesen. Sein Bett war frisch gemacht. Ihr Magen ballte sich zu einem Knoten zusammen, als sie ihre Decke zur Seite warf und sich auf die Bettkante setzte. Furchtsam schienen sich die ins Zimmer fallenden Sonnenstrahlen zurückzuziehen, und ein Frösteln überlief sie. Verwirrt strich sie ihr Haar aus dem Gesicht. Warum war er nicht nach Hause gekommen? »Es kann ein bisschen später werden«, hatte er am Abend zuvor erklärt und sie nicht angesehen, während er seine Angelsachen zusammenpackte. »Ralf, Lukas und ich wollen für das Pokalangeln üben, und ich will diesen neuen Aal-Köder ausprobieren. Und Micha hat Geburtstag und will einen ausgeben. Du brauchst nicht auf mich zu warten, Liebes.« Rasch hatte er ihr einen Kuss auf die Lippen gehaucht und war aus der Tür, ehe sie etwas erwidern konnte. Nachdenklich angelte Luna nach ihrem Top und streifte es sich über den Kopf. Der Knoten in ihrem Magen bewegte sich, als wollte er sie dazu ermuntern, weiterzugrübeln. Sie ahnte, nein, sie wusste, dass der heutige Tag in einer Katastrophe enden würde. Dabei gab es, abgesehen vom Fehlen ihres Freundes, gar keinen Anlass zu einer derartigen Befürchtung. Es war Samstag, Wochenende! Lockend schickte die Frühsommersonne nun wieder ihre Strahlen durch das Fenster, und Luna konnte nicht widerstehen, stand auf und blickte hinaus. Der Himmel leuchtete wie blankgeputzt. In den Beeten der Nachbarn blühten bunte Blumen. Die Passanten trugen ein Lächeln auf den Gesichtern. Zwei Nachbarinnen standen am Gartentor und unterhielten sich lebhaft. Es war perfekt. Und gerade das störte sie. Sie musste gähnen und streckte sich wie eine Katze, um die letzte Müdigkeit zu verscheuchen. Aber davon erwachte das dumpfe Grummeln in ihrem Magen erneut und begann sich auszubreiten. Sie kannte das. Irgendetwas würde heute geschehen, etwas Unerfreuliches, Negatives, das konnte sie spüren. Wo zur Hölle steckte Leon? Vielleicht war er zu sich nach Hause gefahren? Ja, das musste es sein. Plötzlich lächelte sie und entspannte sich ein wenig. Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Noch wohnten sie ja nicht zusammen, noch wollte er sich seine eigene Bude nicht nehmen lassen. Zwar lebte er inzwischen meistens bei ihr, aber von Zeit zu Zeit trieb es ihn doch in seine eigenen vier Wände. Das versetzte ihr jedes Mal einen Stich. »Denk dir nichts dabei, Liebes«, beruhigte er sie stets, wenn sie auf das Thema zu sprechen kam. »Ich will mein ganzes Angelzeugs doch nicht in deiner schönen Wohnung unterbringen.« Deine Wohnung. Meine Wohnung. Sie wollte endlich eine gemeinsame Wohnung mit ihm! Und was seine Angelsachen betraf … Vielleicht würde er das ja endlich reduzieren, wenn sie zusammenlebten. Wenn sie gemeinsam ihre Zukunft planten … Doch im gleichen Augenblick wusste sie, dass er das nicht tun würde. Nicht freiwillig. Nicht für sie. Für niemanden. Er war leidenschaftlicher Angler. Man könnte auch sagen, Dauerangler. Seine Mutter erzählte oft, dass er schon als kleiner Junge beinahe rund um die Uhr an irgendwelchen Gewässern gehockt hatte. Sie wollte ihm sein Hobby ja auch gar nicht nehmen. Aber ein klein wenig Rücksicht durfte sie doch erwarten, oder? Zumal sie wusste, dass keineswegs nur gefischt wurde. Auch das Bier machte die Runde, und der Whiskey und Wodka und … Und dann war da noch etwas. Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Das war vorbei, er hatte es ihr versprochen. Und so hatte sie ihm auch in der vergangenen Nacht zähneknirschend erlaubt, auf Fischjagd zu gehen. »Die Aale beißen gerade wie verrückt! Aber nur nachts. Also wie gesagt, warte nicht auf mich, leg dich schlafen, wenn du müde bist.« Tja, was sollte sie darauf erwidern? Wenn er seinen Hundeblick aufsetzte, war sie machtlos. »Aber vergiss nicht, dass wir kommenden Samstag unseren Jahrestag haben!«, hatte sie ihn ermahnt. »An dem Tag gehöre ich ganz dir, mein Liebes!« Ob er sich eine Überraschung für sie ausgedacht hatte? Vielleicht kam daher ihre innere Unruhe. Sie würde ihn gleich mal anrufen. Im Grunde könnten sie auch endlich zusammenziehen! Der fünfte Jahrestag wäre doch ein idealer Anlass, das Thema wieder einmal anzusprechen. Voller Vorfreude ging sie ins Bad, fest entschlossen, heute keine Sorgen und düsteren Gedanken zuzulassen – und blieb wie angewurzelt stehen. In der Badewanne – in ihrer Badewanne! – tummelten sich zwei armdicke Aale. Fast reglos schwammen sie im handtiefen Wasser und ähnelten dicken Schlangen. Nur ihre Kiemen bewegten sich langsam und ihre dunklen Augen schienen Luna hämisch anzuglotzen. Nun reichte es aber! Schon hundertmal hatte sie Leon gesagt, dass ihre Badewanne keine Fischtheke sei. Kleine Köderfische hatten schon darin gelebt, zwei Dutzend, ein ganzer Schwarm! Sie war die Heimat von Aalen, Forellen und Karpfen gewesen. Und sie musste dann bei ihrer Freundin baden! Aber nun hatte sie endgültig die Nase voll! Der Knoten im Magen wich ihrer Wut und löste sich in Luft auf. Zornig stapfte Luna zum Telefon, wählte Leons Nummer und zählte mit. Beim elften Klingeln ging er ran. »Was fällt dir eigentlich ein?«, fuhr sie ihn an, bevor er seinen Namen herausgebracht hatte. »Wieso? Ich war doch ganz leise, du bist nicht aufgewacht.