SWEETYS LEER- UND HERRENJAHRE ein Fragment von Lana Hoff

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SWEETYS LEER- UND HERRENJAHRE ein Fragment von Lana Hoff
SWEETYS LEER- UND HERRENJAHRE
ein Fragment
von Lana Hoff
Liebhaberdruck für die “Zitronenpresse”, Stuttgart
PDF-Version für das Internet-Text-Projekt „www.imloop.de“
Copyright 2000, 2001 by the author,
whoever she might be
Diese Ausgabe ist unverkäuflich und darf auch von späteren Erwerbern nicht kommerziell
genutzt werden.
Wer dazu finanziell in der Lage ist, wird stattdessen um eine steuerlich abzugsfähige Spende (in
Höhe des für solche Bücher üblichen Kaufpreises) gebeten an das Literaturhaus Stuttgart e.V.,
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wegen Lana H.)
Lemon trees are fair and pretty,
And the lemon flower is sweet,
But the fruit of sweet, sweet lemon
Is impossible to eat.
Inhalt:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Das schönste Ferienerlebnis................................................................................................ 3
Leerstellen und Lückenbüßer............................................................................................ 12
Ping-Pong im Salon ........................................................................................................... 22
Quellen.............................................................................................................................. 33
haltlos, harmlos oder herzlos? ........................................................................................... 49
gestandene Herren............................................................................................................. 63
alles Aus............................................................................................................................ 80
Bibliographische Notiz...................................................................................................... 81
“Lana Hoff” ist selbstverständlich nur ein Deckname und soll es aus überwiegend persönlichen
Gründen auch bleiben. Wer trotzdem durch Zufall erfährt oder errät, wer sich dahinter verbirgt,
wird aus den gleichen Gründen herzlich gebeten, sein Wissen oder seine Ahnung für sich zu
behalten.
Auch das Titelbild zeigt deshalb natürlich nicht Lana H., sondern Lana S., ein junges
Fotomodell aus Tel Aviv.
-2-
1. Das schönste Ferienerlebnis
Es war das Jahr, in dem Melanie und ich in Göttingen eigentlich unseren Abschluß hätten
machen sollen: Sie ihr Diplom und ich meinen Magister. Ich hatte mir den eigentlich
unvermeidlichen Doktor längst abgeschminkt und eingesehen, daß es einfacher wäre, einen
solchen -irgendwann in ferner Zukunft- zu heiraten. Sie sah das natürlich ganz anders und
pflegte ihre jeweiligen Liebhaber mit der Eröffnung zu schocken, daß sie vor der Babyphase
eine Professur in mathematischer Physik anstrebte: In Berkeley, am M.I.T., an der
Eidgenössischen TH Zürich oder notfalls auch in Göttingen. Dazu muß man wissen, wie diese
ihre Männer meist aussahen: Etwas schwerfällige, für meinen Geschmack auch etwas zu
schwere Typen, mit Muskeln an den unmöglichsten Stellen und vielen ungenutzten
Steckplätzen auf dem Motherboard. Ich nannte sie immer ihre Bademeister.
Sie dagegen: fast zerbrechlich, ohne nennenswerte Rundungen, nicht besonders hübsch im
Gesicht, dafür mit der Ausstrahlung eines unartigen Schulmädchens. Mal mit schenkellangen
Lackstiefeln, knappem knallrotem Samthöschen und einer schwarzen Perle im nackten Nabel,
wie ein Junkie vom Baby-Strich, mal mit bravem blaßblauem Paspelkleidchen, hochgeschlossen
und hinten durchgeknöpft, aber mit Strubbelhaaren wie frisch aus dem Lotterbett geworfen und
(künstlichen) Ringen unter den Augen. Eben ganz so, wie man sich eine künftige Frau Professor
vorstellt! Eigentlich war sie für so etwas zu alt, und es stand ihr auch nicht besonders, aber es
brachte gut ´rüber, was sie mit ihrer Erscheinung ausdrücken wollte: Einstein war schließlich
auch ziemlich flippig, wischte sie entsprechende Einwände vom Tisch.
Nun war uns aber beiden etwas dazwischengekommen. Sie hatte sich von ihrem letzten
"Bademeister" trennen müssen, einem jungverheirateten Assistenten am Theologischen Institut.
Als die Sache aufflog, hatte seine empörte Frau den Sünder vor die Schicksalsfrage gestellt "ich und das Kind in meinem Bauch, oder diese Person" -, und seine Entscheidung war nicht
überraschend.
Bei mir ging es um Melanies Bruder Andy. Ich hatte mein Verhältnis zu ihm nach einem Jahr,
wo es wirklich ein solches war, wieder zur Freundschaft zurückgestuft. Ich mochte und mag
Andy immer noch sehr gern, er ist einfach der geistig beweglichste Mann, den ich kenne, eben
ganz Melanies Bruder. Nur als Schmusetier und Wärmflasche ist er leider eine Katastrophe.
Zwei Jahre jünger ist er als seine Schwester und ich, aber ich kenne ihn schon seit unserer
Schulzeit in O.: Er war damals mein Nachfolger als Redakteur der Schülerzeitung. Melanie ging
damals auf ein anderes Gymnasium, wir haben uns erst über Andy kennengelernt.
Andy studierte jetzt Informatik und war eigentlich mit seinem Studium schon weiter als ich. Er
kann einem furchtbar auf die Nerven gehen, wenn er mitten aus einem angeregten Abend
heraus plötzlich aufbrechen muß, um mit seinem Kumpel Achim irgendein Software-Problem
zu lösen. Das geht dann bis zum frühen Morgen. Mit Achim hat er bestimmt schon mehr
Nächte zugebracht als mit mir. Manchmal habe ich schon gedacht, die Beiden haben etwas
miteinander, aber es ist wohl nur der Computer. Mich liebt Andy auf seine Art: Es reizt mich,
ihm den bösen Witzdialog in den Mund zu legen, den ich mal irgendwo aufgeschnappt habe Andy: "Sag mal, Sweety, wie lang ist es eigentlich her, daß wir miteinander gebumst haben?" Ich: "Och, ich denke, so ein bis zwei Monate?" - Er: "Sagenhaft, ich könnte schon wieder!"
Aber herrlich waren und sind immer wieder unsere Streitgespräche. Am Ende sind wir dann
zwar meistens über Kreuz miteinander und finden unsere Argumentation wechselseitig
unmöglich, aber ich habe mich schon oft dabei ertappt, daß ich spätestens am nächsten Tag die
gegnerische Meinung vertrete statt meiner eigenen. Ein Jahr zuvor war das auch so gewesen:
Wir saßen in meiner Keller-"Wohnung" draußen in Geismar zusammen -Melanie, ihr
Pfaffenknecht, Andy und ich- und hatten uns nach heftigem Wortwechsel nichts mehr zu sagen.
Der Theologe zog schließlich seinen standesgemäß schwarzen Pulli über der schwellenden
Brustmuskulatur straff und brachte seinen ersten und einzigen Diskussionsbeitrag ein: "Komm,
Mela-Häschen, wir gehen!" Ich verschwand mit ein paar leergegessenen Tellern im
-3-
Küchenverschlag und mußte erst einmal einen Bommerlunder kippen, oder zwei. Als ich
zurückkam, saß Andy immer noch zusammengesunken auf seinem Stuhl und blickte ins Leere.
Ich stellte mich hinter ihn, legte ihm die Hände auf die Schultern und seufzte verführerisch:
"Andy, du bist ein Arschloch, aber ich möchte jetzt sofort mit dir schlafen!"
Wir hatten uns alle die Jahre nicht ein einziges Mal berührt, geschweige denn geküßt oder gar an
"so etwas" gedacht. Aber er tat kaum überrascht, bückte sich wortlos, band sich im Sitzen die
Schuhe auf, richtete sie penibel aus, stieg aus der Hose und legte sie sorgfältig über den Stuhl.
Dann wandte er sich mir zu, ohne mich anzusehen -im Hemd und in karierten Socken!- und
faßte mir bedächtig an die Hüften. So wie er ein frisch erworbenes Ikea-Möbel prüfend angefaßt
hätte. Ich nestelte sein Hemd auf, legte ihm die Arme um den Hals, schloß die Augen und
wartete auf seinen Kuß. Er legte auch wirklich seine Lippen auf meine, aber so sehr ich auch
eine männliche Reaktion zu wecken versuchte, er wirkte wie abgeschaltet. Ich wand mich los,
zog mich hastig aus, fröstelte, schlug das Bett auf, kroch hinein und bereute schon alles. Er
setzte sich jetzt zu mir auf die Kante (immrhin ohne Socken!), streifte sich umständlich seinen
Däumling über, wälzte sich ohne Leidenschaft über mich, und wir brachten es hinter uns. Ich
machte sofort das Licht aus, weil er nicht merken sollte, daß mir zum Heulen zumute war.
Wenigstens fragte er nicht auch noch "wie war ich?"! Da war eben von vornherein der Wurm
drin, uns es wurde auch im Laufe der Zeit nicht viel besser.
So sehr Melanie und ich uns auch gegenseitig versicherten, wie froh wir waren, unsere
jeweiligen Geschichten hinter uns gebracht zu haben: An Abschlußprüfungen war in unserem
Zustand nicht zu denken. Wir beschlossen, erst einmal Urlaub zu machen und in Ruhe Gras
darüber wachsen zu lassen. Wir packten also unsere Sommer- und Strandklamotten in Melanies
Fiesta und starteten in Richtung Küste. Bei Aurich nahmen wir ein Anhalterpärchen auf. Sie
waren ausstaffiert wie kanadische Holzfäller, mit riesigen Rucksäcken und ebenso voluminösen
Jacken. Als sie sich herausgeschält hatten, entpuppten sie sich als halbe Kinder: Jennifer und
Benjamin, wie sie sich vorstellten, vielleicht sechzehn Jahre alt. Irgendwie wirkten sie wie
Romeo und Julia auf der Flucht vor den Eltern. Jenny und Benny.
Beide waren lang und schlaksig, Jenny wohl einen Kopf größer als ich und mindestens so groß
wie Andy (Scheiße, immer noch Andy!), Benny noch einen Kopf größer. Auf den Rücksitzen
waren sie nur noch mit Mühe unterzubringen, von ihrem Gepäck ganz zu schweigen, aber
irgendwie ging es doch. Ich lächelte ihnen im Rückspiegel zu und ertappte mich bei dem
Gedanken, wie ich es wohl anstellen müßte, Benny zu küssen: Einen Hocker hätte ich schon
gebraucht, sonst hätte ich ihm wohl gerade mein Näschen ins Brusttoupet drücken können,
sofern vorhanden. Oder ihn einfach vor dem Küssen flachlegen, fiel mir grinsend ein. Irgendwie
zum Küssen fand ich ihn nämlich schon! Aber wahrscheinlich paßte Jenny viel besser zu ihm.
Sie hatte ein sehr feines und nachdenkliches Gesicht, das auch mit ihrer absurden, rot und grün
schillernden Karottenfrisur nicht totzukriegen war. Ihre Eltern durften tatsächlich nichts davon
wissen, daß sie zu zweit zum Zelten unterwegs waren. Als Alibi sollte Jennys große Schwester
in Emden herhalten, bei der sie sich von Zeit zu Zeit melden und die ihr im Übrigen in
schwesterlicher Solidarität den Rücken freihalten sollte, während die kleine zu Benny ins Zelt
kroch.
Ich habe Jenny später einmal aquarelliert. Sie sitzt da träumend auf meiner Bettkante in
Geismar, nackt, mit vorgezogenen Schultern und nach hinten abgestützten Armen; ihr Rumpf
ist -nicht nur auf meinem Bild- ein wenig zu kurz im Verhältnis zu ihren endlos langen
Gazellenbeinen (wahrscheinlich wächst sie noch), dafür wirken die Brüste eine Nummer zu
groß und wie pralle Gummibälle auf ihre rührend mageren Rippen nur aufgeklebt. Ein Bein hat
sie angezogen, das andere entspannt auf den Boden gestellt, so daß sie ungeniert den Blick auf
ihr Kräuselhaar freigibt, das einem genauso rot-grün entgegenleuchtet wie ihr Karottenkopf.
Irgendwie war ich sauer auf sie, als ich das Bild gemalt habe. Aber sie fand es schön und hat es
gerahmt bei sich aufgehängt. Nicht abgebildet ist Andy, der in Wirklichkeit still hinter ihr unter
der Bettdecke lag und sie wohl gerade durchgevögelt hatte. Aber dazu später mehr.
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Wir setzten Jenny und Benny auf einem Campingplatz bei Norddeich ab und schafften gerade
noch die Überfahrt nach Juist. Das Ferienhaus, das Melanie und ich gemietet hatten, entpuppte
sich als bessere Gartenlaube. Für maximal fünf Personen war es, laut Prospekt, geeignet. Das
sah so aus: Ein "Wohnzimmer", drei mal drei Meter, mit Kochecke, Riesenbildröhre und
Ausziehcouch (zwei Personen), ein Verschlag am Windfang in Speisekammer-Größe, in dem
gerade ein schmales Metallbett Platz hatte, und ein Matratzenlager auf dem Dachboden, von
außen über eine Art Hühnerleiter zugänglich. Dort hätten allerdings allein locker fünf Personen
Platz gehabt, eine unverständliche Untertreibung des Vermieters! Und ein Bad mit Badewanne
gab es auch noch, auch dazu später mehr. Die ganze Hütte roch modrig, weil sie wohl bei
Sturmfluten regelmäßig überschwemmt wurde.
Melanie hatte sich für einen Segelkurs angemeldet, mir stand der Sinn eher nach einsamen
Strandspaziergängen. Nach drei Tagen zog Melanie zu ihrem Segellehrer ins Kurhotel, sicher
wollte sie mit ihm fleißig Seemannsknoten üben. Ich stichelte vergebens, daß es immer die
gleichen Frauen wären, die sich von Tennis-, Ski- und Segellehrern oder sonstigen Animateuren
animieren ließen: Blonde, blauäugige Friseusen! Oder eben meine Freundin Melanie, wenn ihr
danach war, und manchmal war ihr wohl eben einfach danach.
Mir wurde es nun doch ein wenig langweilig. So beschloß ich, noch einmal aufs Festland
überzusetzen. Zum Shopping, redete ich mir ein. Allerdings sind Norddeich und sein
Mutterstädtchen Norden eher traurige Käffer, und einzukaufen gibt es da nicht viel. In
Wirklichkeit wollte ich Benny besuchen und hoffte insgeheim, daß Jenny gerade bei ihrer
Schwester wäre. Das Liebesnest der Beiden war leicht zu finden, weil auf dem riesigen Platz
sonst fast nur Wohnwagen und Campingmobile standen. Sie hatten ihre zwei winzigen
Trekking-Zelte so eng und einander gegenüber aufgestellt, daß sie sich zum Einschlafen in die
Augen schauen konnten. Zum Kuscheln hätten sie dann allerdings wohl zusammen in eins der
Zelte krabbeln müssen, und mir war schleierhaft, wie das funktionieren sollte. Über den beiden
Zelteingängen hatten sie als eine Art Vorzelt eine einfache Plane gespannt, und unter der
hockte Benny und brutzelte auf einem Klapp-Kocher ein Süppchen. Er grinste fröhlich
überrascht, als er mich erkannte, und lud mich zum Essen ein. Er war tatsächlich allein, Jenny
war in Emden.
Ich hockte mich neben Benny und seine Spiritusflamme. Mir war ziemlich kalt. Ich zog den
linken Fuß unter den Po und ließ das andere Knie unter meinem Pullover verschwinden.
Es war der dickste und wärmste meiner Pullover, heiß geliebt, selbst gestrickt und schenkellang,
fast ein Minikleid. Aber ich hatte den Wind unterschätzt, der hier oben an der Küste ohne
Unterbrechung blies. Und darunter hatte ich eben nur das allerknappste meiner Spitzenhöschen.
Benny sah, wie ich bibberte, legte seine langen Arme um meine Schultern, meinen Pullover und
meine Knie, packte mich regelrecht ein und gab mir von seiner Wärme ab. Es war einfach nur
eine fürsorgliche und ganz unschuldige Geste, aber ich zuckte zusammen und ließ ihn dadurch
ebenfalls zurückzucken. Ich wollte irgendwie meine nervöse Reaktion überspielen und fragte
ihn spöttisch, ob er sich etwa nicht traute, einer Frau ans Knie zun fassen?
Damit war Benny jetzt natürlich an seiner männlichen Ehre gepackt und begann, meine Beine
zu massieren, rechts das Schienbein und die Wade, links -schon unter dem Pullover- den
Oberschenkel , erst außen, dann innen. Aus der Massage wurde allmählich eher ein Streicheln,
aber ich ließ mir nichts anmerken und genoß seine Berührung. Als es rechts an der Fußsohle
nicht mehr weiterging, ließ er mir die Hand knapp unterm Po leicht auf den Schenkel klatschen,
fuhr noch einmal an der Unterseite bis zur Kniekehle hoch und nahm für den Rückweg die
Innenseite. Irgendwie hatte es ihm nun der Beinabschluß meines Höschens angetan, er
zeichnete seine Kontur auf der Haut nach. Zum Glück hatte er keine Chance, mit seinen
neugierigen Fingern dazwischen zu kommen, es saß tatsächlich ziemlich eng. Aber ich hatte
wohl seine Findigkeit und Erfahrung beim Fummeln unterschätzt, denn er hatte mich nur clever
abgelenkt und mir plötzlich vom Bauch her die ganze rechte Hand so tief unter den Saum
geschoben, daß es an den Haaren ziepte.
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Ich gab ihm einen etwas altjüngferlichen Klaps auf die Hand und zog sie ihm wieder heraus. Er
fragte nur etwas kleinlaut, ob ich das denn nicht gern hätte? Seine Jenny ginge die Wände hoch,
wenn er sie an der Muschi streichelte! Ich auch, gab ich ihm zu verstehen, aber dann könnte ich
ihm für nichts mehr garantieren. Oder ob er mich etwa verführen wollte? Er lachte nur bitter
auf. Ob ich mich schon einmal von einem Siebzehnjährigen hätte verführen lassen? Doch, sagte
ich betont sachlich und wahrheitsgemäß, vor zehn Jahren, als ich fünfzehn war. Genau gesagt
an meinem fünfzehnten Geburtstag.
Jenny sei schon sechzehn, meinte Benny nachdenklich, aber sie hätten noch nie richtig
miteinander geschlafen. "Aber sonst läßt sie dich doch fast alles mit ihr machen", rief ich fast
zornig, "das ist doch pervers und und nur noch eine Quälerei, so weit wie ihr schon miteinander
seid!" - Er nahm sie in Schutz, versuchte zu erklären, daß sie vielleicht nur Angst hätte,
schwanger zu werden, jetzt in Emden wollte sie aber mit ihrer Schwester zur Frauenärztin und
sich die Pille verschreiben lassen, und dann würde vielleicht alles besser.
Seine Finger waren inzwischen wie in Gedanken (an Jenny?) unter meinem Pullover über die
Rippen hochgewandert, hatten die kleine schwarze Trillerpfeife entdeckt, die ich wie immer an
einem Kettchen um den Hals trug -zum Schutz vor allzu zudringlichen Männern-, hatten das
Gewicht meiner eher kleinen, aber immer noch knackigen Brüste geprüft, sich dann
darübergelegt und sie zärtlich gestreichelt, bis die Spitzen beinahe schmerzten. - "Und du",
fragte ich ihn jetzt ganz direkt, "hast du es schon einmal mit einem anderen Mädchen
versucht?" - Nein, lachte er genauso bitter wie vorher, er sei noch eine männliche Jungfrau! Was taten wir da eigentlich?
War es nicht eher Jennys Sache, ihn zu verführen und "zum Mann zu machen"? Ich zog ihm die
Hände auch von meinen Brüsten weg, und er faltete sie ganz brav auf meinem Bauch. Als ich
aber gewahr wurde, daß seine beiden Daumen schon wieder in meinem Slip steckten, hatte er
gewonnen.
"Also gut, auf deine Verantwortung", seufzte ich, hob den Po von der Ferse und richtete mich
auf den Knien auf. Er hatte sofort begriffen, schob mir das Höschen nach unten, rückte von
hinten noch näher auf und drückte mir von außen seine Knie an die Waden. Dann setzte er sich
ganz vorsichtig auf meine Fußsohlen und zog mich zurück auf seinen Schoß: Seine
Männlichkeit lag jetzt teils auf meinen Fersen, teils fühlte ich sie direkt unter mir, leider in seine
Badehose eingezwängt, an meinem nunmehr nackten Po. Und endlich begann er mich so zu
streicheln, wie es seine Jenny so gern hatte. Und konnte sich da fast so hineinsteigern wie ich
unter seinen Berührungen.
Wenn er doch jetzt bloß auch noch auf die Idee gekommen wäre, seinem besten Stück ein
bißchen Freiheit zu gönnen! Dann hätten wir gleich diese sagenhafte Nummer ausprobieren
können, mit der mein lieber Andy angeblich schon reihenweise Mädchen beglückt hatte (in
Besenkammern, steckengebliebenen Aufzügen oder doch bloß in seiner schmutzigen
Phantasie), und die ihm bei mir den Spottnamen Randy Andy eingebracht hatte. Benny hätte ich
es wirklich gegönnt, und gesehen hätte es unter meinem weiten Pullover sicher niemand. Aber
natürlich kam mein so großer und doch noch so kleiner Benjamin nicht auf diese Idee, oder er
traute sich nicht. Und ich hatte auch nicht den Mumm, einfach hinter mich zu greifen und ihm
auf die Sprünge zu helfen, oder ihn einfach auf der Stelle mit in sein Zelt zu zerren. Ich war
frustriert von meiner eigenen Zaghaftigkeit und ließ Benny nicht einmal seine durchaus
begabten und vielversprechenden Fingerübungen zum Abschluß bringen. Stattdessen schlug ich
ihm vor, doch mit seiner Jenny zu uns auf die Insel zu kommen. Platz war ja jetzt genug in
unserer Hütte, nachdem Melanie ihren Segelkurs so intensiviert hatte. Benny war sehr angetan
und wollte gleich mitkommen. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber der Gedanke gefiel mir. Er
warf ein paar Klamotten in seinen Rucksack, dann kritzelte er eine lange Nachricht für Jenny
auf einen Zettel, zum Schluß ein paar Herzchen. Der Zettel wurde dem Teddy anvertraut, der
den Einstieg zu ihrem Schlafsack bewachte. Nachdem auch noch das Kochgeschirr in den
Zelten verstaut und alles sorgfältig verschlossen war, gingen wir Hand in Hand zur Mole und
auf den Bäderdampfer. Noch eine Stunde Wartezeit, täglich wechselnder Tidefahrplan. In
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unserer Ferienhütte legte ich erst einmal ein bißchen Schmuse-Rock in den Cassettenrecorder
und machte uns ein paar Spiegeleier. Nach dem Essen kuschelten wir uns in der Couchecke
zusammen und träumten zur Musik. Ich fühlte mich so glücklich wie seit Monaten nicht mehr.
Benny wollte gleich da weitermachen, wo wir auf dem Festland aufgehört hatten, aber ich
belehrte ihn lachend, den Ausdruck Ausziehcouch hätte er wohl falsch verstanden. Ausziehen
würde ich mich erst später, und zwar allein. Und dann mußte ich ihm haarklein erzählen, wie
das bei mir gewesen war, als ich fünfzehn war. Beim ersten Mal.
Also, wie gesagt, es war mein fünfzehnter Geburtstag. Wir waren mit mehreren Klassen meiner
Schule auf Bildungsfahrt in Berlin. Ich hatte mich von einem Ausflug zum "Reichssportfeld"
und zum Georg-Kolbe-Museum abgeseilt, um für meine Freundinnen in der Herbergsküche
noch ein paar Törtchen zu backen. Thorsten, unser Schulsprecher, hatte Küchendienst, weil er
wohl irgendetwas ausgefressen hatte. Er war der Schwarm aller Mädchen, was sich auch in
seinem Wahlergebnis bei der Sprecherwahl ausdrückte. Mich allerdings hatte er bis dahin
ziemlich links liegengelassen. Als er mit dem Abwasch fertig war, kam er zu mir an den
Backofen, legte mir von hinten beide Hände an die Taille und sülzte mit seiner schönen
Stimme: "Du hast Geburtstag, nicht? Herzlichen Glückwunsch, Swetlana!"
Ich kam nicht einmal dazu, mich über seine mißglückte Anrede mit dem mir verhaßten Namen
Swetlana zu ärgern, denn er berührte mit seinen Lippen zuerst mein Ohrläppchen, und als ich
höchstens etwas zuckte, sonst aber stillhielt, küßte er mir die Wange, den Hals und den
Nacken. Fast gleichzeitig schob er mir die Hände unter die Bluse, suchte und fand meine
Nippel und begann sie sanft zu streicheln. Für diese Frechheit wäre nun eigentlich eine
Ohrfeige fällig gewesen, aber bei Thorsten war das etwas anderes. Ich ließ ihn also seufzend
gewähren und gab ihm wortlos zu verstehen, wie gut mir sein "Geburtstagsgeschenk" gefiel.
Schließlich riß ich mich los, nur um ihm sofort wieder um den Hals zu fallen und mich endlich
richtig küssen zu lassen. Für mich war es der erste richtige Kuß überhaupt. Mir wurde fast
schwarz vor Augen, als er mir die Lippen auseinanderdrängte, mit der Zunge an meine Zähne
stieß und, als auch diese Hürde kampflos genommen war, meiner Zunge den Platz im Mund
streitig machte. In einem plötzlichen Impuls packte ich ihn am Arm und zog ihn mit mir in den
Schlafsaal. Ich wußte selbst nicht so genau, was mich da trieb. Aber ich hatte eine Flasche Wein
im Spind versteckt, die stellte ich mit zwei Pappbechern oben auf den Schrank und hüpfte auf
das obere Stockbett. Er setzte sich neben mich auf die Bettkante, legte grinsend und
erwartungsfroh seinen Arm um meine Schulter und stieß mit mir an: "Auf dich, Kleine, ein
langes Leben und einen Haufen süßer Kinder!" - "Mit dir als Erzeuger, meinst du wohl, du
Lustmolch", kicherte ich und stieß ihn übermütig aufs Kopfkissen.
Das war der Auftakt zu einer wilden Rangelei, an deren Ende wir uns schnaufend vor
Anstrengung und Erregung in den Armen lagen, immer noch albern kichernd, aber plötzlich
beide splitternackt und selbst überrascht von unserer Tollkühnheit. Das heißt, eigentlich ging
alles so von selbst, ich fand überhaupt nichts Tollkühnes mehr dabei. Vorhin bei unserem Kuß,
da hatte ich mich sehr viel erwachsener gefühlt als jetzt in unserem paradiesischen Zustand.
Ich fand Thorsten einfach süß. Männer waren ja eigentlich etwas Ätzendes, aber an ihm war
nichts von dem, was mich an Männern so abstieß: Kein kettensprengender Brustkorb, keine
Muskelpakete, keine Gorillabehaarung und natürlich auch nicht der Hauch eines
Bauchansatzes. Er war fast genauso feingliedrig wie ich; sicher ein bißchen größer und auch
kräftiger, die Haut ein wenig rauher, Muskeln und Sehnen straffer, die Knochen etwas robuster
und noch weniger gepolstert als bei mir. Also schon irgendwie ein Mann. Aber herumalbern
konnte man mit ihm genau wie mit der besten Freundin. Am süßesten waren dann allerdings
doch die Attribute, die ihn am deutlichsten von einem Mädchen unterschieden: Die schmalen
Hüften, der unglaublich knackige Hintern und auch dies lächerliche Stehaufmännchen, das da
zuerst fast erbärmlich verschnorzelt herumhing und sich nun stolz und für mein Gefühl fast
schon zu groß emporreckte: Ich machte mir einfach ernsthaft Gedanken, wie wir an dem Punkt
eigentlich überhaupt zusammenpassen sollten!
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Er fand mich auch wunderschön und aufregend und begann, mich überall zu streicheln und zu
küssen, wo er mich aufregend und schön fand: Sogar auf die Brüste, die ihm gerade recht waren
und nicht zu klein, wie ich befürchtet hatte, natürlich auf den Mund, die Schultern, die
Hüftknochen, den Nabel, den linken und den rechten Oberschenkel und ins Dickicht
dazwischen. Uaah, wie sollte das enden! Er drehte mich erst einmal auf den Bauch und
widmete sich der Rückseite: Noch einmal den Ohrläppchen, den Rückenwirbeln -vom Nacken
bis zum Steiß und wieder zurück-, den Rippenenden an den Flanken, den Kniekehlen und den
Fußsohlen; er biß mir sogar zärtlich in die Pobacken. Schließlich begrub er mich unter seinem
Gewicht, schob mir die Hände unter die Brüste und knetete sie förmlich, jetzt nicht mehr ganz
so sanft. Sein Atem dicht an meinem Ohr wurde gepreßter, dann schob sich seine Rechte unter
meinem Bauch hindurch an meine Scham, machte sich dort zu schaffen, ertastete meine
Klitoris und begann sie vorsichtig zu stimulieren. Davon hatten mir meine Freundinnen erzählt,
wie aufregend es wäre, dort von einem Mann berührt zu werden, aber ich hatte es mir nicht so
recht vorstellen können. Und jetzt machte das dieser Begehrenswerteste von allen bei mir! Ich
war ja schon vorher ziemlich erregt, vor allem seine Erregung hatte mich angesteckt, aber jetzt
kam meine eigene dazu. Wenn mich jetzt meine Freundinnen sehen könnten!
Aber Details würde ich nicht erzählen, dieses Gefühl gehörte allein mir. Und Thorsten
natürlich.
Als er es sich wohl nicht mehr länger verkneifen konnte, zog er mich plötzlich an den Hüften
hoch, so daß ich mich auf den Ellenbogen abstützen mußte, schob mir ziemlich grob die Knie
auseinander und seine eigenen dazwischen. So ginge es nachher leichter, keuchte er, und täte
jedenfalls nicht weh, auch wenn ich mich verkrampfen sollte. Es suchte noch einmal mit der
Hand die richtige Stelle, aber plötzlich war es nicht mehr seine Hand, die ich fühlte. Mit den
Händen hatte er sich nämlich festen Halt an meinen Beckenknochen verschafft, und mit einem
langen Schub von irgendwie imponierender Konsequenz war es passiert. Es war wirklich viel
leichter gegangen, als ich gedacht hatte. Er hielt erst einmal inne und flüsterte ziemlich ernst,
meine Unschuld hätte ich gerade verloren. Ich dachte schon, das wäre alles, aber dann begann er
zögernd mit der Hauptsache, erst sehr rücksichtsvoll mit harmonischen, etwas kreisenden
Bewegungen, allmählich eckiger und hektischer, sein Atem ging schneller, er stieß kleine
Seufzer aus, aber für mein Gefühl dauerte es noch unendlich lang, bis er schließlich
unterZuckungen seine geballte Kraft in mir fahren ließ und mich endgültig unter sich begrub.
Es war natürlich schon ein herrliches Gefühl, daß dieser süße Junge mich hatte haben wollen
und daß ich ihm so fühlbar alles hatte geben können, was er brauchte. Aber für mich hatte sein
eigentlich mehr versprechendes komisches Ding da bei mir drin sich eher seltsam angefühlt als
aufregend. Kein Vergleich mit seiner frechen Zunge bei unserem ersten Kuß oder gar mit seinen
geschickten Fingern vorhin da unten. Er schien aber meine Gedanken erraten zu haben, legte
mich aufs Kreuz, verschwand mit dem Kopf zwischen meinen Schenkeln und drang einfach
noch einmal in mich ein, dieses Mal mit derZunge, erst ganz leicht, dann immer wilder, bis ich
vor Lust mit den Beinen ausschlug und ihn fast aus dem Bett gestoßen hätte: Mein erster
richtiger Orgasmus, von ein paar heimlichen selbstgemachten einmal abgesehen.
Über diesen Erinnerungen war es spät geworden. Ich machte Benny sein Lager auf der
Schlafcouch zurecht und zog mich in die Kammer am Windfang zurück, wo früher Melanie
geschlafen hatte. Sie hatte ihr Nachthemd liegengelassen, ein lächerliches, halb durchsichtiges
Fähnchen. Jetzt bei ihrem Segellehrer brauchte sie das natürlich nicht. Ich streifte es mir über
und ging ins Bad. Als ich fertig war, lag Benny schon unter der Decke. Ich fand aber, daß er
noch einen Gutenachtkuß haben sollte und hockte mich zu ihm auf die Matratzenkante. Es
wurde ein inniger Kuß voll unausgesprochener Leidenschaft. Als es am schwersten fiel, riß ich
mich los, sagte ihm gute Nacht, und er wüßte ja, wo ich zu finden wäre, falls er noch etwas
brauchen sollte.
