Einführung - Bertz + Fischer Verlag
Transcrição
Einführung - Bertz + Fischer Verlag
Unheimlich anders Einführung 9 iederholt wird auch in diesem Buch darauf hingewiesen, dass das Kino ein Ort der Schatten ist. Wo Schatten sind, muss Licht sein. Und wo Licht herrscht, muss es Dunkelheit geben, denn wie sonst könnten sich Schatten und Gestalten abzeichnen. Und überall, wo sich Licht und Dunkel auf jene sonderbare Art mischen, dass weder Dunkel noch Licht ist, herrscht ein Dazwischen, das wir Dämmerung oder Zwielicht nennen. Im Zwielicht werden die vertrauten Gegenstände uns fremd, ihre Gestalt scheint sich aufzulösen oder andere, uns geheimnisvoll dünkende Formen anzunehmen; Monster und Schattenwesen treten auf uns zu oder winken uns herbei, während wir aus dem sicheren Dunkel des Kinosaales auf die Leinwand, auf das Licht-DunkelSpiel starren, das uns ebenso fasziniert, wie es uns erschreckt, und in dem wir mit wechselnder Intensität unsere Doppelgänger erkennen, wie sie sich ebenso fürchten vor dem ahnungsvoll sich Andeutenden oder mit Heldenmut dem Monster zu Leibe rücken. Dennoch kann das Dunkel ein Ort der Geborgenheit sein. Ein Ort des Heimlichen. Wie des Unheimlichen. Heimliches und Unheimliches sind keineswegs Antagonismen. Was heimlich geschieht, kann unheimlich sein. Heimlich schleicht sich das Unheimliche heran. Es kann auch sehr plötzlich, mit einem Knall gewissermaßen, in Erscheinung treten. Also ins Licht. Dann platzt die Blase, in der man sich heimlich geborgen fühlte, nackt steht man vor etwas Unfassbarem, ausgeliefert dem Fremden, dem Anderen. Das Kino hat all diese Spielarten seit Beginn seiner Existenz schon unendlich oft durchgespielt »eine riesige Wiederholungsveranstaltung« (Sabine Nessel) und wird dies auch weiter tun, unablässig, denn kein Medium ist wie das Kino (das digitale mit eingeschlossen) so explizit geeignet, dem Schrecken einen Körper zu geben. Dass das Kino dem Gruseligen, dem Unheimlichen, dem Anderen, dem Fremden und Ab- Einführung sonderlichen auf eindeutige Weise Gestalt verleihen kann im Gegensatz etwa zur Literatur, wo selbst die detailgenaueste Beschreibung immer noch von jedem Leser anders »gesehen« wird , dieses Vermögen ist nicht nur eine Gunst. Wie rasch verschleißen sich doch die Monster, die Draculas, Werwölfe, Aliens, Marsmenschen, Zombies oder Klone. Was gestern noch die Lustangst kitzelte, wirkt heute bereits lächerlich oder komisch. Vielleicht hängt die Tatsache, dass das Kino vorrangig von jungen Leuten besucht wird, nicht zuletzt damit zusammen, dass in ihnen die Grusellust, der Wunsch zu erschauern, der Glaube an magische Zusammenhänge, an die Existenz des Unheimlichen noch virulent ist: Aus jeder dunklen Ecke könnte womöglich nächtens etwas Ungeheuerliches hervorkriechen. Freilich ist eine solche Erklärung nur zum Teil zutreffend. Denn die Angstlust sitzt tiefer, sie geht nie ganz verloren, und deshalb vielleicht nicht als 35mm-Streifen, wohl aber als Phänomen wird das Kino als Faszinosum bestehen bleiben. Bessere Filme des Genres begnügen sich nicht mit Schauereffekten à la Geisterbahn. Sie verfügen über Subtexte, stellen unterschwellig Bezüge her, sei es zur Gesellschaft, zur Psyche oder zum Leben schlechthin. So bieten sich also die diversesten Lesarten an, und von diesen ist in den nachfolgenden Beiträgen immer wieder die Rede anhand unterschiedlicher Erzählmuster, mit Bezug auf die verschiedensten Monster-Wesen und unter jeweils anderen Aspekten, aber immer mit dem Blick auf das im Gewand des Unheimlichen verborgene und versteckt gehaltene Andere. Der vorliegende Band verdankt sich wieder dem Bremer Symposium zum Film (dazu Irmbert Schenk im Vorwort), das im Januar 2004 im Kino 46 als gemeinsame Veranstaltung des Bremer Kommunalkinos und der Bremer Universität stattfand und unter dem Titel Unheimlich anders ... sich mit Doppelgängern, Monstern