« Empört schnappte Luna nach Luft. »Was ist das hier für dich? Ein Frischfisch-Aufbewahrungslager? Ich hab dir schon tausendmal gesagt …« »Gib mir eine Viertelstunde. Dann hole ich sie und du hast deine Badewanne wieder, okay?« Wortlos legte sie auf. Gleich darauf klingelte das Telefon. Entnervt nahm sie sofort ab. »Was ist denn noch?« »Luna?« Ein lautes Schniefen. Dann ein noch lauteres Schnäuzen. »Kiki? Bist du das?« »Ja …« Langgezogen und von einem Schluchzer unterbrochen. Sämtliche Alarmglocken schrillten los. Das war es! Daher ihr Magengrummeln – Kiki, ihre beste Freundin, hatte Kummer. »Was ist passiert?« »Tommy! Diese fiese, hinterhältige Ratte, dieses treulose Arschloch, dieser –« Lautes Weinen. Sicherheitshalber hatte Luna den Telefonhörer während Kikis Schimpftirade etwas vom Ohr entfernt. Nun wagte sie, sich ihm wieder zu nähern. Sie konnte sich schon denken, was geschehen war. »Was hat er gemacht?« »Was er gemacht hat?« Gerade noch rechtzeitig ging das Telefon wieder auf Abstand. »Er hat mich betrogen!«, schrie Kiki. »Mit so einer billigen Schlampe! Angetuscht wie ein Indianer auf dem Kriegspfad. Kannst du dir das vorstellen? Und das, wo ich extra für ihn nach Bremen gefahren bin, zum Konzert seiner Band! Und was ist der Dank, was macht er? Er hat nichts Besseres zu tun, als diese Bitch zu vö– …« »Kiki! Beruhige dich doch erstmal! Wollen wir uns treffen? Oder bist du noch in Bremen?« »Ich bin die Nacht durchgefahren! Keine einzige Sekunde wollte ich noch bei diesem Oberarsch bleiben! Weißt du, er …« Kiki tat Luna unendlich leid. Seit einem halben Jahr hatte sie eine Affäre mit einem Musiker. Tommy, der Bassist von Black Earth, einer Rockband. Einer angesagten Rockband. Seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war Kiki hin und weg von ihm gewesen. Sie nannte das, was sie mit ihm hatte, eine Beziehung. Luna hatte es ihr nie gesagt, aber in ihren Augen war es nur eine Affäre. Und wie es schien, sah Tommy das genauso. Sie hatte ihn noch nicht persönlich kennengelernt, doch was sie bisher erfahren hatte, reichte ihr. Verdammt gut sah er aus mit seinem dunklen, schulterlangen Haar und sei- nen vielen Tattoos. Das Schlimme aber war, dass er das ganz genau wusste. Und dass er diesen Umstand ausnutzte. Luna stellte den Lautsprecher an und nahm das Telefon mit ins Bad. Sie kannte ihre Freundin. Sie, Luna, würde nicht eher wieder zu Wort kommen, ehe Kiki sich all ihren Ärger und Frust von der Seele geschimpft hätte, und das konnte dauern. Während ihrer behelfsmäßigen Katzenwäsche besserte sich Lunas von Leon verdorbene Laune. Heute würde sie den Spieß umdrehen! Heute wäre sie beschäftigt und er konnte sehen, wo er blieb. Umso besser, falls er schon Pläne für heute gemacht hatte. Dann konnte sie sie durchkreuzen. Sonst war es immer Leon, der das tat. Für sie war heute der ideale Tag zum Shoppen mit Kiki! Das würde ihnen beiden guttun. Shoppen half immer. Man kam auf andere Gedanken und stimulierte das Belohnungszentrum im Gehirn. Dabei wurden Glückshormone ausgeschüttet und … »Kiki, ich rufe dich gleich zurück, ja?«, unterbrach sie rasch die immer noch andauernde Schimpftirade ihrer Freundin. Ihre schlechte Laune war vergessen. Vor sich hin summend schaltete Luna den Wasserkocher an, kramte ihre Lieblingstasse aus dem Schrank – die mit den grünen Eulen – und warf eine Brotscheibe in den Toaster. Der Schlüssel bewegte sich im Schloss. »Morgen, Liebes«, rief Leon. Seine Stimme klang, als wäre er noch im Halbschlaf. Mit einem Eimer in der Hand kam er in die Küche. Wie er aussah! Dunkle Ringe unter den Augen, das Haar zerzaust. »Du hast wohl durchgemacht, was?«, fragte Luna spitz. Erstaunt bemerkte sie, dass sich erneut das Grummeln in ihrem Magen meldete. War er wirklich nur Angeln gewesen? Ein heftiger Stich durchfuhr sie. Denn Leon hatte noch eine Schwäche neben seiner fast schon fanatischen Leidenschaft zum Fischen. Er stand auf Frauen. Auf Blondinen. Sie schnaufte ärgerlich. Und nein, sie würde ihm keinen Tee anbieten. Den mochte er sowieso nicht. Und einen Kaffee würde sie ihm schon gar nicht kochen. Strafe musste sein. Gerade brodelte das Wasser, und betont langsam goss sie es über den Teebeutel in die Tasse. »Krieg ich einen Kaffee?«, brachte Leon heraus und ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. »Nö.« »Was? Ach, komm schon, ich bin am Einschlafen.« Selbst schuld! »Einen Tee kannst du haben.« Ungern. Aber sie wollte mal nicht so sein. Er bedankte sich nicht einmal, als sie eine Tasse vor ihn hinstellte. Angewidert verzog sie ihren Mund, als sie mitzählte. Drei volle Löffel Zucker tat er hinein! »War das eine Nacht«, begann er. Als ob sie das interessieren würde. »Wann warst du denn zu Hause?«, unterbrach sie ihn, ehe er begann, endlos über die vielen Fehlbisse, verhedderten Schnüre und verlorenen Köder zu schwadronieren. Aus dem Konzept gebracht verschluckte er sich am heißen Tee und hustete. »Äh … So gegen drei Uhr. Es war nicht sehr erfolgreich. Bis auf die beiden …« »Ja«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Mit denen hab ich ja schon Bekanntschaft machen dürfen.