Natürlich konnte er nicht einschlafen, ich konnte es ja auch nicht. Nach vielleicht einer Stunde
hatte er endlich eingesehen, daß er tatsächlich noch etwas von mir brauchte. Ich hörte seine
nackten Füße auf den Dielen trappsen, dann stand er in meiner Kammertür. Ich schlug ihm
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stumm die Bettdecke auf, der Vollmond ließ seine Haut fast so weiß erscheinen wie das Laken,
wir umarmten uns und begannen uns zu liebkosen. Ich fühlte mich an Thorsten erinnert, so
begeistert war Benny bei jeder Entdeckung, die er an meinem Körper machte, und bei jeder
Regung, die seine Berührungen bei mir auslösten. Ich fürchte, ich werde es auch mit fünfzig
noch nicht lassen können, blutjunge Männer zu verführen! Als ich fand, daß es jetzt einfach sein
mußte, wälzte ich mich auf den Rücken und hoffte, daß er meinen Wunsch verstehen würde. Er
verstand auch, reagierte aber ganz anders, als ich gedacht hatte: Er drehte sich abrupt zur
Wand. Ich streichelte ihm den Bizeps und die kalte Schulter, aber er preßte nur traurig heraus,
ich dürfte das nicht auf mich beziehen, aber er könnte das einfach nicht. Ich versuchte ihn zu
trösten, sagte ihm, soviel ich wüßte, wären alle Männer ziemliche Hasenfüße und hätten beim
ersten Mal schreckliche Skrupel. Ich würde das auch ganz bestimmt nicht herumerzählen. Dabei
streichelte ich ihm ganz harmlos die Rippen und den Bauch, und da ihm das nun wieder zu
gefallen schien, suchte ich einfach kurzentschlossen mit der Hand sein Glied. Schließlich fühlte
ich mich für seinen aufgewühlten Zustand verantwortlich und auch dafür, ihn davon irgendwie
zu erlösen, notfalls eben so. Aber er stieß mich nur mit den Tränen kämpfend zurück. Ich
kuschelte mich an seinen Rücken, und wir lagen noch lange zusammen wach, eine kleine Frau
und ein riesengroßer Junge.
Als ich aufwachte, hatte Benny sich auf den Rücken gedreht, und ich hatte ein weiches
Plätzchen an seiner Achsel gefunden. Ich schob mich ganz vorsichtig auf seinen Bauch und
konnte mich einfach nicht bremsen, seine Brustwarzen zu küssen. Er tat, als ob er noch
schliefe, aber ich spürte natürlich, was sich da bei ihm unten zwischen meinen Schenkeln tat.
Diesmal sollte er keine Chance haben zu kneifen! Ich grätschte mich also über ihn und hatte ihn
sofort da, wo ich ihn brauchte. Ich wußte schon nach ein paar Bewegungen, daß es bei mir
diesmal sehr schnell gehen würde, schon weil ich die halbe Nacht an nichts anderes hatte
denken können. Und dann kam auch schon er. Endlich erlöst lagen wir uns selig lachend in den
Armen. So schön hätte er sich das nicht vorgestellt, meinte er immer noch glücklich lächelnd,
bevor wir wieder einschliefen. Aber seine Jenny dürfte natürlich nichts davon erfahren.
Am Morgen waren wir früh auf und beschlossen, einen Strandspaziergang zu machen. Schon
kurz hinter dem Dorfausgang waren wir allein, rechts das Meer, links die Dünen und hinter uns
die gerade aufgegangene Sonne, die unsere Schatten unwirklich groß auf den Strand warf. Nach
einiger Zeit entdeckten wir oben auf dem Dünenkamm und vielleicht einen Kilometer vor uns
zwei andere Frühaufsteher. Sie gingen Hand in Hand und etwas langsamer als wir. Im
Näherkommen war eine junge Blonde auszumachen, ein kleines Kind im Tragetuch auf dem
Bauch. Der Mann war deutlich älter, wohl der stolze Opa. So plötzlich, wie wir sie entdeckt
hatten, waren sie wieder in den Dünen verschwunden.
Jetzt waren wir endgültig allein. Die Sonne brannte schon ziemlich auf der Haut, es war
Hochsommer, aber das Meer war ja nah. Die Ebbe hatte ihren Tiefpunkt sicher unterschritten,
und mit der wieder auflaufenden Flut war es nicht mehr so gefährlich, ins Wasser zu gehen. Wir
warfen übermütig unsere Kleider weg. Badezeug hatten wir zwar keins dabei, aber hier würde
sich niemand daran stören. Wir liefen ins Wasser, schwammen ein bißchen, hüpften vor den
Wellen hoch, küßten uns, sobald wir wieder Boden unter den Füßen hatten, gerieten prompt
unter den nächsten Wellenkamm und prusteten vor Vergnügen. Als ich genug hatte, rannte ich
zum Strand zurück, um mich von Benny
fangen zu lassen. Dort allerdings hatten inzwischen keine zwanzig Meter neben unseren
verstreuten Klamotten die Spaziergänger von vorhin ein Strandlager aufgeschlagen. Das Kind
lag im Schatten unter einem aufgespannten Tuch, die beiden Erwachsenen daneben, genauso
splitternackt wie wir. Vielleicht hatten wir sie angesteckt. Vater und Tochter waren sie aber nun
wohl doch nicht, eher schon ein Chef mit seiner persönlichen Referentin: Sie wälzten sich in
einer heftigen Umarmung, er über ihr, wie es sich für einen Chef gehört. In dem Moment, als ich
einfach schnell mein Strandkleid aufheben und zur Düne weiterrennen wollte, um meine Blöße
nicht weiter zu exponieren und um auch das Pärchen nicht weiter zu stören, ging der Alte dazu
über, seine Freundin mit nunmehr eindeutigen und eigentlich lustigen Bewegungen seines
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Hinterns zu beglücken. Bei so etwas hatte ich noch nie zugeschaut! Sie versuchte verzweifelt
und vergeblich, ihn zu bremsen: Nur sie hatte mich kommen sehen, er nicht. Der Anblick war
zu meiner Überraschung durchaus nicht schockierend, eher schon ansteckend in seiner
Lebensfreude. Die junge Frau war höchstens so alt wie ich, er sicher Mitte oder Ende vierzig.
Ich lächelte ihr einfach fröhlich und komplizenhaft zu, darauf drehte sie beruhigt den Kopf zur
Seite und widmete sich ganz ihren Empfindungen.
Als ich mich auf halber Höhe umdrehte, um zu schauen, wo Benny blieb, sammelte der gerade
umständlich seine sieben Sachen ein und schaute dabei den Beiden genauso fasziniert zu wie
vorher ich. Dann rannte er aber doch mir hinterher. Oben auf der Düne hatte er mich eingeholt,
ich "stolperte", wir kullerten übereinander in eine Mulde und wälzten uns im Sand. Als wieder
einmal er Oberwasser hatte und stolz wie ein Eroberer vor mir kniete, legte ich ihm einfach
meine Füße
um den Hals, und diesmal machte er keine Zicken. Er war ein Naturtalent. So als häte er es
hundertmal vorher geübt, beherrschte er die Kunst des Allegro con Brio, des Ritardando, des
Sforzando, der Synkopen und des Alla breve, und als er endlich zum Fortissimo überging,
brachen alle Wellen über mir zusammen. Ich fiel in Ohnmacht.
So etwas war mir noch nie passiert, jedenfalls nicht bei der Liebe. Als ich wieder zu mir kam,
hatte Benny mich perfekt in die stabile Seitenlage gebracht: Er machte wohl gerade seinen
Führerschein samt Erste-Hilfe-Kurs. Vor mir kniete unser Strandnachbar und hielt mein
Handgelenk. Als er sah, daß ich die Augen aufschlug, meinte er beruhigend: "Machen Sie sich
keine Sorgen, ich bin Arzt. Sie waren bewußtlos, aber Ihr Puls ist schon fast wieder normal." Himmel, ein Arzt, dachte ich, ein Halbgott in Weiß. Wenigstens hatte er jetzt eine Badehose an!
Und ich stellte, schon wieder grinsend, fest: Es war tatsächlich eine weiße! Hinter mir hockte
Benny und massierte kräftig mit den Fäusten meinen Rücken. Ich hatte geträumt, daß er die
ganze Zeit kein Ende gefunden hätte mit der Liebe, aber es hatte wohl eher diese rhythmische
Bewegung seiner Fäuste dahintergesteckt. Der Doktor fühlte immer noch meinen Puls und
musterte dabei völlig ungeniert und offenbar wohlgefällig meinen ganzen Körper, von den
Zehen bis zum Hals. Nur den Blick in meine Augen vermied er.
Benny hatte es nicht einmal für nötig befunden, mir ein Handtuch über die Hüften zu werfen!
Männer (na ja, in diesem Fall werdende Männer) sind schon eine komische Erfindung!
Ein schöner Liebhaber, der seine Geliebte ungefragt nackt den Blicken eines Fremden preisgab!
Und selbst hatte er
natürlich Zeit genug gehabt, in seine Jeans zu steigen, bevor er in Panik losrannte, um Hilfe zu
holen! Eigentlich war aber der Blick des Mediziners nicht einmal unangenehm, immerhin war er
offenbar ein Kenner, da ich ihm ja durchaus zu gefallen schien. - "Ich glaube, Sie sind jetzt
wieder in Ordnung," meinte er jetzt, "junge Leute echauffieren sich eben manchmal etwas zu
sehr." - Meinen Blick vermied er immer noch, dafür fixierte er Benny scharf. Natürlich war ihm
klar, wobei wir uns so sehr echauffiert hatten. - "Am besten bleiben Sie hier einfach noch eine
Weile liegen und gönnen sich mindestens eine Stunde Ruhe, bevor Sie noch einmal ..." - "...in
Ohnmacht fallen", fiel ich ihm ins Wort. Jetzt lächelte er mich dankbar an, weil ich ihm noch
deutlichere Worte erspart hatte. Benny und ich bedankten uns wohlerzogen für seine Hilfe, und
mein Retter zog sich zu seiner eigenen Freundin zurück.
Inzwischen war es Mittag geworden, und wir bekamen kräftig Hunger: Wer schafft, braucht
Kraft! Ich wußte, daß es auf der Wattseite fast am Ende der Insel ein einzelnes Gehöft mit
Bewirtschaftung gab, die Domäne Bill. Wir wanderten Hand in Hand über die Dünen in
Richtung Südwestspitze, fanden unser Ziel und schlugen uns den Bauch mit geräucherten
Makrelen voll, dazu ein paar Doornkaat zur Verdauung. Zurück zu unserer Hütte brauchten wir
fast noch zwei Stunden. Benny blieb immer wieder stehen und meinte, eine alte Frau dürfte sich
ja schließlich nicht überanstrengen. Dabei nahmen wir uns in die Arme und küßten uns lachend.
Die Tür zu unserem Ferienhaus war von innen verriegelt. Als ich daraufhin anklopfte, öffnete
uns zu meiner Überraschung Andy. Er hatte nur ein Handtuch umgeschlungen, war wohl im
Bad gewesen und nicht vollständig abgetrocknet. Ich war ziemlich zornig. Wahrscheinlich hatte
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ihm seine saubere Schwester diesen Floh ins Ohr gesetzt, es noch einmal bei mir zu versuchen.
Unsere Adresse und den Schlüssel mußte sie ihm ja wohl auch ausgeliefert haben. Auf dem
Stuhl am Eßtisch hingen seine Klamotten. Aber nicht nur seine, sondern auch eher weibliche!
Auf dem Tisch stand ein halbleeres Glas Wasser, daneben ein riesiger Stapel Anti-Baby-Pillen,
mindestens ein Jahresvorrat, wahrscheinlich alles Ärztemuster. Und zwar nicht meine! In der
Badewanne nämlich -die Tür stand sperrangeloffen- räkelte sich Jenny.
Als Benny die Situation einigermaßen erfaßt hatte, tat er einen erbärmlichen Schrei und raste
aus der Tür. Jenny hatte in Rekordzeit ihr T-Shirt und ihre Hose wieder an und rannte ihm
nach, Andy und ich hinterher. Da war sie wohl doch etwas zu weit gegangen mit ihrer Rache?
Sie hatte ihren Benny eingeholt, noch bevor er den Strand erreicht hatte. Erst gingen sie
schweigend nebeneinander her, am Strand redeten sie schon miteinander, schließlich nahm
Jenny seine Hand. Ich wußte genau, was da draußen jetzt passieren würde, und eigentlich sogar
wo.
Ich mußte Andy bremsen, der die Beiden unbedingt im Blick behalten wollte, "um ein Unglück
zu verhindern", und zog ihn schließlich nur widerstrebend mit zur Hütte zurück. Es war, wie
ich vermutet hatte: Melanie hatte ihn hergelockt, und er war dann ziemlich enttäuscht gewesen,
als er statt meiner nur unseren Zettel für Jenny vorgefunden hatte, wir wären am Strand und
gegen Mittag zurück. Kurze Zeit später, wahrscheinlich mit dem gleichen Dampfer, war dann
auch Jenny eingetroffen und ebenso enttäuscht wie er. Andy hatte mit seiner scharfen Logik
ihrer beider Zustand als Eifersucht
diagnostiziert und als beste Therapie dagegen (dank seiner beeindruckenden Lebenserfahrung)
vorgeschlagen, es uns Verursachern mit gleicher Münze heimzuzahlen und sich eben gegenseitig
zu trösten. - "Wie das ausgesehen hat, kann ich mir lebhaft vorstellen", rief ich lachend
dazwischen, - "Nein, nicht wie du denkst. Jenny sagt, sie ist noch unberührt und hat ihre
Unschuld Benny versprochen. Und was sie verspricht, das hält sie", meinte er ernsthaft.
Wahrscheinlich hatte er sogar recht, und zwar womöglich gerade in diesem Augenblick?!
Andy hatte sie übrigens auch etwas versprochen: Wenn Benny ihr je untreu werden würde,
käme sie sofort zu Andy und ließe sich von ihm trösten, und zwar richtig dieses Mal! - "Und
was sie verspricht, das hält sie", riefen wir im Chor. In Wirklichkeit war mir schon etwas
mulmig. Was hatte ich da angerichtet? Ich würde mir in Zukunft ziemlich auf die Zunge beißen
müssen, um mich nicht zu verplappern! Aber Jenny war schon in Ordnung. Daß die Idee von ihr
war, mit Andy in die Badewanne zu steigen, um sich so bei Benny und mir zu revanchieren,
sprach eigentlich nur für sie!
Drei Stunden später waren die Beiden zurück. Es hatte in Strömen zu regnen begonnen, sie
waren pudelnaß. Ich mußte an meine Mutter denken, die hatte mich als junges Mädchen immer
gewarnt, sie würde es mir sofort an den Augen ansehen, wenn ich mich mit einem Freund
eingelassen hätte: Das Komische war, bei Jenny stimmte es! Ich glaube inzwischen, man sieht es
jedem an, Männlein wie Weiblein, wenn sie gerade richtig schönen und beglückenden Sex
gehabt haben. Aber zum Glück saß ja Jennys Mutter weitab in Aurich, so wie meine bei
unserem Berlin-Ausflug damals zuhause in O., und im obligatorischen Schulaufsatz über "mein
schönstes Erlebnis" war natürlich von irgendeinem Thorsten auch keine Rede.
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2. Leerstellen und Lückenbüßer
Die Beiden mußten sofort ihre nassen Klamotten ausziehen und gehörten ins Bett gesteckt,
wenn sie sich nicht den Tod holen sollten. Andy mußte sich zur Wand drehen, als Jenny sich
auszog, dabei hatte sie doch noch kurz zuvor mit ihm zusammen in der engen Badewanne
gesessen! Auf der anderen Seite hätte ein aufmerksamer Beobachter sicher seine Schlüsse
daraus gezogen, daß von mir dergleichen Diskretion nicht verlangt wurde, obwohl sich natürlich
auch Benny auszog und Jungs in Bezug auf ihre Blöße ja normalerweise viel heikler sind. Aber
so sensibel war ja hier niemand, von Jenny vielleicht abgesehen, und die hatte in ihrem akut
verliebten Zustand vorläufig auch keine Antenne für derlei Wahrnehmungen. Wir packten die
Beiden unter alle verfügbaren Decken, ich mußte einen sssteifen Grog brauen, eine RiesenTeekanne voll, und mich mit Andy zu ihnen auf die Bettkante hocken. Die Stimmung wurde
immer fröhlicher.
Aber dann stand plötzlich Melanie in der Tür. Sie war schwer angeschlagen. Ihr Urlaubsflirt, der
Segelheini, hatte sie vor die Hoteltür gesetzt, weil sich seine Freundin zur Inspektion angesagt
hatte. Die machte den gleichen Job wie er auf der Nachbarinsel Norderney und wußte natürlich,
was in diesen Kursen so abgeht. Außerdem waren in seiner Crew am Wochenende wie immer
die neuen Mädchen aufgetaucht, und wenigstens den attraktivsten von ihnen konnte er ja nicht
gut auf Dauer ihren Anspruch auf Sonderbehandlung abschlagen, da mußte eben Platz
geschaffen werden in der Bude. Wir versuchten mit vereinten Kräften, Melanie zu trösten, aber
am ehesten schaffte das noch der Alkohol. Andy fing an, Shanties und Seemannslieder zu
singen, den Hamburger Veermaster, what shall we do with a drunken sailor, wenn die bunten
Fahnen wehen, und hatten die Pest an Bord: Es wurde ein richtig ausgelassener Abend. Zum
Schluß sangen wir alle, auch Melanie.
Als es Zeit zum Schlafen war, wurde mir erst richtig bewußt, wer mein Bettgenosse sein würde:
Melanie wollte natürlich zurück in ihre Speisekammer, und Romeo und Julia konnte man ja
nicht auseinanderreißen. Also mit Andy auf den Heuboden, na ja! Oben verstand man jedes
Wort, das sich die Beiden unten zuflüsterten, und natürlich blieb es nicht bei Worten. Es war
schon hart, da alles mitzubekommen und selbst mit einem Andy im Bett zu liegen.
Der entwickelte allerdings völlig ungeahnte Fähigkeiten: Zärtlichkeit, sogar Leidenschaft! Zum
Schluß fühlte es sich wie richtige Liebe an und endete auch so. Für mich zum ersten Mal
überhaupt mit Andy. Ich hätte dieses unverhoffte Finale einfach mit einem dankbaren Küßchen
quittieren sollen, aber mich reitet eben manchmal der Teufel: Ich mußte Zensuren verteilen. Er
hätte eine Menge dazugelernt, ich wollte ja gar nicht wissen bei wem. Aber wahrscheinlich hätte
er ja nur einfach die Augen zugemacht und sich vorgestellt, bei Jenny zu liegen. Andy
dementierte heftig, aber natürlich hatte ich ins Schwarze getroffen.
Am nächsten Morgen ging ich mit Melanie ins Dorf auf Einkaufsbummel. Andy trottete lustlos
mit, hatte eben auch nichts Besseres zu tun : Die beiden "Kleinen" waren ja völlig mit sich
selbst beschäftigt. Melanie hatte eine Art Latzhose hervorgekramt, offenbar eine eigene
Kreation. Das Material war wohl einmal ein alter Jute-Kartoffelsack gewesen, grobmaschig und
halb transparent. Unten endete das Designerstück wie brave Bermudashorts mit Umschlag.
Rund um den Bauchnabel war ein ziemlich großes Herzchen ausgespart und mit dickem rotem
Garn im Hexenstich eingefaßt. Die Spitze des Herzchens lief unten in einer Knopfleiste aus,
darauf drei rot glitzernde Glasknöpfe. Die Schultern blieben frei, und zwischen den
Schulterblättern liefen die Träger wie bei einem Ringerhemdchen zu einem einzigen zusammen.
Auf dem Popo prangte mit schwarzer Stempelfarbe die Aufschrift "50 kg" , was bei Melanie
sicher übertrieben war. Der Hosenlatz verdeckte, von vorn gesehen, alles (viel war es ja nicht).
Von der Seite allerdings bot er tiefe Einblicke und, wenn sie sich beim Sitzen vorbeugte, sogar
den vollen Durchblick.
Es gab auf Juist eigentlich nur einen Laden, in dem es dafür alles gab: Postkarten, Bikinis,
Schnaps in seehund-förmigen Flaschen, Sonnenöl, Hüte, Surfbretter. Ich entdeckte ein
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hölzernes Küchengerät, wohl zum Flachklopfen von Steaks, damit dann der Saft herauslief und
sie beim Braten richtig schön bretthart wurden. Dazu erstand ich noch ein echtes Schweizer
Offiziersmesser, Melanie eine ziemlich schräge Sonnenbrille und Ohrklunker, die auch der
schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin Ehre gemacht hätten. Dann waren wir aber müde
vom Laufen und Stehen und suchten uns einen Platz auf der Café-Terrasse an der Promenade.
An unseren Tisch trat ein eleganter Herr mittleren Alters und fragte, ob er sich zu uns setzen
dürfte: Es war mein "Lebensretter" aus den Dünen. - "Willst du uns nicht vorstellen", fragte
Melanie neugierig, aber ich mußte passen: "Wir kennen uns zwar gut, aber leider nicht mit
Namen!" - Andy und Melanie ließen die Mäuler offenstehen, erwarteten wohl eine Erklärung,
aber ich grinste nur so frech wie möglich. Der Doktor nannte auch nur kurz seinen Namen,
"Bauer", und grinste ebenfalls unergründlich. Aber wissen wollte er, was ich mit meinem
komischen Holzhammer vorhätte.
Ich wollte mal wieder etwas schnitzen. Sonst war ich ja eher eine Leseratte, aber am Strand
konnte ich einfach kein Buch aufschlagen. Andererseits brauchte ich schon irgendeine
Beschäftigung, um zwischendurch ungeniert die Strandnachbarn beobachten zu können: Mein
eigentliches Hobby. Angefangen hatte ich damit (mit dem Schnitzen) schon als Kind, erst
Puppen-, dann Marionettenköpfe, Teufel, Räuber und Hexen mit den Zügen meiner Lehrer und
Lehrerinnen. Komischerweise hatte ich schon vorher beim Kauf des Klopfgerätes gedacht,
daraus könnte eigentlich mein Doktor werden. Der hatte jetzt den Logenplatz an Melanies Seite
und bekam natürlich Stielaugen. Eigentlich hätte ich es gar nicht schlecht gefunden, wenn er
sich ein wenig um sie gekümmert hätte, anscheinend war ja seine Strand-Freundin nicht sein
einziges Steckenpferd. Ich murmelte also, ich wollte mit und für Andy noch ein paar schicke
Strandklamotten einkaufen. Melanie verstand und lächelte dankbar, als wir sie mit Dr. Bauer
alleinließen. Andy bestand dann allerdings darauf, tatsächlich noch einmal mit mir einkaufen zu
gehen. Er wünschte sich einen klassischen marineblauen Rollkragenpullover. Andy der Seebär!
Na ja, eine kleine Belohnung hatte er sich ja verdient für seine nächtlichen Bemühungen. Später
spazierten wir zum Strand und besetzten eine verlassene Sandburg. Andy langweilte sich
schrecklich und guckte aus lauter Verzweiflung schon pubertierenden Teenagern nach, ich hatte
wenigstens meinen Holzkopf-Rohling und begann zu schnitzen. Nach vielleicht zwei Stunden
tauchten Melanie und Dr. Bauer ebenfalls am Strand auf. In ihre Mitte hatten sie ein kleines
Mädchen genommen, wahrscheinlich die Tochter seiner Freundin von neulich in den Dünen.
Ich horchte Melanie unauffällig aus, was sie die ganze Zeit mit dem Doktor getrieben hatte.
Volker -das war wohl Dr. Bauer- hatte erst seine Enkelin (!) Lisa vom Hort abgeholt und sie
Melanie vorgeführt. Dann hatte er ihr auch noch das Album mit Lisas Baby-Fotos zeigen
müssen, vermutlich ja wohl auf seinem Hotelzimmer!
Gegen Mittag mußte Melanie zu ihrem Segelkurs, obwohl ihr die Lust dazu aus naheliegenden
Gründen total vergangen war. Aber immerhin wollte Andy mitgehen und sich auch dort
einschreiben. Als wir dann mit Lisa allein waren, wollte ich von Dr. Bauer natürlich wissen, wo
er seine Sprechstundenhilfe versteckt hätte. - "Sie meinen Katia?", lächelte er überrascht. Die
sei tatsächlich meine Arzthelferin, das heißt, sie sei noch Lehrling. Sie sei ja erst zwanzig. Und
mit ihrem neuen Freund hier im Urlaub; heute machten die Beiden einen Tagesausflug nach
Helgoland. Außerdem sei sie allerdings auch die Mutter seiner Tochter Lisa, oder seiner
Enkelin, wenn ich so wollte. Weil sie nämlich zwei Jahre mit seinem Sohn Jens verheiratet
gewesen wäre. Uwe -das sei ihr Freund- sei ein lieber Kerl, aber das sei wohl nichts Ernstes mit
ihm. Sie habe ihm wohl noch nicht einmal verraten, daß sie geschieden ist, und ihn, Dr. Bauer,
habe sie einfach als ihren Vater ausgegeben, sie trügen ja den gleichen Namen. Immerhin sei
Uwe schon bei ihr eingezogen, aber ihr Freund habe sie sicher noch keinmal angerührt, könnte
er wetten. Vielleicht sei er ja auch schwul.
Es ist mir ja manchmal selbst unheimlich! Manchen Männern muß ich wirklich nur drei, vier
Fragen stellen, in einem alles verstehenden Ton, und schon sprudeln sie ihre halbe
Lebensgeschichte heraus, mit intimsten Details, die sie kaum ihrer eigenen Frau oder Freundin
erzählen würden. Andy nannte das meine mütterliche Ausstrahlung. Schon ein komischer
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Begriff, wenn das Plaudertäschchen ein Viertel Jahrhundert älter ist als die "mütterliche"
Zuhörerin! Andy behauptete auch, ich könnte mir als Analytikerin eine goldene Nase
verdienen, aber da hatte er sicher unrecht. Ich habe überhaupt keinen therapeutischen Ehrgeiz,
will niemanden zurecht biegen, höre einfach nur zu. Höchstens bestärke ich die Leute darin, so
zu sein, wie sie nun einmal sind, mit allen Macken. Bei psychisch wirklich Kranken täte ich
mich verdammt schwer. Falls überhaupt zu etwas, bin ich zur Bardame berufen. Mein Professor
in Göttingen (der hat sich auch schon bei mir ausgeheult) hat mir wegen dieser von mir oft
verfluchten Begabung zum Aushorchen geraten, Romane zu schreiben; er hat keine Ahnung,
daß ich das schon lange tue. Natürlich unter Decknamen mit Rücksicht auf meinen (künftigen)
Beruf. Aber den nimmt ja sowieso kein Schwein ernst. - Dr. Bauer sagte ich spöttisch, seine
Verhältnisse seien ja tatsächlich etwas unübersichtlich. Er seinerseits wollte wissen -eitel war er
also auch noch-, ob das etwa sein Kopf werden sollte, den ich da schnitzte. Klar, und es wäre
nicht schlecht, wenn er in der Nähe bliebe, damit ich ab und zu das Original mit dem Abbild
vergleichen könnte.
Mit Katia hätte das eigentlich vor drei Jahren ziemlich traurig angefangen. Volker -jetzt nannte
ich ihn bei mir auch schon so- war damals Oberarzt an einem kleinen Krankenhaus in Diepholz
gewesen. Ein ruhiger Bereitschafts-Dienst am Wochenende. Sonnabend nacht gegen ein Uhr
dann plötzlich Aufregung und Hektik, ein Motorradunfall. Als Internist hatte er damit zwar
eigentlich nichts zu tun gehabt, aber bei den Kollegen in der Chirurgie hatte sich alles
überschlagen. Eine laufende Operation hatte unterbrochen und notdürftig versorgt werden
müssen, ein weiterer Notfall hatte bereits in der Schleuse gewartet, und nun noch die beiden
jungen Unfallopfer, die sofort hatten operiert werden müssen. Volker war zum Assistieren
angefordert worden: Für den einzig noch verfügbaren Assistenzarzt der Station Klammern,
Tupfer und Fäden halten, Bildschirme überwachen; zuletzt vor fünfzehn Jahren in der
Facharztweiterbildung hatte er so etwas machen müssen. Nach einer halben Stunde war auch
der alarmierte Chefarzt der Chirurgen von zuhause eingetroffen, hatte noch mehr Hektik
verbreitet und die Leitung übernommen. Das junge Mädchen war äußerlich unverletzt gewesen,
hatte sich aber einen Schädelbasisbruch zugezogen gehabt und war noch unter dem ComputerTomographen gestorben. Ihr Freund war am ganzen Körper schrecklich zugerichtet gewesen,
offene, heftig blutende Knochenbrüche, auch innere Verletzungen, und nach Stunden
verzweifelten Operierens war auch er nicht mehr zu retten gewesen. Man hatte die beiden
Verstorbenen auf den Gang geschoben, den Jungen mit immer noch vom Schmerz verzerrtem
Gesicht, das Mädchen so jung und hübsch wie Jens' Freundin und scheinbar nur schlafend. Bloß
sechzehn oder siebzehn Jahre war sie alt geworden. Nach einer Ewigkeit hatte endlich jemand
die beiden Leichname zugedeckt.
Nach und nach waren die beteiligten Ärzte schweigend und bedrückt ins Arztzimmer
geschlichen. Die Anästhesistin hatte einen Weinkrampf bekommen, Volker hatte sie in den Arm
nehmen und beruhigen müssen, obwohl ihm selbst zum Heulen zumute war. Ihm war das
schreckliche Bild fünf Jahre zuvor in den Kopf geschossen, als man seine Frau tot aus ihrem
Auto gezogen hatte. Auch bei ihr war es ein Motorrad gewesen, das ihr auf der Landsstraße aus
einem Feldweg mit voller Wucht in die Fahrertür gerast war. Der Fahrer war aus dem Sattel und
über das Dach geschleudert worden und hatte wie durch ein Wunder überlebt, Volker auf dem
Beifahrersitz hatte nur ein paar Kratzer abgekriegt.
Der Rest des Dienstes wieder zurück auf der Inneren hatte nicht zuendegehen wollen, es war
wieder reichlich Zeit zum Grübeln geblieben. Bei der Dienstübergabe am Sonntag Morgen hatte
er sich immer noch so elend gefühlt, daß er nicht mehr selbst hatte nachhause fahren wollen
und lieber ein Taxi genommen hatte. Der Taxifahrerin hatte er bruchstückhaft erzählt, was
passiert war, weil er es einfach irgendwie hatte loswerden müssen. Vor seiner Haustür hatte sie
einfach still seine Hand genommen und lange festgehalten, das hatte gutgetan. Dann hatte er
nur noch eins im Sinn gehabt, einen doppelten Cognac zu nehmen und endlich abzuschalten.
Aber als er Licht gemacht hatte, hatte die Cognac-Flasche schon auf dem Couchtisch
gestanden, halb ausgetrunken, daneben ein leeres Tabletten-Röhrchen und ein offener
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Briefumschlag. Und auf dem Sofa hatte Katia gelegen, die hübsche Freundin seines Sohnes Jens
und Tochter seines Chefarztes. Volker war mit einem Schlag wieder hellwach gewesen, hatte sie
ins Bad geschleift, zum Erbrechen gebracht und unter die Dusche gestellt, in seinen
Bademantel gewickelt und ins Schlafzimmer aufs Bett getragen. Sie war warm und weich
gewesen und mit ihren siebzehn Jahren schon sehr weiblich, vor allen Dingen aber gerettet.
Katia war es letztlich doch wohl auch recht gewesen, daß man sie noch gefunden hatte, so
verzweifelt sie auch gewesen war. Als sie von Jens über eine Woche lang nichts gehört hatte,
auch am Sonnabend nicht, wo sie sonst immer etwas zusammen unternommen hatten, hatte sie
ihn schließlich am Sonntag früh überraschen wollen. Der Doktor hatte gewußt und nichts
dagegen gehabt, daß Jens ihr einen Schlüssel überlassen hatte. Der vermißte Freund war aber
immer noch nicht von seiner Wochenend-Tour ohne Katia zurück gewesen. Stattdessen hatte
sie in seiner Schreibtisch-Schublade Fotos von einem anderen Mädchen gefunden.
Volker hatte Katia zu trösten versucht und ihr geraten, nicht über Jens den Stab zu brechen,
bevor sie mit ihm geredet hätte. Und falls sie wirklich recht hätte mit ihrem Verdacht, gäbe es
immer noch genügend andere Menschen, die sehr traurig wären, wenn es keine Katia mehr gäbe.