und Schattenwesen im Kino befasste. Was dieser Band jedoch nicht leisten kann: Er kann die Filme nicht zeigen, die während des Symposiums zu sehen waren, er kann auch nicht die zahlreichen Gespräche und Diskus9 Willi Karow sionsbeiträge wiedergeben, die die Tagung belebten. Indes ist ein Buch allerdings nicht an die zeitliche Begrenzung eines Symposiums gebunden, und so konnten zu den neun in Bremen gehaltenen Vorträgen, die eigens für diesen Band zum Teil stark umgearbeitet wurden, noch fünf weitere aufgenommen werden, sodass thematisch ein breites Spektrum entstand, das einen umfassenden Überblick bietet, wenn auch keinen erschöpfenden. Denn wenn das Kino eine »riesige Wiederholungsveranstaltung« ist, so muss die Betrachtung desselben es ebenfalls sein. Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass im 21. Jahrhundert der Stummfilm nur mehr von historischem Interesse ist. Doch wer zum Beispiel Filme von Murnau heute sieht und nicht von ihnen hingerissen ist, dem geht, denke ich, einiges ab. Mag sein, dass eine Gestalt wie Nosferatu den heutigen Zuschauer nicht mehr in Angst und Schrecken versetzt, dennoch wird er, so er sich vom Film einfangen lässt, im Schillerschen Sinne zumindest ästhetisch erschauern. Denn Murnaus NOSFERATU ist mehr als eine simple Vampirgeschichte. Das belegt Enno Patalas in seinem Beitrag Nirgends zuhause, in keinem Haus, in keinem Menschen, mit dem wir diesen Band eröffnen. Der Titel des Beitrags ist ein Zitat aus einem Brief Murnaus und skizziert laut Patalas eine Grundstimmung, wie sie nicht nur in NOSFERATU, sondern im gesamten uvre des Regisseurs vorherrscht. Obwohl Patalas in seiner Darlegung sich schwerpunktmäßig der Rekonstruktion der Kopie zuwendet auch in diesem Fall ist die Geschichte der Rekonstruktion wieder ein Abenteuer für sich , wird en passant deutlich, wie innig bei Murnau jedes Detail sich ins andere hakt ob es sich dabei um Schriftstücke handelt, die im Film eine Rolle spielen, um die Zwischentitel, die man ebenso wie die Einfärbung lange Zeit für nicht so wichtig hielt, oder um die Musik, ohne die auch der Stummfilm nicht ausgekommen ist. NOSFERATU schildert eine Dreiecksgeschichte, und es geht dabei, so Patalas, um die »Fremdheit des Eigenen«, darum, dass »der Reisende übermächtigen Kräften« begegnet, wobei »unklar bleibt: Wirken sie von außen oder kommen sie aus seinem Inneren.« 10 Unheimlich anders Die Gestalt des Nosferatu gehört zur Familie der Vampire, die wiederum zur Familie der Untoten gehören, zur Familie der Wiedergänger, deren andere Verwandte die Zombies sind. Inzwischen gibt es eine Unzahl von Draculas in allen möglichen Schattierungen. Mehr oder weniger rekurrieren sie alle auf Bram Stokers Roman Dracula, der wiederum ältere Traditionen des Volksglaubens aufgreift, die womöglich sogar eine historische Wurzel haben. Dem geht Heike Kühn in ihrem Beitrag Blut ein ganz besonderer Saft nach, worin sie darlegt, dass Vampire Ausdruck eines sexuellen Begehrens sind, was je nach gesellschaftlich opportunem Sittenkodex, der bekanntlich von Land zu Land und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ein anderer ist, zu verschiedenen Ausformungen des im Vampir verkörperten, sowohl gehassten wie ersehnten Bösen führt. Zwischen Tod Brownings DRACULA aus dem Jahre 1930 und Neil Jordans INTERVIEW WITH THE VAMPIRE: THE VAMPIRE CHRONICLES von 1994 gibt es bezeichnende Unterschiede, auf die Kühn in ihrem Beitrag eingeht. Ebenso verweist sie auf die religiösen Implikationen des Vampir-Mythos, wie sie etwa in Coppolas DRACULA (1992) besonders krass in Erscheinung treten. Generell aber gilt: »Das Uralte [...] will nicht sterben und bedroht die (erotischen) Besitzverhältnisse der Moderne: Das bürgerlich-christliche Imperium schlägt zurück [...] mit mehr oder weniger Erfolg.