« Um drei Uhr? Und wieso sah er dann aus, als hätte er noch keine einzige Minute geschlafen? Er trug ja sogar noch seine Angelklamotten! Was hatte er in den Stunden seitdem gemacht? »Zu dumm, dass meine Wanne belegt ist«, sagte sie süffisant, »Du könntest ein Bad gebrauchen.« Sie schaffte es gerade noch, nicht die Nase zu rümpfen, als sie ihn vielsagend musterte. »Jaja, ich hab’s ja kapiert. Das war das letzte Mal. Also dann", er stand auf. »Ich nehme sie jetzt mit. Sehen wir uns nachher?« Also hatte er keine Pläne für ein gemeinsames Wochenende geschmiedet. »Nein.« Erstaunt fuhr sein Kopf hoch. »Nicht? Aber warum?« »Ich hab schon was vor.« Seltsam. So gut fühlte es sich gar nicht mehr an. Sie empfand keinen Triumph bei diesen Worten. Leons Blick wurde etwas wacher, als er sie musterte. Aber er sagte nichts dazu. Als ob es ihn überhaupt nicht interessierte. »Kiki und ich wollen shoppen gehen.« Warum zum Teufel verriet sie ihm das? Er sollte ruhig ein wenig in der Ungewissheit schmoren. So wie sonst sie, wenn er unterwegs war. »Sie hat Ärger mit ihrem Typen. Wir wollen uns mal ein bisschen über die miesen Kerle auslassen.« Sie konnte es einfach nicht lassen. »Schade. Ich dachte, wir könnten zusammen essen gehen.« War das etwa der Anflug eines schlechten Gewissens, der sie durchfuhr? Also hatte er sich doch etwas überlegt. »Vielleicht heute Abend?«, schlug sie diplomatisch vor. »Okay.« Er stand auf. »Wo wollt ihr denn heute hin?« Die Frage klang ganz beiläufig. »Nach Harburg. Da waren wir lange nicht.« Wieso hatte sie das gesagt? Sie hatte nicht vor, nach Harburg zu fahren. Heute wollte sie den Sonnenschein an der Alster genießen, ganz mondän. »Ach so. Na, dann viel Spaß. Ich ruf’ dich später an.« Er wandte sich ab, um ins Bad zu gehen. Doch in der Tür wandte er sich noch einmal um. »Ach ja, bevor ich es vergesse.« »Was denn?« Plötzlich schrillten bei Luna sämtliche Alarmglocken noch stärker als zuvor und das mulmige Gefühl im Magen, mit dem sie aufgewacht war, meldete sich mit voller Macht zurück. »Also, äh … Ich wollte dich etwas fragen. Aber sei nicht gleich sauer! Ich – naja, also …«, druckste er herum. »Was denn?« Sie konnte es sich schon denken. Immer, wenn er diesen Tonfall anschlug, wollte er zum Angeln. Mal zum Nachtangeln mit Tobias. Mal zum Pokalangeln mit Stefan und den anderen. Oder zum Hochseeangeln. Oder zum Forellenfischen am neuen See. »Also … Ralf hat mich gefragt, ob ich Lust hätte …« »Ja?« Sie war auf alles gefasst. »Am Wochenende fährt er nach Dänemark zum Hochseeangeln. Es geht auf Makrele.« Sie hatte es ja gewusst. »Wann denn genau? Samstag oder Sonntag?« Dänemark war ja von Hamburg aus nicht gerade eine Weltreise. Wenn es der Sonntag war, wäre sie nicht begeistert, aber wenigstens könnten sie am Samstag ihren Jahrestag feiern. Leon sah sie nicht an, sondern fixierte einen Punkt irgendwo hinter ihr. »Genau gesagt von Donnerstagabend bis Sonntagabend.« Zog er gerade die Schultern ein? Erwartete er ein Donnerwetter? Da hatte er sich nicht getäuscht! »Seid ihr verrückt? So lange? Und dann ausgerechnet am kommenden Wochenende? Das ist jetzt aber nicht dein Ernst!« Luna war so empört, dass sie nach Luft schnappen musste. Verlegen wich Leon ihrem bohrenden Blick aus und fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes blondes Haar. »Es tut mir wirklich leid, Liebes. Ich habe es auch erst gestern Abend erfahren. Aber ich kann das nicht absagen, ich muss da unbedingt mit. Ich mache es wieder gut, das verspreche ich dir!« »Ach ja?«, fauchte Luna, und Leon wich erschrocken ein Stück zurück. »Wie soll das gehen? Wir haben nur an diesem Tag unser Fünfjähriges. Und du bist nicht da. Das sagt doch schon alles!« Sie war so sauer, dass ihr Tränen in die Augen traten, und wütend wischte sie sie fort. »Wir können es doch nachholen. Ich lade dich zum Essen ein. Vielleicht in das neue Steakhouse, was meinst du? Bei einem guten Wein und Kerzenschein? Such dir einfach aus, wo du hin willst.« Glaubte er wirklich, dass er so billig davonkam? Ausgerechnet an ihrem fünften Jahrestag wollte er sie allein lassen, um zu diesem dämlichen Hochseeangeln anzutreten! Als ob er da nicht schon oft genug gewesen wäre. Prüfend betrachtete sie ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Die Spuren der Übermüdung in seinem Gesicht ließen ihn nicht weniger gut aussehen. Er sah sogar sehr gut aus. Selbst seine zerknirschte Miene stand ihm hervorragend. Er war groß und muskulös, seine Haut von den vielen Aufenthalten im Freien sonnengebräunt. Sein blondes Haar war von seinem verlegenen Darinherumwühlen zerzaust, und sein sonst so typisches Spitzbubenlächeln fehlte. Aber gerade dass er nicht lächelte, sorgte dafür, dass sie im Begriff war, einzuknicken, denn es schien ihm wirklich ernst zu sein. Sie spürte, dass sie kurz davor war, nachzugeben, und das ärgerte sie fast noch mehr als seine Eröffnung. Diese verdammte Angelei! Wie viel Zeit hatte sie ihnen schon geraubt? Die Gedanken rasten durch Lunas Kopf. Ihr Fünfjähriges hatte sie sich wirklich anders vorgestellt. Ehrlich gesagt hatte sie davon geträumt, für ein paar Tage mit Leon wegzufahren. Irgendwo ins Grüne. Vielleicht in die Berge. Hauptsache, es gab dort kein Wasser. Und dann konnte sie in romantischer Umgebung ihre Zukunftspläne mit ihm besprechen. Eine gemeinsame Wohnung. Eventuell eine Hochzeit. Kinder … »Komm schon, Liebes. Bitte! Ich verspreche dir, dass wir unseren Tag dann am Sonntagabend ganz besonders schön feiern!