Ihn selbst zum Beispiel. Um sich zu vergewissern, daß ihr Herz auch wirklich noch schlug, hatte
er ihr die Hand darauf gelegt. (Ich dagegen habe immer Pech. Bei mir hatte er sie nur am Puls
gehabt!) Ein Menschenleben wäre doch etwas Großartiges, das man nicht so einfach wegwerfen
dürfte, hatte er ihr erklärt. Und ihr die traurige Geschichte von dem Motorrad-Pärchen und
ihrem tödlichen Unfall erzählt, auch von seiner verstorbenen Frau.
Katia hatte wohl empfunden, jetzt ihn trösten zu müssen, und ihn in ihre Arme gezogen. Volker
hatte seit fünf Jahren keine Zärtlichkeit mehr empfangen, war auch ohnehin schon lange
heimlich verliebt gewesen in die Freundin seines Sohnes, und so war es eben passiert. Sie hatten
miteinander geschlafen. Als er sich von dem ersten Schock erholt hatte, wozu er fähig gewesen
war, daß es sich aber eigentlich nur herrlich befreiend angefühlt und kein himmlisches
Strafgericht mit Blitz und Donner nach sich gezogen hatte, hatte er sich dafür wenigstens bei ihr
entschuldigen wollen. Aber sie hatte ihm sein schlechtes Gewissen auszureden versucht: Sie
hätte es gern getan und würde es mit ihm jederzeit gern wieder tun. Schließlich wäre ihr Körper
ohne Volkers Eingreifen jetzt ja nur noch für die Würmer gut.
Dann waren sie mit dem Fahrrad an den Dümmer gefahren. Es war ja noch früh am Vormittag.
Am See hatten sie sich ein Ruderboot gemietet und ein ruhiges Plätzchen im Uferschilf
angesteuert. Wie in der "Seelandschaft mit Pocahontas" von Arno Schmidt, schoß es mir in den
Kopf. Ich selbst war allerdings seltsamerweise noch nie am Dümmer, obwohl es ja von O. aus
eigentlich auch nicht weit ist.
Den Rest des Tages hatten sie sich also faul die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Volker
hatte ab und zu ihr Haar streicheln müssen, um sich zu vergewissern, daß es wirklich sie war,
die da ihren Kopf in seinen Schoß gelegt und so etwas wie seine Geliebte geworden war. Sie
hatten sich noch geschworen, daß von dem Suizidversuch und ihrem Ausrutscher im Bett
niemand etwas erfahren sollte, weder Katias Eltern (Volkers Chefarzt!) noch Jens. Obwohl es
den ja Katia zufolge sowieso nichts mehr anging. Abends waren die Beiden dann in wieder
leidlich gefaßtem Zustand zurückgeradelt.
Drei Wochen später hatte sie ihn im Krankenhaus angerufen. Sie müßte dringend mit ihm
sprechen. Beim Spaziergang unter den hohen Bäumen im Park der Klinik war sie dann mit der
Sprache herausgerückt: Sie wäre schwanger. Sie hätte zwar immer die Pille genommen, seit sie
mit Jens zusammengewesen war, aber ebensowenig wie wohl der Doktor daran gedacht, daß sie
die an jenem Sonntagmorgen wohl gleich wieder erbrochen hätte, zusammen mit den
Schlaftabletten. Als Vater käme darum eigentlich nur Volker in Frage, mit Jens hatte sie ja
Schluß gemacht. Ihrer Mutter hätte sie auch schon alles gebeichtet, außer dem Erzeuger
natürlich. Aber die redete immer nur von Abtreibung, ein Kind gerade jetzt würde ihr nur das
Abitur und das Studium vermasseln, außerdem wäre sie einfach noch zu jung. Sie könnte das
aber nicht, sie wäre jetzt wieder so dankbar für ihr eigenes Leben und könnte dafür doch nicht
dieses neue Leben in sich sterben lassen, das käme ihr grausam wie ein Menschenopfer vor, weil
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sie ihre Schwangerschaft ja gerade dem Augenblick verdankte, als ihr eigenes Leben gerettet
wurde.
Volker hatte sich schnell gefaßt. Er hatte ihr gesagt, daß es in ihrem Alter tatsächlich nicht
leicht werden würde, ein Kind großzuziehen. Am meisten hatte es ihm leidgetan, daß Katias
Jugend jetzt wohl mit einem Schlag beendet sein würde, aber das wäre wohl nach einer
Abtreibung auch nicht anders gewesen. Andererseits wären ja Schwierigkeiten nicht dazu da,
ihnen aus dem Weg zu gehen, sondern sie in den Griff zu bekommen. Wenn man zu zweit wäre,
könnte das sogar Spaß machen, und er würde ja selbstverständlich zu ihr stehen, durch dick und
dünn. Kinder selbst wären sowieso eher Fans von blutjungen Eltern als von alten Knackern, da
wäre dann höchstens er selbst ein Problem. Das Abitur könnte sie immer noch nachholen, und
an der Uni könnte es sogar von Vorteil sein, wenn dann ihr Kind schon im Kindergarten
aufgehoben wäre und sie es sich nicht erst vor irgendeiner Prüfung von einem Kommilitonen
anhängen ließe. An der Klinik würde es natürlich einen Skandal geben, aber er könnte ja
jederzeit kündigen und eine Praxis übernehmen, am besten in einer anderen Stadt. Und sie
könnte doch einfach zu ihm ziehen, ihn sogar heiraten, spätestens in einem halben Jahr, wenn
sie achtzehn würde, noch bevor ihr Kind auf die Welt käme. Da könnten ihre Eltern sich noch
so sehr querstellen.
Eigentlich hatte er sich nur einigermaßen anständig benehmen wollen und nicht damit
gerechnet, daß sie schon am Abend mit Sack und Pack bei ihm vor der Tür stehen würde. Sie
war von zuhause abgehauen. Ihre Eltern hatten zwar keine großen Anstalten gemacht, nach ihr
zu fahnden, hatten eben zu Recht vermutet, daß sie sich zu ihrem Freund geflüchtet hätte, und
das wohl auch in Ordnung gefunden. Aber Volker war die Sache doch zu heiß geworden.
Jetzt war alles sehr schnell gegangen. Im Nachbarort Vechta hatte ein Kardiologe seine Praxis
aufgeben wollen, allerdings erst zum Jahresende. Eine Wohnung war dort schneller zu finden
gewesen, Volker hatte eben vorläufig die fünfzehn Kilometer fahren müssen. Katia war einfach
nicht mehr zur Schule gegangen, um ihren Aufenthalt nicht zu verraten. Sie hatte in Vechta ihr
eigenes Zimmer bekommen, aber nachts hatten sie zusammen gelegen. Sie hatten sich ja jetzt
als Paar gefühlt, und daß es irgendwie etwas Skandalöses war, hatte das Kribbeln nur verstärkt.
Ich erzählte Volker -pardon, Dr. Bauer-, daß ich so einen allerdings auf andere Art
folgenreichen "Ausrutscher im Bett" (wie er das so nett genannt hatte) auch schon einmal
ausgelöst hatte. Es war gleich mein zweiter Vorstoß in Sachen Liebe gewesen, ich war auch da
noch keine sechzehn. Es handelte sich um meinen Schwager Mathias. Von Thorsten, meinem
"Ersten", war ich damals irgendwie enttäuscht. Ich gehörte jetzt zwar zu der Handvoll
Mädchen, die auf dem Schulhof ab und zu eine kleine Umarmung oder ein Küßchen erwarten
konnten, aber das war auch schon alles. Thorsten, der Eroberer, redete nie über seine Erfolge,
umso mehr taten das aber seine stolzen Eroberungen, die er wohl nur wie Indianer-Skalps an
seinem Trappergürtel zählte, während sie alles gleich bei ihrer besten Freundin loswerden
mußten, unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Aber auf die Art sprach es sich natürlich
ziemlich schnell herum: Ein Küßchen auf dem Schulhof bekam anscheinend nur, wer zuvor mit
ihm auf der Matte gewesen war, und das wurden beinahe täglich mehr. Wir haben bei der
Abiturfeier einmal nachgerechnet, daß er innerhalb von zwei Jahren allein in unserer Klasse
mindestens sieben Mädchen entjungfert haben muß, von älteren, jüngeren und denen aus der
Parallel-Klasse ganz zu schweigen. Ich habe einen Haufen Männer kennengelernt, die dieses
Vergnügen (falls es eines ist) nicht ein einziges Mal gehabt haben, Andy zum Beispiel. Aber
irgendwie muß sich die Statistik ja auch wieder ausgleichen.
Als meine große Schwester Natalie ihr zweites Kind bekam, wurde ich gebraucht, um mich um
ihren kleinen Boris zu kümmern. Sie wohnte mit Mathias und Boris noch im Haus meiner
Mutter, in der Einliegerwohnung im Dachgeschoß, wo wir früher unsere Kinderzimmer gehabt
hatten. Mathias bewunderte ich: Er war ja schon ein richtiger Mann! Er hatte in Darmstadt
Architektur studiert und mit seiner Diplomarbeit gerade einen Nachwuchspreis gewonnen. Es
handelte sich um einen Kaufhaus-Entwurf für die Hansestadt Lübeck. Das vorgegebene
Grundstück neben dem Holstentor -bekannt von der Briefmarke- hatte sich für das verlangte
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Bauvolumen als zu klein erwiesen. Mathias hatte dieses Dilemma gelöst, indem er das
Kaufhaus in den Untergrund verbannt hatte. Im Straßenraum, aber eben unsichtbar, auf der
Achse, die von der Traveinsel mit der Lübecker Altstadt über die Obertrave-Brücke zum
Holstentor und weiter über den Graben zum Hauptbahnhof führt. Um die unterirdischen
Geschosse zu belichten, hatte er aus den Verkaufsflächen einen großflächig verglasten Innenhof
ausgeschnitten, der -als intellektuelles Highlight- das benachbarte Holstentor als Negativform
nachbilden sollte: Zwei zylindrische Hofteile, unten kegelförmig spitz zulaufend (entsprechend
den auf den Kopf gestellten Tortürmen), und dazwischen einen verbindenden rechteckigen Teil
dieses Lichthofes (dem eigentlichen Stadttor entsprechend). Rund um dieses mit
Rankgewächsen und Wasserspielen belebte Atrium sollte sich im Inneren des Kaufhauses der
Erschließungsweg für die Kunden winden, über diverse Rampen und abgestufte
Verkaufsebenen, im Prinzip ähnlich wie im New Yorker Guggenheim-Museum, bloß daß in
Mathias' Entwurf der Eingang eben oben war. Ich fand die Idee faszinierend, obwohl so ein
Ameisenbau ja eigentlich auch erschreckende Aspekte haben würde.
Jetzt war ich also Boris' Babysitter und mit ihm und meinem Schwager Mathias allein, als
Natalie vorzeitig in die Klinik mußte. Eine Problemschwangerschaft. Boris schlief noch im
Elternzimmer, Mathias natürlich auch, ich im Wohnzimmer auf der Couch. Mathias hatte einen
gesegneten Schlaf, auch wenn Boris mitten in der Nacht schrie, und ließ in aller Ruhe mich
nach dem Kleinen sehen. Ich schlief anfangs im züchtigen Pyjama, später im knöchellangen
Nachthemd, dann in einem fast schon sündigen Shorty, zum Schluß nur noch mit nabelfreiem
Hemdchen und Tangahöschen. Und registrierte nicht ohne Befriedigung, daß Mathias jedes Mal
mehr blinzelte, wenn ich Boris versorgte. Endlich verbarg er nicht mehr, daß er genauso wach
war wie ich, und fragte mich scheinheilig, ob ich nicht fröre, so halbnackt und barfuß. Doch,
gab ich zurück, ich hätte eine schreckliche Gänsehaut an den Beinen, ob er mal fühlen wollte?
Damit trat ich an sein Bett, und er legte pflichtschuldig -unter wohligen Schauern meinerseitsseine großen Pranken auf meine Schenkel.
Ich wußte von Natalie, daß er immer nackt schlief, und fand das irgendwie verworfen.
Tatsächlich benahm er sich aber eher wie diese lächerlichen älteren Kinohelden in Bettszenen à
la Hollywood: Präsentierte mir die breite Männerbrust offen (mir eigentlich zu breit, aber bei
Erwachsenen mußte man da wohl Konzessionen machen), verhüllte aber seinen Unterleib
schamhaft unter der Bettdecke, als könnte er damit ein aufgewecktes Mädchen wie mich
glauben machen, daß er einen solchen überhaupt nicht hätte. Mich ritt der Teufel: Ich sagte
ganz harmlos, eigentlich könnte ich ja auch hier schlafen, dann wäre ich schneller bei Boris,
wenn er wieder schreien sollte. Damit hob ich Mathias' Decke an, erspähte für einen
Augenblick seine nicht ganz unbeteiligt gebliebene Blöße und krabbelte zu ihm ins Ehebett.
Mathias versuchte möglichst viel Abstand zu halten. Ich kehrte ihm erst einmal den Rücken zu
und rückte vorsichtig näher. Als ich immer noch quengelte, daß ich fröre, legte er immerhin
seine Arme um mich. Aber unten herum wahrte er eisern Distanz, wahrscheinlich lag er
ziemlich diagonal. Leicht war es nicht für ihn. Ich fragte ihn scheinheilig, wie lange ein Mann es
eigentlich aushalten könnte ohne Sex: Natalie war ja schon vierzehn Tage in der Klinik! Er
meinte nachdenklich, theoretisch ginge das unbegrenzt, ich sollte nur mal an den Papst denken.
Allerdings würde wohl jeder Mann dabei mit der Zeit ziemlich kribbelig und für seine
Umgebung ungenießbar. Ich drehte mich besorgt in seine Richtung und flüsterte, mit einem
ungenießbaren Mathias wollte ich aber nicht unter einem Dach leben. Oder unter einer Decke
stecken! Dann müßte eben ich für meine Schwester einspringen, lachte er eher gequält. Er
nähme mich ja überhaupt nicht ernst, warf ich ihm vor. Sollte ich ihn vielleicht ungerührt leiden
lassen? Natalie würde ich schon nichts verraten.
Damit zog ich mir kurz entschlossen das Hemdchen über den Kopf und gab ihm einen Kuß von
der Sorte, wie ich sie mit Thorsten geübt hatte und wie sie den Gipfel meiner
Verführungskünste darstellten. Ich wäre total verrückt und schließlich noch nicht einmal
sechzehn, begründete er sein letztes lahmes Rückzugsgefecht. Ob er denn wirklich glaubte, daß
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ich ihn als gewissenlosen Verführer unschuldiger kleiner Mädchen an meine liebe Schwester
oder gar an den Staatsanwalt verpfeifen würde, zog ich ihn noch zusätzlich auf.
Und dann wuchtete er sich endlich über mich. Ich war überrascht, wie schwer er war. Leicht
eingeschüchtert rammte ich ihm jetzt doch erst einmal die Fäuste in die Rippen und versuchte
ihn wenigstens etwas zu bremsen. Außerdem, "ohne" dürfte er es mit mir auf keinen Fall
machen, ich nähme schließlich die Pille noch nicht. Nach dem Berliner Abenteuer hatte ich ja
schon genug Ängste ausgestanden. Er sprang unwillig auf, jetzt ziemlich ungeduldig und
ungehalten wegen der Unterbrechung, und ich sah ihn zum ersten Mal in voller Schönheit, einen
Kerl wie eine griechische Statue, wenn man mal von der bei klassischen Skulpturen immer
leicht untertrieben dargestellten Männlichkeit absah. Er kam jetzt allerdings vor lauter
Aufregung fast ins Stolpern. Erst machten sie einen scharf, die jungen Dinger, und dann
machten sie Rückzieher! Er fühlte sich offensichtlich völlig als mein Opfer. Dabei hätte ja wohl
er den Hauptärger gehabt, wenn ich ihn ins offene Messer laufen lassen und mich von ihm
womöglich auch noch hätte schwängern lassen.
Immerhin fand er nach ewig langem Gewühle in seinem Arbeitszimmer, versteckt in einer
Zeichnungsrolle, doch noch das Gesuchte: Bei und für Natalie würde er die Dinger wohl nicht
brauchen, anscheinend aber bei anderer Gelegenheit! Außerdem brachte er gleich auch noch
seine Videokamera und ein Stativ mit. Er war jetzt wieder etwas ruhiger und schaffte es
tatsächlich, das Equipment vor seinem -unserem!- Bett aufzubauen. Ich sollte später einmal
eine Erinnerung an mein erstes Mal haben, erklärte er feierlich. Eine komische Idee, mal
abgesehen davon, daß er damit ja nicht so ganz recht hatte! Aber Mathias glaubt bis heute
daran, mich in die Welt der Liebe eingeführt zu haben. Mit diesen Gefühlstötern spürt ein Mann
wohl nichts.
Dr. Bauer lachte schallend. Ich wäre ja schon als junges Mädchen ein ganz schönes Früchtchen
gewesen! Wo ich überhaupt den jungen Mann aus den Dünen gelassen hätte?
Ich erklärte ihm, daß ich Benny eigentlich nur ein bißchen Mut hatte machen wollen, sich mit
seiner jungen Freundin nicht länger in Enthaltsamkeit zu quälen. Aber dann hätte ich mich
regelrecht in ihn verliebt, inzwischen hätte ich sogar schon so meine Pläne mit ihm:
Sicher würde er erst einmal mit Jenny zusammenziehen, sobald sie beide alt genug dazu wären.
Ich würde ihn aber nicht aus den Augen lassen und mich ab und zu bei ihm in Erinnerung rufen.
In vielleicht acht Jahren, wenn er fünfundzwanzig wäre, hätte er sicher sein Studium geschafft.
Dann würde ich mir von ihm "spontan" ein Kind machen lassen und ihn heiraten. Ich wäre
dann dreiunddreißig, lächerliche drei Jahre über meinem Limit. Früher hätte ich nämlich immer
gesagt, mit dreißig wollte ich entweder tot sein oder verheiratet. Das wäre Spöttern zufolge ja
sowieso das selbe, meinte Dr. Bauer immer noch lachend. Katia hätte auch so ähnliche
Ansichten geäußert, als ihr Schwiegervater seinen Heiratsantrag erneuert hatte, nach ihrer
Scheidung von Jens. Klar, meinte ich, sie sei ja auch erst zwanzig. Mir käme aber heute eine
feste Beziehung gar nicht mehr ganz so schrecklich vor. Benny könnte ja auf unser Kind
aufpassen, während er an seiner Doktorarbeit schrieb. Vom zweiten Kind an würde das dann
ich übernehmen, und er könnte sich ganz seiner Karriere widmen. Sicher würde er sich
irgendwann in eine jüngere Frau verknallen, aber gegessen würde zuhause. Und falls nicht,
könnte ich immer noch die drastischen Methoden meiner Schwester anwenden! Aber vielleicht
käme ja auch irgendjemand Benny zuvor. Wenn es der Richtige wäre, könnte ich mir durchaus
vorstellen, auch heute schon ja zu sagen.
Wie denn der aussehen müßte, wollte Dr. Bauer wissen. Eigentlich... und damit schoß mir das
Blut in den Kopf und ich wurde zum ersten Mal seit langem puterrot. Aber es mußte heraus:
Eigentlich so ähnlich wie er, der Doktor! Aber er sollte jetzt ja nicht gleich auf die Idee
kommen, auch mir noch einen Antrag zu machen! Jetzt war Volker ebenfalls verlegen, und ich
erzählte ihm zur Entspannung und Ablenkung lieber erst einmal die Geschichte von Natalies
Rache:
Als sie mit der neugeborenen Svenja aus der Klinik heimkam, hatte sie instinktiv gespürt, daß
mit ihrem Mathias irgendetwas nicht stimmte. Und dann hatte sie seine gut versteckte private
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Videofilmsammlung entdeckt. Mathias war ja während seines Studiums jahrelang höchstens an
den Wochenenden und in den Ferien in O. gewesen und hatte natürlich ein Doppelleben
geführt. Es waren drei verschiedene Mädchen, er hatte sie alle auf Video festgehalten, aber eine
tauchte immer wieder auf und gefiel auch mir am besten. Zum Glück hatte ich seine Sammlung
nämlich schon vor Natalie entdeckt, als ich wieder mal Boris zu hüten hatte, und hatte
wenigstens "unser" Video sichergestellt. Die schöne Südhessin war so eine Art Jane-Fonda-Typ
(nur zehn Jahre jünger) und eigentlich viel attraktiver als Mathias´ Eheweib, meine Schwester.
Mit "Jane", wie ich sie bei mir nannte, machte er es immer auf seinem Darmstädter
Schreibtisch. (Seitdem denke ich mir übrigens bei Männern mit stets sauber aufgeräumtem
Schreibtisch meinen Teil! Ein Charakterfehler ist es ja sowieso.)
Am besten gefiel mir eine Aufnahme, bei der seine Kamera wohl an ihrem Kopfende stand. Sie
lag auf dem Rücken, mit gespanntem Hohlkreuz, die Arme unter dem Kopf, die Füße um
seinen Hals verschränkt. Er an der Tischkante mühte sich ab, aber eigentlich hätte es auch
genügt, nur sein Gesicht abzufilmen. Leider kriegt man ja als selbst Beteiligte im Liebesspiel
beim Partner diesen verbissenen Willen zum extremen Gefühl meist nicht so richtig mit, weil
man genug an den eigenen Empfindungen zu beißen hat!
Die Gegenmaßnahmen meiner Schwester waren, wie gesagt, drastisch. Sie hat es mir später
gebeichtet: Sie hat Mathias ein ganzes Jahr lang ihre Pillen, statt sie selbst zu nehmen, morgens
unters Müsli gemischt. Ich nenne jetzt hier bewußt keinen Produktnamen, um keine
Nachfolgetaten zu provozieren, nur soviel: Es handelte sich um ein Präparat, das auch jungen
Mädchen gegen Akne und, unter einer anderen Handelsmarke, Männern mit krankhaft
übersteigertem Geschlechtstrieb zur Dämpfung desselben verordnet wird. Bei Mathias
allerdings bewirkte es dessen völliges Aussetzen, weil sein Trieb wohl von Natur aus eher
normal entwickelt war.
Notgedrungen mit ihm Leidtragende waren natürlich meine Schwester und vielleicht noch diese
junge Frau in Darmstadt, aber schließlich auch ich, die ich mir Mathias' plötzlich erlahmte
Leidenschaft überhaupt nicht erklären konnte und die Sache mit ihm eigentlich gern noch eine
Weile weiter betrieben hätte. Damals ging auch schon mein lieber Andy bei uns ein und aus, in
Sachen Schülerzeitung, Sonderseiten für die Unterstufe. Er hat später immer wieder behauptet,
meine große Schwester hätte in dieser schweren Zeit ihrer selbstverschuldeter Enthaltsamkeit
mehr als einmal versucht, sich ausgerechnet an meinen kleinen Schulfreund heranzumachen.
Bei Andy weiß man ja nie, ob er über- oder untertreibt. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, zu
was allem eine Frau fähig ist, die nicht bekommt, was sie braucht.
Vielleicht ist mein Andy ja auch tatsächlich mitverantwortlich für Natalies dritte
Schwangerschaft, jedenfalls sieht der Kleine -sie hat ihn überflüssigerweise auch noch Andreas
genannt ! - ihm schon etwas ähnlich. Mathias dagegen deutlich weniger. Na ja, jetzt ist die
Sache sowieso verjährt und der Kleine auch schon acht oder neun.
Das mit der Ähnlichkeit sei ja so eine Sache, meinte Dr. Bauer. Sein Sohn Jens jedenfalls wäre
spätestens seit Lisas Geburt überzeugt, ihr Vater zu sein, weil sie ihm so ähnlich sah. Er hatte
sich mit Katia schnell versöhnt, als er mitbekommen hatte, daß sie ein Kind bekam. Ein
bißchen ritterliches Verantwortungsgefühl hatte Volker ihm wohl schon anerzogen. Katia hatte
Jens zwar immer wieder gefragt, woher er denn die Gewißheit nähme, daß gerade er an ihrem
Zustand schuld wäre, wo er sie doch in der fraglichen Zeit alleingelassen hätte, aber Rechnen
war nicht seine Stärke, vielleicht hatte er auch tatsächlich ein paar Zweifel gehabt, hätte aber
wohl sogar über eine gegenteilige Gewißheit in dieser Sache hinweggesehen, weil er ja an einem
solchen Ausrutscher dann auch nicht ganz unschuldig gewesen wäre.
An Katias achtzehntem Geburtstag hatten die Beiden jedenfalls das Aufgebot bestellt, und drei
Monate später bei der Geburt der Kleinen war dann für Jens alles klar. Daß Lisa seine
Stiefschwester sein könnte, lag außerhalb seiner Vorstellungskraft, Väter sind ja asexuelle
Wesen, auch wenn sich Volker und Katia weiterhin oft und durchaus herzlich auch vor seinen
Augen umarmten. Für ihn eben als Schwiegertochter und -papa. Die beiden jungen Leute
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bekamen Bauers alte Diepholzer Wohnung, wo Jens sowieso der Schule wegen geblieben war.
Auch Volkers alter Chef samt Gattin ließen sich vom Charme ihrer Enkelin Lisa betören und
versöhnen.
Jens allerdings war seiner Rolle als Vater einfach noch nicht gewachsen und ging lieber weiter
mit seinen Kumpels auf Tour. Katia hatte bei Bauer ihre Lehre begonnen, da konnte sie Lisa
mitbringen. In der Pause aßen sie zusammen in der neuen Wohnung unweit der Praxis zu
Mittag. Erst war es nur eine aus Mangel geborene spontane Idee, dann wurde es eine liebe
Gewohnheit, eine kleine Siesta mit Kuscheln anzuschließen. Als Jens dann zum Studium nach
Münster ging und überhaupt nicht mehr heimkam, blieb Katia auch über Nacht in Vechta und
reichte die Scheidung ein.
Die Sonne brannte immer unbarmherziger. Ich legte mich auf den Bauch und überließ es Dr.
Bauer, meinen Rücken einzucremen. Der zog routiniert meine Tanga-Schleifchen am Nacken
und zwischen den Schultern auf und widmete sich gewissenhaft seiner Aufgabe, ließ kein
Fleckchen aus, auch nicht die gefährlichen an den Ohren, am Haaransatz und den Rändern des
Unterteils. Als er soweit fertig war, gab er mir einen Klaps auf den Po und rief : "So, und nun
die Vorderseite !" - Ich wollte doch mal sehen, wie weit er gehen würde, aber er traute sich
tatsächlich. Allerdings schaute er nicht hin, was da seine Finger taten, sondern suchte meinen
Blick, um im Zweifel sofort aufhören zu können. Aber ich hielt seinem Blick und seiner
Berührung stand und seufzte nur: "Ganz schön heiß, nicht ?" - Eigentlich zu heiß, meinte er.
Ob ich nicht Lust hätte, lieber auch ein wenig in seinen Fotoalben zu blättern ? - Briefmarken
oder Schmetterlinge sammelte er wohl keine, kicherte ich frech, war aber schon ziemlich
neugierig und ging einfach mit. Einen Ruf hatte ich ja nicht mehr zu verlieren.
Sein Hotelzimmer war schrecklich eingerichtet, weiß und babyrosa, eine Art plumpes Rokoko,
überall ovale Spiegel in güldenem Schnitzwerk. Dr. Bauers Fotoalbum war natürlich nicht von
der Sorte, von dem in Melanies doch leicht geschöntem Bericht die Rede gewesen war. Es
handelte sich vielmehr um exzellente Aktaufnahmen von Katia, schwarz-weiß und
großformatig, niemals vom ganzen Körper, sondern nur um Ausschnitte von Hautpartien,
Wölbungen, Haaransätzen und Strukturen, manchmal an Materialcollagen, manchmal an
Landschaften erinnernd, immer sehr ästhetisch und erotisch. Ob ich mich nicht auch so
fotografieren lassen würde, wollte er wissen. So einfach konnte ich das aber nicht sagen: Von
einem Liebhaber wohl schon, sicher aber nicht von einem wildfremden Fotografen, der wohl gar
noch Sie zu mir sagte ! "Ich heiße Volker, und du?", reagierte der immerhin schnell und
staubtrocken. - "Lana!" - Eigentlich ja Swetlana, aber den Namen hasse ich. Mein Vater
schwärmte eben für alles Russische und trug auf den alten Fotos so einen schrecklichen LeninBart, als er mich bei Mama in Auftrag gab. Die war damals auf dem Papier noch mit Natalies
Vater verheiratet. Ein paar Tage nach meiner Geburt war der Bart ab, die Russen waren in der
Tschechoslowakei einmarschiert. Aber der Name blieb natürlich!
Als Mama endlich geschieden war, bekam auch mein Erzeuger kalte Füße und löste sich in Luft
auf. Immerhin hat er alle die Jahre brav seine Alimente überwiesen. Als ich achtzehn war, habe
ich ihn einfach mal überfallen, reine Neugier meinerseits. Er war unglaublich stolz, was für eine
ansehnliche junge Dame er zustandegebracht hatte, obwohl sein Anteil daran ja eher klein war.
Dann wollte er mir unbedingt zeigen, wie er für mich früher immer den Reitesel gespielt hatte,
als ich zwei oder drei war. Wir krochen gerade auf dem Teppich herum, er auf den Knien, ich
rittlings auf seinem Rücken, als seine Freundin heimkam, nur unwesentlich älter als ich. Ich
verabschiedete mich schnell und überließ es lieber ihm, ihr zu erklären, was es mit mir und
meinen seltsamen Reitübungen auf sich hatte. Aber eigentlich war er ganz nett.
Bei Melanie hätte Volker lieber mal sein Glück versuchen sollen mit den Nacktaufnahmen! Ich
erzählte ihm, daß sie sich damit tatsächlich früher ein bißchen Geld fürs Studium dazuverdient
hatte. Die Werbeagentur aus einer Kleinanzeige war ein Ein-Mann-Betrieb, der Inhaber
Fotograf, Komparse, Texter und Grafiker und natürlich Art Director in einem, ein untersetzter
Enddreißiger mit Bauchansatz und Halbglatze. Bei den ersten Aufnahmen -per Selbstauslöser
im Maschinengewehrtakt geschossen- mußte sie ihm, nackt bis auf ein Paar Turnschuhe, mit
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einem gewaltigen Satz und angegrätschten Beinen in die ausgebreiteten Arme springen. Er trug
dabei außer Turnschuhen im Partnerlook noch einen Jogging-Anzug der selben Marke. Es kam
nach vielen Versuchen ein Spitzen-Plakat heraus, zwar angefeindet wegen Frauenfeindlichkeit,
aber ein Durchbruch für die kleine Agentur. Zum schnellen Nachzieher hatte dann Melanie die
Idee gehabt: Diesmal war es er, der nichts als Turnschuhe trug, sie dafür einen LatexTauchanzug und Schwimmflossen.
Es war das erste Mal in der deutschen Werbung gewesen, daß ein nackter Mann zusammen mit
einer Frau und noch dazu mit seinen lustig baumelnden Attributen abgebildet war, im freien
Flug beim Bockspringen über ihrem Rücken. Eine Reaktion auf die angebliche
Frauendiskriminierung beim ersten Plakat. Auch der Text war eine Frechheit: "Sport - zu zweit
am schönsten!" - Volker hatte die Plakate damals natürlich auch gesehen, aber Melanie nicht
damit in Zusammenhang gebracht.
"Du, Volker?", sagte ich leise, als eine Pause entstanden und uns beiden anscheinend
gleichzeitig plötzlich bewußt geworden war, was wir zwar bisher nicht offen ausgesprochen
hatten, was aber natürlich der eigentliche Anlaß unserer kleinen heure bleue in diesem
schäbigen Hotelzimmer war: "An mir mußt du doch eigentlich wirklich nicht erst mit der
Kamera herumfuchteln, um mir etwas näher zu kommen. Meinen Körper hast du doch längst
schon bis ins letzte Fältchen gemustert, gestern in den Dünen und vorhin am Strand. Mein
Innerstes kannst du natürlich noch viel genauer ausloten, wenn wir noch ein paar Stündchen
plaudern. Aber smalltalk brauchen wir wirklich nicht zu machen. Wenn du ganz einfach scharf
auf mich bist, würde ich an Deiner Stelle bloß mal fragen, ob da nichts zu machen ist. Und ich
werde genauso einfach ja oder nein sagen!" - "Vielleicht auch ja?" - "Ja!"