« Das Uralte als das quasi natürlich Gegebene, das nicht vom Menschen Geschaffene (wenngleich von ihm insgeheim Gewünschte) nimmt nicht nur als Vampir Gestalt an, es verkörpert sich auch in Tieren, wobei es wie Thomas Koebner in seinem Beitrag Häutungen. Von Katzenmenschen und Werwölfen im Film darlegt zwei Motivkreise zu unterscheiden gilt: den des Tierbräutigams, ein Märchenmotiv, die Mär vom edlen Menschen in hässlicher Tiergestalt, der auf seine Erlösung hofft, deren er sich, meist durch den Kuss einer Jungfrau, denn auch erfreuen darf. Jean Cocteau hat dem in LA BELLE ET LA BÊTE (Es war einmal; 1947) mit poetischer Eindringlichkeit Ausdruck verliehen. Das andere Motiv betrifft Menschen, die zu Tieren werden, sei es durch unerlaubtes (sexuelles) Begehren, sei es durch Biss und Anste- Unheimlich anders ckung, und gliedert sich, so Koebner, in Frauen, die sich in Katzen verwandeln (Jacques Tourneurs CAT PEOPLE / Katzenmenschen; 1942), weil sie begehrten, und Männer, die zu reißenden Wölfen werden, weil sie aus unerfindlichen Gründen gebissen wurden. So artikuliert sich auch in diesem Genre eine Geschlechterdifferenz. WerwolfFilme gibt es eine ganze Reihe, wobei George Waggners THE WOLF MAN (Der Wolfsmensch; Drehbuch: Curt Siodmak) von 1941 und Mike Nichols WOLF aus dem Jahre 1994 hervorzuheben sind. Es versteht sich von selbst, dass die zweite Motivkette, in der das Böse zum Ausbruch kommt, die faszinierendere und unheimlichere ist. »Während die Erzählmuster von Frankenstein und Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, so Koebner, »auf die Prometheus-Figur verweisen, also die Emanzipation vom göttlichen Regiment hervorkehren, die Gefahren des Fortschritts umkreisen die TiermenschenErzählmuster den allgegenwärtigen Atavismus, den Rückfall ins Vorzivilisatorische und verraten so einen [...] Zweifel an allem, was der Fortschritt der Menschheit erreicht zu haben behauptet.« Das Prometheische triumphiert in der Erschaffung des künstlichen Menschen. Gleichzeitig schwingt in diesem Triumph ein Erzittern mit, denn bekanntlich hatte Prometheus Griff nach dem göttlichen Feuer böse Folgen. Und ob man wie Prometheus letztendlich begnadigt werden wird wer weiß das schon. Motivgeschichtlich ist die Erschaffung eines künstlichen Menschen ebenfalls ein uralter Mythos. Bekannt ist die Geschichte von Pygmalion, und seitdem hat es ungezählte weitere (wohl nicht nur literarische) Versuche gegeben, Puppen zu beleben, ihnen Odem einzuhauchen Märchen wie das von Pinocchio zeugen davon, der Mythos von der Mandragorawurzel, die, unter einem Galgen ausgegraben, eine hübsche, aber gefährliche Alraune erbringt, die Fabel vom mittels Zauberformel belebten Golem, die Geschichte von Dr. Frankenstein, der aus Leichenteilen ein missgestaltetes Ebenbild seiner selbst zusammenbastelt. Lauter Unternehmen, die von menschlicher Hybris zeugen und an die sich sogleich das Fürchten ankettet wie das Böse an die eigentlich doch in friedlicher Absicht gezeugten Monster. Einführung Was ist aus mir geworden? Was haben diese Hände aus mir gemacht, die mir angenäht wurden, die Hände eines Verbrechers? Hat das Verbrechen über diese fremden Hände nun auch Besitz von mir ergriffen? So fragt sich (sinngemäß) Paul Orlac in Robert Wienes Film ORLACS HÄNDE. Ursula von Keitz analysiert in ihrem Beitrag Prothese und Transplantat vorrangig diesen Film, setzt ihn in Beziehung zu der Zeit, in der er entstand (1924), als die Folgen des Ersten Weltkriegs noch überall spürbar und im Straßenbild auch sichtbar waren. Damals entstanden filmische Dokumentationen, Lehrfilme, in denen vorgeführt wurde, wie den Bein- oder Armamputierten Prothesen angepasst werden können, wie sie funktionieren und wie mit Hilfe solcher künstlichen Gliedmaßen die Betroffenen wieder zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft geworden sind. Zur gleichen Zeit verwiesen bildende Künstler wie Otto Dix in ihren Gemälden auf das Groteske und Zynische solcher Prothesen. In Robert Wienes Film rücken die psychischen Folgen in den Vordergrund. Sie sind zwar in diesem Fall nicht Folge des Weltkriegs, sondern eines Unfalls, dennoch »schreibt sich im Spielfilm komplementär die Fragmentation [des Körpers] als Ereignis ein, welches das (männliche) Selbstbewusstsein in seinem Kern trifft.