« Sie schwieg immer noch. Er sollte schon noch ein wenig zappeln. »Ich wollte es dir ja noch nicht sagen. Es sollte eine Überraschung werden. Aber … ich hab’ noch was Schönes für dich. Extra für unser Jubiläum.« Als sie in Leons flehende blaue Augen sah, fühlte Luna, dass sie schon wieder schwach wurde. Dass sie ihm aber auch nie etwas abschlagen konnte! »Also gut. Aber wehe, du bist Sonntag nicht rechtzeitig zurück!« »Ich verspreche es! Ich werde doch die tollste Frau der Welt nicht versetzen!« Er stellte den Eimer hin und nahm sie in die Arme. Sie versteifte sich ein wenig, denn er roch nach Zigaretten und altem Fisch. Und nach Alkohol. Etwas störte sie. Etwas, das sie nicht einordnen konnte, das aber am Rande ihres Bewusstseins lauerte und sie hämisch angrinste. Das Brummeln in ihrem Magen erwachte erneut. Nie im Leben war er um drei Uhr zu Hause und in seinem Bett gewesen. Er machte eher den Eindruck, als wäre er vom Angeln – oder vom Feiern – direkt zu ihr gekommen. Aber es war doch schon lange hell. Und er hatte oft genug betont, dass die Fische zu beißen aufhörten, sobald es hell wurde. Weshalb ja auch das Nachtangeln so wichtig sei. Ein anderer unangenehmer Geruch riss sie aus ihren Gedanken, und sie machte sich von Leon los. Verflucht noch mal! Der Toast! Schnell riss sie am Hebel, und ein schwarz verkohltes Etwas sprang in die Höhe. Sie packte es vorsichtig mit zwei Fingern und verbrannte sich dennoch. Wütend schmiss sie es in die Spüle und schüttelte ihre Hand, um sie zu kühlen. Sie brauchte dringend einen neuen Toaster! Bei ihrem war die Automatik kaputt, und sie musste das Brot immer manuell aus dem Gerät hebeln. Ärgerlich warf sie eine neue Scheibe ein. Sie wusste, warum sie plötzlich so wütend war. Schon wieder war sie eingeknickt. Immer wieder gab sie nach. Schön blöd. Im Badezimmer plätscherte Wasser und sie hörte Leon leise fluchen. Sie wusste, wie glitschig Aale waren. Rutschig wie nasse Seife flutschten sie einem durch die Finger. Hoffentlich hatte er die Mistviecher bald eingefangen. Sie liebte sie geräuchert oder gebraten, aber nicht lebend in ihrer Wanne. Rasch wählte sie Kikis Nummer. Während der Redepause schien ihre Freundin sich beruhigt zu haben. Sie brach sofort in Begeisterungsstürme aus bei Lunas Vorschlag, gemeinsam shoppen zu gehen. »Dass ich das noch erleben darf!«, schrie sie enthusiastisch, aber Luna hörte immer noch die Tränen in ihrer Stimme. »Ich bin gleich da! Und nicht weglaufen!« Der Anflug eines schlechten Gewissens streifte Luna. Sie sahen sich viel zu selten. Selbst wenn Leon unterwegs war, verbrachte sie ihre Zeit meist damit, auf ihn zu warten. Wie dämlich! Wie auf Kommando erschien er wieder in der Tür. »Ich habe sie. Also gut, ich gehe dann jetzt.« »Wieso hast du sie eigentlich nicht in deine eigene Badewanne gesetzt?« Er druckste ein wenig herum. »Die ist voller Köderfische.« Oje! Und dabei hatte er dringend ein Bad nötig. »Also gut. Kiki kommt gleich. Ich rufe dich an, ja? Morgen kannst du bei mir baden, wenn du willst.« Vorher brauchte er sich gar nicht einzubilden, sie anfassen zu dürfen. Und wenn er sie weiter ansah wie ein verlassener Welpe, knickte sie nachher doch noch ein und sagte Kiki wieder ab. Sanft, aber energisch schob sie ihn durch die Tür. »Krieg’ ich noch einen Kuss?« Sein Hundeblick brachte sie zum Lächeln. Wenn er wollte, konnte er unwiderstehlich sein. Sogar in schmutzigen Angelklamotten. Sie beugte sich vor, um nicht damit in Berührung zu kommen, und spitzte die Lippen. Sein Kuss schmeckte nach ihrem Tee. Und nach etwas anderem, das sie nicht definieren konnte. Erneut spürte sie, wie etwas sie aus einer dunklen Ecke heraus höhnisch angrinste, aber sie bekam es nicht zu fassen. Es entglitt ihr wie ein Aal. Und nun hatte sie ja schon etwas anderes vor. Für einen winzigen Augenblick bedauerte sie ihre Verabredung. Andererseits konnte es nicht schaden, wenn Leon auch einmal merkte, dass sie es nicht nötig hatte, ständig auf ihn zu warten. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich etwas beeilen musste. Sie schloss die Tür hinter Leon, eilte in die Küche, schmierte Butter auf den inzwischen kalten Toast, legte eine Scheibe Käse drauf und nahm einen großen Happen. Sie könnte nach einigen neuen T-Shirts Ausschau halten. Vielleicht auch nach einer neuen Jeans. Und dann brauchte sie unbedingt die neue CD von Darkest Nights. Bester Heavy Metal. Mit einem Mal war ihr nach guter Musik zumute. Nach lauter Musik! Eilig stopfte sie sich den Rest Brot in den Mund und lief ins Schlafzimmer. Gleich kam Kiki, und sie trug immer noch das alte Top und die Schlafanzughose. Nachdem sie sich umgezogen hatte, bürstete sie ihr braunes Haar, wühlte nach ihrem Kajal, tuschte sich die Wimpern und trug Rouge auf. Nur ein wenig. Sie war viel zu hibbelig für ein stets perfektes Make-up. Lippenstift verschmierte nur Tassen und Gläser. Was Lidschatten betraf, hatte sie ein unfehlbares Talent dafür, ihn zu verwischen, weil sie vergaß, wenn sie welchen