Und damit ließ ich mich rücklings aufs Bett fallen. Er zog mir vorsichtig wie einem
Porzellanpüppchen die Sandalen aus, die Jeans über die Füße und das Ringelhemd über die
Ohren. Er war auch praktisch an- und mit meiner Hilfe schnell ausgezogen. Jetzt war der Bann
des wohlerzogenen Benehmens gebrochen, und er hatte es plötzlich so eilig, daß ich ihn
kichernd tadeln und bremsen mußte: "Aber Herr Doktor, wissen Sie denn nicht, was der
Bundesgesundheits-minister empfiehlt?" - "Doch, ich soll im Bett nicht rauchen!" Natürlich
rauchte er überhaupt nicht und hatte mich bestens verstanden. Einen Raucher hatte ich
überhaupt erst einmal im Bett gehabt: Thomas. Den einzigen Mann in meinem Liebesleben, von
dem ich mich niemals küssen ließ, weder vorher noch nachher. Obwohl ich das sonst eigentlich
fast noch mehr mag als das Hauptgericht! Volker drängelte immer noch schrecklich und
empfand jetzt wohl sogar meinen geliebten kleinen Free-Style-Ringkampf als
Zeitverschwendung. Schließlich machte ich ergeben die Augen zu und ließ ihn gewähren. Als
ich sie allerdings wieder aufriß, weil -natürlich wieder einmal im passendsten Augenblick- das
Telefon schepperte, bekam ich einen Lachanfall: Ich hatte in einem der neckischen Spiegel im
Stuck der Deckenkehle sein Hinterteil entdeckt, wie es über mir auf und ab ging, ein Anblick
zum Schreien! Genau wie gestern bei Katia. Volker mißverstand mein Gekreische wohl als
hysterisch empfundenen Orgasmus, was ihn seinerseits bis zum Geht-nicht-mehr stimulierte,
leider viel zu früh für mich. Das Telefon hatten wir natürlich nicht abgenommen,
wahrscheinlich war es Katia von Helgoland aus gewesen, mit dem berühmten weiblichtelepathischen Instinkt. Ich ließ Volker einfach auf mir liegen, vielleicht käme er ja noch einmal
zu Kräften. Viel Hoffnung hatte ich allerdings nicht, immerhin war ich für ihn nach Katia und
vermutlich auch Melanie ja wohl die dritte Frau in kaum mehr als vierundzwanzig Stunden.
Und er nicht mehr der Jüngste.
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3. Ping-Pong im Salon
Es folgte eine Reihe von Tagen, in denen nichts geschah, jedenfalls nichts von der zuvor
beschriebenen Art. Gut, Volkers geschnitzter Holzkopf ging natürlich unaufhaltsam seiner
Vollendung entgegen. Er selbst war wohl der Meinung, daß er ihn am Ende der Woche, wenn
sein Urlaub zu Ende gehen würde, als Abschiedsgeschenk erhalten würde. Als Briefbeschwerer
oder als Türklopfer für die Praxis, was weiß ich! Ich mußte ihn aber enttäuschen, ich wollte
mein Kunstwerk nämlich unbedingt noch zu einer kompletten Marionette ergänzen, und für
deren weißen Arztkittel brauchte ich nun einmal meine Nähmaschine zuhause in Geismar. Bei
Männern liebe ich es einfach, alle Fäden in der Hand zu behalten! Vielleicht würde ich ihm aber
auch irgendwann das komplette Werk verehren, seine Adresse in Vechta hatte ich mir jedenfalls
schon immer einmal geben lassen. Oder ich würde den ganzen Hampelmann Katia schenken,
damit sie immer etwas zum Spielen hätte. Katia und Uwe waren mit der kleinen Lisa jetzt auch
öfter in "unserer" Sandburg, die sich immer mehr zu einer Art gesellschaftlichem Mittelpunkt
des Strandlebens entwickelte.
Melanie, die unser Treiben wegen ihres Segelkurses nur sporadisch und mit etwas Distanz
beobachtete, bemerkte spöttisch, ich säße dabei wie eine Spinne im Netz und saugte unseren
neuen Bekannten ihr Leben aus, oder wenigstens ihre Lebensgeschichte. Das war aber doch
etwas einseitig gesehen. Andy verglich unsere Clique, deutlich charmanter, mit einer
frühhumanistischen, vor der Pestilenz geflüchteten Tafel- und Becherrunde (wie bei
Boccaccio), oder mit dem Plaudersalon von Rahel Varnhagen. Tatsächlich redeten wir über
Gott und die Welt, in einem seltsamen Niemandsland zwischen der freimütigen Beichte fast
vergessener Erlebnisse und der abgehobenen Diskussion philosophischer Theorien. Jenny
behauptete, wir hätten allesamt einen Sonnenstich, schaltete ihr Hirn auf Durchzug und
widmete sich hingebungsvoll der wahren Bestimmung des Weibes, nämlich mit ihrem Benny zu
schmusen, vor unseren neidischen Augen. Als ob die Menschheit nichts Wichtigeres
anzupacken hätte! Aber wahrscheinlich hatte sie ja sogar Recht.
Melanie und Andy waren jedenfalls kein Haar besser als der Rest unseres Debattierclubs, wenn
auch sie uns mal ab und zu Gesellschaft leisteten. Vor allem hatten sie die Begabung, sich über
Fragen zu streiten, in denen sie sich eigentlich einig waren. Typisch für Geschwister. Ich
erinnere mich an eine absurde Diskussion, die sie vom Zaun gebrochen und nach ein paar
vergeblichen Versuchen von mir, mich einzumischen, fast allein bestritten hatten. Es ging um
die Frage einer Frauenquote bei der Besetzung von beruflichen Positionen oder öffentlichen
Ämtern. Das Absurde war, daß sie beide übereinstimmend eine Quote ablehnten und sich nur
über die Gründe dafür stritten. Melanie war der Meinung, jede starre Quote müßte automatisch
zur Benachteiligung einzelner Männer gegenüber gleich oder sogar minder qualifizierten Frauen
führen, und damit würde die Frauenbewegung einen Teil ihrer Sprengkraft verlieren, nämlich
ihre moralische Überlegenheit. Als ob es überhaupt um Moral ginge! Ich selbst kann jedenfalls
eigentlich keinem einzelnen Mann den "moralischen" Vorwurf machen, mich je als Frau
zurückgesetzt zu haben. Trotzdem, wenn ich zum Beispiel an meine in den Wind geschriebene
Doktorarbeit denke, kam doch aus der männlichen Ecke immer wieder offen oder
unausgesprochen die Meinung: Du kannst das nicht, du solltest das nicht, und du brauchst das
auch nicht!
Andy sah gerade in der mangelnden Begabung der Frauen für die bei Männern so beliebten
Seilschaften für uns die Chance, unsere Qualifikation aus jedem Zweifel herauszuhalten und
mit diesem Legitimationsvorsprung (offiziell zumindestens gilt ja das Leistungsprinzip) alle
Männer in formal gleicher Position glatt an die Wand zu spielen. Und genau dieses KarriereArgument würde durch eine Frauenquote verspielt! Das hieße demnach, daß in Karrierefragen
Hybris und Chuzpe schlechte Karten hätten gegenüber solidem Können? Also, ich weiß nicht!
Ich hatte während dieser doch eher luftleeren Diskussion reichlich Zeit, mich mit den wegen
der Beredsamkeit der beiden Geschwister überwiegend non-verbalen Äußerungen der Übrigen
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im Kreise zu befassen. Katia sah fast nie ihren Uwe an, manchmal warf sie einen fast
verstohlenen Blick auf ihren angeblichen Vater. Aber wenn Andy redete, hing sie an seinen
Lippen. Während sie sonst eher verkniffen die Arme um die Knie geschlungen oder vor der
Brust verschränkt hielt, löste sie sich aus ihrer Selbstumklammerung, wenn er das Wort an sich
riß und sich unter raumgreifenden Gebärden und umherschweifenden Blicken seiner
Zuhörerschaft vergewisserte; sie stützte sich nach hinten ab, schüttelte ihre blonde Mähne und
genoß es, wenn sein Blick an ihr hängenblieb und über ihren wohlgeformten Unter- oder
Oberbau glitt. Nur wenn Andy schwieg oder in eine andere Richtung blickte, sah sie etwas
melancholisch Jenny und Benny beim Schmusen zu. Einmal beobachtete ich, wie Benny Katia
ein Lächeln zurückschickte, ohne dabei allerdings seine Hände von Jenny zu lassen. Katia
wurde knallrot.
Aber auch Uwe hatte nur für Andy Augen. Entweder hatte er bemerkt, wie sehr Katia von ihm
fasziniert war, und nahm schon einmal Maß an seinem Rivalen. Oder er war tatsächlich schwul.
Und Volker? Der konnte sich wohl zwischen Katia, Melanie, Jenny und mir nicht so recht
entscheiden. Ohne mir jetzt in die Tasche lügen zu wollen, meine ich aber, daß ich bei ihm
schon besonders gute Karten hatte. Ich verriet ihm durch ein Zwinkern, daß ich seine
Aufmerksamkeit registriert hatte, und räkelte mich zur Belohnung so, daß er mich mit seinen
Blicken überall streicheln konnte, wo er es wohl nicht nur mit Blicken getan hätte, wenn wir
allein gewesen wären. Melanie verhielt sich leider so ähnlich und schaffte es tatsächlich, Volker
ab und zu von mir abzulenken. Und auch Jenny war für ihn durchaus nicht uninteressant: Nun
ja, ich wußte ja, daß er eine besondere Schwäche für die weibliche Jugend hatte!
Aber auch Melanie ihrerseits war hin- und hergerissen: Es machte sie jedenfalls offensichtlich
eifersüchtig, daß als Einzige Jenny und nicht sie tatsächlich geherzt und gedrückt wurde. In
Bennys Armen hätte das wohl auch Melanie gefallen. Andy schließlich hätte sich wohl immer
noch ganz gern von der "kleinen" Jenny über meine notorische Hartherzigkeit hinwegtrösten
lassen, aber auch Katia hatte es ihm angetan. Er hatte mir früher einmal verraten, daß es ihm
noch nie so richtig gelungen wäre, bei einer Blondine zu landen, obwohl so ein Rauschgoldengel
eigentlich immer schon sein Traum gewesen wäre.
Als Andy sechzehn war, hatte er sich in so ein Mädchen verliebt, seine erste große Liebe. Sie
war groß und schmal und so alt wie er. Sie mochte ihn wohl schon auch, hatte ihn aber immer
wieder hingehalten. Als sie dann doch einmal für ein ganzes Wochenende sturmfreie Bude
melden konnte und es endlich passieren sollte, war er schon an der Haustür von ihrer älteren
Schwester Tanja abgefangen und in ihr Zimmer gedrängt worden. Sie hatte zu Heulen
angefangen und ihm bedeutet, Nora -die kleine Schwester, auf die Andys schwärmerischer Blick
gefallen war- wäre nicht allein. Als Tanja heimgekommen wäre, hätte sie sich schon gefreut, als
sie Svens Harley vor der Tür gesehen hätte, aber im Haus wäre er nirgends zu finden gewesen.
Sven war ihr Freund, eigentlich. Allerdings wäre Noras Zimmer verriegelt gewesen, und man
hätte sie mit ihm flüstern und kichern gehört, wie man eben bei verbotenen Spielchen so
herumalbert. Bevor Andy und Tanja unweigerlich auch noch den Rest dieser Unverfrorenheit
hatten mit anhören müssen, waren sie zusammen aus dem Haus gerast, im Leiden vereint.
Immerhin war ja die große Schwester genauso blond und damit begehrenswert wie die kleine.
Allerdings war sie schon achtzehn und damit für Andy eigentlich viel zu alt.
Andererseits kannte er Tanja eigentlich schon länger als seine angebetene Nora: Die hatte er
nämlich erst kennengelernt, weil ihre und seine große Schwester -meine Freundin Melanie- in
die selbe Klasse am Käthe-Kollwitz-Gymnasium gingen. Aber die Große war für ihn seinerzeit
wohl doch ein zu dicker Fisch, an den er sich noch nicht herantraute. Diese Tanja hatte
übrigens auch noch einen Bruder, Thomas den Raucher, ich glaube, ich hatte ihn schon
erwähnt. Und bei Tanjas und Thomas´ Freund, dem vielseitigen Sven, mußte zeitweise auch ich
mit Tanja konkurrieren. In O. ist die Welt eben doch ziemlich klein. Aber das ist eine andere
Geschichte, vielleicht erzähle ich sie später.
Andy und Tanja waren jedenfalls erst vom Schölerberg, wo die Schwestern wohnten, quer
durch die Stadt zum Heger Tor gerannt, dann die Bergstraße hoch zum Westerberg. Gut
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anderthalb Stunden strammer Fußmarsch! Bei "Max und Moritz", einer bei Liebespärchen seit
Urzeiten beliebten Baumgruppe in beherrschender Lage, hatten sie sich zum ersten Mal geküßt.
Erst im Heger Holz, noch eine halbe Stunde weiter, waren sie zur Ruhe gekommen: Sie hatten
fast gleichzeitig eine mit Waldmeister gepolsterte, hinter Unterholz und Kaiserfarn gut
versteckte, verführerisch duftende lauschige Insel entdeckt. Tanja war schneller gewesen, hatte
ihr Kleidchen über den nächsten Zweig geworfen und lag schon zu allem bereit, als Andy noch
aufgeregt an seinem Reißverschluß herumfummelte. Aber entweder war ihr das Plätzchen
hinten herum doch ein wenig zu sumpfig, oder Andy stellte sich einfach zu ungeduldig und
ungeschickt an, als er sich auf sie stürzte, jedenfalls wollte sie anscheinend plötzlich nicht mehr,
strampelte, biß und kratzte ihn und zwang ihn aufzuhören. Vielleicht gehörte aber Tanja auch
zu den seltsamen Frauen, die den letzten Kick bloß erleben, wenn ihr Widerstand von einem
"ganzen Mann" gebrochen wird, und sei es auch nur in einer Art Spiel mit verteilten Rollen.
Andy jedenfalls hatte das seiner Erzählung nach nicht getan und träumte deshalb wohl bis heute
von seiner unerreichbaren blonden Traumfrau.
Oder hatte er sie etwa soeben gefunden und war ihr schon zum Greifen nah? Jedenfalls flirtete
er immer ungenierter mit Katia. Mal kniete er sich vor ihr hin und nahm fürsorglich ihr Gesicht
in die Hände, vorgeblich um ihr ein Stäubchen aus dem Augenwinkel zu fischen, mal streichelte
er ihre Füße, wenn sie in eine Muschel getreten war, bat sie, ihm den Rücken einzucremen, was
sie mit gleicher Hingabe eher als erotische Massage zelebrierte, von hin- und hergeworfenen
Blicken ganz zu schweigen. Und wenn sie nach dem Baden den Bikini wechseln mußte, war es
Andy und nicht etwa Uwe, der ein Badetuch als Sichtschutz um sie zu schlingen und
hochzuhalten hatte und dabei natürlich schamlos über den oberen Rand blinzelte. Volker
schaute diesem kaum zu übersehenden Treiben mit eher gequältem Lächeln zu, Uwe dagegen
mit seltsam heiterer und fast unbeteiligter Gelassenheit.
Als ich einmal unverhofft für zehn Minuten mit Melanie und Jenny allein war (Katia, Lisa und
die Männer waren im Wasser), erzählte ich den beiden Hübschen von Volkers Foto-Hobby und
den tollen Aktaufnahmen von Katia, die er mir gezeigt hatte. Eigentlich hätte ich ja auch ganz
gern von mir ein paar solche Fotos gehabt, um dem einen oder anderen unentschlossenen Lover
ein bißchen Appetit zu machen. Aber allein würde ich mich (behauptete ich jedenfalls) zu
einem solchen Vorhaben nicht in Volkers Lasterhöhle trauen. Wenn allerdings Melanie oder
Jenny oder beide mitmachten, wäre das ja vielleicht etwas anderes. Ich hatte mich nicht
getäuscht: Die Beiden waren ebenfalls sofort Feuer und Flamme. Jenny dachte sich ihre
Aufnahmen als Betthupferl für Benny, Melanie wie ich "für alle Fälle". Jenny beauftragte mich,
erst einmal bei Volker Katias Album auszuleihen, damit sie sich ein Bild machen könnte. Ich
hatte das eigentlich erwartet, hatte allerdings mit den Studien von Katia in Wirklichkeit etwas
ganz anderes vor: Ich wollte damit bei Andy die Begehrlichkeit auf seinen blonden Traum noch
etwas verstärken und ihn zu Taten treiben. Natürlich nicht ganz uneigennützig! Denn einmal
wäre es für meine Absichten bei Volker sicher von Vorteil, erst einmal sein Lehrmädchen seinen
Doktorspielen zu entziehen, zum anderen konnte ich ja nicht wissen, ob ich nicht auch auf
Andy noch einmal würde zurückgreifen müssen, und dann sollte er doch nach Möglichkeit
schon ein bißchen mehr Übung in Liebesdingen haben, als er heute vorzuweisen hatte. Und wer
könnte ihm die wohl besser vermitteln als seine Traumfrau, die ihn ja offenbar ebenfalls
anhimmelte!
Als ich Andy dann abends auf dem Heuboden von dem Album erzählte und es ihm nach langem
gespieltem Zögern (ich wüßte ja nicht, ob das Katia denn überhaupt recht wäre!) schließlich
aushändigte, reagierte er wie erwartet. Er geriet total aus dem Häuschen und konnte sich nicht
satt sehen. Schließlich machte ich einfach rigoros das Licht aus und kuschelte mich unter der
Bettdecke an seinen Rücken.
Eigentlich war es schon ein schönes Gefühl, ihn zu berühren und sich vorzustellen, was alles
sich noch daraus entwickeln könnte. Auch ich hatte ja schon seit einer Woche keinen Sex mehr
gehabt. Ich biß ihm also verführerisch ins Ohr und flüsterte beinahe bettelnd hinein, eigentlich
könnte ich mit seiner Vorderseite irgendwie doch erheblich mehr anfangen. Von mir aus dürfte
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er ja gern dabei an Katia denken. Und dann wurde es zu meiner Überraschung noch einmal
genauso schön wie schon beim letzten Mal.
Ich war ziemlich glücklich. Andy war ja mir gegenüber durchaus nicht herzlos, nur eben einfach
noch kein Weltmeister in diesen Dingen, aber lernfähig. Sogar nachher hatte er noch etwas
Zärtlichkeit für mich übrig, in diesem Augenblick wirklich speziell für mich und nicht nur
eigentlich für Katia gedachte. Daß er jetzt gerade akut für sie entflammt war, so wie zuvor für
Jenny, nahm ich ihm nicht übel, so etwas passierte doch jedem und sogar mir. Natürlich wäre es
mir lieber gewesen, wenn er wenigstens in meinen Armen wirklich ganz bei mir gewesen wäre,
aber mit dieser Marotte von ihm würde ich notfalls leben können, falls ich dabei immer so gut
wegkäme wie die beiden letzten Male. Und in allen anderen Aspekten hatte ich ja noch nie
einen Mann kennengelernt, der so gut zu mir paßte wie Andy. Ich drängte mich ganz eng an ihn
und überlegte mir, welche Belohnung er diesmal bekommen sollte. Eigentlich kam nur etwas
Quicklebendiges in Frage. Katia, oder doch lieber noch Jenny? Aber vielleicht würde ja auch
Jennys geplante Aktserie genügen, wenn ich sie Volker abluchsen könnte: Da käme ja vielleicht
ich selbst auch wieder zu etwas! Oder einfach meine eigenen Fotos? Oder lieber später in
Göttingen mal mein frühreifes Video mit Mathias? Nein, er hatte sich wohl schon Katia
verdient, die Verwandlung seines blonden Jugendtraums in eine Frau aus Fleisch und Blut.
Ich verriet ihm natürlich nichts von meinen kupplerischen Plänen, aber als kurz darauf im
Erdgeschoß unter uns die "Kleinen" aktiv wurden und ich Andy erzählte, daß auch Jenny sich
wohl von Volker für ihren Benny in ähnlichen Posen fotografieren lassen wollte wie Katia, und
daß ich sicher irgendwie auch bei ihr an die Aufnahmen kommen würde, seufzte Andy nur
noch, er könnte zur Zeit alle Frauen lieben. Und dann ließ er mich noch einmal fühlen, daß
schließlich auch ich eine Frau war. Diesmal wurde es fast so aufregend wie mit Benny in den
Dünen.
Mein Plan zu Andys Belohnung war gar nicht so einfach durchzuführen. Ich würde Katia
irgendwie aus der ständigen Beaufsichtigung durch ihre beiden Männer befreien müssen. Den
Rest würde sie hoffentlich dann selbst besorgen, schließlich war sie ja wohl genauso wild auf
Andy wie er auf sie. Ich traute mir schon zu, Volker abzulenken, und Melanie müßte eben Uwe
übernehmen, oder notfalls kreuzweise umgekehrt. Ich verwickelte also Melanie in eine
Diskussion über die uns beide bewegende Frage, ob Uwe nun schwul wäre oder nicht, und wie
das herauszukriegen wäre. Sie meinte nein, ich eigentlich auch, sagte aber ja. Wir wetteten,
wenn sie ihn herumkriegen würde, hätte sie gewonnen. Als Preis für den zu küssenden Frosch
wollte sie von mir freie Hand bei Benny, wenigstens bis auf Weiteres.
Als dann Melanie endlich wirklich Uwe zu einer dieser Wattwanderungen überredet hatte, die
allerdings für seine Katia und erst recht für die Kleine wohl doch zu anstrengend wäre (ich hatte
Katia inzwischen eingeweiht), in Wahrheit natürlich, weil ihre Tour nach unseren
verschwörerischen Plänen in möglichst ungestörter Zweisamkeit enden sollte, und zwar mit
Melanie auf der Bettcouch in unserer Ferienhütte, brauchte nur noch ich Volker zu
signalisieren, daß ich jetzt zu allem bereit wäre: Ich hätte mir die Sache mit den Aktfotos
überlegt.
Jenny und Benny spielten im Kurzentrum Tischtennis und bekamen von alledem nichts mit,
und einen Schlüssel zu unserer Hütte hatten sie ja auch nicht, falls sie etwa zwischendurch Lust
auf andere Sportarten bekommen sollten. Ich brach also mit Volker und Lisa in sein
Hotelzimmer auf, zu unserer Fotosession. Am Strand bekam ich vorher noch aus dem
Augenwinkel mit, daß Katia und Andy sich, noch im Knien, schon in die Arme gefallen waren
und verliebt ihre Bäuche aneinander rieben. Das macht bekanntlich Appetit auf mehr, gleich
würden sie sicher in den einsamen Dünen am Weststrand verschwinden. Es lief also alles nach
Plan. Volker erzählte ich, daß ich auch Melanie und Jenny zu solchen Aufnahmen überredet
hätte. Wir zwei allerdings kamen natürlich auch diesmal wieder nicht zum Fotografieren.
Melanie kam erst ziemlich spät am Abend in unsere Hütte zurück und wollte dann unbedingt
noch mit mir eine Tour "über die Dörfer" machen. Eigentlich gibt es ja auf Juist nur ein einziges
Dorf, und die meisten Kneipen waren um elf auch schon dicht. Aber bei Hein Fietje kam man
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immer noch hinein, und Melanie kannte sogar das streng geheime Klopfzeichen, falls es mal
noch später werden sollte und nach der Sperrstunde nur noch "private Gäste" eingelassen
wurden.
Hein Fietje war so eine Art Vorzeige-Insulaner, er organisierte tagsüber die Wattwanderungen
und Fischkutter-Ausflüge rund um die Insel, und abends ließ er in seiner Kneipe im alten Dorf
zum Schifferklavier die Nordseewellen an den Ssstrand trecken.
Natürlich wollte Melanie mit mir unter vier Augen reden. Auch bei ihr und Uwe war der Tag
etwas anders abgelaufen als geplant. (Bei Volker und mir ja auch, aber das mußte sie wirklich
nicht unbedingt wissen!) Dabei war ihr zunächst eigentlich sogar noch der Zufall zuhilfe
gekommen. Als sie unter Hein Fietjes Führung gerade von den feuchten Salzwiesen zwischen
gelangweilten Kühen hindurch ins Watt hinabgestiegen waren, war Uwe ausgerutscht und hatte
unvermittelt der Länge nach im modderigen Schlick gelegen. Melanie hatte aus einer Pfütze mit
der hohlen Hand Brackwasser geschöpft und Uwe geholfen, die graue Pampe wieder
abzuwaschen. Natürlich waren beide plitschnaß geworden, aber die Sonne war ja heiß genug,
um alles schnell wieder zu trocknen. Er hatte sich eigentlich bei ihr nur mit einem dieser bei
smarten Männern so beliebten Wangenküßchen bedanken wollen, aber nachdem sie sich ja
schon im Schlick erst gegenseitig bekleckert und dann beim Abwischen überall betatscht
hatten, hatte es Melanie keine große Überwindung mehr gekostet, sich ihm an den Hals zu
hängen und ein "richtiges" Küßchen abzuholen. Wie zwischen uns verabredet. Er reagierte, wie
fast alle Männer in einer solchen Situation, ausgesprochen verunsichert. Aber es stimmte ja,
wenn schon seine Freundin sich nicht um ihn kümmerte, müßte das eben jemand anderes tun!
Trotzdem war Uwe plötzlich sehr ernst geworden und hatte gesagt, das hätte er sich schon
gedacht, daß bei dem ganzen Wattausflug Katia dahintersteckte. Eine Schnapsidee, einem
Freund, den man verlassen hat, zum Trost eine andere Frau zu verordnen! So einfach ginge das
nicht.
Am Abend zuvor hatte Katia ihm wohl bedeutet, daß es mit ihnen nichts mehr werden könnte.
Freunde könnten sie ja gerne bleiben, und sie wollte ihn auch auf keinen Fall so bloßstellen,
daß es alle in unserer Clique mitbekämen. Aber als Mann hätte er an ihr als Frau ja anscheinend
überhaupt kein Interesse, und außerdem hätte sie sich in einen anderen verliebt: Andy!
Während der ganzen Wattwanderung hatten Melanie und Uwe dann kaum noch ein Wort
geredet. Sie hatten durch einen tieferen Priel waten müssen, wo ihm das Wasser bis über den
Bauch und Melanie noch höher stand. Als sie ein bißchen ängstlich wurde, hatte er ihre Hand
genommen und von da an nicht mehr losgelassen. Eigentlich ging dann seinen Worten zum
Trotz doch alles ganz einfach. Also schwul war er jedenfalls definitiv nicht! Nach der Rückkehr
auf die Insel hatte Uwe die verrückte Idee gehabt, tanzen zu gehen. Im Kurhaus spielte
nachmittags das Kurorchester zum Tanztee, kaum jemand war unter sechzig, einsame Witwen
und Männer mit grauen Schläfen, die sämtlich wie routinierte Heiratsschwindler wirkten,
teilweise mit Kapitäns-Blazern und Prinz-Heinrich-Mützen verkleidet. Die erbärmliche
Salonmusik aus vergilbten Operetten und Schlagern, die Beleuchtung aus Kristall-Lüstern und
neckischen Girlanden mit roten, blauen und gelben Glühbirnchen, die verschlissenen Volants,
das stumpfe Parkett und die mit Eierlikör gemeuchelten Gummibäume ließen sich erst nach ein
paar Gläsern Punsch leidlich ertragen. Am besten klang noch "Junge, komm bald wieder", frei
nach Freddy Quinn: Der Bandleader und Solosänger legte sich gewaltig ins Zeug und war
sichtlich geschmeichelt, als Uwe das Lied wie im Rausch immer wieder bestellte. Nur die alten
Damen blickten leicht pikiert, je fröhlicher die beiden jungen Leute wurden. So etwas war hier
nicht üblich. Uwe hatte Melanie schließlich gestanden, daß er sie vorhin nach dem Bad im Priel
in ihrem angeklatschten nassen Hemd verdammt sexy gefunden hatte. Und dann, bei einem
Schmuseblues, mit dem bei dieser Kapelle niemand gerechnet hätte, hatte er ihr erzählt, was es
mit seiner Zurückhaltung Frauen gegenüber wirklich auf sich hatte:
Als Uwe fünf war, hatte er nachmittags wie immer in der Küche gespielt. Als das Telefon ging,
hatte die Mama das Gespräch ins Schlafzimmer umgestellt und die Tür hinter sich zugemacht.
Er hatte die Gelegenheit genutzt, sich sein Polizeiauto zu schnappen und in die "Bibliothek" zu
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schleichen. Das war eine Art gute Stube, die für den kleinen Uwe eigentlich tabu war, weil sie
immer piccobello aufgeräumt zu sein hatte für den Fall, daß der Papa abends unerwartet
Geschäftfreunde mit heimbrachte. Fünf Minuten später hatte es dann an der Haustür geläutet.
Es war Frank gewesen, ein Freund und Kollege seines Vaters. Mama hatte ihn anscheinend
schon erwartet. Uwe hatte ihn eigentlich gern gemocht, weil er immer Zeit für den Kleinen
hatte, wenn er zu Besuch kam; oft erst eine Runde mit Uwe kickte oder sich einfach erzählen
ließ, was der Junge Wichtiges loswerden mußte, bevor dann Papa und Mama Frank mit
Beschlag belegten. Komisch war nur gewesen, daß er heute schon am Nachmittag frei hatte und
nicht arbeiten mußte wie der Papa. Mama war mit ihm wortlos in der Küche verschwunden und
hatte die Tür zugeknallt, aber ihre Stimmen waren dann auch so von dort zu hören gewesen.
Uwe war klar, daß da Dinge besprochen wurden, von denen er nichts wissen sollte. Am liebsten
hätte er gelauscht. Da war die Tür schon wieder aufgeflogen, die Beiden hatten sich heftig
gestritten, "du bist verrückt, denk doch an den Jungen", hatte Mama gekreischt, aber Frank
hatte ihr den Mund zugehalten, sie in den "Herrensalon" gedrängt, den Schlüssel umgedreht und
sie auf die Ledercouch geworfen. Dort allerdings hinter der Sofalehne hatte ja schon der kleine
Uwe mit seinem Spielzeugauto gekauert, aber keinen Mucks getan. - "Hör sofort auf, oder ich
schreie", hatte die Mama herausgepreßt, aber Frank war plötzlich zum wilden Tier geworden,
hatte ihr die Kleider vom Leib und buchstäblich in Fetzen gerissen, hatte sich auf sie geworfen,
sie am Weglaufen gehindert und nicht mehr innegehalten, bis sie nur noch wimmerte.
Anscheinend wollte er sie erwürgen.
Da war Uwe in die Küche gerannt, hatte sich ein Brotmesser gegriffen und es dem Mörder
Frank in die Schulter gestochen, sie vielleicht auch nur ein wenig angeritzt, jedenfalls war dem
das Blut über den Rücken gelaufen. Er hatte jetzt auch laut geächzt, wohl vor Schmerzen, aber
nicht aufgehört, die Mama zu würgen, obwohl auch die erbärmlich gestöhnt hatte. Schließlich
hatten sie beide fast gleichzeitig einen wilden Schrei ausgestoßen, dann waren sie schrecklich
still geworden und hatten sich nicht mehr bewegt. Da war Uwe zum Telefon gerannt und hatte
dem Papa unter Tränen berichtet, der Frank hätte gerade die Mama erwürgt, aber er, Uwe, hätte
ihn dafür erstochen.
Als Uwes Vater eingetroffen war, hatte sich seine Mutter zwar andere Kleider angezogen und
Frank wenigstens seine Wunden wieder unter dem Sakko versteckt gehabt, aber es hatte sich
beim besten Willen nichts mehr vertuschen lassen. Schließlich hatte ja der kleine Uwe alles aus
nächster Nähe mitbekommen. Sein Vater hatte die Mama sehr merkwürdig angeschaut und den
feinen "Freund" achtkantig aus dem Haus geworfen.
Später, als seine Mama wieder mit Uwe allein gewesen war, hatte sie ihm zu erklären versucht,
daß Frank sie nicht wirklich hatte umbringen wollen, sondern daß er sich bloß haltlos in sie
verliebt hätte und sie eigentlich nur hätte umarmen wollen, so wie es manchmal auch der Papa
täte, wenn sie nachts mit ihm zusammenläge. Das wäre aber zwischen einem Mann und einer
Frau nur erlaubt, wenn sich beide gegenseitig lieb hätten, sonst wäre es ein ziemlich schlimmes
Verbrechen der Frau gegenüber. Schon ein Kuß gegen den Willen einer Frau wäre ein Unrecht.
Ganz verstanden hatte Uwe die Sache mit dem erforderlichen Einvernehmen aber wohl nicht
und war deshalb doch sehr verunsichert gewesen, als er eines Sonntagmorgens auch mal seine
Eltern im Ringkampf auf dem Bettvorleger gesehen und seine Mama dabei ähnlich erbärmliche
Seufzer ausstoßen hören hatte wie bei Frank. Uwe jedenfalls hatte sich geschworen, niemals so
ein Tier zu werden.