« Wenn Orlac die Hände eines Anderen transplantiert werden, so ist dies keineswegs als ein hybrider Akt zu verstehen, vergleichbar dem Experiment Dr. Frankensteins, der Leben erschaffen will. Hier wird lediglich (auf legitime Weise) das Leben neu gegeben und trotzdem reagiert Orlac nach dem alten Muster ablehnend, ängstlich und seiner Identität nicht mehr sicher, als sei die Transplantation eben doch ein illegitimer Akt gewesen: Fremdes wurde dem Eigenen hinzugefügt; die Psyche, nicht der Körper, reagiert hier mit einem Impuls, der auf Abstoßung aus ist. Conrad Veidt gab in ORLACS HÄNDE der Titelfigur ihr nervöses Gepräge. Und nicht nur dort; auch in vielen anderen Filmen, wie etwa im ebenfalls von Robert Wiene gedrehten CABINET DES DR. CALIGARI (1919/1920), wo er in der Rolle des Somnambulen Cesare zu sehen ist, lieh er dem Unheimlichen seine ausdrucksstarke Gestalt, war er, wie Klaus Kreimeier seinen Beitrag beti11 Willi Karow telt: Notorisch anders. Kreimeier, der sich über die Analyse eines Textes von Béla Balázs dem Schauspieler nähert, später dann zusätzlich Aussagen von Veidt selbst einbezieht, sieht in dem Darsteller einen Modernen der Schauspielkunst, der sich zwar auch stummfilmgemäß pantomimisch bewege, »aber mit einer gewissen Lakonie für ihn zählen Sekunden, während seine Regisseure und seine Schauspielerkollegen und -kolleginnen noch in Minuten rechnen.« Veidt zeigt nach Kreimeier »Kamerapräsenz«. Seine »Körperaktivität vor der Filmkamera ist [...] offen gegenüber der Instanz der Kamera, gegenüber ihrer technischen Aktivität und von ihr gestifteten spezifischen Realität.« Frankenstein hat, schreibt Rolf Giesen in seinem Beitrag KZ Frankenstein, »beinahe einem ganzen Genre seinen Namen gegeben [...], war überall da präsent, wo eine Gesellschaft Regeln der Ethik überschritt.« Frankenstein, ein Topos inzwischen, steht für die Anmaßung des menschlichen Schöpfergeistes, überall dort, wo, in Selbstüberschätzung, versucht wird, neues Leben zu züchten. Zahlreiche Dr. Frankensteins, so Giesen, sind nicht nur im Horror-Genre zu finden, auch in den realen Gesellschaften, zumal in jener, in der die Regeln der Ethik systematisch überschritten wurden: Die Nazi-Gesellschaft hatte in den Himmlers, Hipplers, Hitlers alle nur möglichen Dr. Frankensteins. Im Film gelingt es Dr. Frankenstein, ein lebendes Wesen zu erschaffen; es ist leider allerdings ein Monster. An das Monster, nicht an den schrecklichen Wissenschaftler, der es erschuf, an das Opfer, nicht an den Täter, heften sich aber in völliger Verdrehung von Ursache und Wirkung das Grauen und das Entsetzen. Der Täter wird nicht zur Rechenschaft gezogen, wohl aber das Opfer zu Tode gehetzt. Und obwohl ihm, dem Opfer, versehentlich ein Verbrecherhirn eingepflanzt wurde, war es keineswegs von Anfang an und von Grund auf böse. Zumindest in der Verfilmung von James Whale aus dem Jahre 1931 nicht, die bis heute die klassische ist. Wie Giesen berichtet, fehlte aber in diesem Film jahrzehntelang eine zentrale Sequenz: wie Boris Karloff als Monster das kleine Mädchen, mit dem er spielte, in den See wirft, das später 12 Unheimlich anders tot aus dem Wasser gezogen wird. Zu sehen ist in dieser Szene, dass das Monster nicht aus Bosheit und Mordlust handelt, sondern aus Unverstand und Spielfreude. Man war offenbar der Meinung, die Kreatur habe bereits genügend Zuschauersympathie auf sich gezogen. Das Herausschneiden der Sequenz jedenfalls unterstellte dem Monster, dass sein »angeborenes« Verbrecherisches nun doch zum Ausbruch gekommen sein muss, weshalb der Zuschauer die maßlose (versteckt rassistische) Wut der Dorfbewohner auf die Bestie besser nachvollziehen kann. Möglicherweise hat Víctor Erice die beschriebene Szene nicht gekannt. Jedenfalls wird ihr Fehlen, die Lücke zwischen der Geste des Mädchens, wie es dem Monster Blumen überreicht, und dem ertrunkenen Mädchen auf den Armen des Vaters, zu einer zentralen Metapher in seinem 1973 gedrehten Film EL ESPIRITU DE LA COLMENA (Der Geist des Bienenstocks). »Auf den Wassern des Sees spiegeln sich das Gesicht des Kindes und danach wie in einer fieberhaften Vorstellung das Gesicht des Monsters«, heißt es bei Vicente J. Benet in seinem Beitrag Das Unheimliche im Alltäglichen: Metaphern der Erinnerung in EL ESPIRITU DE LA COLMENA, und er skizziert mit diesen Worten nicht eine Szene aus FRANKENSTEIN, sondern aus Erices Film, worin das Mädchen Ana, das zuvor den Film FRANKENSTEIN gesehen hatte, sich das Monster nächtens herbeifantasiert, genau jene Szene am Wasser, und wie im FRANKENSTEINFilm ist auch in EL ESPIRITU DE LA COLMENA an dieser Stelle eine Auslassung, und es geht weiter mit der Suche nach der Verschwundenen. Ana wird nicht sterben, aber sie hat, so Benet, die Erfahrung des Todes gemacht. Denn auf eine vertrackte, von Benet aufgeschlüsselte Weise überlagern sich im Bewusstsein Anas die Gestalt des Monsters und die Gestalt eines Flüchtlings, der erschossen wird, und überdies auch noch die Gestalt des Vaters. Der Film erzählt eine Familiengeschichte, nicht irgendeine, sondern die einer bürgerlichen Familie, die sich während der Franco-Zeit aufs Land zurückgezogen hat, in eine erzwungene Ereignislosigkeit, die eine weitgehende Kontaktarmut zwischen den Familienmitgliedern bewirkt, und diese Geschichte ist durchaus auk- Unheimlich anders torial erzählt, wenngleich als Erinnerung der nunmehr erwachsenen Ana, bleibt aber gleichzeitig auf die kleine Ana fokussiert, aus deren Perspektive die Erlebnisse gestaltet sind. Auf ganz ähnliche Weise, als ein Zugleich von auktorialer und subjektiver Perspektive, als raffinierte Balance zweier sich scheinbar ausschließender Darstellungsformen, erzählt Abel Ferrara seine Geschichte. Ebenfalls eine Familiengeschichte. Ebenfalls die Geschichte eines Mädchens. Ebenfalls eine Horror-Fantasie. Nur dass diesmal die Monster glitschiger Natur sind, ekelhafte, schleimige, gestaltlose Wesen, die sich an die Menschen heranmachen, wenn diese schlafen, um sie mit langen Fangarmen zu umschlingen und sie auszusaugen, bis jene, die Menschen, nicht mehr sind und sie hingegen, die Monster, aussehen wie Menschen, ohne es zu sein: seelenlose Doppelgänger, roboterhafte Duplikate. Die Rede ist von BODY SNATCHERS aus dem Jahre 1992, der dritten Verfilmung des Stoffes nach Don Siegel (INVASION OF THE BODY SNATCHERS / Die Dämonischen; 1956) und Philip Kaufman (INVASION OF THE BODY SNATCHERS / Die Körperfresser kommen; 1978). Eine der möglichen Lesarten der durchaus vieldeutigen Inszenierung Abel Ferraras, so Nicole Brenez in ihrem Beitrag Die abscheuliche Vertrautheit der Familie, ist die, das Mädchen Marti ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Marti, halbwüchsig und pubertierend und demzufolge noch voller Spannungen, wünscht den Tod der Stiefmutter und sich selbst an die Seite des Vaters, ein Inzest-Wunsch, der nicht erfüllt werden darf, da er moralisch verwerflich ist. Demnach wären die schleimigen Ungestalten Emanationen des Mädchens. Brenez legt allerdings noch andere Lesarten nahe (die sich nicht ausschließen, sondern überlagern). So die vom totalitären Militärstaat, der mit der »Invasion der Körperfresser« (dies der alternative deutsche Titel des Don-Siegel-Films) installiert werden soll. Oder die von Hiroshima, denn die Menschen zerfallen, wenn sie ausgesaugt sind, sofort zu Staub. Der