trug, und sich gedankenlos über die Augen strich. Für einen perfekten Lid- strich war ihre Hand nicht ruhig genug. Selbst die Wimperntusche war ein Wagnis. Aber all das störte sie nicht. Weniger war eben mehr. Es klingelte, und vor der Tür stand eine übernächtigte Kiki. Ihre Augen strahlten schon wieder, wie Luna es von ihr kannte, auch wenn dunkle Schatten unter ihnen lagen. Ihre blonden Locken wirbelten aufgekratzt herum. »Ich freu mich so! Wir waren ja schon ewig nicht mehr zusammen unterwegs! Du hast ja nie Zeit für mich. Naja, wenn ich ehrlich bin, habe ich dich in den letzten Monaten auch ganz schön vernachlässigt. Alles wegen diesem Deppen … Nein, keine Angst, ich fange nicht schon wieder davon an, das Thema ist durch. Kennst du schon den neuen Song von Darkest Nights? Der ist sooo klasse!« Grinsend packte Luna ihre Tasche, schob ihre Freundin aus der Wohnung und schloss die Tür ab. Sie hatte sich angewöhnt, die ersten fünf Minuten immer gar nichts zu sagen. Vorher konnte man Kikis Redefluss ohnehin nicht stoppen. Draußen sog sie die nach Blumen und frisch gemähtem Gras duftende Luft in ihre Lungen und lief neben Kiki her zur Bushaltestelle. Es war ein ganzes Stück in die Hamburger Innenstadt, aber um nichts in der Welt würde sie ihre kleine Wohnung am Stadtrand aufgeben. Sie wohnte in Finkenwerder, unweit des Alten Landes, ländlich und doch in Stadtnähe zugleich. Im Bus plapperte Kiki weiter. »Hast du schon gehört? Darkest Nights kommen auf Tour! Und sie haben einen neuen Gitarristen. Schade, dass Julian raus ist. Der war so süß!« Luna sah ihre Freundin nachdenklich an. »Ich dachte, du hast von Musikern die Nase voll?« »Hab’ ich auch! Aber man wird ja wohl mal schwärmen dürfen. Julian hatte so tolle lange Haare, und wie er spielen konnte! So einen guten Gitarristen wie ihn kriegen sie bestimmt nicht wieder.« »Weißt du schon, wer der Neue ist?« An Luna gingen solche Neuigkeiten meist vorbei, weil sie in ihrer Freizeit fast immer mit Leon beschäftigt war. Aber Kiki war stets auf dem neuesten Stand. »Nein. Sie machen ein Geheimnis draus. Ich bin schon so neugierig!« »Wie geht es jetzt eigentlich mit Tommy weiter? Hast du seit gestern etwas von ihm gehört? Hat er sich gemeldet, angerufen und entschuldigt, dir alles erklärt?« Kikis Kopf ruckte hoch, und ihr Lächeln erstarb. »Nein. Und das will ich auch nicht. Warum wohl holt er sich ein Groupie ins Bett? Der soll bleiben, wo der Pfeffer wächst!« Luna bedauerte, ihn niemals persönlich gesehen und kennengelernt zu haben. Sie hätte gern gewusst, ob er wirklich so toll war, wie Kiki stets erzählt hatte. Hätte gern erfahren, was seine Anziehungskraft ausgemacht hatte. War es nur sein gutes Aussehen gewesen? Oder hätte er auch ihr gefährlich werden können? Natürlich nur, wenn er nicht mit Kiki zusammen gewesen wäre. Bisher war sie auf gar keinem Rock- oder gar Metal-Konzert gewesen. Leon stand nicht auf Konzerte, ja, er machte sich überhaupt nichts aus Musik. Und Kiki war entweder allein oder mit anderen Freunden hingegangen. Dabei hatte sie Tommy kennengelernt. Er kam aus Berlin, und es hatte gefunkt. Jedenfalls bei Kiki. Immer, wenn Luna mit ihr telefonierte, gab es nur ein Thema. Schließlich hatte Kiki mit ihm geschlafen und glaubte nun mit ihm zusammen zu sein. Bis sie ihn gestern mit einem Groupie erwischt hatte. »Ich hasse Rockstars! Nie wieder werde ich einen Musiker an mich heranlassen«, fuhr sie lautstark fort. »Und ich gebe dir einen guten Rat, Luna: Küsse niemals einen Rockstar! Es ist wie der Himmel auf Erden – aber wenn du fällst, dann aus großer Höhe. Und dass du fällst, darauf kannst du dich verlassen. Die können einfach nicht treu sein. Wenn du einen Rockstar küsst, kannst du dir sicher sein: Er wird dein Herz brechen! Ach, was sage ich. Er wird es dir herausreißen, bei lebendigem Leib!« Unvermittelt weinte sie wieder. Luna legte tröstend den Arm um sie. Es gab kaum etwas Schlimmeres als eine Freundin mit Liebeskummer, während man selbst in einer glücklichen Beziehung steckte. Ohne Drama. Während sie das beschauliche Finkenwerder durchquerten und schließlich auf die Autobahn auffuhren, dachte sie an Leon. Was für ein Glück sie mit ihm hatte! Er hatte einen festen Job als Elektriker, und sie führten eine stabile Beziehung ohne besondere Höhen oder Tiefen, aber dafür auch – abgesehen von ihren gelegentlichen Streitereien wegen seiner Angelei – ohne Probleme. Ob er sich endlich schlafen gelegt hatte? Er musste doch völlig übermüdet sein. Im gleichen Augenblick wusste sie, dass sie sich selbst etwas vormachte. Ihre Beziehung war keinesfalls problemlos. Aber in dieser Hinsicht fiel es ihr stets schwer, ehrlich zu sich selbst zu sein. Wenn sie es aber war, musste sie zugeben, dass ihr seine ständige Angelei wirklich extrem auf die Nerven ging. Nicht gerade selten war auch Alkohol im Spiel. Und wenn er ganze Nächte weg war, hatte sie sich schon oft Gedanken gemacht, ob er wirklich nur angelte. Und diese Bedenken waren nicht aus der Luft gegriffen. Auch wenn sie sich Mühe gab – sie konnte einfach nicht vergessen, was da vor einem Jahr gewesen war, mit dieser Blonden … Wie hieß sie noch? Claudia? Sie hatte es völlig verdrängt. Nein, sie