Melanie und ich hatten inzwischen die nötige Bettschwere und wollten gerade zahlen, da
wankte auch noch Uwe ins Lokal, düsteren Gesichts und zielstrebig den Tresen im Blick. Als er
trotz seiner ziemlich eingeschränkten Wahrnehmung uns zwei Hübsche erkannte, hellte sich
seine Miene wenigstens etwas auf. Wir blieben also in den Sitzen kleben und bestellten noch
eine Runde. Uwe hatte auch schon einen Gang durch die Gemeinde hinter sich. Er fluchte nur
still in sich hinein, die Weiber wären alle gleich. Katia war nicht "zuhause" im Hotel gewesen,
wahrscheinlich mit ihrem neuen Schwarm (Andy!) auf Achse. Ich protestierte erst einmal
gespielt empört dagegen, mit allen anderen Weibern dieser Welt in einen Topf geworfen zu
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werden, Melanie könnte das bestätigen: Ich jedenfalls wäre ganz nett, sie eigentlich auch,
eigentlich sogar richtig lieb.
Zu diesem Stichwort fiel dann Uwe nur seine allererste Freundin ein. Er war damals fünf oder
sechs und sie auch, sie hieß Saskia und wohnte gleich hinterm Gartenzaun. (Das mußte also
wohl fast zur gleichen Zeit wie die Sache mit dem Hausfreund seiner Mama gewesen sein. Ich
behielt aber lieber für mich, daß Melanie diese Geschichte gerade ausgeplaudert hatte). Saskias
Lieblingsspiel war "Papa und Mama". Sie hatte nämlich eine Entdeckung gemacht: Ihre Eltern
hatten auf dem Nachttisch zwei sinnige Holzfigürchen stehen, in einfachem Umriß aus
Birkenholz ausgesägt und dennoch eindeutig als Mann und Frau erkennbar. Zusätzlich hatte der
"Papa" allerdings in der Mitte noch eine Art Dübel und die "Mama" eine passende Bohrung,
mit deren Hilfe sich die beiden Figuren zusammenstecken ließen, und dann wirkten sie fast
unzertrennlich. Ich mußte lachen, denn auch meine Mutter hatte damals so ein vielsagendes
Pärchen, aber ich war nie dahintergekommen, wofür die Beiden gut sein sollten. Wohl aber die
kleine Saskia!
Wenn ihr Papa heimkam, begrüßte er natürlich wie alle braven Ehemänner erst einmal
pflichtschuldig Frau und Tochter. Aber dann, noch vor der Zeitungslektüre, schlich er sich
meist ins Elternschlafzimmer. Angeblich mußte er nur seine Hausschuhe holen. Aber Saskia
hatte ihm mal heimlich nachspioniert und entdeckt, daß er sich in Wirklichkeit dort für die
Holzfigürchen interessierte: Wenn sie auf dem Nachtschränkchen aufrecht standen, womöglich
gar Rücken an Rücken mit dem Blick in verschiedene Richtungen, sah er erst einmal besorgt die
Mama an, hatte dann aber alle Zeit der Welt, der kleinen Saskia aus Pippi Langstrumpf
vorzulesen oder ihr in klaren Winternächten den Sternenhimmel zu erklären. Schauten sich
dagegen die Püppchen in die Augen, lagen dabei womöglich noch flach und steckten gar
zusammen, hatte er eigentlich nicht einmal mehr Appetit aufs Abendessen. Auch Mama hatte
dann meist Kopfschmerzen, und beide waren schrecklich müde und mußten sofort ins Bett. Na
ja, Saskias Eltern waren wohl zehn Jahre jünger als Uwes und frisch verheiratet. Natürlich blieb
ihre Schlafzimmertür geschlossen. Bloß wenn sie aus gewesen waren und etwas getrunken
hatten, nahmen sie es damit nicht immer so genau.
Meist hatte wohl die Mama tagsüber Langeweile und genug Zeit, sich ein neckisches
Arrangement für die Püppchen auszudenken, manchmal tat das aber auch der Papa. Jedenfalls
hielten sie sich nachts oder am Sonntagmorgen im Bett anscheinend genau an das, was die
Püppchen auf dem Nachttisch vorgemacht hatten. Diese Entdeckung hatte Saskia dann einmal
testen wollen und heimlich zur Abwechslung mal den kleinen Mann auf den Rücken gelegt, als
Papa und Mama im Kino waren. Vorher hatte er auf der Seite gelegen und sein Weibchen
dahinter, jetzt hatte Saskia sie auch noch bei ihm angestöpselt, um mal zu sehen, was passieren
würde. Als die Eltern dann spät am Abend heimkamen, hatten sie im Schlafzimmer erst
ziemlich albern gekichert, und dann hatte die Kleine tatsächlich durch die leichtsinnigerweise
nur angelehnte Tür erkennen können, daß die Mama oben auf den Papa draufgeklettert war und
sich dieses Ding von ihm zwischen die Beine gesteckt hatte, auf das man den Papa nie
ansprechen durfte, ohne daß er puterrot und verlegen wurde. Saskias weitere Forschungen
hatten auch ergeben, daß der Papa sich bei diesen Heimlichkeiten immer trotz aller Eile
ausziehen mußte, die Mama aber nicht, höchstens wenn sie auch Hosen anhatte. Und genau so
wollte sie mit Uwe in seinem Baumhaus im Garten "Papa und Mama" spielen.
Ganz anders waren Uwes Beobachtungen. Er wußte, daß seine Mama schon immer lange
vorher splitternackt sein mußte, weil der Papa nur so ins Bett zu kriegen war. (Auch der böse
Frank hatte ihr schließlich damals alle Kleider vom Leib gerissen, als er sie angeblich bloß lieb
haben wollte.) Und ob der Papa sich dann später überhaupt auszog, konnte er nicht so genau
sagen, bei Uwes Eltern blieb die Tür immer geschlossen. Schließlich einigte er sich mit Saskia
darauf, daß sie sich beide auszogen, und er konnte sich noch heute an ihren klebrigen Schmatz
erinnern und an ihren weichen Kinderpopo, den er dabei in den Händen gehalten hatte, denn sie
hatte natürlich oben liegen wollen.
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Eine ganze Reihe von Jahren später hatten sie dann ihre alten Intimitäten erneuert. Sie waren
die ganze Zeit befreundet gewesen, sogar in den Jahren, als Mädchen bei den Jungs nur für
derbe Scherze gut waren und als Wesen von einer anderen Welt galten. Aber eigentlich war es
mehr ein Bruder-Schwester-Verhältnis gewesen. Als sie vierzehn waren, war Saskia zu einer
Party bei einer Freundin eingeladen. Die meisten Mädchen waren ein bißchen älter als sie und
hatten schon einen "festen Freund", und an Saskias Seite sollte Uwe einen solchen möglichst
glaubhaft spielen. Als gegen Abend die allgemeine Schmuserei losging und sich die Freundinnen
in Laszivität zu überbieten suchten, hatten sich auch die Beiden in einen Ohrensessel sinken
lassen und dabei so ineinander verbissen, als ob sie sich gegenseitig auffressen wollten. Das galt
als besonders sexy, viel Gefühl war aber nicht dabei. Dann allerdings hatte Saskia seine Hand
an ihre Bluse geführt und ihm ins Ohr geflüstert, er müßte sie jetzt unbedingt aufknöpfen, wenn
er ihr Freund sein wollte, so wie es die anderen Jungs bei ihren Freundinnen ja auch täten, und
sollte einfach mal fühlen, was sie dort für ihn hätte. Das war jetzt wirklich aufregend, so nah
hatte er zuletzt als Kind ihre Haut gefühlt, auch damals schon an dieser erst jetzt verbotenen
Stelle, und plötzlich hatte er auch ihren Duft wahrgenommen und zum ersten Mal wirklich das
Verlangen gespürt, sie richtig zu küssen.
Noch zwei Jahre später hatte er wieder einmal im Nachbargarten mit Saskia und ihrer Mutter
sonnabends bis spät auf der Terrasse gesessen. Als die Mutter mit dem Abräumen der Gläser
begann und wohl den Dämmerschoppen ausklingen lassen wollte, hatte ihr Saskia unvermittelt
und ganz cool ins Gesicht gesagt, sie sollte morgen nicht mit dem Frühstück warten. Sie wollte
nämlich ausschlafen, weil heute Nacht Uwe bei ihr bliebe. Der war von dieser Mitteilung völlig
überrumpelt, genau wie Saskias Mutter, aber auch die ließ sich nichts anmerken. Schließlich
hatte sie alle die Jahre versucht, ihrer Tochter ein möglichst unverkrampftes Verhältnis zur
Sexualität zu vermitteln, und zum Glück war ja der strenge Herr Papa nicht zuhause. Sie
murmelte also nur noch, sie würde im Bad den Heizstrahler anlassen, falls die Beiden nachher
noch duschen wollten.
Mit Saskia oben allein, war Uwe doch recht verlegen und sie jetzt wohl ebenso, schließlich war
es ja für Beide ein erster und ziemlich großer Schritt. Wie im Kino oder in der Glotze oft genug
gesehen, hatte er sie aufs Bett gedrängt und versucht, sie möglichst routiniert zu entkleiden. Ihr
war das jetzt eigentlich nicht mehr recht, aber er hatte entdeckt, daß er stärker war als sie und
ihr seinen Willen aufzwingen konnte. Als ihr dann aber plötzlich Tränen übers Gesicht liefen,
waren ihm seine Mama und ihr Vergewaltiger ins Hirn geschossen, und er hatte alles
abgebrochen. Jetzt tat es wieder ihr leid, daß sie so launisch war, sie zog ihm das Hemd aus der
Hose und fuhr ihm mit beiden Händen darunter, versuchte auch, ihm wieder Mut zu machen
und wollte wissen, ob er sie denn nicht mehr sexy fände, aber es war nichts mehr zu machen.
Sie kroch unter die Decke und bettelte, letztlich nicht vergebens, er sollte sich wenigstens zu
ihr kuscheln und um Himmels willen niemandem verraten, daß es mit ihnen nicht geklappt
hätte, am wenigsten ihrer Mutter. Immerhin konnte sie ihn noch bewegen, sich noch ein wenig
weiter auszuziehen.
Als er dann nach wilden Träumen am frühen Morgen aufwachte, lag sie friedlich schlummernd
an seiner Schulter und auf seinem Bauch, ihr niedlicher Wuschelkopf kitzelte ihn an der Nase,
und sie hatte immer noch den gleichen weichen Kinderpopo wie zehn Jahre zuvor. Sie hatten
jetzt ihre Scheu voreinander wenigstens so weit verloren, daß sie sich ein wenig streicheln
konnten, auch dort, wo es besonders kribbelig wurde. Aber im engeren Sinne geschlafen hatten
sie nicht miteinander.
"Ich glaube, wir gehen jetzt besser auch schlafen", meinte Melanie schließlich. Ob etwa im
engeren Sinne, und wen sie mit "wir" meinte, wollte ich noch wissen, aber sie überhörte meine
Frage. Auf dem Heimweg trafen wir auf Jenny und Benny, engumschlungen, ein echtes
Liebespaar. Auch Uwe begleitete uns noch bis zu unserer Hütte, er hatte es natürlich nicht eilig,
ins Bett zu kommen. Vor der Tür verabschiedete ich mich schnell von ihm, weil sein Abschied
von Melanie ja eventuell doch etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen würde. Oben auf unserem
Dachboden allerdings traf ich Andy nicht allein an, sondern mit Katia im Arm. Immer noch.
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Die Beiden wirkten erschöpft, aber glücklich, noch ein glückliches Liebespaar. Wahrscheinlich
hatten sie sich schon den ganzen Tag lang geliebt. Ich bekam einen trockenen Hals, zwang mich
aber zu einem Lächeln und sagte nur schnell, daß ich nicht stören wollte, bevor ich sie wieder
allein ließ.
Als ich die Leiter wieder herunterkam, hatte sich Uwe immer noch nicht von Melanie
losgerissen. Ich hatte schon blitzschnell überlegt, daß ich wohl am besten zu Volker auf die
Bude rücken würde, irgendwo mußte ich ja schlafen. An der Rezeption in seinem Hotel
allerdings wäre es jetzt mitten in der Nacht sicher ein wenig peinlich geworden, einen
Einzelzimmer-Gast zwecks Aufnahme einer unangemeldeten Besucherin herauszuklingeln.
Zum Glück hatte aber Uwe die Idee, wir sollten doch beide -Melanie und ich- mit zu ihm
kommen und uns dort die Nacht um die Ohren schlagen. Katia wäre ja sicher immer noch nicht
zurück. Den letzten Punkt hätte ich bestätigen können, biß mir aber auf die Zunge.
Oben auf seinem Zimmer bestellte Uwe uns erst einmal eine Flasche Schampus. Als der
Nachtkellner klopfte, verschwand ich mit Melanie im Bad: Das Personal mußte ja nicht alles
mitbekommen. Sie tuschelte sofort aufgeregt, unsere Wette in Bezug auf Benny (als
Wetteinsatz) und Uwe (als Mutprobe) wäre ja wohl noch gültig, und ob ich etwas dagegen hätte,
wenn sie den Letzteren gleich unter meinen Augen vernaschen würde? So weit war ja unsere
durchaus bewährte Freundschaft bis dahin wirklich noch nicht gegangen! Der Kellner hatte
natürlich nur zwei Sektgläser mitgebracht, Uwe behalf sich mit einem Zahnputzbecher. Es gab
auch nur zwei Plüschsessel, Uwe behalf sich mit der Bettkante.
Und dann tat Melanie etwas Tollkühnes, wie ich es ihr nun doch nicht zugetraut hätte: Sie
sprang auf Uwes Schoß und küßte ihn besitzergreifend. Der wußte erst nicht, wie ihm geschah,
machte aber auch keine Anstalten, sich zu entziehen oder gar zu wehren, als sie ihn vor meinen
Augen aufs Bett drückte, ihm das Hemd und die Hose aufknöpfte und daranging, ihn völlig
freizulegen. Er warf mir noch einen eher hilflosen Blick zu, aber ich lächelte nur zurück und gab
den Beiden zu verstehen, sie sollten sich keinen Zwang antun, ich würde mich eben so lange
zur Wand umdrehen. Er schien ja wirklich nichts dagegen zu haben, vergewaltigt zu werden!
Ich mußte mich natürlich immer mal wieder von der Wand wegdrehen, um mein Glas
nachzufüllen; so blieb mir nicht verborgen, daß Uwe schließlich doch noch zu der von ihm als
Mann erwarteten aktiven Rolle gefunden hatte. Aber als Vergewaltiger mußte er sich in diesem
Fall ja wirklich nicht fühlen.
Als die Beiden in jeder Hinsicht fertig waren, war auch ich mit dem Champagner fast allein
fertiggeworden. Melanie war augenblicklich weggekippt und in tiefen Schlummer gefallen, Uwe
stolperte noch ins Bad zum Duschen. Alle Achtung, sogar an Aids hatte er in all der Aufregung
vorhin noch gedacht! Im Zimmer zurück, hatte er immer noch diesen verträumten (um nicht zu
sagen verschwiemelten) Blick und kuschelte sich noch einmal an Melanie, mit einem
unbeholfen fragenden Blick in meine Richtung, ob er dieses Gefühl auch zeigen dürfte.
Gleichzeitig lud er mich mit einer Handbewegung ein, doch auch ins Bett zu kommen. Die
Situation war schon ziemlich grotesk. Ich machte erst einmal das Licht aus. Nach längerer
Bedenkzeit, unterstützt durch den Umstand, daß ich mich alkoholbedingt ohnehin im Sitzen
wohler fühlte, zog ich mich schließlich doch noch aus und kroch auf die freie Seite des
Doppelbettes.
Als ich aufwachte, hatte sich Uwe umgedreht und war unbewußt von Melanies in meine
Betthälfte gerobbt. Er war wohl auch bloß noch im Halbschlaf und schien gerade registriert zu
haben, daß da eine Frau neben ihm atmete. Jetzt fast so tollkühn wie Melanie am Vorabend,
führte ich seine Hände an die Stellen, wo ich sie spüren wollte, und er folgte unglaublich
behutsam meiner Regie, ohne die Augen aufzuschlagen. Als er es schließlich doch tat, schien er
freudig überrascht, daß das ich war, und fühlte sich zugleich ertappt. Er wurde schamrot und
flüsterte verlegen, er wüßte ja selbst, daß er verrückt wäre, aber er brauchte nun einmal
verdammt viel Trost und hätte einfach Lust, auch noch mit mir zu schlafen. Statt einer Antwort
rückte ich mich in Positur, achtete noch darauf, daß er die nötige Vorsicht auch bei mir nicht
vermissen ließ, und überließ alles Weitere ihm. Das erste Mal mit einem neuen Mann ist ja
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immer ein Abenteuer, ich erlebe es am liebsten völlig passiv und mit geschlossenen Augen.
Nichts finde ich so ignorant wie den Spruch, alle Männer wären gleich. Blödsinn! Jeder Mann ist
anders. Uwe brachte mich ziemlich schnell in die ersehnte Hochspannung, machte aber keine
Anstalten, sie aufzulösen. Er variierte seinen Rhythmus und seine Intensität nur so weit, daß die
Spannung nie ganz abflaute, aber auch keine Chance hatte, sich zu entladen. Ich hätte diesen
Eiertanz ja gut und gerne und mit wachsender Begeisterung noch eine halbe Stunde
ausgehalten, fürchtete aber, daß dann er um seinen verdienten Lohn gekommen wäre. Ich
wälzte ihn also mit einer Kraft und Geschicklichkeit, die mich selbst überraschten, auf den
Rücken, um das Heft selbst in die Hand zu nehmen. Und fast augenblicklich war das Drahtseil
gerissen, auf dem wir balanciert hatten, und wir wünschten uns nur noch sehnlichst, daß
niemand uns ein Netz aufgespannt hätte.
Melanie war wohl von unserem letzten Schnaufer aufgewacht und hatte nicht ohne Amüsement
bemerkt, daß hier wohl eindeutig eine regelrechte Orgie abginge. Wir gingen zu dritt unter die
Dusche und rubbelten uns gegenseitig ab, dann mußte sich Uwe im Bett mit ausgestreckten
Armen in die Mitte legen und seine beiden Trostspenderinnen fest an sich drücken. Zu dritt in
einer Betthälfte war es herrlich eng. "Ihr zwei seid ja wirklich richtig lieb", lächelte Uwe selig.
Das wollte ich wohl glauben, daß ihm das gefiel, sich gleich von zwei Frauen zugleich
verwöhnen zu lassen! So etwas hätte er ja sicher auch noch nicht erlebt. Oh doch, prahlte er, in
der Nacht, als er Katia aufgerissen hätte, wäre auch noch ein zweites Mädchen dabeigewesen,
Coco. Und mit diesen Worten schlief Uwe plötzlich und durch nichts mehr zu beirren ein.
Am nächsten Tag mußte Jenny noch einmal zu ihrer Schwester nach Emden, ihre Mutter hatte
sich zu einem überraschenden Kontrollbesuch angesagt. Andy wollte sie von Norddeich aus
hinfahren, weil sie mit der Bahn nicht mehr rechtzeitig da gewesen wäre. Benny wollte die
Gelegenheit nutzen, die inzwischen nutzlosen Zelte auf dem Campingplatz abzubrechen, vor
allem um Gebühren zu sparen. Und ich bot mich an, ebenfalls mitzufahren und ihm beim
Verstauen der Utensilien in Melanies Fiesta zu helfen. Die Überfahrt war ziemlich stürmisch
und forderte unsere volle Konzentration, aber wir rissen uns alle wenigstens so weit zusammen,
daß die Möwen leer ausgingen. Schon bevor wir an der Mole anlegten, war das Wasser aber
wieder glatt, als hätte nie ein Windhauch geweht. Benny und ich hatten auf der ehemaligen
Kuhweide hinterm Deich schnell fast alles abgeräumt, nur eins der winzigen Trekkingzelte
stand noch aufrecht. Da packte mich wieder einmal der Übermut, ich zog meinen Pulli aus und
band ihn Benny um die Augen und die Ohren. - "Komm, wir spielen Blinde Kuh!" - Ich lockte
und verwirrte ihn mit ein paar lebensechten Muh-Lauten aus schnell wechselnden Richtungen,
dann verschwand ich im Zelt. Er hatte meine Gedanken augenblicklich erraten und fand sofort
zu mir. Ich hätte eigentlich gern die Zeit gespart, ihm den Stofffetzen von der Stirn zu streifen,
aber er zog mich ganz langsam und genüßlich aus, küßte mich und drückte mich, daß es eine
Freude war, bevor wir uns endgültig ineinander verknoteten. Wenn Benny sich nur ein bißchen
von dieser Begabung über die Jahre retten könnte, würde ich ihn wirklich noch heiraten!
Melanie jedenfalls sollte ihn mir nicht wegschnappen, und wenn sie zehnmal unsere Wette
gewonnen hatte.
Abends auf der Insel zurück, schlief ich zum ersten Mal seit langem allein. Jenny und Andy
hatten es wohl nicht mehr bis zur letzten Überfahrt geschafft, Andy pflegte in solchen Fällen
ohne zu murren im Auto zu übernachten. Und wer sonst noch mit wem, wollte ich mir lieber
gar nicht erst ausmalen. Ich träumte von Coco. Coco, die seinerzeit Uwe als Zugabe zu seiner
Katia angebaggert haben wollte. In meinem Traum war es aber Benny, und statt Katia hatte der
natürlich mich in der Disco angesprochen. Ich war wohl auch so etwa in seinem Alter. Coco
war dunkelhäutig und hatte einen großen sinnlichen Mund, sie tanzte schon den ganzen Abend
selbstvergessen und allein so eine Art Lambada. Wir Übrigen, die das nur eher kläglich
beherrschten, hatten allmählich einen großen Kreis um sie herum gebildet und betrachteten
fasziniert und ein bißchen neidisch ihre perfekten animalischen Bewegungen.
Ich hatte mir fest vorgenommen, mich heute Nacht von diesem süßen Benny abschleppen zu
lassen, und das schien auch zu klappen. Benny war wohl doch schon etwas älter, jedenfalls
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hatte er schon einen Wagen. Auf dem stockfinsteren Parkplatz war plötzlich Coco aufgetaucht,
lässig an Bennys Golf gelehnt. Sie hatte aus seinem Autokennzeichen auf sein Fahrtziel
geschlossen und wollte mitgenommen werden. Die Fahrt ging über eine schmale, altertümliche
Stahlbogenbrücke am Mittellandkanal. Es war wohl diese Disco bei Bad Essen gewesen, die es
heute auch nicht mehr gibt. Coco hockte auf dem Rücksitz und machte Benny im Spiegel
schöne Augen, aber der hatte seine Hand an meinem Knie oder schon noch weiter oben.
Gerade hatte er die Knöpfchen an meinem Glitzer-Body entdeckt, den ich unter dem GlockenMini trug. Da stoppte er plötzlich entschlossen und bog im spitzen Winkel zurück nach links in
einen Feldweg ein, der am Fuß der Brücken-Rampe am Kanal entlang führte. Der Weg war
sowohl links am Straßendamm als auch rechts an der Kanalböschung mit Hecken dicht
eingewachsen und wegen der Straßenbiegung nicht einsehbar. Benny stoppte, rannte um das
Auto herum an meine Tür, klappte den Sitz mit mir darauf nach hinten und begann mich zu
verführen. Coco auf dem Rücksitz, jetzt fast neben mir, legte ihre braune Hand auf meine heiße
Stirn und kühlte sie.
Mein Traum wurde mehrfach unterbrochen. Unsere nächste Station war die Straße vor einem
Heim für schwer erziehbare Mädchen, Cocos Zuhause. Im Volksmund hieß die Anstalt
Schnepfenkäfig. Es war ja mitten in der Nacht, Benny konnte mich nicht mehr mit zu sich
nehmen und ich ihn nicht mit zu mir. Coco überredete uns, einfach mit ihr zusammen in das
Erziehungsheim einzusteigen. Der Weg ging über ein Gittertor, ein Garagendach und durch ein
vorsorglich nur angelehntes Flurfenster und machte uns erstaunlich wenig Mühe.
Drinnen wurden wir von einer Horde Mädchen empfangen, alle im gleichen knöchellangen
Leinen-Nachthemd. Man drängte uns unter "Huch, ein Mann" - Geschnatter in einen
Schlafsaal. Benny war wirklich arm dran, die Mädchen nahmen ihn regelrecht auseinander, zwei
an den Füßen, zwei an den Armen; eine riß ihm den Ausweis aus der Tasche und las laut seinen
Namen, seine Adresse und seinen Geburtstag vor, fand auch seinen Disco-"Mitgliedsausweis"
mit dem in Klarsichtfolie eingeschweißten Geschenk-Kondom; ein paar andere zogen sich unter
schrillem Geschrei ihre Nachthemden über den Kopf. Sie waren eigentlich alle ziemlich plump
gebaut, mit stumpfen Gesichtern, ganz im Gegensatz zu Coco. Auch Benny wurde gnadenlos
ausgezogen, eine der Furien kniete neben ihm und rollte ihm das Kondom über. Ich hätte ihr die
Augen auskratzen können. Und dann lag auf seiner anderen Seite plötzlich Coco neben ihm auf
dem grünen Linoleum und zog ihn in ihre Arme.
Der Traum war ziemlich anstrengend gewesen und hatte mich eine Menge Schweiß gekostet.
Noch am frühen Morgen hatte ich vergeblich mein Hirn mit der Frage nach Bennys Adresse und
Geburtsdatum zermartert, die doch die gestrauchelten Mädchen aus seiner Kennkarte
vorgelesen hatten. Aber ich konnte ja ausschlafen.
Als ich schließlich doch hinunterstieg, lag auch Benny noch im Bett, die Decke bis übers Kinn.
Aber das Zottelige an seiner Schulter war nicht Jennys Teddybär, sondern der Haarschopf von
Melanie. Ich weckte die Beiden ziemlich unsanft. - "Aufstehen, Frühstück, gleich kommt das
Schiff an, und Jenny wird euch noch erwischen!" - Während Melanie verschlafen ihre Wäsche
einsammelte, die sie am Abend zuvor wie Gretel mit Hänsel allein im Wald Stück für Stück auf
dem ganzen Weg von ihrer Kammer bis zu Bennys Schlafcouch verstreut hatte, drohte ich
ihnen mit Jennys bekanntes Versprechen an Andy: Daß sie jeden Seitensprung von Benny auf
der Stelle in Andys Armen sühnen würde!
Am Abend kam dann unsere Juister Abschiedsfeier, ein rauschendes Fest in unserer
Ferienhütte. Adressen wurden getauscht und noch ein paar Versprechen mehr. Und ein bißchen
Wehmut blieb natürlich auch zurück.
- 32 -
4. Quellen
Zurück in Göttingen fiel ich in ein ziemlich tiefes Loch. Vom quirligen Leben in der Clique
zurück zur Einsamkeit einer Monade. Natürlich, Andy besuchte mich und nahm immer wieder
Anläufe, ganz bei mir einzuziehen, aber ich machte ihm klar, daß ich jetzt einfach nicht den
ganzen Tag lang jemanden um mich herum haben konnte. Bindungsangst, warf sein
Studienkumpel Achim in die Debatte und grinste so breit, daß ich ihn hätte vergiften können.
Psychologen und Informatiker, die Sensiblen unter den Intellektuellen!
Ich wollte und mußte eine Übersetzung fertigbringen, die ich mir vor einem Jahr selbst
aufgehalst hatte, aus reiner Neugier, ob mein Schulfranzösisch noch zu brauchen war. Luc hatte
ich zwei Jahre zuvor am Strand von Lacanau-Océan kennengelernt, einen dieser graubärtigen
Clochard-, Künstler- oder Gauloises-Raucher-Typen. Er war mir aufgefallen, weil er scheinbar
unbeirrt von seiner Umgebung unentwegt und nur von kurzen Denkpausen unterbrochen
ständig irgendwelche Notizen in seine Kladde kritzelte. Er war wohl ziemlich eitel und wollte
einfach als Schriftsteller erkannt werden. Als ich ihm diesen Gefallen getan hatte, überreichte er
mir ein Paperback mit seinen Storys: Momentaufnahmen, deren Atmosphäre mich an Saul
Bellow erinnerte. Mir gefiel sein (eigentlich alles andere als typisch französischer) lakonischer
Stil. Eine englischsprachige Ausgabe war auch schon erschienen. Und ich, wie gesagt, hatte ihm
spontan angeboten, eine deutsche Übersetzung zu besorgen, obwohl ich so etwas noch nie
zuvor gemacht hatte.
Die Arbeit hatte sich denn auch als ziemlich schwierig herausgestellt und verlangte volle
Konzentration. Dafür immerhin war meine Kellerwohnung in Geismar ideal, denn der Blick auf
die vor den Lichtschächten in Augenhöhe keimenden Radieschen brachte absolut keine
überflüssige Ablenkung. Trotzdem, mehr als eine Seite pro Tag hatte ich noch nie geschafft,
Rohfassungen und Korrekturen zusammengerechnet. Profis, die davon leben müssen, schaffen
wohl mindestens fünf. Ich hatte mir ein dickes einsprachiges Lexikon angeschafft und mit
einigen Schwierigkeiten auch Lucs in Kanada erschienene englische Buchausgabe besorgt, um
eine gewisse Kontrolle zu haben. Und zum Glück verstand ja Luc selbst ein bißchen Deutsch,
wahrscheinlich mindestens ebenso gut wie ich Französisch.
Wenn ich eine seiner Storys durchgeackert hatte -meist so etwa zwanzig Seiten-, schickte ich
ihm meinen Entwurf zum Gegenlesen. Meist war er mehr oder weniger zufrieden, nur ganz
selten machte er mich auf bestimmte Wortspiele oder Nebenbedeutungen einer Wendung
aufmerksam, die ich einfach übersehen hatte. Dafür dann eine Entsprechung im Deutschen zu
finden, war natürlich der schwierigste Teil des Unternehmens. Aber auch wohl der Teil, der mir
die größte Befriedigung verschaffte, wenn nach langem Grübeln zum Beispiel beim
Geschirrspülen plötzlich der Geistesblitz kam, den ich mitunter sogar für genialer hielt als Lucs
Original.
Noch vor meinem Juist-Urlaub hatte er aus Lyon angerufen, weil er einen Literatur-Agenten
aufgetrieben hatte, der sich für eine deutsche Ausgabe interessierte. Für den September hatte er
sich mit ihm in Baden-Baden verabredet, und bis dahin sollte mein Manuskript natürlich fertig
sein. Mir war das eigentlich recht, weil ich beim dortigen Sender noch ein Eisen im Feuer hatte:
Ein Hörspiel, das ich vor Monaten eingeschickt hatte und das den zuständigen Redakteur
immerhin zu einer freundlichen Rückantwort veranlaßt hatte. Vielleicht ließ sich da im
persönlichen Gespräch mithilfe meines sprichwörtlichen Charmes ja noch etwas bewegen. Bloß
mit der Übersetzung war ich durch den eigentlich nicht geplanten Urlaub jetzt ziemlich ins
Hintertreffen geraten. Ich war dann aber doch tatsächlich zwei Tage vor dem Termin fertig und
hatte sogar noch drei im Copy-Shop vervielfältigte Exemplare des handschriftlichen
Manuskripts im Koffer, als ich endlich im Zug nach Baden-Baden saß.
Am Vorabend des Treffens mit Lucs Verlagsagenten war ich mit meinem Hörspielredakteur im
"Papalangi" am Augustaplatz verabredet. Das war anscheinend das, was die wohl heimlich auch
unter einem Provinztrauma leidenden Baden-Badener so weltläufigen Gästen wie mir vorführen
- 33 -
zu müssen glaubten: ein seltsames Bistro mit einer Speisekarte von der Karibik bis Indonesien.
Der Redakteur hatte seine Lebensgefährtin mitgebracht. Erst hatte ich gedacht, er wollte mir
damit nur signalisieren, daß auf der in dieser Branche durchaus nicht unüblichen
"zwischenmenschlichen" Schiene bei ihm nichts liefe.
Es stellte sich aber heraus, daß sie Schauspielerin war und er für sie die Rolle der OffSprecherin in meinem Werk vorgesehen hatte. Allerdings hatte sie eine ganze Latte von
Verbesserungsvorschlägen. An sich finde ich es normal, daß ein Stück -egal ob am Theater, in
Film, Funk oder Fernsehen- im Teamwork zwischen Autor, Regisseur, Schauspielern und
hundert Anderen vom Toningenieur bis zum Bühnenbildner erarbeitet wird. Die
Änderungsvorschläge seiner Gespielin allerdings hätten mein Hörspiel total umgekrempelt und
nichts von seiner Substanz übriggelassen. Wir trennten uns schließlich höflich lächelnd, aber
innerlich alle drei stocksauer und frustriert.
Die Besprechung mit Luc verlief dann auch etwas anders als gedacht. Sein Verlagsagent
entpuppte sich nämlich als Frau, eine feine, zierliche französische Intellektuelle Mitte vierzig.