Film spielt in einer unbestimmten Gegenwart oder in naher unbestimmter Zukunft. Zurück in die Vergangenheit führt die Erzählung Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wil- Einführung de, ein typisches Erzeugnis der Dekadenz, das sich aus der Schauerromantik speist, sich aber mit einem Hauch von Snobismus umgibt. Großstadt eben. Dabei werden einige ältere Motive reaktiviert. Das Doppelgänger-Motiv oder das des Teufelspaktes, des verkauften Schattens. Denn irgendetwas muss ja, wenn auch unausgesprochen, geschehen sein, damit es zu dieser Umkehrung kommt: dass das Bild altert anstelle des Modells, das sich ausleben darf ohne Spuren des Verfalls. Der Maler als Dritter im Bunde, der sein Eigenstes ins Bild hineinmalt, auch er eine geheimnisvolle Gestalt. Ein Mephisto? Ebenfalls ein Doppelgänger des Dorian Gray oder vielmehr Dorian Gray der Doppelgänger des Malers? Für ihren Beitrag Der aus dem Rahmen fällt. »Das Bildnis des Dorian Gray« als unheimlicher Schatten des Kinos hat Katharina Sykora aus den vielen Verfilmungen des Stoffes, die seit 1910 entstanden, drei ausgewählt: Albert Lewins THE PICTURE OF DORIAN GRAY aus dem Jahre 1945, laut Sykora diejenige Fassung, die sich am engsten an die Vorlage anlehnt, Massimo Dallamanos IL RITRATTO DI DORIAN GRAY von 1968, eine Softporno-Version mit Helmut Berger in seiner ersten Filmrolle, und Ulrike Ottingers 1981 entstandener Film DORIAN GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARDPRESSE, der sich dem Original gegenüber als die freieste Interpretation erweist. Aus dem Maler ist hier eine Frau Dr. Mabuse, Chefin eines Medienkonzerns, geworden, die den »leeren« selbstverliebten Dandy Dorian Gray, gespielt von Veruschka von Lehndorff, also einer Frau, medial aufbauen möchte, um ihn später wieder fallen zu lassen. Die Großstadt als Schauplatz. Spätestens mit dem Film noir wird sie zum Ort, der das Fürchten lehren kann. Schon die Straßenfilme der Stummfilmzeit deuteten es an, das Verführerische, das sehr schnell womöglich umkippt ins Bedrohliche, das Glamouröse, hinter dessen Fassade das Unheimliche lauert. Die Großstadt ist vielleicht kein Monster, sie tritt nicht auf einen zu, tritt einem nicht entgegen, sie ist vielmehr schon da: Ob er es merkt oder nicht, der Großstädter befindet sich immer schon im Rachen eines Ungeheuers. PHANTOM LADY (Zeuge gesucht), Robert Siodmaks Film von 1944, steht im Mittelpunkt der Zwischen Schat13 Willi Karow ten und Transparenz: Film noir und die unheimlichen Räume der Moderne betitelten Ausführungen von Edward Dimendberg. Im Film geht es um einen Mann, der von seinem besten Freund beschuldigt wird, seine Frau ermordet zu haben. Seine Unschuld kann er nur beweisen, indem er die Phantom Lady findet, jene Frau, mit der er zur fraglichen Zeit im Theater war und die er vorher und nachher nie wieder gesehen hat. Die Anonymität der urbanen Räume, die Flüchtigkeit der Begegnungen, das Sich-Beschränken auf Blickkontakte, Straßenschluchten und Plätze, durch die man entkommt, die sich aber auch dazu eignen, überwacht zu werden, und in den Innenräumen ein Übermaß an Spiegeln, »in denen individuelle Identität abwechselnd fokussiert und zerstreut, geronnen und zerschmettert wird« dies und anderes sind nach Dimendberg die in PHANTOM LADY aufscheinenden Belege für die Unwirtlichkeit der Städte. »Ich will Wände um mich herum, die man mit den Händen fühlen kann. Dick und fest, die nicht nachgeben«, zitiert Dimendberg aus Woolrichs Roman, der dem Film zugrunde liegt. Denn die modernen Städte sind Städte aus Glas. Für Dimendberg gibt es deshalb zwei Formen des räumlichen Unheimlichen: die Einsamkeit, das Schweigen und die Dunkelheit, sowie auf der anderen Seite die Transparenz und ein Zuviel an Licht. Im Beitrag von Elisabeth Bronfen, Wenn es dunkel wird, ist die Stadt ebenfalls ein Ort des Unheimlichen, genauer gesagt, die nächtliche Stadt, denn die Nacht ist es, die macht, dass der Raum sein Maß verliert, dass man »eine fremdartige Ortlosigkeit [erlebt], die sowohl verführerisch als auch erschreckend wirken kann.