hatte versucht, es zu verdrängen. Aber vergessen konnte sie es nicht. Laut Leons Aussage war sie die Exfreundin eines Anglerfreundes. Bei einem der vielen Pokalangeln war sie als Zuschauerin dabei gewesen und hatte ihn angehimmelt, und er war schwach geworden. Ein einmaliger Ausrutscher. Das hatte er ihr aber nicht von sich selbst aus gestanden. Nein, Luna hatte blonde Haare auf seinem Pullover gefunden. Natürlich war sie sofort misstrauisch geworden und hatte ihn mit Fragen gelöchert. Schließlich hatte er ihr alles gebeichtet. Sie hatte ein paar Tage geschmollt und ihm dann verziehen. Vergessen hatte sie die Sache jedoch nicht. Aber inzwischen vertraute sie ihm wieder. Seit fünf langen Jahren waren sie zusammen und wussten, was sie aneinander hatten. Und sie wusste, dass er sie liebte. Auch wenn er es ihr noch nie so direkt gesagt hatte. »Leon?« »Was?« Verwirrt blinzelte Luna Kiki an. »Du grübelst schon seit Minuten herum und hörst mir nicht mehr zu. Was ist los?« Plötzlich hätte Luna heulen können. Nächste Woche war ihr Jahrestag, ein freudiges Ereignis, ein Grund, Zeit miteinander zu verbringen, zu feiern. Und wo würde Leon sein? Er fing glitschige Fische! Hatte sie gerade noch gedacht, dass sie eine problemlose und glückliche Beziehung führte? Nun, in seinen Augen ganz sicher. Sie nahm alles hin, egal was er tat. Aber wo blieb sie dabei? Sie wartete. Sie lag allein in ihrem Bett. Sie verbrachte ganze Wochenenden allein. Nun, mit Mitte 20, erwachte langsam der Wunsch nach einem Familienleben in ihr. Einige ihrer Freundinnen waren bereits verheiratet, ein paar davon hatten sogar schon ihr erstes Baby. Und sie? Sie hockte allein zu Hause. Nicht nur manchmal. Oft. Eigentlich fast immer. Es wurde Zeit, dass sie sich das endlich selbst eingestand. Ständig machte sie gute Miene zum bösen Spiel. Nahm Leon in Schutz, damit bloß niemand auf blöde Gedanken kam, bei ihnen könnte etwas nicht stimmen. Für ihre Umwelt gehörten sie zusammen, würden eines Tages heiraten und eine Familie gründen. Erzählungen über Brüche oder Risse in ihrer Beziehung würden nur zu Fragen führen. Fragen, die sie nicht würde beantworten können. Das wusste sie. Und deshalb schwieg sie lieber. Nur Kiki kannte alle Hintergründe. Mitfühlend legte sie Luna ihre Hand aufs Knie. »Komm schon, lassen wir uns von irgendwelchen Typen nicht den Tag verderben! Wir beide machen es uns jetzt schön! Es ist Samstag und die Sonne scheint. Kopf hoch!« Mühsam lächelte Luna. Kiki hatte ja recht. Kein Kerl der Welt würde ihr diesen wunderschönen Tag verderben. Und schließlich war alles ja auch gar nicht so schlimm. In jeder Ehe oder Beziehung gab es Probleme, das war doch völlig normal. Da musste man durch. Wenn jemand einen Grund zum Jammern hatte, dann war es Kiki. Und selbst diese klagte nicht mehr, sondern versuchte, das Beste aus der Situation zu machen. Sie sollte sich ein Beispiel an ihr nehmen. Entschlossen straffte Luna die Schultern und lächelte. In Altona stiegen sie aus dem Bus und fuhren noch ein paar Stationen mit der S-Bahn bis zum Jungfernstieg. Heute wollten sie es zur Feier des Tages einmal ganz edel angehen lassen. Stundenlang stöberten sie durch Boutiquen, Schuhgeschäfte und natürlich Elektroläden auf der Suche nach CDs. Sie führten einander Shirts und Schuhe vor, zeigten einander Bücher und DVDs. Zu Mittag aßen sie ganz hervorragend in einem sündhaft teuren Restaurant, mit Blick auf die in der Sonne glitzernde Alster. Keinen Fisch! Auch wenn der gebratene Lachs Luna sehr lockte. Nein, sie gönnte sich ein Steak, medium gebraten, mit einer Ofenkartoffel. So gestärkt ging der Bummel anschließend weiter durch einige Kaufhäuser. Luna fühlte sich mit der Welt wieder versöhnt. Kapitel 2 »Luna, schau doch mal!« Kiki stupste so heftig ihren Ellenbogen, dass der Latte Macchiato im Pappbecher hochschwappte und zu viel davon auf einmal in Lunas Mund geriet, die gerade ein kleines Schlückchen nehmen wollte. Sie verschluckte sich und begann zu husten. Vorwurfsvoll sah sie ihre Freundin an, als sie wieder Luft bekam. »Da hinten!«, wisperte Kiki verschwörerisch und rollte mit den Augen, um mit ihnen die ungefähre Richtung des großen Geheimnisses anzudeuten. Instinktiv ging Luna hinter ihrer Freundin in Deckung, nur ein klein wenig, um kein Aufsehen zu erregen, und blinzelte in die angegebene Richtung. Ein gut besuchtes Café mit Blick auf das Rathaus. Sie kannte es. Gemeinsam mit Leon hatte sie schon einige Male dort einen Cappuccino getrunken. Circa ein Dutzend runder Tische stand draußen in der Sonne, an denen etwa die doppelte Anzahl Menschen saßen. Einige trugen Sonnenbrillen und hielten ihre Gesichter in die Strahlen des ersten richtig warmen Tages, von anderen sah sie nur die Rücken. Eine Kellnerin stand an einem der Tische und notierte eifrig die Wünsche der Gäste auf ihrem Block. »Was soll da sein?« Mit einem Mal kam Luna sich dämlich vor und gab ihre Deckung auf. Offen warf sie einen weiteren Blick auf das Café, und sofort stellte Kiki sich wieder vor sie hin. »Siehst du ihn denn nicht?