Ich hatte die Beiden mittags in ihrem teuren Hotel im Bäderviertel abgeholt. Irgendwie fiel mir
als der einzigen Deutschen automatisch die Rolle der Führerin zu, obwohl ich mich in BadenBaden ja nun auch nicht besser auskannte als die Beiden. Ins Papalangi wollte ich sie ja nun
wirklich nicht führen, und die übrigen Cafés und Hotel-Restaurants, an denen wir unschlüssig
vorbeischlenderten, erschienen mir auch nicht als passender Rahmen für ein Gespräch über
Literatur. Schließlich landeten wir durch Zufall in einer kleinen, auch in der grellen
Mittagssonne eher düsteren Weinstube in der Luisenstraße.
Die Agentin, Mme. Rolinck, schwärmte erst von der deutschen Hausmannskost, die uns serviert
wurde, dann von dem tatsächlich nicht üblen Markgräfler Gutedel, der herrlichen deutschen
Landschaft, durch die sie auf der Herfahrt über kleine Landstraßen gebummelt war (offenbar
dem Pfälzer Wald, einem weißen Fleck auf meiner persönlichen Landkarte), und schließlich
auch von der deutschen Gegenwartsliteratur, dem deutschen Verlagswesen und der Bereitschaft
der Deutschen, die Literatur auch anderer Sprachräume zur Kenntnis zu nehmen. Angeblich
läsen wir Deutschen insgesamt doppelt so viel wie die Franzosen.
Sie erinnerte mich sehr an meinen früheren Französisch-Lehrer, Dr. Worms. Ach, Karsten! Ich
wollte eigentlich gar nicht mehr an ihn denken. Der jedenfalls hatte seinerzeit auch so
geschwärmt, nur eben anders herum von den Franzosen und ihrer hohen Kultur, und natürlich
hatte er über die jeweiligen Lesegewohnheiten das genaue Gegenteil behauptet.
Es war schon fast Abend, als wir endlich auf Lucs Kurzgeschichten zu sprechen kamen. Aber
zunächst noch auf seinen fast fertigen neuen Roman. Luc hatte ernsthafte Zweifel -anscheinend
ging das Werk etwas ins Triviale-, ob er damit nicht seinen literarischen Ruf als cooler Hund
beschädigen würde, und schwankte noch, ob er ihn nicht besser (zunächst) unter Pseudonym
herausbringen sollte. Aber vorzeigen mochte er ihn vorläufig auch noch nicht. Ich bot ihm
scherzhaft an, doch einfach meinen Namen zu verwenden, allerdings wollte ich dann auch die
Tantiemen. Mme. Rolinck sagte erst einmal nichts und schaute ihn nur prüfend an (Ich meinte,
ein heimliches Lächeln über ihr Gesicht huschen zu sehen), dann stellte sie fest, eine Schande
sei das ja nicht, eher gute Gesellschaft: Jean Paul, Novalis, Stendhal... oder Lewis Carroll, fiel
mir zur Rettung meines Bildungsrenommees ein (und das auch noch exakt korrekt auf der
historischen Zeitachse, wie ich bei späteren Recherchen festgestellt habe!) ... und Mark Twain
oder Joseph Conrad, machte Mme. Rolinck weiter. Ganz schön große Kittel für Luc!
Aber zurück zu den Storys: Madame Rolinck hatte schon ein paar von meinen Manuskripten
vorab gelesen und war angenehm überrascht, daß die Sache jetzt komplett war. Sie plädierte
dafür, gleich Nägel mit Köpfen zu machen. Am nächsten Abend hätte sie sowieso einen Termin
in München bei dem Verlag, den sie für uns ins Auge gefaßt hätte, und das Einfachste wäre
doch, wenn wir gleich mitkämen und dort alles Weitere besprächen. "Und deine Freundin",
sagte sie schelmisch zu Luc gewandt und meinte damit anscheinend mich, "kann uns sicher eine
schöne Fahrtstrecke über den Schwarzwald, die Schwäbische Alb und durch Oberschwaben
zeigen." Die drei Schw-Laute sprach sie bei allem sonst perfekten Deutsch so unnachahmlich
- 34 -
französisch aus, daß ich auf der Stelle gewonnen war, obwohl ich auf so einen Ausflug natürlich
überhaupt nicht vorbereitet war. Und Lucs Freundin war ich schon gar nicht, das mußte ich
schon klarstellen. Aber sie tätschelte nur lächelnd meine Hand und meinte, "das wird schon
noch, Sie werden ja sehen. Unterschätzen Sie nicht seinen Charme, er ist ein Zauberer!"
Ich mußte unbedingt noch am Abend eine Straßenkarte besorgen, weil ich als
Flachlanddeutsche keine Ahnung hatte von der Gegend, durch die Mme. Rolinck nach
München gelangen wollte. Auf der Herfahrt mit dem Stadtbus vom Bahnhof, weit draußen vor
der Stadt in der Rheinebene gelegen, war ich tags zuvor an einer Tankstelle vorbeigekommen,
die ich tatsächlich auf Anhieb wiederfand. Nachts dann in meiner Unterkunft an der
Lichtentaler Allee (ziemlich allein für die kleine Geliebte eines Bohémiens aus dem Land der
Liebe!) prägte ich mir dann im Straßenatlas ein paar Merkpunkte der Route ein: Die
Schwarzwaldhochstraße,
Freudenstadt,
Alpirsbach,
Schramberg,
Rottweil,
den
Donaudurchbruch bei Tuttlingen, Steinhausen bei Biberach mit seiner Kirche und Ottobeuren
mit seinen Orgeln.
Morgens ging es früh los, Luc hatte als Mann ganz selbstverständlich das Steuer übernommen,
obwohl Mme. Rolincks Achtzylinder Audi Quattro ja eigentlich nicht unbedingt sein Wagen
war. Ich saß mit der Karte auf den Knien auf der Rückbank, spähte zwischen den Beiden
hindurch auf die Wegweiser und versuchte die Abzweigungen -à droite, à gauche oder tout droitmöglichst frühzeitig zu signalisieren.
Der ganze Schwarzwald war eine Katastrophe, man sah den Wald und die eigentlich wirklich
majestätische Landschaft vor lauter Autos nicht. Die Stimmung wurde erst besser, als Luc
hinter Freudenstadt einen Hindemith in den CD-Player legte und, durchaus nicht auf
Zimmerlautstärke, so richtig dröhnen ließ: Die "Kammer(!)"-Musik Nr.1 von 1922. Eine
abgebrüht schlitzohrige Kakophonie, der nichts heilig ist: Petruschka-Gekreisch zum Auftakt,
Polka-Geholper, dann die Wahnsinnsparodie der Rondo-Burleske aus Mahlers Neunter und
schließlich noch eine Hot-Jazz-Session mit der berüchtigten Feuerwehrsirene als Finale. Luc
mußte die Platte bei Schiltach gleich noch einmal auflegen, und gleich danach in Schramberg
hatten wir -absolut passend- tatsächlich ein Feuerwehrfest auf dem Kirmesplatz zu passieren.
In Rottweil hätte mich natürlich die malerische Altstadt interessiert, vielleicht auch noch Erich
Hausers moderne Skulpturensammlung, aber Mme. Rolinck spürte ihren Magen -es war Mittagund dirigierte uns mithilfe ihres französischen Gourmetführers ins Étoile, hoch über der Stadt in
einer ehemaligen Fabrikantenvilla. "Man gönnt sich ja sonst nichts", entschuldigte sie sich.
Außerdem zahlte sie ihre Steuern in Frankreich und unterläge deshalb nicht den deutschen
Spesen-Beschränkungen. Das Essen und der Wein waren wirklich ein Gedicht, die Räume
kultiviert, die Bedienung freundlich und natürlich, ganz ohne die wenig selbstbewußte
Arroganz, wie man sie oft in schlechten, aber teuren Nepplokalen antrifft. Billig war der Spaß
natürlich trotzdem nicht, aber Madame wickelte das Geschäftliche so diskret ab, daß wir zwei
armen Vaganten uns nicht zu genieren brauchten.
Als ich erwähnte, daß unsere nächste Etappe uns nun über einen Teil der Schwäbischen Alb
führen würde, wollte Mme. Rolinck unbedingt Unterenslingen kennenlernen, den
Hauptschauplatz von "Thanatos". Das hatte sie wohl gerade gelesen. Ich mußte sie
enttäuschen. Eine direkte Entsprechung gibt es wohl nicht in der Realität. Wohl aber alle
Elemente an verschiedenen Orten. Ich selbst hatte die Handlung nach Helmut Kraussers
Beschreibung immer eher im fränkischen Teil der Alb angesiedelt, vielleicht im Altmühltal. Gut,
dünnbesiedelte Gegenden, Hochmoore und wildromantische Felsabbrüche über
geheimnisvollen Flußtälern gibt es auch an der Südseite der Alb, gerade auch an der oberen
Donau beim Kloster Beuron, auf das wir gerade zusteuern wollten. Aber Weinbau? Nicht
gerade typisch für die Gegend, des rauhen Klimas wegen. Höchstens oben bei Metzingen im
Ermstal, oder in Neuffen bei Nürtingen. Der saure Neuffener "Täleswein" ist allerdings
Kennern eher als Kuriosität bekannt. Beide Städtchen aber in dichtbesiedelter, geschäftiger
Umgebung und nicht in Unterenslinger Grabesidylle. - "Das Nürtingen, wo Hölderlin verrückt
geworden ist?", wollte Mme. Rolinck noch wissen. Das konnte ich zwar mangels Detailkenntnis
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nicht bestätigen, aber falls er tatsächlich in Nürtingen den Verstand verloren hat, dann sicher in
diesem. Ein anderes gibt es nicht, es sei denn, glaubensstrenge pietistische Auswanderer hätten
irgendwo in Amerika oder Australien ein zweites gegründet.
Inzwischen waren wir, nach der Fahrt zwischen den bizarren Kalkfelsen der Donauschlucht und
durch das wieder sanfter werdende Tal weiter abwärts, unserem Zeitplan so hinterher, daß ich
bei Riedlingen beschloß, auf die Barockroute durch Oberschwaben zu verzichten und direkt die
Münchner Autobahn bei Ulm anzusteuern. Erst auf der Höhe von Ehingen wurde mir beim
Blick auf die Karte bewußt, wie nah wir an Lauterbronn vorbeifahren würden, der Heimschule,
wo ich ein paar der schwersten und am meisten prägenden Monate meiner Jugend zugebracht
hatte. Ich entschloß mich spontan, auf der Rückfahrt von München dort noch einmal
vorbeizuschauen und in die Erinnerung abzutauchen, die ich so lange verdrängt hatte.
Die Verhandlungen in München verliefen wie erwartet. Der Verlag war bereit, die
Kurzgeschichten zu drucken: geplante Startauflage fünftausend. Noch mehr wäre vermutlich
auf absehbare Zeit nicht absetzbar. Immerhin würde dann jeder sechzehntausendste Deutsche
ein von mir übersetztes Werk der Weltliteratur kaufen, wenn schon nicht lesen! Davon wohl
allein acht in Göttingen, statistisch gesehen! Ob ich wohl jemals einen einzigen davon
persönlich kennenlernen würde?
Die Konditionen waren klar: Als Übersetzerin bekäme ich achtundvierzig Pfennige von jedem
verkauften Exemplar, bei Bedarf auch Vorschüsse (Das hieße also zweieinhalb Riesen für zirka
sieben Monate Arbeit, Pausen abgerechnet!). Ich unterschrieb trotzdem, schließlich hatte ich
das ganze Unternehmen ja immer schon eher als Selbsterfahrungstrip gesehen.
Zurück fuhr ich die erste Strecke von München bis Ulm zusammen mit Luc im Eurocity
"Maurice Ravel", und er machte alle Anstrengungen, mich zu einem weiteren spontanen
Abstecher nach Lyon zu überreden, um dort unseren Erfolg gebührend zu feiern. Ich machte
ihm nur unter Mühen klar, daß damit das für die nächsten drei Jahre zu erwartende Honorar für
unseren "Erfolg" bereits locker aufgebraucht wäre. Außerdem war ich ja fest entschlossen, mich
der melancholischen Stimmung hinzugeben, die mich schon auf der Hinfahrt beim Gedanken an
Lauterbronn erfaßt hatte. Und so ganz ernst hatte das wohl auch Luc nicht gemeint mit seiner
Einladung.
Der Bummelzug durchs Tal der schönen Blau war immer noch der selbe wie vor acht Jahren, als
ich mich hier zum ersten Mal verfrachten ließ: Eine überdimensionierte Diesellok mit gerade
zwei sogenannten Silberlingen, in Wirklichkeit eher schmutzig graumetallenen Waggons, die
ihre besten Jahre und die Mehrzahl ihrer Passagiere längst hinter sich hatten. Meine Mutter hatte
damals beschlossen, daß ich in ein Internat müßte, weil sie mit mir nicht mehr fertig würde.
Vorausgegangen war dem Ganzen meine Schwarze-Brett-Affäre, die in O. für einigen Wirbel
gesorgt hatte. Ich komme ungern darauf zurück, jedenfalls nicht an dieser Stelle, und nenne nur
die schon erwähnten Namen Thomas und Sven. Ein weiterer Grund für meine Mutter war
sicher auch, daß sie sich -damals Teilzeit-Referentin an der Volkshochschule- mit einem
Dozenten angefreundet hatte, der für einige Zeit ans Goethe-Institut nach Stockholm gehen
und sie dorthin mitnehmen wollte. Für mich war es die Zeit der Schwärmerei für meinen schon
erwähnten Lehrer Dr. Worms. Karsten nannte ich ihn nur, wenn ich von ihm träumte: Meine
erste echte und natürlich enttäuschte Liebe.
Als sich einerseits meine Französisch-Leistungen dramatisch steigerten, ich aber andererseits im
Unterricht nur noch mit offenem Mund und völlig geistesabwesend an seinen Lippen hing, hatte
er mich eines Tages darauf angesprochen. Wir waren durch Zufall in der Fußgängerzone
übereinander gestolpert, und er hatte mich zum Espresso eingeladen. Natürlich hatte er längst
bemerkt, wie es um mich stand. In ein gefühlloses Stück Holz hätte ich mich ja wohl auch kaum
verliebt. Aber er hatte es nicht richtig gefunden, die Sache in der Schule anzusprechen, weil es
schließlich allein um meine und indirekt höchstens auch noch seine Privatsphäre ginge. Er
versicherte mir zunächst, daß er die Verliebtheit einer Siebzehnjährigen durchaus nicht weniger
ernst nähme als die eines erwachsenen Mannes. Was verstand dieser Mann eigentlich unter
"erwachsen"? In welchem Alter begann für ihn dieser Zustand, war ich für ihn etwa noch ein
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Kind? Jedenfalls wäre es so wie überall, auch mit echter Liebe aus noch so ehrlichem Herzen
ließe sich kein Anspruch auf Gegenliebe einfordern. Und er fände mich zwar wirklich sehr
sympathisch, aber lieben könnte er mich nun einmal nicht, wäre natürlich auch anderweitig in
festen Händen. Er wüßte, daß das in meinem Alter sehr schwer zu verstehen wäre, hätte auch
seinerzeit selbst Ähnliches durchgemacht und sich sogar mit Selbstmordgedanken getragen. Er
bat mich aber inständig, das tapfer durchzustehen, auch ihm zuliebe. Vielleicht würde ich mich
eine Zeitlang wie tot fühlen, sicher auch ein paar Schwierigkeiten in der Schule bekommen,
aber das wäre völlig unwichtig. Er glaubte, daß ich stark genug wäre. Das Leben würde sich
schon wieder melden, irgendwann, das könnte er mir wirklich guten Gewissens versprechen.
Es kam tatsächlich, wie es "Karsten" vorausgesagt hatte: Ich war leer und tot. Sollte doch
meine Mutter über mein Schicksal bestimmen, oder die Klassenkonferenz. Mein Leben
jedenfalls war es nicht mehr!
Meine Mutter war auf Lauterbronn gestoßen, weil sie Trüger, den Schulleiter, von O. her
kannte. Er war dort bis Mitte der Siebziger als evangelischer Pastor vor allem in der
Jugendarbeit engagiert gewesen, bevor er an seine Heimschule am Rande der Alb berufen
wurde, in eher katholisch dominierter Diaspora. Für die Aufnahme eines Schülers oder einer
Schülerin gab es in Lauterbronn eine strenge Regel: Es genügte keinesfalls die Anmeldung
durch die Eltern, vielmehr mußte ich als Kandidatin in einem persönlichen
Vorstellungsgespräch, zu dem meine Erziehungsberechtigte vor die Tür komplimentiert werden
würde, mein eigenes Interesse an einer Aufnahme und die Gründe dafür erklären. Meine Mutter
hatte natürlich vorher wissen wollen, was ich da dem Pfarrer Trüger erzählen würde, aber
gerade das wollte ich ihr nicht verraten, hätte es auch gar nicht gekonnt. Ich war zwar fest
entschlossen, um einen Platz in Lauterbronn zu kämpfen, hatte aber keine Ahnung, wie ich das
begründen sollte. Eigentlich war es für mich ja nur eine Selbstkasteiung, ein Abschied von der
Welt. In früheren Jahrhunderten wäre ich sicher in ein Kloster eingetreten.
Das Gleis der Nebenstrecke schlängelte sich durch eine eigentlich liebliche Landschaft mit
bewaldeten Höhen, oft wacholderbestandenen Geröllhalden und schroffen Kalkfelsen, hoch
über dem feuchten Talgrund, durch den sich das Flüßchen und die von ihm abgezweigten
Mühlkanäle zogen. Damals vor acht Jahren hatte ich fast nichts davon wahrgenommen, wohl
aber die brutale Unterbrechung dieser Idylle durch riesige Steinbrüche, nur noch als Torso
erhaltene Bergabhänge, denen man den Gipfel und die Rückseite weggesprengt hatte, und durch
gewaltige Zementwerke, die ihre gesamte Umgebung mit feinem weißem Staub überzogen
hatten.
Ich ging, wie damals mit meiner Mutter, zu Fuß vom Bahnhof gleich beim Zementwerk quer
durch das bescheidene Städtchen bis zu der Stelle hinter dem letzten Haus, wo man in der
Talschlinge plötzlich vor dem dunklen Waldhang, strahlend wie eine Fata Morgana, den Weiler
Lauterbronn vor sich hat. Inzwischen stand dort, genau auf der richtigen Höhe neben dem
Fahrweg, eine Ruhebank, gestiftet von der Raiffeisenkasse.
Lauterbronn war tatsächlich im Mittelalter ein Frauenkloster gewesen. Nach der Säkularisierung
hatte man das Dorment, den langgestreckten und von einem steilen Dach beschirmten
Zellenbau der Benediktinerinnen, zu einer Fabrik gemacht und zur Ergänzung weitere Gebäude,
Maschinenhäuser und einen hohen Backsteinkamin im anschließenden Paradiesgarten errichtet,
inzwischen aber längst wieder abgerissen. Die ursprünglich romanische, später barockisierte
Kirche, die im rechten Winkel ans Dorment und seine Kreuzgangrelikte angebaut war, war in
dieser Zeit zur Ruine zerfallen und erst seit den Dreißiger Jahren von den romantisch
jugendbewegten Pionieren des damals neu gegründeten Landerziehungsheimes unter mehr als
primitiven Voraussetzungen restauriert worden. Kunsthistorisch am wertvollsten von der
erhaltenen Substanz waren aber wohl die beiden Renaissancegebäude, die -vom Städtchen aus
gesehen dem Dorment vorgelagert- adeligen Stiftfräuleins und Gästen als Quartier gedient
hatten, auch sie von steilen Biberschwanzdächern und Ziergiebeln geschmückt.
Die dritte Seite des nach historischen Plänen auf dem Bauschutt der abgerissenen Fabrikanlage
geometrisch angelegten Klostergartens wurde vom Küchen- und Speisegebäude eingenommen,
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einem bei meinem Einzug gerade frisch bezogenen Neubau, der sich mit seiner damals
modischen Erker-Architektur trotz seiner Größe gegenüber der Kraft und schlichten Würde der
alten Gebäude keineswegs besser behaupten konnte als Jahrhunderte zuvor die einfachen
hölzernen Laubengänge, die im Mittelalter das Geviert des Kreuzganges komplettiert hatten.
An der vierten Seite, gegenüber dem Dorment, stieg wie eh und je gleich hinter der
Klostermauer der steile Südostabhang der Alb auf, bis zur Hochfläche, nicht ganz so dramatisch
wie der nordwestliche Albtrauf zwischen Hechingen und Geislingen, aber mit seiner
Waldkulisse doch das beherrschende landschaftliche Element dieses Seitentales.
Und unterhalb des Speisesaales spiegelte sich geheimnisvoll wie seit Jahrtausenden der
Lautertopf, eine tiefe Karstquelle, ein von Algen grün gefärbter Quellteich, von Mäuerchen
eingefaßt, vielleicht zwanzig mal dreißig Meter groß, ein kleiner Bruder des weitaus
berühmteren und von Mörike verklärten Blautopfes im nicht weit entfernten Blaubeuren.
Ich setzte mich auf das Mäuerchen am Lautertopf und ließ die Füße über dem Wasser baumeln.
Links stand hinter dem Fahrradschuppen die "Mühle", das war eigentlich ein Turbinengebäude
aus der letzten Jahrhundertwende, in dem nach langem Stillstand heute wieder
umweltfreundlich der Strom für das Schuldorf erzeugt wurde. Im Obergeschoß hatte der
Theatersaal gelegen, wo ich zum ersten Mal auf den Brettern gestanden und erlebt hatte, daß
einem eine fremde Rolle -Kleists Penthesilea- wichtiger werden kann als die eigenen Probleme.
Oben im Dachgeschoß der "Mühle" hatte ich gewohnt, zusammen mit Ingrid und den anderen
aus unserer Gruppe. Und gegenüber dem Quelltopf, an den Abhang geschmiegt, stand das
Schulgebäude, das ungewöhnlichste, das ich kenne.
Bei der "Aufnahmeprüfung" damals durch Pfarrer Trüger hatte ich auf die Frage nach meiner
Motivation zum Wechsel nach Lauterbronn schließlich die Flucht nach vorn angetreten und
einfach von meinem Liebeskummer erzählt. Natürlich ohne Einzelheiten. Hatte aber doch ganz
offen von der Ausweglosigkeit meiner Sehnsucht berichtet und dem Wunsch, davon Abstand zu
gewinnen. Trüger hatte mich nur lange schweigend mit zur Hälfte nach innen gerichtetem Blick
angeschaut, als ob da bei ihm ein uralter Film noch einmal abliefe. Erst Frau Meister hatte
schließlich das Schweigen gebrochen. Sie war bei dem Gespräch von Anfang an dabei gewesen,
weil ich gegebenenfalls in "ihrer" Wohngruppe in der Mühle unterkommen sollte, hatte sich
aber bis dahin völlig im Hintergrund gehalten. Jetzt legte sie mir sacht ihre Hand auf die
Schulter und meinte begütigend, ich wäre wohl ein kluges Mädchen. Sie wüßte auch schon, wo
ich wohnen würde: Im Zimmer von Ingrid. Die hätte zwar bisher ihr Doppelzimmer immer für
sich allein haben wollen, wäre auch ganz anders als ich, aber es gäbe keinen Zweifel, daß wir
nach dem ersten Abtasten gut miteinander auskommen würden. Sie hätte nämlich das gleiche
Problem wie ich. Allerdings würde sie es wohl nie fertigbekommen, darüber so distanziert und
analytisch zu reden wie ich. Ich muß zugeben, daß mir dieses Kompliment wie Honig
herunterging.
Frau Meister war wie fast alle Lehrer in Lauterbronn gleichzeitig Tutorin, das heißt für eine
Wohngruppe in der Freizeit rund um die Uhr als Elternersatz verantwortlich. Es gab aber auch
Tutoren, die im Hauptberuf keine Lehrer waren, der Schreiner- und der Gärtnermeister zum
Beispiel, für die leichteren Fälle unter den Schülern. Im Idealfall wohnten auch die Tutoren, so
wie Frau Meister, im gleichen Gebäude wie ihre Schützlinge, in unserem Fall acht Mädchen
unterschiedlichen Alters. Nur einigen wenigen Ausnahme-personen, meist Lehrern mit
berufsfremden Frauen und eigenen Kindern, wurde eine Wohnung außerhalb des Klosterareals
und damit ein Privatleben zugestanden. Bei uns in der Mühle gab es noch eine weitere
Mädchengruppe; in den anderen, größeren Gebäuden lebten aber Jungen- und Mädchengruppen
und sogar gemischte Gemeinschaften nebeneinander.
Ingrid war tatsächlich ganz anders als ich. Zwar auch eher eine Einzelgängerin, aber mit anderen
Interessen. Sie war eine ehrgeizige Sportlerin, Langstreckenläuferin und Triathletin, und
verbrachte fast ihre gesamte Freizeit mit verschiedenen, in der Wirkung aufeinander
abgestimmten Trainingseinheiten, während ich ja eher eine Leseratte bin. Und während ich mich
manchmal bremsen muß, um nicht schneller zu plappern, als ich denken kann, brachte sie kaum
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ein Wort heraus. Das sonst so beliebte Thema Liebe, Männer und Beziehungen war zwischen
uns ohnehin tabu, obwohl oder gerade weil wir durch ein paar Bemerkungen von Frau Meister
wohl beide wußten, wie es um die jeweils Andere stand.
Ich hatte ja bis dahin in Sachen Sport nur das für die Schule Allernötigste getan, ließ mich aber
jetzt doch von meiner Stubenkameradin überreden, sie wenigstens auf ihren bisher einsamen
Waldläufen zu begleiten. Erstaunlicherweise kam ich sogar ganz gut mit, wahrscheinlich
verzichtete Ingrid mir zuliebe auf allzu rasante Zwischenspurts. Mit der Zeit lernte ich diese
Ausflüge sehr zu schätzen, sie brachten einfach ein Gefühl von Klarheit und wohltuender
Schärfe in meine immer noch von Kummer und öliger Melancholie getrübten Gedanken.
Frische Luft eben. Wir rannten zum Schluß oft mehr als drei Stunden ohne Unterbrechung auf
unserer Lieblingsstrecke, durch Wald, Wiesen und Wacholderheide, mit beträchtlichen
Höhenunterschieden. Gesprochen wurde dabei nichts, aber wir fühlten uns sehr im
Einvernehmen miteinander. Sie wußte allmählich schon im voraus, wann sie mir einen CrossCountry-Lauf vorschlagen konnte oder gar mußte, und schließlich war es manchmal sogar ich,
die dazu sie überreden mußte.
Zu reden war mit ihr aber nun einmal nicht. Ich dagegen hatte ja meine kulturellen Interessen
nicht aufgegeben und sogar mehr Zeit als früher zuhause, mich ihnen hinzugeben, weil mich
nun keine lästigen Männergeschichten mehr ablenken konnten. Außerdem war die
Schulbibliothek wirklich bemerkenswert gut ausgestattet und bald mein Lieblingsaufenthalt.
Bloß konnte ich die Anregungen aus meinen Lesefrüchten mit niemandem austauschen oder
diskutieren, wollte es auch nicht. Mit meinen Mitschülern konnte ich mich einfach nicht
anfreunden. Teils waren es die schnöselhaften und verwöhnten Sprößlinge reicher Leute, teils
ziemlich einfach strukturierte bodenständige Bauernkinder, meist Tagesschüler aus der
Nachbarschaft, bei denen ich ja kaum die Sprache verstand, ein sehr gewöhnungsbedürftiges
Oberschwäbisch. Und zum Teil war ich ihnen gegenüber wohl auch ungerecht, oder ich
weigerte mich einfach, mich in ihrer schon lange festbetonierten Klassenhierarchie als
Späteinsteigerin mühsam hochzudienen.
Und über allem lag, nicht offen eingestanden, aber alle Gefühle und Stimmungen überlagernd,
ein großes Heimweh.
In die Heimat gingen zunächst nur dünne Postkarten an Melanie. Mit der Zeit entwickelte sich
daraus ein regelmäßiger und sehr umfangreicher Briefwechsel, der uns später sicher erst dazu
brachte, uns nach dem Abitur einen gemeinsamen Studienort zu suchen.
Das Schulgebäude drüben hinter dem Lautertopf war wohl auch nur ein paar Jahre älter als die
Mensa, aber doch ungleich eindrucksvoller. Es bestand im Prinzip aus der Gruppierung von drei
ziegelgedeckten Dachhauben und aus ihrer Verbindung durch niedrige Flachbauten, mit der
Rückseite an den steilen Berghang geschmiegt und in leichtem Bogen seiner Topographie
folgend. Der Kopfbau direkt über dem Quellteich nahm die "Geisteswissenschaften" auf, vor
allem im Obergeschoß den größten Saal der Schule, die Bibliothek. Wenn man das Gebäude
nach dem Weg um die Mühle herum und über eine Bachbrücke vom Tal aus betrat, stand man
zunächst in der Eingangshalle. Der Raum war hinten begrenzt von einer roh betonierten
Stützwand, die den Berghang abzufangen hatte, links von einer kleinen Bühne mit
Konzertflügel und rechts von ansteigenden Sitzstufen, die abgewinkelt ein kleines
Amphitheater bildeten. Nach oben hin verjüngte sich die Breite der Stufenanlage und ging in
eine großzügige Treppe über, die von der Lichtführung unterstützt den Blick ins Obergeschoß
zog.
Oben angekommen war man fast erschlagen von der Helligkeit, Weite und Höhe des Raumes.
Über einem regelmäßigen Achteck von mehr als zwanzig Metern im Durchmesser erhob sich
freitragend die Holzkonstruktion der steilen, von unten zum Saal hin offenen Dachhaube. Diese
schien geradezu zu schweben über einer umlaufenden, nicht allzu hohen Fensterwand, die in
den verschiedenen Richtungen höchst unterschiedliche Ausblicke bot: Mal ganz introvertierte
Wildblumen-Stillleben am Berghang, mal den Fernblick ins Wiesental der Lauter, vor allem und
am schönsten aber natürlich den Blick auf den Quelltopf, über dem man wie auf einer Brücke
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zu stehen glaubte. Gegliedert war der Raum außer durch die knapp kopfhohen Regalgruppen
nur durch eine in der Mitte wie ein Tisch aufgeständerte Galerie, die noch einmal durch ein
Dreiecksfenster hoch im Dach Licht erhielt: der intimste der vielen Leseplätze. Auch von hier
aus konnte man schräg unter sich das Wellenspiel auf dem Teich beobachten.
Die zweite Dachhaube war den Naturwissenschaften gewidmet, Lauterbronn war ja
mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichtet. Ich hatte anfangs Schwierigkeiten gehabt,
mich dem gegenüber daheim doch
deutlich höheren Unterrichtsniveau anzupassen. Aber mit ein paar Förderunterricht genannten
"Privatstunden" am Nachmittag gelang das dann doch ganz gut. Die Fachräume lagen auch im
Obergeschoß und waren ebenfalls von der Eingangshalle aus durch eine allerdings deutlich
bescheidenere Treppe zu erreichen. An deren oberem Ende fand man sich in einem fast sakral
wirkenden Vorraum wieder, nur vier mal vier Meter groß, aber zehn Meter hoch, fensterlos bis
auf ein dreieckiges Oberlichtfenster hoch oben über der Treppe. Rund um diesen Vorraum
angeordnet lagen die verhältnismäßig kleinen naturwissenschaftlichen Übungs- und
Sammlungsräume, der achteckigen Außenform folgend alles andere als rechtwinklig und nach
oben hin ebenfalls durch das aufregend steile Dach abgeschlossen. Angeblich sorgte diese
Deckenform mit ihrem Auftrieb dafür, daß man auf eine mechanische Entlüftung weitgehend
verzichten konnte.
Frontalunterricht war in Lauterbronn entsprechend dem reformpädagogischen Konzept der
Schule zwar eigentlich verpönt, fand aber gerade in diesem Bereich natürlich doch statt, obwohl
die Unterrichtsgruppen ja verhältnismäßig klein waren und man jeden Schülerplatz mit
Experimentiertischen und allen Installationen ausgerüstet hatte. Wie übrigens auch in der
Bibliothek, führten von jedem Raum aus Fenstertüren auf die vorgelagerten Terrassen. Teils
waren das die begehbaren und bepflanzten Flachdächer der niedrigeren Verbindungsbauten,
teils das auf der Bergseite direkt anschließende Gelände. Bei schönem Wetter fand dort auch
Unterricht statt, die Kleinen durften Keimblätter oder Käfer bestimmen und die Größeren
Knallgas verpuffen lassen.