« Bronfen macht die Nacht als Entdeckungsort des Anderen an drei Filmen von Martin Scorsese fest. Alle drei, wie könnte es anders sein, spielen in New York, in einem New York, wie Bronfen betont, vor der Amtszeit von Bürgermeister Giuliani, der sich geschworen hatte, mit dem nächtlichen Abschaum aufzuräumen. Drei Filme, drei männliche Hauptfiguren, drei »Nachtreisende«, eigentlich Taggestalten, die sich in die Nacht nicht geradezu verirren, ihr aber auf keinen Fall angehören, die bei ihrer Reise durch die Nacht nicht nur dem Fremden, dem Anderen 14 Unheimlich anders da draußen im Dunkel, sondern auch dem Dunkel in sich selbst begegnen. Da ist Travis Bickle, der Taxifahrer aus TAXI DRIVER (1976), ein Saubermann, der diesen Abschaum von Nachtgestalten, diese Nutten, Zuhälter und Gauner wie Bürgermeister Giuliani am liebsten beseitigen möchte; da ist Paul Hackett, der Computer-Programmierer, in der eher burlesken, komödiantischen Variante AFTER HOURS (Die Zeit nach Mitternacht; 1985), der in die nächtliche Subkultur hineingerät wie in einen Albtraum; da ist Frank Pierce, der Sanitäter, in BRINGING OUT THE DEAD (1999), einer Art Remake von TAXI DRIVER, der überall nur noch Tote sieht, jene, denen er nicht hat helfen können. Die drei Filme, die deutliche Parallelen aufweisen, unterscheiden sich dennoch auf bezeichnende Weise. Auch für Bronfen ist der Film ein nächtliches Medium sui generis, und Filme der Nacht sind in diesem Medium besonders gut aufgehoben. Im Kino gut aufgehoben sind auch ScienceFiction-Filme. Filme, in denen die Ängste in die Zukunft projiziert sind, wobei in der Regel so getan wird, als sei die Zukunft bereits Realität. Viel Erfindungsgeist investiert man in solchen Filmen in die technische Ausgestaltung, während das Menschenbild der Gegenwart sich gewöhnlich unablässig perpetuiert. Das hat sich, so Hans J. Wulff in seinem Beitrag: Die entmachtete Sexualität. Politik, Klonieren und Replikation im neueren Kino, inzwischen grundlegend geändert. Zwar war bereits in Filmen wie FRANKENSTEIN die Entmachtung der Sexualität in Ansätzen vorweggenommen, weil nämlich ein Mann sich anmaßte, ohne die Frau neues Leben zu schaffen, doch erst heute, in Zeiten der Gentechnik und Biotechnologie, rückt ein solches Vorgehen in den Bereich des Wahrscheinlichen, des Machbaren. Die Klone sind uns schon recht nahe; die Replikanten, die Kunstmenschen also, dürften noch ein Weilchen auf sich warten lassen, aber man bastelt ja schon an intelligenten Robotern. So dringt die außerfilmische Realität in die SF-Filme und mutiert sie zu Horror-Filmen, in denen die an diese nahe Zukunft geknüpften Ängste und Visionen Gestalt gewinnen. Wulff führt eine Reihe von Filmen als Beleg dafür an, kommt indes immer wieder auf BLADE Unheimlich anders RUNNER (1982; R: Ridley Scott) zurück, der für ihn ein Prototyp dieses Genres ist, intelligenter als die anderen, meist trivialen Produktionen, und vom Konfliktpotenzial her höchst aufschlussreich. In ihm wird die Frage nach der Identität, der Stabilität der Person und der Rolle der Sexualität neu gestellt. Das Kino hat sich im Lauf der Jahrzehnte entlang der Entwicklung seiner technischen Möglichkeiten ständig verändert. Die Kernthemen blieben dieselben, nur die Darbietungsformen wandelten sich. Sabine Nessel unterscheidet in ihrem Beitrag, Wiederkehr der Amerikanischen Berge, in Anlehnung an die Theorien von Laura Mulvey und Tom Gunning drei hauptsächliche Phasen: Dem frühen Kino der Attraktionen folgte das klassische Hollywood-Erzählkino, das trotzdem, wie Nessel zeigt, nie ganz auf Attraktionen verzichtete, und dieses wieder wurde abgelöst vom derzeitigen Kino der Visual