« Prüfend sah Kiki ihre Freundin an und krauste dabei ihre Nase. Der laue Frühsommerwind wehte ihr eine blonde Locke ins Gesicht, und ungeduldig pustete sie sie zurück. Luna kniff ihre Augen zusammen und versuchte herauszufinden, was zum Henker Kiki meinte. Sie war ein wenig kurzsichtig, würde es aber niemals eingestehen. Nein. Sie konnte beim besten Willen nicht erkennen, was ihre Freundin so aus der Fassung brachte. »Ich sehe nichts. Wieso gehen wir nicht einfach weiter?« »Leon! Wieso siehst du ihn nicht? Er ist es doch, oder täusche ich mich?« »Was?« Mit einem Mal verfluchte Luna ihre Eitelkeit. Mit Brille wäre das nicht passiert. »Das kann nicht sein. Er hat die ganze Nacht geangelt. Er wird zu Hause im Bett liegen und schlafen.« Rasch sah sie auf die Uhr. Kurz nach fünf. Konnte er schon ausgeschlafen und den Weg in die Innenstadt angetreten haben? Theoretisch schon. Kurzentschlossen schob sie ihre Freundin wie einen Schutzschild an wenig näher an das Café heran und versteckte sich dabei weiter hinter ihr, so gut es ging. So unauffällig wie möglich spähte sie über deren Schulter hinweg. Ein kleiner Junge mit einem Eis in der Hand beobachtete sie neugierig. Sie kam sich albern vor, blieb aber in Deckung. »Wo soll er denn sitzen?« Die Gesichter wurden nun etwas klarer, aber sie konnte ihn immer noch nicht entdecken. »Ziemlich genau in der Mitte. Du müsstest ihn von der Seite sehen.« Ganz kurz zögerte Kiki. Es tat ihr weh, diese Worte vor ihrer Freundin auszusprechen. Aber bevor es womöglich noch peinlicher wurde, blieb ihr wohl keine Wahl. »Er sitzt mit einer Blondine am Tisch. Knallrote Bluse.« Unwillkürlich zuckte Luna zusammen. Den roten Farbfleck entdeckte sie sofort. Und plötzlich fragte sie sich, wieso es ihr nicht gleich aufgefallen war. Das dort war eindeutig Leon. Ihr Freund. Den sie schlafend zu Hause im Bett wähnte. Oder vor dem Fernseher sitzend. Das war noch etwas, was er sehr gern tat. Was zur Hölle tat er hier? Vielleicht war er es ja doch nicht. Er konnte es gar nicht sein. Sie waren doch so glücklich miteinander. Sie wollte mit ihm alt werden. Niemals wieder würde er sie anlügen, er hatte es ihr doch versprochen … Angestrengt kniff sie die Augen noch ein wenig mehr zusammen und spürte, wie ihr Erschrecken dem Ärger wich. Er hatte das karierte Hemd an, das sie ihm geschenkt hatte! Und damit imponierte er nun dieser … dieser … Sie schnaufte laut. »Komm, lass uns lieber gehen. Sonst entdeckt er uns noch.« Kiki drehte prüfend den Kopf, konnte sich aber nicht so weit verbiegen, um die Gäste des Cafés sehen zu können. Doch Luna stand wie angewurzelt. Sie sollte dort hingehen und ihm ihren Latte Macchiato über den Kopf kippen! Ob dieses aufgetakelte Etwas in Rot ihn dann immer noch so anhimmeln würde? Mit einem Mal sah sie alles messerscharf. Die Lippen der Blondine trugen das gleiche Rot wie der hauchdünne Fetzen, der ihre üppige Oberweite aufreizend in Szene setzte. Und plötzlich wusste sie, was ihr Unterbewusstsein ihr am Morgen hatte sagen wollen, als sie etwas Undefinierbares an Leon roch. Es war ein fremdes Parfüm. Er musste die Nacht mit ihr verbracht haben! Der aufsteigende Zorn verengte Lunas Gesichtsfeld. Sie stellte sich vor, wie ihr Kaffee langsam Leons Haar durchnässte und über sein Gesicht auf sein Hemd tropfte. Hässliche Flecken würden entstehen, und die Blonde würde empört aufspringen und davonstöckeln. Er würde ebenfalls aufstehen und hilflos von ihr zur Blonden sehen und nicht wissen, was er nun tun sollte. All die Leute an den Tischen würden aufstehen, lachen und Beifall klatschen. Sie fühlte, wie sie sich in Bewegung setzte … Aber nicht in Richtung des Cafés. Kiki hatte ihren Arm ergriffen und zog sie fort vom Ort des Geschehens. »He!«, fauchte Luna und zerrte, um ihren Arm wieder freizubekommen. »Was soll das? Ich gehe da jetzt hin und konfrontiere ihn …« »Bist du verrückt? Das kannst du nicht machen. Dann weiß er doch, dass du ihn ertappt hast. Nein, wenn er sich wieder bei dir meldet, musst du so tun, als wäre alles in Ordnung. Und wenn er sich in Sicherheit wähnt, lässt du die Bombe platzen.« Luna wusste, dass Kiki recht hatte. Genauso sollte sie es machen. Aber sie zweifelte daran, dass sie das konnte. Sie war noch nie gut im Lügen gewesen. Oder sich verstellen. Schon als Kind hatte sie beim Versteckenspielen immer lachen müssen und sich damit verraten. »Ich kann das nicht«, sagte sie und fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Wie aufgezogen folgte sie Kiki zur nächstbesten Parkbank. Plötzlich rollten Tränen ihre Wangen hinab und hinterließen eine dunkle Spur Wimperntusche. Kiki drückte ihr fürsorglich ein Taschentuch in die Hand. »Wieso tut er das?«, wimmerte Luna und schnaubte laut in das Tuch. Kiki schob ihr liebevoll eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor sie vom Tränenstrom noch völlig durchnässt wurde. »Weil er ein Arschloch ist.« »Ja! Das ist er! Ein Riesenarschloch!« Mit der Wut versiegten die Tränen wieder. »Ich hätte ihm doch meinen Kaffee überschütten sollen. Ich hätte zu gern sein Gesicht gesehen.