Der dritte Dachhut gehörte den Werkstätten, auch dies eine Spezialität von Lauterbronn. Der
Werkunterricht sollte realistisch auf die Arbeitswelt vorbereiten. Es gab zum Beispiel
Automechaniker-Werkstätten und eine große, professionell eingerichtete Schreinerei mit
entsprechendem Maschinenpark, in der unter anderem das Mobiliar der Schule hergestellt und
repariert wurde. Allerdings fehlten auch nicht die etwas neckischeren Dinge wie
Handwebstühle und Töpferscheiben. Übrigens hatte ich mich bei den Münchner Verhandlungen
um Lucs Buch im Hotel halb im Scherz als Schreinergesellin eingeschrieben. Das bin ich
nämlich wirklich. Normalerweise kann man in Lauterbronn gleichzeitig mit dem Abitur seine
Gesellenprüfung machen, nach einer parallelen Lehre. Bei mir hatte die Zeit dazu allerdings
nicht ganz gereicht, weil ich ja erst mit siebzehn nach Lauterbronn gekommen war. Aber ich
hatte den Abschluß ein halbes Jahr später nachgeholt, nachdem ich sowieso nicht sofort einen
Studienplatz bekommen hatte. Die Werkstätten waren eingeschossig und wurden normalerweise
direkt vom Freien aus betreten; es war aber auch möglich, die in einer langen Kette
aneinandergereihten Abschnitte trockenen Fußes von der Eingangshalle aus zu erreichen. Die
einzelnen Werkstätten waren nämlich nicht durch Wände, sondern -dem Geländeverlauf
folgend- nur durch Höhensprünge und Verbindungsstufen voneinander getrennt. Flure gab es
nicht. Die Raumkette endete mit dem letzten, etwas kleineren Dachhut, der die große
Schreinerwerkstatt aufnahm. Ein paar ganz normale Klassenräume gab es übrigens auch noch,
fast versteckt im Erdgeschoß unter der Bibliothek.
Meine Monate in Lauterbronn waren die Zeit, in der ich Lesen als Ersatz für ein Leben
entdeckte, das ja für mich in meiner niedergedrückten Lage und Stimmung gar nicht mehr
stattfand. Ich las ziemlich wahllos alles, was mir in die Finger fiel, wenn ich bloß nach den
ersten paar Seiten den Eindruck hatte, es könnte Qualität dahinterstecken: Den Tod in Venedig
und den Tod in Rom, das Treibhaus, die Glashausbesichtigung und die Blendung, die
Gefährlichen Liebschaften des Choderlos de Laclos wie das Hohe Lied des Salomo und
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schließlich die ganze Bibel von Alpha bis Omega, nach der Erkenntnis, daß sie ja in Teilen ein
bedeutendes Stück Weltliteratur ist. Auch dicke Wälzer konnten mich nicht schrecken, ich
hatte ja nichts Besseres zu tun als zu lesen. Der Mann ohne Eigenschaften folgte auf den Fluß
ohne Ufer, Zettels Traum, Finnigans Wake, Portnoy's Complaint und Detlevs Imitationen; ob
Berlin (Alexanderplatz), Brooklyn (letzte Ausfahrt) oder Rom (Blicke), ob die unerträgliche
Leichtigkeit des Seins oder die Angst des Tormanns beim Elfmeter, die Grasharfe oder die
Blechtrommel, ganze Tage in den Bäumen, stille Tage in Clichy oder Philosophie im Boudoir,
alles wurde verschlungen. Und hinterließ sicherlich seine Spuren. Ich ertappe mich heute noch
dabei, daß ich als Überschrift für irgendein eigenes Erzeugnis auf den nur moderat
verbalhornten Titel eines dieser Werke zurückgreife, weil sie einfach so schön klingen.
Natürlich las ich auch Shakespeare, Beckett und Brecht, Ibsen, Nestroy und Wedekind, Frisch,
Albee und Bernhard. Und Kleist.
Als in der Theater-AG ein neues Stück einstudiert werden sollte und wir Interessierten um
Vorschläge gebeten wurden, hatte niemand eine Idee außer mir: die Penthesilea. Der Regisseur
und Gruppenleiter, Mr. McIntosh, ein junger Austauschlehrer aus dem schottischen PartnerCollege der Schule, war von meinem Vorschlag begeistert. Er war genau wie ich fasziniert von
Kleists gewaltiger Sprache und der Monströsität seiner Handlung. Für mich war deren
blutrünstiges Finale nur ein Sinnbild für die Sprengkraft einer leidenschaftlichen Emotion, die
durch unbezwingbare Gegenkräfte daran gehindert wurde, sich auf friedlichen Wegen -in diesem
Fall denen der Liebe- zu entladen. So gesehen nur ein Abbild meiner eigenen Situation. Ich
hätte genauso handeln können wie Penthesilea! Ich malte mir aus, wie ich die Königin der
Amazonen wohl spielen würde, wenn ich sie zu spielen hätte: Ich würde die äußerlichen
Anzeichen meiner inneren Abgründe sehr weit zurücknehmen. Man dürfte sie auf keinen Fall
einfach an der Oberfläche sehen, müßte aber in ein paar blitzlichtartig beleuchteten
unbeherrschten Momenten schreckliche Einblicke erhalten, die man schon Sekunden später für
Hirngespinste halten würde. Und die sich trotzdem unauslöschlich einprägen würden. Als
Vorbilder für derartig zwielichtige und wenig durchsichtige Gestalten kamen mir damals nur
Männer in den Sinn. Mädchen und Frauen hatten für mich einfach keine Geheimnisse, was
sicher ein Irrtum war. Ich versuchte mir die Körpersprache und Gesten meiner männlichen
Vorbilder ins Gedächtnis zu rufen und diese, wann immer Ingrid ihr Hantel- Schwimm- oder
Sprungtraining absolvierte, vor dem großen Spiegel in unserem Zimmer zu imitieren und
einzuüben.
Bei der nächsten Sitzung der Theatergruppe sollten eigentlich nur alle Teilnehmer das Stück
gelesen haben und ihre Ideen dazu äußern. An eine Rollenbesetzung war noch lange nicht
gedacht. Anscheinend hatten aber alle Anwesenden, McIntosh eingeschlossen, das Gefühl,
Penthesilea sitze mitten unter ihnen. Nämlich ich. Offenbar hatte ich meine Körperhaltung,
meine Blicke und meine Gestik schon so weit stilisiert, daß ich eben diese Frau geworden war,
obwohl das niemand auszusprechen wagte. Natürlich hatten wir alle in diesem Stadium noch
keine Dialoge gebüffelt, aber Mr. McIntosh war sowieso der Meinung, man müßte zunächst
ganz sprachlos die "Haltung" der Personen zueinander erarbeiten, bevor man sie dann dazu
auch noch den Text rezitieren lassen dürfte, und sei er auch noch so genial, wie der uns
vorliegende von Kleist.
Als er mir die Hand auf die Schulter legte, verstanden alle außer mir, daß ich -wenigstens für
heute- die Königin spielen sollte. Als auch ich es dann schließlich doch verstand, erhob ich
mich vom Stuhl und blickte im Kreis herum, wer wohl als mein Partner in Frage käme. Das lag
zwar wohl eigentlich gar nicht in meiner Kompetenz, aber erstaunlicherweise akzeptierten alle
diesen meinen Anspruch. Bloß fand ich niemanden, dem ich diese Rolle zugetraut hätte! Antike
Helden mit einer Menge Tiefgang waren nicht in Sicht.
Schließlich tippte ich einfach dem Jungen auf die Schulter, der zufällig neben mir saß: Wolf
Alexander, genannt Sascha. Was ich sofort spürte, als er mir in Tuchfühlung gegenüberstand: Er
hatte mehr von dieser Tiefendimension, als ich ihm zugetraut hätte. Er war mindestens ein Jahr
jünger als ich, aber er hatte offenbar, so sehr er es auch zu verbergen suchte, eine so starke
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Sehnsucht nach Liebe oder besser gesagt Sex, daß ich dieses Kribbeln bis in seine Haarspitzen
zu spüren glaubte. Und auch diese Bereitschaft zur Selbstzerstörung, die so gut zu seiner
exzentrischen Rolle passte. Was ich allerdings noch nicht wußte: Er war auch der Grund für den
Liebeskummer meiner Zimmergenossin Ingrid!
Zunächst mußten wir nach nebenan, um unsere einander sehr ähnlichen Kostüme -oder die
halbfertigen Entwürfe dazu- anzuprobieren. Es waren schenkelkurze, grobgewebte Jagdkleider,
eine Art Unisex-Tunikas, wie man sie von griechischen Vasen her kennt. Drunter hatten wir
Sandalen zu tragen, die mit Riemchen bis über die Waden hoch verzurrt wurden. Ich mußte
innerlich grinsen bei der Überlegung, daß man in der Antike anscheinend für die wirklich
elementaren
Bedürfnisse des Lebens sehr praktisch gekleidet war. Die Sandalen jedenfalls würden bestimmt
nicht im Wege sein.
Sascha fand ich irgenwie süß, als er sich bis auf seine Markenunterhose auszog. Ich habe wohl
schon eine Schwäche für etwas androgyne, leptosome Männer !
Zurück auf der Probebühne im Theatersaaal nahm ich das Heft in die Hand und inszenierte
unser großes Thema Leidenschaft. Ich schob Sascha bei unserer Umarmung mein nacktes Knie
spitz zwischen seine ebenfalls nackten Schenkel und registrierte mit Befriedigung, daß unsere
Zuschauer den Atem anhielten. Sascha traute sich nicht, auch nur einen Mucks zu tun, obwohl
ich ihm das Knie unbarmherzig und ziemlich unanständig immer höher schob. Natürlich spürte
ich, von Sacha ganz zu schweigen, viel mehr, als unsere Zuschauer sehen konnten. Und dann
legte ich wie selbstverständlich den Kopf ein wenig schief. Er folgte mir völlig hypnotisiert in
der Gegenrichtung und fand es jetzt angemessen, seine Lippen auf meinen Mund zu legen, bis
ich ihn auch noch dazu verführen konnte, sie mir zu öffnen und meine Zungenspitze
aufzunehmen, um sie dann allerdings heftig zu mir zurückzuschieben und sich an ihrem
Ursprung ungeduldig und doch gründlich kundig zu machen. Als wir nach einer Ewigkeit fertig
waren, die Augen wieder aufschlugen, uns in die Augen sahen und über uns selbst verblüfft
gegenseitig die verwirrten Haare aus der Stirn strichen, begannen einzelne unserer Zuschauer
nach einer Schrecksekunde, begeistert in die Hände zu klatschen. Manche davon spöttisch,
manche solidarisch. Nachher nahm mich Sascha zur Seite und wollte wissen, was mein Vorstoß
eigentlich zu bedeuten gehabt hätte. Ob ich mich etwa in ihn verliebt hätte?
Nein, das hatte ich nicht. Der Mann, den ich liebte, hatte mich kein einziges Mal geküßt und
würde mich auch nie mehr küssen! Eigentlich hatte ich nur Penthesilea sein wollen und gewußt,
daß das, in einem Punkt komprimiert, am besten mit so einem Ausbruch hemmungsloser
Leidenschaft aus heiterem Himmel zu machen war. Ich war also wild entschlossen, mich in
diese Umarmung zu stürzen, hätte mir dazu vielleicht auch noch das Kostüm vom Leib reißen
sollen. Aber weil das Ganze eben nur ein Spiel war, hatte ich mir dafür einen sogar besonders
harmlos wirkenden Jungen ausgesucht, der mir innerlich nicht zu nahe treten konnte. Und
schließlich war es für mich wie für Penthesilea ja wohl auch noch ein besonderer Kitzel, uns
unsere Partner (ein seltsames Wort bei dieser Konstellation!) mitten im Liebesspiel und gerade
mit dessen Hilfe rettungslos zu unterwerfen! Aber mittendrin hatte ich plötzlich gefühlt, daß
dieser nette, harmlose Junge genauso wild war wie ich und durchaus in der Lage, mir schwache
Knie zu verschaffen.
Das konnte ich aber nicht auf mir sitzenlassen, nein, Sascha sollte meine Attacke am besten
genauso auffassen, wie er sie empfunden hatte: Als sehr, sehr weit gehendes Angebot. Warum
sollte ich ihm das nicht sagen? Wenn er wollte, würde ich auch mit ihm schlafen, auch wenn er
so etwas ja wohl noch nie gemacht hätte: Das würde ich ihm schon beibringen. Guttun würde
es uns sicher beiden, aber Liebe wäre es deshalb noch lange nicht. Für ihn allerdings sicher eine
Erfahrung von Nutzen, wenn er seine Rolle auf der Bühne einigermaßen glaubhaft ausfüllen
wollte.
Abends auf unserem Zimmer nahm mich dann Ingrid ins Gebet. Der Vorfall auf der
Theaterprobe hatte sich wohl in Windeseile herumgesprochen, sogar bis zu ihr, die ja eigentlich
auch wenig Kontakt zu den Mitschülern hatte. Man war wohl ziemlich verblüfft gewesen, weil
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ich mich bis dahin ja wirklich etwas in mein Schneckenhaus zurückgezogen und als unnahbar
oder gar als eiserne Jungfrau gegolten hatte. Na ja, die Jungs wußten eben auch nicht alles.
Ingrid wollte wissen, mit leicht vorwurfsvollem Unterton, wie ich das bloß hätte tun können: Es
wäre doch offensichtlich, daß ich einen ganz anderen Mann im Herzen hätte. Und außerdem
wäre doch Sascha noch ein richtiger Bubi und für solche Sachen viel zu jung. Woher denn sie
das wüßte, wollte ich jetzt von ihr wissen, geküßt hätte er jedenfalls schon recht
vielversprechend, und eigentlich wäre das ja auch eine Fertigkeit, die mich bei einem Jungen in
seinem Alter nicht sehr überraschen würde. So eine Umarmung und ein richtiger Kuß wären für
mich fast so schön, wie mit einem Mann zu schlafen. Ich brauchte das einfach ab und zu und
hätte es nun schon lange genug entbehrt. "So if you can't be with the one you love, love the one
you're with", zitierte ich noch den Refrain des Songs, der mir gerade einfiel. Liebe wäre das
natürlich nicht, es fehlte einfach dieses elementare Verlangen, alles vom Geliebten zu wissen,
jede Faser seiner Seele genauso wie seines Körpers zu ertasten, nie wieder herzugeben und sich
selbst dafür ohne Bedenken mit Haut und Haar herzuschenken. Aber Sex, eigentlich auch
schon so ein Kuß, könnte unter Umständen mit einem Fremden weit aufregender sein als mit
jemandem, den man in- und auswendig kenne und liebe. Allerdings wäre selbst bei so einem
schnellen Buschfeuer manchmal ganz unerwartet plötzlich die paradoxe Begierde da, diese
eigentlich doch gerade aufregende Fremdheit irgendwie aufzuheben. Bloß gelinge das in diesem
Fall eben meist höchstens für einen explosiven Augenblick.
Ich könnte ja Sascha von ihr aus gern verführen, wenn ich mir das zutraute. Ihr jedenfalls
machte das nichts aus, behauptete Ingrid mit versteinertem Gesicht. Es stellte sich heraus, daß
sie ihn tatsächlich wohl sehr gut kannte: Sie waren nämlich die letzten zwei Jahre miteinander
gegangen. Natürlich war es mit der Zeit zu Schmusereien und Zärtlichkeiten gekommen, und
schließlich hatte sie sich auch dazu überwunden, mit ihm zu schlafen, um ihn nicht an eine
Andere zu verlieren. Alles war vorbereitet, die Pille, schummriges Kerzenlicht und betörende
Musik, sogar das in irgendeinem Hotel geklaute Pappschild "Bitte nicht stören" für die
Türklinke hatte sie sich von der Kameradin Carmen aus der Abiturklasse ausgeliehen. Das galt
zwar eigentlich erst für die Volljährigen ab achtzehn, wurde aber von Frau Meister beim
abendlichen Stubendurchgang stillschweigend auch bei den Fünfzehn- und Sechzehnjährigen
respektiert. Schließlich war sie ja auch einmal jung gewesen.
Sascha und Ingrid hatten sich also umarmt und gegenseitig beim Ausziehen unter die Arme
gegriffen. Ein bißchen aufgeregt, aber so weit waren sie ja auch früher schon gekommen: bis an
die Unterwäsche. Er hatte sie vom Nabel aufwärts mit Küssen hochgearbeitet, bis sie sich
kurzentschlossen das Hemdchen bis zum Hals, schließlich ganz über die Ohren und die Arme
gestreift hatte. So lieben es die Jungs: Seine Erektion schien zu halten, was seine Küsse
versprochen hatten (Oh ja, ich kannte ja Beides bestens!). Sie hatte ihn aufs Bett gezogen,
wohlig das Gewicht seines Leibes über sich gefühlt und ihm ihren zur Eroberung überlassen.
Und dann hatte sie auch noch ihr Höschen weggestrampelt und ihm "Komm schon!" ins Ohr
geflüstert. Er allerdings hatte keine Anstalten gemacht, es ihr gleichzutun, sondern nur zögernd
gestanden, daß es für ihn das erste Mal sein würde. Noch kurz zuvor hatte er zwar ganz andere
Töne gespuckt, aber Ingrid wußte schon, wie sehr solche Dinge auch bei den Jungs in erster
Linie eine Prestigeangelegenheit waren. Ihr Gegengeständnis, daß auch sie noch unberührt wäre,
konnte ihn allerdings auch nicht wieder aufrichten: Jetzt sackte sein ganzer Mut in sich
zusammen. Und nicht nur der. Da war nichts mehr zu machen. Später hatte er dann wohl
überall herumerzählt, Ingrid hätte versucht, ihn anzumachen, aber er hätte natürlich nicht
mitgespielt. Sie wäre ja noch viel zu jung dafür und müßte erst noch ein paar Jahre auf die
Weide (Er selbst war übrigens genau drei Tage älter): Ein indiskutabler Typ! Sie allerdings
schien immer noch in ihn verliebt zu sein, ich versuchte also wenigstens verbal, ihn teilweise
bei ihr zu entschuldigen: Er hätte wohl einfach Angst gehabt, irgend etwas falsch zu machen.
Aber insgeheim beschloß ich, ihn an Ingrids Stelle für seine Feigheit vor dem "Feind" zu
bestrafen. Indem ich ihn nun erst recht zum Spielball und reinen Objekt meiner weiblichen
Lüste machte.
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Am Sonntag schleppte mich Ingrid mit in die Kirche. Ich war ja eher ohne Religion
aufgewachsen, obwohl ich noch evangelisch getauft und sogar zum Konfirmandenunterricht
geschickt worden war. Aber mit vierzehn hatte ich mich vom Religionsunterricht abgemeldet
und auch nicht mehr konfirmieren lassen. Auf der anderen Seite hatte ich gerade erst in der
Bibliothek entdeckt, daß die Bibel alles Andere als ein Traktat für ältliche Betschwestern war,
sondern voller Witz, Weisheit und sogar Lebenslust steckte. Pfarrer Trüger predigte über die
Liebe. Zuerst räumte er ein paar verbreitete Irrtümer aus. Zum Beispiel, daß die Nächstenliebe
erst vom Christentums erfunden worden wäre: Das stünde nämlich auch schon in der jüdischen
Überlieferung, allerdings überwuchert von allerlei äußerlichen Gesetzen. Dann analysierte er das
Gebot "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst". Er setzte da ein Komma, seiner Meinung nach
steckten darin nämlich zwei Sätze: Erstens, liebe dich selbst. Schon weil dein Schöpfer dich als
sein Geschöpf toll findet und dich sicher kompetenter beurteilen kann als du dich selbst. Und
erst zweitens, liebe deinen Mitmenschen genauso, wie du dich selbst lieben solltest. Weil er sich
von dir höchstens marginal unterscheidet und den gleichen Schöpfer hat. Wie übrigens auch alle
Tiere und Pflanzen und Landschaften und das Weltall. Ich war beeindruckt. So hatte mir das
noch nie jemand erklären können oder wollen. Und natürlich war ich auch in dem Alter, wo
man nach Maßstäben sucht, für einleuchtende Regeln empfänglich ist und eine Anarchie auf
dem Gebiet der Ethik nicht akzeptieren würde.
Zurück auf unserem Zimmer verfaßte ich, ziemlich wirr, einen anonymen "Brief" an Trüger:
"Themenvorschlag für eine Predigt: Love is all you need / Liebe deinen Nächsten / Der
Nächste bitte / For if you can't be with the one you love, love the one you're with.
Unterzeichnet (pseudonym): Maria Magdalena." Ist mir heute noch peinlich.
Am nächsten Sonntag predigte zu meiner Überraschung nicht der Pfarrer, sondern ein
ehemaliger Schüler aus Lauterbronn, inzwischen Bankdirektor bei der Hypo-Bank in München.
Er führte aus, daß er eigentlich über Prophezeiungen und Propheten hatte sprechen wollen.
Propheten hätte es zu allen Zeiten gegeben. Durch sie hätte Gott immer wieder versucht, die
zwischenzeitlich eingeschlichenen Verfälschungen seiner Offenbarung wieder zurechtzurücken.
Es gäbe keinen Grund zu glauben, daß es heute keine Propheten mehr gäbe, nötig wären sie
jedenfalls wie eh und je. Verdrehungen der Wahrheit gäbe es ja schließlich zur Genüge. Und zu
keiner Zeit hätte man ein Heiliger sein müssen, um als Prophet zu wirken. Wichtiger wäre
immer eine Wirkung auf die Menschen gewesen, ein Charisma. Und eben der Schauer, der die
Zuhörer des Propheten überfiele, wenn sie plötzlich spürten: Dieser Mensch sagt eine Wahrheit,
die ich eigentlich längst selber weiß oder wissen müßte. So gesehen, spräche nichts dagegen,
heutige Propheten auch in den Reihen von Fernsehmoderatoren, Popsängern oder sogar
Politikern zu vermuten. Und damit zog er meinen Zettel aus der Tasche und las ihn vor, zum
Glück ohne die "Unterschrift". Er erwähnte, daß ihm Trüger diesen Zettel in die Hand gedrückt
und ihn gebeten hatte, in der Predigt auch darauf einzugehen. Seiner Meinung nach hätte da
einer von uns Schülern in erster Linie provozieren wollen (er gebrauchte nur die männliche
Form "Schüler", obwohl er es wohl besser wußte). Aber nach dem zuvor Gesagten wäre ja wohl
klar, daß auch Provokateure Propheten sein könnten. Und umgekehrt.
In einem Punkt hätte der Provokateur (oder auch Prophet) jedenfalls recht: Liebe könnte
niemals eine Sünde sein, auch ihr körperlicher Ausdruck nicht. Aber sie wäre auch kein
Freibrief für eine zugleich begangene Lieblosigkeit, wenn ein Mann zum Beispiel eine fremde
Frau liebte und damit seine eigene kränkte. Andererseits müßten wir uns klar sein, daß wir als
Menschen gar nicht in der Lage wären, ohne Verstöße gegen solche Gebote zu leben. Jesus
selbst jedenfalls hätte gerade Maria Magdalena zu seiner ersten Jüngerin gemacht, was von der
patriarchalisch geprägten Kirchengeschichte gerne unter den Teppich gekehrt würde. Und diese
Frau hätte eben gegen alle gesellschaftlichen und religiösen Tabus verstoßen, außer gegen das
Gebot der Liebe. In diesem Moment blickte er auf und meinte verlegen lächelnd, er wollte sich
damit natürlich nicht hier selbst als Prophet und Verkünder ewiger Wahrheiten aufspielen. Nur
zum Nachdenken anregen. Er hätte beim Blick auf diesen Zettel eben einfach das Gefühl
gehabt, daß daraus eine Wahrheit spräche. Wie gesagt, ein Bankdirektor Ende dreißig! Ich war
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trotzdem schon wieder beeindruckt, diesmal auch von mir selbst, und das um so mehr, als
meine Stubenkameradin Ingrid neben mir saß und anhand der Zitate sicher ahnte, von wem der
anonyme Zettel stammte.
Am nächsten Nachmittag besuchte mich Sascha an meinem Leseplatz oben in der Bibliothek.
Er ließ sich gleich zu meinen Füßen nieder und lehnte seinen Rücken an meine Knie. Es war
klar, er wollte noch einmal mit mir reden, ohne mir dabei in die Augen sehen zu müssen. Er fing
auch sofort an, mußte dazu aber sichtlich allen seinen Mut zusammennehmen: Ob ich wirklich
neulich einfach so mit ihm ins Bett gegangen wäre, ohne nachher gleich wie eine Klette an ihm
zu hängen?
- Doch, schon, es hätte ja nicht im Bett sein müssen, am schönsten wäre es vielleicht auf einer
Wiese am Waldrand? Mit Nachtigallen- oder Lerchengezwitscher? Er wäre schließlich ein
hübscher Junge, einem Quasimodo hätte ich das sicher nicht angeboten. Mir gefiele einfach sein
Gesicht (aufgeweckt), seine Augen (etwas stechend), sein Mund (sinnlich) und sein Haar
(drahtig). Wie zur Bekräftigung mußte ich ihm mit der Hand da hindurchfahren und es ihm
verwuscheln, riß mich dann aber zusammen, um ihm mit härterer Stimme zu bedeuten, mein
Angebot wäre jetzt allerdings nicht mehr gültig. - Warum, wollte er natürlich wissen, und ich
machte ihm klar, was ich inzwischen von meiner Freundin Ingrid erfahren hatte, von ihrem
Liebeskummer, und wie er sie gekränkt und gedemütigt hätte. Indiskutabel! Daß sie ihm aber
meinem Gefühl nach wohl noch einmal verzeihen und ihm einen zweiten Anlauf zugestehen
würde. Ich würde es vor allem ihr gönnen. Aber wie auch immer, bevor er diese Geschichte
nicht mit Anstand bereinigt hätte, liefe bei mir eben auch nichts.
Er drehte sich jetzt doch in meine Richtung, noch immer auf dem Boden kniend, sah mir
enttäuscht in die Augen und legte mir den Kopf auf die Schenkel. Wenn er jetzt auch noch
geflennt hätte, wäre alles aus gewesen. Ich hatte nur einen superkurzen Mini an, mußte aber
zum Glück nur seine nicht ganz frisch rasierten Bartstoppeln auf der nackten Haut ertragen.
Himmel, hoffentlich würde ich nicht vollends die Beherrschung verlieren! Er merkte wohl, wie
ich erschrocken war, hob seinen Kopf an und fragte fast flehend, ob er nicht wenigstens zum
Abschied noch einmal so einen himmlischen Kuß bekommen könnte wie da neulich. Abschied?
Eigentlich hatte ich fest vor, ihn auch in Zukunft auf jeder Theaterprobe ganz genau so zu
küssen. Natürlich nur streng professionell. Aber wenn er schon unbedingt jetzt auf der Stelle
einen "Abschiedskuß" haben wollte, war dagegen unter Freunden eigentlich auch nichts
einzuwenden. Damit jedenfalls würde ich Ingrid noch nicht in den Rücken fallen, sondern ihr
nur endgültig das Terrain freigeben.
Ich hätte Sascha zu diesem Zweck einfach zu mir hochziehen können, ließ mich aber lieber zu
ihm hinuntergleiten und machte es mir auf seinen Knien bequem. Als wir dann unsere Arme
umeinanderschlangen, uns natürlich noch ein bißchen enger zusammenzogen und endlich
unseren Lippen freies Spiel ließen, war es dann aber sofort alles andere als ein harmloses
Abschiedsküßchen. Ich hatte ihm die Hände auf dem Rücken unters Hemd geschoben, um
möglichst viel von seiner Haut zu fühlen. Weil ich natürlich ahnte, daß es auch in seiner
unverschämt kurzen Turnhose einen gewaltigen Aufstand geben mußte, traute ich mich nicht,
auf seinen Schenkeln noch ein wenig höher zu rutschen. Wir waren ja schon fast in einer
klassischen Liebesstellung, und das in einem jedermann frei zugänglichen Tempel der
Wissenschaft. Aber alle meinen guten Vorsätze waren längst umgestoßen. Ich schob also
meinen Kopf an sein Ohr und flüsterte provozierend süß, er wäre ja tatsächlich schon ziemlich
groß und kein Kind mehr (dabei rutschten meine Hände ganz unschuldig von seinen Hüften in
seinen Schoß und fühlten sich bestätigt). Ich könnte mir aber trotzdem vorstellen, daß er
sich ein bißchen fürchtete, vor Ingrid beim ersten Mal wie ein Anfänger dazustehen. Das mit
dem ersten Mal wollte er ja wohl nicht dementieren. Außerdem wären wir ja eigentlich gerade
so schön dabei, daß ich mich vielleicht doch einfach darauf einlassen könnte, ein bißchen mit
ihm zu üben.
Natürlich alles nur Ingrid zuliebe, redete ich mir ein. Daher auch meine zwei Bedingungen:
Erstens strengstes Stillschweigen, und zweitens müßte er alles, was ich ihm zeigen würde,
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gleich an Ingrid weitergeben. Er seufzte nur, war aber unfähig, irgend etwas zu unternehmen.
Aber selbst ist die Frau!
Ich wußte, daß sich manchmal der eine oder andere Primaner mit seiner Freundin in einer der
kleinen Musikübungszellen einschloß, hinter dem Podium in der Eingangshalle. Das taten wir
jetzt auch. In der Nachbarzelle improvisierte jemand auf dem Saxophon ein wunderschön
wehmütiges Solo. Die Musik war zwar nur sehr gedämpft zu hören, drang aber doch ungefiltert
in unser Unterbewußtsein und verbindet sich für mich bis heute mit der Erinnerung an unser
verschwiegenes Übungsstündchen. Sascha genierte sich wie erwartet ein bißchen, als ich ihm
den Gummizug seiner Turnhose -jetzt ganz ruhig bleiben!- vorsichtig über die empfindlichste
Stelle hob, wo er sich in der Aufregung leicht hätte verhaken können, um sie ihm dann
entschlossen über die Schenkel, die Knie, die Waden und die Schuhe zu streifen. Ja, die Schuhe
hatte er auch noch an! Da untenrum war alles ziemlich haarig, von dort an aufwärts sogar
unglaublich zottelig, als er bei meinem Manöver in Rückenlage gehen mußte und ihm sein
Hemd bis unter die Achseln hochrutschte. Beinahe hätte ich einen Rückzieher gemacht. So eine
Gorillabrust war eigentlich nicht so sehr mein Fall, und bei so einem zarten Jüngling wie ihm
wirkte sie auch noch ziemlich lächerlich. Zum Glück rutschte ihm sein Hemd wieder herunter,
als wir uns wieder einander gegenüber auf den Boden setzten. Hoffentlich behielt er es nachher
an! Wir schauten uns erst einmal verlegen lächelnd in die Augen und lösten uns gegenseitig die
Schleifen unserer Schuhbänder. Ich mußte noch einmal aufstehen, um mein Höschen und den
Mini abzuschütteln, und knöpfte mir lieber auch gleich die Bluse auf, damit die Sache nicht
doch noch ins Stocken käme. Aber ausziehen durfte er sie mir. Ich wußte ja, daß ich knackige
kleine Brüste hatte, die bis dahin noch jedem Mann gefallen hatten; ich streckte sie noch etwas
vor, führte seine Fingerspitzen darauf spazieren und wollte auch seine Lippen daran fühlen. Er
interessierte sich mehr für meinen Nabel, was mir, ehrlich gesagt, bis heute nicht viel gibt. Jetzt
nur keine Verzögerung, sonst käme auch er noch auf andere Gedanken und würde gar den Mut
verlieren! Ich warf also unsere leider nur wenigen Klamotten in einer Ecke zu einem Häufchen
auf, als Kopfkissen. Die Zelle war gerade so groß, daß wir uns in der Diagonalen ausstrecken
konnten. Der Boden war trotz des Teppichbelages recht hart, zu hart für meine zarte Haut, ich
drückte also Sascha schnell unter mich, rückte ganz nah auf, drehte mir seinen Kopf zurecht
und wollte mit dem wilden Teil unserer Umarmung beginnen.
Er dagegen hatte jetzt plötzlich noch eine Menge zu bereden, zum Beispiel, ob wir uns nicht
vor Aids schützen müßten. Es hatte sich damals schon bis Lauterbronn herumgesprochen, daß
es nicht nur Schwule treffen konnte. Ich konnte ihn beruhigen, ich hätte es nur beim allerersten
Mal ungeschützt gemacht, aber das wäre schon eine Weile her, und inzwischen hätte ich
sicherheitshalber sogar einen Test machen lassen. Und bei ihm wäre es ja wohl heute sowieso
erst seine Premiere. Falls allerdings doch nein, sollte er mir das schon besser sagen. Aber sonst
brauchte er sich von mir aus kein solches Ding überzurollen. Ohne wäre es nämlich schöner, da
wäre das Gefühl intensiver. Zur Bekräftigung meiner Worte gab ich ihm mit der Hand ganz
sacht einen kleinen Vorgeschmack davon, was er nachher alles fühlen sollte. Das gute Stück
fühlte sich zwar noch ganz prächtig an, aber leider sind ja Diskussionen für Obsessionen eher
Gift.
Jetzt wollte er auch noch wissen, mit wie vielen Männern ich es vorher schon getrieben hätte.