Effects: eine Rückbesinnung aufs Kino der Attraktionen, ohne dass auf die Narration des Erzählkinos dabei verzichtet wird. Allerdings verschieben sich die Akzente, der Rhythmus ändert sich, an die Stelle der Stars von einst sind neue getreten im Katastrophenfilm von heute Attraktionen wie »sensationelle Flutwellen (DEEP IMPACT; 1998; R: Mimi Leder), überdimensionale Raumschiffe, die ganze Stadtteile überdachen (INDEPENDENCE DAY; 1996; R: Roland Emmerich), tanzende Windhosen [...] (TWISTER; 1996; R: Jan de Bont)«. »In THE PERFECT STORM (Der Sturm; 2000; R: Wolfgang Petersen) überdauert die Präsentation des Sturms drei Viertel des Films.« Nach Nessel hat das klassische Hollywoodkino die Zurschaustellung des (zumeist weiblichen) Stars ebenfalls gekannt: Beim Auftritt von Marlene Dietrich, Greta Garbo oder Ava Gardner stockte der Erzählfluss, die Filmzeit blieb stehen, die Attraktion griff Platz. Man möchte hinzufügen, dass solche Auftritte oft in der Rolle als Vamp geschahen. In übertragenem Sinne sind Vamps Vampire, also Monster. Die Monster des digitalen Kinos der Visual Effects sind computergenerierte (geschlechtslose) Naturphänomene, die sich mit Macht und über den Sound vom Körper des Zuschauers sogar realiter Besitz ergreifend in den Vordergrund drängen. Einführung Kann man sich dem noch entziehen? »Gerade der neue digitale Ton ist es, der den Erlebnisort Kino in den letzten Jahren wesentlich verändert hat«, stellt Winfried Pauleit in seinem Beitrag, Wie Cyborgs vom Kino lernen, fest. Darin geht er zunächst einleitend auf die Vorzüge des digitalen Bildes ein, die sich »mit dem Traum von der Gentechnologie und ihren Reproduktionsoptionen des Klonens [treffen]. In beiden Fällen geht es um eine qualitätsverlustfreie Weitergabe«. Und wendet sich dann der Analyse des Films TEKNOLUST (2002) von Lynn Hershman zu, der von einer Biogenetikerin (Tilda Swinton) erzählt, die ihre eigene DNS vervielfältigt und daraus drei Klone (ebenfalls von Tilda Swinton gespielt) züchtet, die nur in einem sich von ihrem Urbild unterscheiden: Sie brauchen zum Überleben Y-Chromosomen. Die besorgt Ruby, eine von den Dreien, die auf ihre Aufgabe als Sperma-Vampirin dadurch vorbereitet wird, dass ihr Ausschnitte aus einem Preminger-Film auf den Leib projiziert werden. Für Pauleit werden in Hershmans Film »das Digitale und das Leibliche [...] auf eine Weise verschränkt, die gegen unsere Konvention und Erfahrung verstößt.« Und an anderer Stelle: »So wie die Cyborgs in TEKNOLUST als unentscheidbare Mischwesen in Erscheinung treten, so gestaltet sich auch der Film selbst als eine Hybridform, als eine Form von theorie fiction«, insofern »Theoriefragmente« eingestreut werden, »Cyborgdefinitionen, die innerfilmisch wie außerfilmisch die Erzählung aufbrechen.« In Hershmans Film geraten die (weiblichen) Klone nicht außer Kontrolle, sie werden nicht zur Bedrohung ihrer Schöpferin. So lässt sich sagen, dass die Regisseurin die Codes des SF-Horrorfilms unterläuft, somit neutralisiert, indem sie sie ironisch auf die Spitze treibt und burlesk verschachtelt: Deshalb funktioniert der Film nur noch als Film (und nur als solcher) und gibt nicht vor, Abbild einer (möglichen) Realität zu sein. Eine andere Möglichkeit, das Unheimliche zu bannen, hat Ursula von Keitz (im Hinblick auf ORLACS HÄNDE) angedeutet, dass nämlich die Angst vor einem »identitätsgefährdenden Anderen« nur aufgehoben werden kann durch die Erkenntnis, »dass ein wenig Fremdes im Eigenen keine Monstro15 Willi Karow sität, sondern eine aparte Bereicherung des Lebens darstellt.« Das Licht der Aufklärung, das seit Jahrhunderten nun schon fleißig leuchtet, hat es allerdings noch nicht vermocht, das Dunkel zu erhellen. Aus dem Dunkel werden daher mit Sicherheit auch in Zukunft neue (alte) Monster ins Zwielicht treten. Es bleibt also spannend. Willi Karow 16 Unheimlich anders