« Kiki sagte nichts. Mit zusammengepressten Lippen dachte sie an die Zeit vor ziemlich genau einem Jahr, als sie dieselbe Geschichte schon einmal mit Luna durchgemacht hatte. Leon hatte es gewagt, Luna zu betrügen. Mit Claudia, der blonden Exfreundin eines Anglerkameraden. Leon war ein sehr attraktiver Mann. Er war sportlich und sonnengebräunt, und sein blondes Haar sowie die strahlenden blauen Augen brachten sicherlich so manches Frauenherz zum Schmelzen. Auch sie hatte er einst angebaggert. Dieses dunkle Geheimnis hatte sie ihrer Freundin nie verraten können. Luna und Leon waren gerade seit zwei Jahren zusammen gewesen, als er sich an sie heranmachte. Er hatte getrunken, sein Angelverein hatte eine Niederlage gegen einen anderen Verein im Pokalangeln verarbeiten müssen, und das Ganze war in eine ziemlich feuchtfröhliche Party ausgeartet. »Weißt du eigentlich, wie sexy du bist?«, hatte er genuschelt, seinen Blick über ihren ganzen Körper wandern lassen wie klebrige Finger und eine ihrer blonden Locken in die Hand genommen. Empört war sie aufgesprungen. »Dass du dich nicht schämst! Du hast die beste, treueste und hübscheste Freundin der Welt! Geh zu ihr und bleib dort und mach sowas nie wieder!« Er hatte ihr nachgeglotzt, und sie war Luna suchen gegangen. Erleichtert hatte sie festgestellt, dass die gerade von der Toilette kam und nichts von dem unerfreulichen Zwischenfall mitbekommen hatte. Und mit einem Mal hatte sie sich geschämt. Sie fühlte sich besudelt durch seine schleimigen Worte. Und sie fühlte sich außerstande, Luna davon zu erzählen. Sie wusste, wie sehr ihre Freundin diesen Typen liebte. Sie konnte ihr nicht das Herz brechen. Das schaffte Leon auch allein. »Vielleicht ist sie eine Kollegin«, überlegte Kiki nun. »Oder eine Angelkameradin. Vielleicht trinken sie einfach nur einen Kaffee zusammen und da läuft gar nichts. Er hatte dir doch versprochen, so etwas nie wieder zu tun, oder?« »Ja!«, schniefte Luna. »Na siehst du. Wir sollten nicht gleich den Teufel an die Wand malen. Es könnte …« »Aber wieso hat er mir nichts davon gesagt?« »Hat er nicht?« »Nein. Er fragte, ob wir uns nachher noch sehen. Aber ich war sauer, weil er die ganze Nacht weg war. Also habe ich ihm erzählt, dass ich mit dir shoppen gehe.« Nachdenklich schwieg sie einen Augenblick. Dann fuhr ihr Kopf hoch. »Und er fragte, wo wir hinwollen. So ganz beiläufig. Ich weiß nicht, warum, aber ich antwortete, dass wir nach Harburg fahren.« Kiki zischte böse. »Also hatte er das schon geplant. Wahrscheinlich war er heilfroh, als du sagtest, du hast heute schon was vor.« Erneut schluchzte Luna, und Kiki legte beschwichtigend ihre Hand auf deren Unterarm. »Aber trotzdem kann doch alles ganz harmlos sein. Vielleicht hat sie ihn angerufen, als wir schon weg waren, und ihn gefragt, ob er Lust auf einen Kaffee hat. Und da du ja keine Zeit hattest, hatte er nichts vor und sagte zu.« »Das heißt also, ich bin auch noch selbst schuld daran?« Erbost fuhr Luna auf. »Oh Süße, so hab’ ich das doch gar nicht gemeint! Ich will doch nur sagen, dass es ganz anders sein kann, als wir denken. Er –« Im dem Moment zuckte sie vor Schreck zusammen, packte Lunas Arm und riss sie von der Bank. »Aua! Spinnst du? Was soll –« »Psst! Nicht umdrehen! Und sei ganz still, keinen Mucks!« Ein eisiger Schauer lief Luna über den Rücken, und sie fröstelte in der warmen Sonne. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was es da vorn gerade zu sehen gab. Und sie wollte es nicht sehen. »Sie sind vorbei. Du kannst dich wieder umdrehen. Aber ganz ruhig bleiben, okay?« Schnell wie ein Tornado fuhr Luna herum. Das Paar war schon ungefähr zehn Schritte entfernt, und sie sah nur noch die Rücken der roten Bluse und des karierten Hemdes. Das Hemd hatte seinen Arm um die Bluse gelegt. Leons Mund flüsterte etwas in das von blondem Haar umrahmte Ohr, und Luna hörte ein lautes Kichern, das Mordgedanken in ihr auslöste. Sie war drauf und dran, den beiden hinterherzulaufen und – und … Ja, um was zu tun? Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass genau in diesem Augenblick ihr Herz brach. Mit einem wahren Tränenstrom flossen ihr Schock und ihre Enttäuschung aus ihr heraus. Die nächsten zwanzig Minuten war Kiki damit beschäftigt, ihrer weinenden Freundin ein Taschentuch nach dem anderen zu reichen und besänftigend ihren Rücken zu streicheln. So ein Volltrottel! Luna war eine Seele von Mensch. Wie konnte dieser Idiot ihr das nur antun? Sie, Kiki, hatte ihn ja noch nie leiden können. Er hatte so einen Zug um den Mund, der ihr nicht gefiel. Schon bevor er sie angemacht hatte, hatte sie ihm nicht über den Weg getraut. Aber Luna liebte ihn, und sie wollte ihn nicht vor ihr schlechtmachen und hielt lieber ihren Mund. Nun wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Vor einem Jahr, nach der Sache mit Claudia, war es Luna gelungen, genau drei Tage lang hart zu bleiben. Dann hatte sie ihn wieder hereingelassen, er hatte sich wortreich bei ihr entschuldigt, sie waren im Bett gelandet und hatten leidenschaftlich Versöhnung gefeiert. Und dieser Idiot dankte Luna ihre Liebe und Vergebung, indem er schon wieder Riesenmist baute! Oh, hätte sie ihr doch damals gleich erzählt, was für ein mieser Typ er ist, nachdem er sie angebaggert hatte. Sie hätte ihrer Freundin eine Menge Kummer erspart. Luna starrte sie an. »Ich will nach Hause«, flüsterte sie. Der Schmerz in ihrer Stimme brach Kiki beinahe das Herz. Mehr unter forever.ullstein.de