Ich blieb lieber vage: Mit einer Handvoll vielleicht. Ich war ja erst siebzehn. In Wirklichkeit
waren es eher ein Dutzend gewesen, vor allem die Jungs aus unserer "Studentenkartei" hatten
ziemlich zu Buch geschlagen. Aber dazu vielleicht doch erst später mehr. Natürlich hätte ich
auch genauer zählen können, ich konnte mich schließlich schon noch an jeden Einzelnen
erinnern. Aber ich wollte mir jetzt wirklich nicht mit anstrengender Gedankenarbeit die Lust
auf den süßen Jungen verderben, der da unter mir auf dem Teppich schon ganz schön ins
Schwitzen gekommen war. Womöglich wäre dabei noch herausgekommen, daß er mein
Dreizehnter sein würde! Außerdem war mir schon auch klar, daß ich mit meinem
Männerverschleiß doch ziemlich über der Norm lag und darauf nicht nur stolz sein konnte. Vor
allem einen unbedarften Anfänger, der womöglich noch an die Unwiederholbarkeit des
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Erlebnisses glaubte, würde ich mit meinen Zahlen vielleicht eher erschrecken als ihm damit
imponieren. Tatsächlich ließ seine Begeisterung, sich vernaschen zu lassen, auch schon
merklich nach, wenn ich den üblichen Gradmesser zugrundelegen wollte, den ich ja noch immer
prüfend in der Hand hielt. Jetzt war es an mir, heftig zu erschrecken! Ich wollte diese lang
entbehrte Gelegenheit doch nicht ergebnislos in den Wind schreiben! Ich warf mich also mit
Macht auf ihn und lieferte ihm wilde Küsse, fühlte mich fast wieder wie Penthesilea. Aber das
Ergebnis bei ihm war nur ein ziemlich kleines Zwischenhoch. Die Sache blieb noch eine Weile
auf der Kippe, dann nahm sein Geschlecht leider unwiderruflich seinen deutlich weniger
männlichen Normalzustand ein. Pech für uns beide! Wir lagen noch eine Weile stumm und
unschlüssig nebeneinander, dann fragte ich ihn unter etwas aufgesetzten Scherzen, die ihn
natürlich auch nicht recht trösten konnten, ob er lieber mit mir einen Waldlauf machen wollte,
stattdessen. Er wollte. Wir zogen uns also wieder an, diesmal ganz ohne Eile, und traten ins
Freie.
Ich ließ Sascha bei der Bachbrücke über die Lauter stehen, weil ich unser sportliches
Ersatzprogramm schließlich nicht im Minirock absolvieren und mich noch schnell umziehen
wollte. So eine fetzige Turnhose wie er hatte ich nämlich auch, Größe sechsunddreißig, in der
originalen Schulfarbe, und auch das passende weiße Leibchen mit dem stolzen Schriftzug
"Landschulheim Lauterbronn" quer über der Brust. In O. hatte ich zwar immer eins von der
University of California getragen, aber wir hier waren ja schließlich auch etwas! Und er könnte
sicher ein bißchen demonstrativ gezeigte Zusammengehörigkeit wenigstens in der Kleidung
gebrauchen, nach seinem peinlichen Mißgeschick vorhin bei dem Versuch, sich wie ein Mann
zu benehmen. Immerhin hatte er es versucht! Oben in der Mühle fiel mir dann ein, auch noch
schnell zu duschen. Als ich danach nur mit einem Handtuch um die Schultern wieder auf den
Gang trat, war Sascha mir dorthin gefolgt. Ich zog ihn einfach noch einmal mit mir ins
Mädchenbad und unter die Dusche, Heimlichkeiten hatten wir ja jetzt wirklich keine mehr
voreinander. Und die Gefahr, dort überrascht zu werden, war zu dieser Tageszeit gering,
jedenfalls geringer als der Kitzel, daß es vielleicht doch passieren könnte. Aber obwohl er
sichtbar schon wieder leidlich wohlauf war, wollte ich mich dann doch nicht noch einmal einem
solchen Wechselbad der Gefühle aussetzen, wenigstens nicht im Augenblick. Jetzt mußte eben
einfach gelaufen werden.
Wir nahmen die Route, die ich auch sonst immer mit Ingrid lief. Sascha war kein Ausdauertyp,
er kam ganz schön ins Japsen, biß aber natürlich die Zähne zusammen. Nach etwa dreitausend
Metern, am Rand einer Baumschule mitten im Wald und schon auf der Hochebene, erstarrten
wir fast gleichzeitig vor Schreck und blieben angewurzelt stehen: Vor uns an einem Ast hing
unsere Freundin Ingrid, vielleicht fünfzig Meter entfernt. Ihre rührend kleinen Füße schwebten
zehn Zentimeter über dem Waldboden, barfuß wie immer, wenn sie ein Lauftraining machte.
Natürlich trug auch sie die Lauterbronner Farben, oben allerdings ein enges nabelfreies weißes
Sportlertop, nicht aus der Kleiderkammer der Schule. Um dieses ausgesprochen starke Teil
hatte ich sie schon immer beneidet. Dabei hatte natürlich sie angesichts ihrer ausgeprägten
Oberweite mit diesem lästigen Auf- und Abgehüpfe beim Laufen sicher viel mehr Last als ich.
Und augenblicklich schämte ich mich in den Boden, daß ich jetzt noch an so etwas denken
konnte. In einem so schrecklichen Augenblick!
Aber natürlich hing sie gar nicht an einem Strick um den Hals, sondern an den eigenen Händen
und Armen, wohl zu einer Streckübung. Sascha hatte das schneller erkannt als ich, obwohl er
sicher den gleichen Gedanken gehabt hatte. Während ich immer noch unfähig zu irgendeiner
Bewegung stehenblieb, rannte er mit einem Schrei der Erleichterung auf sie zu und faßte sie an
den Hüften. Auf der nackten Haut. Sie war dort anscheinend kitzlig und versuchte seinem
Zugriff auszuweichen. Ob in einer ungeschickten Bewegung oder mit verwegener Absicht,
jedenfalls hatte er ihr plötzlich zu meinem und wohl auch ihrem Entsetzen die Turnhose
heruntergezerrt, und das Höschen gleich mit, so tief, daß bei ihr wirklich alles offenlag.
Entweder hatte er das so schon geplant, oder er wollte jetzt nicht plötzlich prüde erscheinen
und sein Malheur rückgängig machen (welcher Mann hat schon je ein einfach Mädchen wieder
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angekleidet, das er zuvor versehentlich ausgezogen hat!) ; jedenfalls hatte er einfach
weitergemacht, und sie hatte ihn dabei noch wohlwollend unterstützt, indem sie die Knie eins
nach dem anderen hochgezogen und ihre Füße so gestreckt hatte, daß sich nichts verhaken
konnte. Sie hatte überhaupt sehr geschickte Füße, denn als sie ihre jetzt bis oben nackten Beine
um seine Flanken schlang, steckte sie gleich mit den großen Zehen im Saum seiner Turnhose
und schob sie ihm über den noch knabenhaften, aber ziemlich knackigen Po. Mir bot er nur
diese Rückansicht, aber vorne herum hatte er wohl selbst ein wenig nachgeholfen, jedenfalls
wußte ich in diesem Augenblick intuitiv, daß die Beiden endlich ein Paar geworden waren. Ich
meinte sogar Ingrids Seufzer zu hören, was aber natürlich auf diese Entfernung unmöglich war.
Ihr Drang aufeinander zu schien inzwischen fast mehr von Ingrid auszugehen. Die hatte sich
jetzt auch endgültig von ihrem Ast abgelöst und sich stattdessen Sascha an den Hals gehängt.
Ich dagegen sorgte mich, was ja schon absurd war, um ihren frischgebackenen Liebhaber, als ob
er meiner wäre. Ingrid hatte zwar wirklich nirgends ein Gramm Babyspeck zu viel, aber als
Sportlerin war sie natürlich ziemlich muskulös und auch fast so groß wie er, jedenfalls kein
Leichtgewicht. Sascha dagegen war zwar auch ziemlich kräftig, aber doch nicht der Bär, der eine
solche körperliche Belastung und noch dazu die seiner brandneuen Empfindungen auf die
Dauer im Stehen hätte aushalten können. Ich meinte schon zu erkennen, daß seine Knie
allmählich weich wurden, wovon auch immer. Das schien jetzt auch Ingrid bemerkt zu haben,
jedenfalls löste sie kurzentschlossen die gnadenlose Umklammerung ihrer Schenkel und ließ
sich ins Moos gleiten, nicht ohne Sascha mit in ihre Arme herunterzuziehen. Jetzt endlich
konnte ich mich von ihnen losreißen, dabei wollte ich ihnen nun wirklich nicht mehr zusehen.
Ich drehte mich mit einem Ruck um, fast ein wenig über mich selbst erschrocken, und lief den
Weg zurück, den wir gekommen waren.
Auf meinem Zimmer in der Mühle wollte ich Melanie einen Brief schreiben, aber erst einmal
mußte ich selbst über das Erlebte nachdenken. Es war eigentlich erst das zweite Mal, daß ich
von einem männlichen Wesen zurückgewiesen worden war. Von Karsten, meinem
Französischlehrer, schon bevor ich ihm überhaupt das Angebot hatte machen können, mich ihm
hinzugeben. Jetzt von Sascha dagegen nach einem ausdrücklichen Angebot und schon ziemlich
weitgehenden Vorbereitungen zu seiner Verwirklichung. Immerhin, tröstete ich mich, zugunsten
meiner Sportsfreundin, auf die ich ihn erst völlig selbstlos mit der Nase hatte stoßen müssen.
Trotzdem fühlte ich ein unangenehmes Würgen bei der Erkenntnis, daß er wohl letzten Endes
doch Ingrid begehrenswerter gefunden hatte als mich. Mit ihr hatte er "es" jedenfalls allem
Anschein nach ohne Komplikationen zustandegebracht. Aber weil ich nun einmal lieber Männer
leiden sehe als mich selbst, beschloß ich sozusagen zur Strafe, ihn von nun an bei jeder
zukünftigen Theaterprobe mehr oder weniger zu vergewaltigen.
Zur Antwort auf meinen Leidensbrief kam von Melanie eine fröhliche Fotopostkarte. Das Bild,
eigenhändig aufgeklebt, war wohl irgendwo im Bahnhof oder in einem Fußgängertunnel mit
einem schäbigen Fotoautomaten aufgenommen, man erkannte seitlich einen nur nachlässig
zugezogenen Vorhang. Es zeigte sie im Tête-à-tête mit Henner, einem dieser Restposten aus
unserer gemeinsamen "Studentenkartei". Der ließ mir übrigens liebe Grüße ausrichten, aber das
konnte mich auch nicht sehr aufrichten. Der liebe Henner saß nämlich auf dem Foto hinter
Melanie und hielt sie auf seinem Schoß so eng umschlungen, daß von ihr nicht viel zu sehen
war. Unten herum sowieso nicht, da war das Bild abgeschnitten. Und oben konnten seine
fürsorglich darübergelegten Hände nur notdürftig verdecken , daß Melanie dort nichts anhatte.
Die Beiden spielten mal wieder Bürgerschreck, wie in alten Zeiten. Eine Frechheit, sich so über
meine Entbehrungen zu mokieren und mich neidisch zu machen!
Ich habe das Melanie später schon noch das eine oder andere Mal heimgezahlt. Aber eigentlich
haben wir das beide nie böse gemeint und unsere Freundschaft damit nie ernsthaft gefährdet.
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5. haltlos, harmlos oder herzlos?
Zurück nach Göttingen wollte ich den Nachtzug nehmen, um eine weitere Hotelübernachtung
einzusparen. Ich wußte, daß es da eine Direktverbindung von München über Göttingen nach
Hamburg geben mußte, es stellte sich aber heraus, daß dieser Zug nicht über Ulm, Stuttgart und
Frankfurt, sondern über Würzburg fuhr. So mußte ich erst zurück nach Augsburg, bevor ich es
mir im Schlafwagen bequem machen konnte. Ich bekam beim Schlafwagenschaffner auch
tatsächlich noch ein Bett im Doppelabteil, obwohl ich ja einfach auf gut Glück eingestiegen war
und nicht reserviert hatte. Und ich würde wohl sogar mein Abteil für mich allein haben, weil
das obere Bett -bis jetzt wenigstens- noch frei war. Der Schaffner war ein sympathischer junger
Mann, Brillen- und Bartträger, vielleicht dreißig, Typ Langzeitstudent. In seinem engen
Dienstabteil lag aufgeschlagen auf dem Klapptisch das "Goldene Notizbuch" von Doris
Lessing, kein schlechter Geschmack.
Ich konnte nicht gleich einschlafen, hatte auch Durst, war aber eigentlich zu faul, mich noch
einmal anzukleiden. Schließlich tat ich es doch, um mir vorne beim Schaffner noch etwas zu
trinken zu besorgen. Diesmal schien er mich eindeutig zu fixieren, als ob er mich etwas fragen
wollte, sich aber nicht recht traute. Mir war dieser Blick vorhin schon aufgefallen. Aber
vielleicht gefiel ich ihm auch einfach als Frau. Ich jedenfalls hätte mir ein Techtelmechtel mit
ihm durchaus vorstellen können; es würde dann aber alles davon
abhängen, ob er beim Flirt den gleichen Stil beweisen würde wie bei seiner Lektüre. Es kam
aber ganz anders. Er hatte sich einfach ein Herz genommen und mich zu fragen gewagt: "Ich
weiß ja nicht, ob ich spinne, aber heißen Sie nicht zufällig Swetlana? Sweety?" - Oh Himmel! Es
stellte sich heraus, daß er Jochen war, einer aus unserer Münsteraner Studenten-Sammlung und
Mitverursacher meiner Strafversetzung nach Lauterbronn.
Er hatte sich ziemlich verändert; Brille, Bart und Bauchansatz hatte er damals noch nicht
gehabt. Er war auch schon stolzer Vater und hatte die mitbetroffene Kommilitonin kurzerhand
geheiratet, als ihnen das Malheur passiert war. Die ganz große Liebe war es wohl nicht, aber sie
führten nach seinen Worten eine sehr gute, kameradschaftliche Ehe, in der eins für das andere
da war. Realistischerweise hatten sie sich gegenseitig sogar gewisse kleine Freiheiten
zugestanden, aber Jochen hatte angeblich trotzdem seit seiner Heirat keine fremde Frau mehr
geküßt und nicht einmal das Bedürfnis danach gehabt. Seine Frau schon eher, die war wohl ein
fröhlicher, vielleicht etwas leichtlebiger Mensch und flirtete ganz gern auch mal in fremden
Revieren. Aber solange sie sich an ihre Abmachungen hielt und ihn nicht vernachlässigte,
konnte er ihr das nicht übelnehmen.
"Und du, brauchst du immer noch so viel Abwechslung?", wollte er jetzt von mir wissen. Ach
nein, lächelte ich sibyllinisch, ab und zu dürfte es auch schon mal ein alter Bekannter sein. Und
damit bekam er ein Gute-Nacht-Küßchen (wirklich das erste von einer fremden Frau seit seiner
Heirat?), und ich zog mich in mein Abteil zurück.
Das war eine wilde Zeit gewesen damals in Münster und O., 1984! Angefangen hatte alles ganz
harmlos. Ich war gerade sechzehn geworden und damit, wie mein etwas voreiliger "Entdecker"
Thorsten sich auszudrücken beliebte, zum allgemeinen Abschuß freigegeben. Aber ich hatte
immer noch keinen Freund. Die anderen Mädchen in meiner Klasse lebten längst in
eheähnlichen Beziehungen, für alle Ewigkeit geschlossen, aber genau wie bei den Großen
natürlich nicht einmal für ein kurzes Erdenleben durchgehalten. Im Gegenteil, beim ersten
ernsthaften Krach ging man eben einfach wieder auseinander, meist nach einem halben oder
höchstens mal zwei Jahren. Das hinderte aber keine von ihnen, auch dem nächsten Freund
wieder ewige Treue zu versprechen. Sex war in diesen Beziehungen eigentlich nebensächlich,
man machte allerdings schon mit, was sich nicht vermeiden ließ, weil die Jungs sonst auf die
Dauer einfach nicht mitspielen wollten. Die hatten eben ihre Rangordnung untereinander
auszutragen, die von möglichst vielen Eroberungen abhing. Was aber die Mädchen wirklich
suchten, war Geborgenheit, bloß eben nicht mehr die im Schoß ihrer Eltern.
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Genau das wollte ich aber nicht. Ich hatte längst gemerkt, daß ich in dieser Beziehung anders
war: Ich wollte in erster Linie meine Freiheit. Andererseits hatte ich natürlich schon bei
Thorsten und zuletzt bei meinem Schwager Mathias Geschmack an der Art von Berührungen
gefunden, die einem eben doch nur ein Mann verschaffen konnte. In dieser Richtung litt ich
nach dem Attentat meiner Schwester auf die Männlichkeit ihres Gatten durchaus unter
Entbehrungen. Ich träumte wilde Träume, wen ich vielleicht alles scharf machen könnte,
Nachbarn, Lehrer oder wildfremde Männer im Schwimmbad, und hatte mir sogar schon
ausgemalt, den kleinen Andy -er war ja noch zwei Jahre jünger als ich- zu verführen. Reden
konnte ich eigentlich mit niemandem darüber. Nur in seiner großen Schwester Melanie hatte ich
wohl so etwas wie eine Gesinnungsgenossin gefunden.
Eines Tages hatte sie mir neidisch erzählt, ihre Schulfreundin Tanja hätte sich einen richtigen
Studenten aus Münster angelacht, kein Mensch wüßte wie: einen gewissen Sven. Sie könnte ihn
dort jederzeit besuchen und natürlich auch bei ihm übernachten, so oft ihr für zuhause eine
Ausrede einfiele. Das war es! Noch in der Nacht legte ich mir einen Plan zurecht. Am nächsten
Morgen schwänzte ich die Schule und fuhr mit der Bahn nach Münster.
Die Lehrer hatten mal mit uns einen Klassenausflug dorthin gemacht, um uns etwas an der
Atmosphäre einer großen Uni schnuppern zu lassen und uns zum Durchhalten bis zum Abitur
zu motivieren. Ich wußte daher, daß es im Uni- Hauptgebäude, dem prächtigen Schloß des
fürstbischöflichen Barockbaumeisters Konrad Schlaun, ein riesiges Schwarzes Brett gab, mit
hunderten von Zimmerangeboten, Jobs, Mitfahrgelegenheiten, Büchersuchanzeigen, Kulturund sonstigen Veranstaltungstips. Mein Plan war natürlich, dort auch einen Zettel von mir
anzuheften, den ich schon vorbereitet hatte. Vorläufig standen dafür aber jetzt neben mir
einfach noch zu viele Leute. Als nur noch eine ganz nette Studentin übrig war, die eigentlich
auch kaum älter aussah als ich, wagte ich es. Schließlich hatte ich ja auch noch meine dunkle
Sonnenbrille auf. Sie wies mich aber sofort ganz kameradschaftlich darauf hin, ich müßte meine
Mitteilung erst abstempeln lassen, im Studenten-Sekretariat gleich nebenan.
Alle zwei Stunden käme nämlich der Pedell vorbei und risse die ungenehmigten Zettel ab.
Kommerzielle Werbung zum Beispiel wäre verboten. Mist! Meinen Text wollte ich dort lieber
nicht vorzeigen, aber ich konnte ja immerhin mal mein Glück mit einem leeren Zettel
versuchen.
Hinter der Theke im Sekretariat leistete ein junger Student Aushilfsdienst. So ähnlich konnte
ich mir meinen künftigen Vorzeige-Studenten auch vorstellen. Ich brauchte ihn tatsächlich nur
ein wenig anzustrahlen, und schon hatte ich meinen Blankostempel. Ob er wohl nachher am
Schwarzen Brett vorbeikommen und meinen Zettel lesen würde? Den mußte ich allerdings
vorher erst noch einmal abschreiben: "Hübsche Schülerin, grüne Augen, langes dunkles Haar
bis fast zum Popo, 18 J. / 161 cm / 42 kg, Typ Kindfrau," (Wenigstens das stimmte. In
Wirklichkeit war ich ja erst 16!) "sucht einen netten Studenten zum Unterschlüpfen. Angebote
an Sweety c/o Ratten-Nest, Postfach 369, usw. usw." - "Ratten-Nest" stand für die
Schülerzeitung an unserem Ratsgymnasium in O., deren Postfach natürlich ich verwaltete, als
verantwortliche Redakteurin.
Es kamen über hundert Zuschriften. Die ohne Foto wurden erst einmal zur Seite gelegt, es
blieben immer noch genug übrig. Als die Briefe immer mehr wurden, teils rührend mit
Liebesgedichten oder gemalten Selbstportraits anstelle von Fotos versehen, weihte ich Melanie
ein und ließ sie mitsortieren. Es erwies sich als praktisch, eine regelrechte Kartei anzulegen, mit
Kärtchen, auf denen Adressen, Telefonnummern und technische Daten der Kandidaten
vermerkt und ihre Fotos aufgeklebt wurden. Später kam zu diesen Angaben noch der Termin
des ersten physischen Kontaktes dazu, vor allem aber auch, wer von uns beiden dort
eingestiegen war. Wir waren nämlich ziemlich schnell darauf gekommen, daß ja auch Melanie
sich ohne weiteres als Sweety ausgeben konnte. Die Größe und Figur stimmte ja so ungefähr
überein, grüne Augen haben sowieso immer etwas unwirklich Schillerndes, und die langen
Haare hätte sie ja abgeschnitten haben können.
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Die schärfste Zuschrift war wohl die eines Anglistik-Professors, der mir gleich eine
Dachkammer in seinem Häuschen anbot, nachdem seine Tochter inzwischen auf eigenen Füßen
stünde. Und sein Arbeitszimmer läge gleich daneben, wie praktisch! Ich würde pro forma Miete
überweisen müssen, damit seine Frau keinen Verdacht schöpfte, aber er würde mir das einfach
bar aus seinem Taschengeld zurückerstatten, wenn wir uns so gut verstünden wie erhofft. Seine
Frau mußte er wohl für ziemlich doof halten.
Nicht schlecht war auch die Zuschrift von zwei Studenten, Thomas und Sven. Die Beiden
wohnten zusammen und hatten auch gleich zusammen geschrieben. Ein Mädchen gab es in
ihrer WG auch noch, aber das hatte jetzt einen Freund außerhalb und ließ sich von den Beiden,
anscheinend anders als zuvor, nicht mehr anmachen. Thomas hatte gerade überhaupt keine
Freundin, und Sven auch nur Thomas' kleine Schwester Tanja, aber das wäre ein schwieriges
Verhältnis: Die ließe ihn oft ohne jeden Grund wochenlang abblitzen. Bei dem Namen Tanja
stutzte Melanie, und beim Blick auf Thomas' Nachnamen war dann alles klar: Es handelte sich
tatsächlich um den großen Bruder ihrer Schulkameradin, und sein Freund Sven war der
geheimnisvolle Student, auf den Tanja so stolz war. Von Thomas´ noch kleinerer Schwester
Nora, von der hier ja auch schon die Rede war, schrieben sie übrigens nichts. Die war wohl
damals noch zu klein. Aber auch die Welt ist klein in O.! Melanie und ich beschlossen, daß ich
genau diesen Sven als ersten anbaggern müßte, schon um Tanja eins auszuwischen. Sie hatte ja
wohl ganz schön hochgestapelt, was die Innigkeit ihrer Beziehung anging! Die Sache war mit
einem Telefonat geregelt, und schon am folgenden Sonnabend fuhr ich wieder nach Münster.
Für meine Mutter war ich allerdings erst einmal mit meinen Freundinnen im Freibad, und
anschließend würde ich noch in irgendeinen Schuppen abtanzen gehen. Vielleicht würde es
etwas später werden, sie sollte jedenfalls nicht auf mich warten. Sonntags könnte ich ja
ausschlafen.
Zum Glück war ich wenigstens in der Theorie schon ganz gut. Ich hatte nämlich Mathias (zu
der Zeit, als er noch eindeutig ein Mann war) immer wieder mit der Frage gelöchert, was einen
solchen eigentlich bei einer Frau schwach werden ließe. Natürlich hatte ich in erster Linie
wissen wollen, was er an mir nun sexy fände und was nicht. Nach allem, was zwischen uns
schon vorgefallen war, konnte er mich ja nicht mehr gut als Kind behandeln, redete also mit mir
fast so wie mit einer richtigen Erwachsenen.
Zunächst gab er mir den durchaus nicht selbstverständlichen Hinweis, auch die Männer wären
ziemlich verschieden, er könnte also nur für sich selbst sprechen. Bei ihm jedenfalls wäre der
erste Auslöser immer ein rein visueller, nämlich der Gesichtsausdruck einer Frau, vor allem ihre
Augen und die
Mundpartie. Er wäre da geschmacklich überhaupt nicht festgelegt, mal wäre das ein
übermütiges oder auch ein spöttisches Lächeln, mal sichtbare Traurigkeit und unerfüllte
Sehnsucht, mal ein herausforderndes trau-dich-doch oder auch mal zarte kindliche
Schutzbedürftigkeit. Am schönsten wäre für ihn aber ein lebendiges Gesicht, das zwischen
solchen Ausdrücken hin- und herwechseln könnte und nicht etwa nur einen davon quasi
eingefroren bereithielte.
An zweiter Stelle fiele der Blick dann, zugegeben, auch bei ihm meist auf die hinlänglich
bekannten Körperteile, Brüste, Nabel, Taille, Hüften, Po und Beine, aber auch wieder aufs
Gesicht, diesmal vor allem auf das Haar und auf den Mund: Das löste einfach Schlüsselreize
aus. Schon allein beim bloßen Draufschauen die begehrliche Vorstellung, sie zu berühren, mit
den Fingerspitzen und den Lippen, am liebsten mit dem ganzen Körper. Verstärkt würde das
alles noch in der Bewegung: Allein der laszive Gang einer Frau könnte ihn umhauen, oder die
Art, wie sie sich auf einem Sofa räkelte. Selbst wenn sie nicht gerade die Figur einer CoverSchönheit hätte. Und erst nach den ersten wirklich hautnahen Berührungen (und den
Reaktionen der Frau darauf) kämen dann schließlich auch noch die Körperregionen ins Spiel,
die man eigentlich nicht einmal mehr unbedingt anschauen wollte, sondern nur noch erfühlen,
und das so wild und intensiv wie möglich, bis zum Zerreißen. Ich wüßte schon, was er meinte.
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Dann gäbe es aber noch drei wichtige Kategorien für die Wirkung einer Frau auf ihn als Mann:
Ihr noch ungelüftetes "Geheimnis", die subtilen Signale ihres Einverständnisses und den
"krampflösenden Überraschungseffekt". Ein nacktes Mädchen wäre eben einfach ziemlich
langweilig, verglichen mit einem raffiniert angezogenen (Oh je, bei mir war es momentan nichts
Raffiniertes, nur Jeans und T-Shirt !). Noch dazu könnte eine solche "unschuldige" Blöße
manchmal derart "entwaffnend" wirken, daß alles Weitere einfach unmöglich würde. Oder ein
großzügiges Dékolleté: Das würde es einem anständigen Mann ja fast verbieten, mehr als
flüchtig hinzuschauen. Während ein enger, aber züchtig hochgeschlossener Pulli ihn geradezu
einlüde, seinen Blick ungeniert darüber wandern und sich allerhand versprechen zu lassen (Na
ja, meine Brüste zeichneten sich doch eigentlich auch unter so einem einfachen T-Shirt sehr
schön ab!). Bei einer völlig harmlosen Einladung unter Arbeitskollegen zum Beispiel, vielleicht
bei "ihr" zur selbstgemachten Pizza in der Mittagspause, könnte "sie" ohne Mühe einen
leidenschaftlichen Überfall auf sich provozieren, wenn sie bloß demonstrativ ihre Schuhe
purzeln ließe, wirklich nicht mehr als ihre Schuhe.
Und schließlich wäre da noch die Sprache: Er hätte sich schon von der einen oder anderen
eigentlich gar nicht so attraktiven Frau allein durch gefühlvoll und sinnlich betörende Worte ins
Bett locken lassen. Aber umgekehrt könnte auch eine äußerlich noch so aufregende Frau allein
mit einer unangenehmen Stimme oder blödem Geplapper seinen Pegel sofort auf Null sinken
lassen, wenn ich wüßte, was er meinte (Oh je, da mußte ich wohl in mich gehen, manchmal
plappere ich ja auch ein bißchen zu viel!).
Als Mathias dann mal kurz hatte Pipi machen müssen, hatte ich meine Lektion so weit gelernt:
Hatte mich nicht etwa ganz, sondern bloß bis aufs Hemdchen ausgezogen und mich ganz ohne
Worte auf der Ledercouch hingeräkelt: meine Version eines "krampflösenden
Überraschungseffekts". Und er hatte sich tatsächlich von der kleinen Schwester seiner sich ja
langsam schon aufs Klimakterium zubewegenden Frau -in dieser Einschätzung waren wir uns
einig- noch einmal verführen lassen. Ein Triumph der Jugend über das Alter, zum zweiten und
leider zum letzten Mal, bevor Natalie ihn ihrer teuflischen Hormonkur unterzog.
Derart mit Insider-Wissen aus erster Hand gerüstet (Mathias war schließlich bestimmt kein
Frauen-Verächter), wollte ich mich auf mein neues Abenteuer natürlich besonders sorgfältig
vorbereiten. Diesmal sollte es ja etwas länger anhalten. Mir war schon klar, daß ich nicht
unbedingt wie eine Achtzehnjährige aussah, da mußte also etwas nachgeholfen werden. Ich
mußte mehrere Tage üben, bis ich es beherrschte, mich zu einer Art Baby-Vamp zu schminken.
Meine Mutter und meine große Schwester hätten mich so allerdings auf keinen Fall sehen
dürfen, endgültig könnte der Ernstfall daher erst auf der Zugtoilette Gestalt annehmen und
müßte dennoch reibungslos klappen.
Eine riesige schwarze Sonnenbrille hatte ich ja schon, die meine "verlebte" Augenpartie vor
allzu zudringlichen Blicken schützen sollte; dazu wollte ich ein knallenges und ebenfalls
schwarzes Jerseykleid tragen, ärmellos und knöchellang. Ich konnte kaum darin laufen. Aber es
betonte sehr schön meine Figur, eben die "Kindfrau". In Mode war das zwar damals überhaupt
nicht, außerdem kratzte es furchtbar auf der Haut. Aber gerade damit würde es meine zarten
Nippel mit jeder Bewegung in Erregung halten und sie fast unanständig deutlich hervortreten
lassen. Mathias' Tips ließen grüßen! Ein Hemd oder gar ein BH unter dem Kleid kam demnach
überhaupt nicht in Frage. Die Finger- und Zehennägel hatte ich schwarz lackiert, was damals
noch ziemlich originell war. Dazu kamen flache Sandalen mit schwarzen Bändern. Jens war ja
seiner Selbstbeschreibung nach auch kein Hüne und sollte seinen Beschützerinstinkt ruhig voll
ausleben. Also keine hohen Absätze. Außerdem hatte ich ja wirklich schönes Haar, das sollte er
sich ruhig erst einmal von oben anschauen und seinen Duft aufnehmen. Und dann beim Küssen
wirkt es ja auf einen Mann anscheinend erregend, wenn das Mädchen dazu den Kopf in den
Nacken legen muß, fast schon wie kurz vor dem Orgasmus.
Die Bänder an den Sandalen hatten mich dann auf die Idee zu einem speziellen
"krampflösenden Überraschungseffekt" gebracht: Ich besorgte mir im Kurzwarenlädchen ein
schwarzes Samtband, vielleicht zwei Daumen breit. Das wurde vom Nabel zwischen den
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Beinen hindurch erst um die rechte Pobacke geschlungen, von da über die Hüfte zurück zum
Nabel, dann noch einmal unten durch jetzt um die linke Backe herum, und schließlich wurde es
auf dem Bauch mit einer großen Schleife zusammengebunden. Sweety als Geschenkartikel.
Auch das mußte natürlich geübt werden, bis es richtig saß und weder zu viel noch zu wenig
verbarg. Ein Höschen war damit ebenfalls überflüssig. Notfalls würde es genügen, das Gebinde
ein wenig zur Seite zu schieben, falls es schnell gehen müßte, aber so wie ich die Männer
inzwischen zu kennen glaubte, würde Jens es sich nicht nehmen lassen, erst genußvoll die
Schleife aufzudröseln.
Aus dem Rest des Samtes bastelte ich mir noch eine Schlaufe für das linke Handgelenk, an dem
ich meine Trillerpfeife tragen wollte, und ein Halsband, auch dieses mit einem neckischen
Schleifchen am Nacken. Daran würde ich innen unter dem Ausschnitt ein natürlich ebenfalls
schwarzes Lackherzchen baumeln lassen. Das Herzchen war hinten zum Aufklappen und sollte
die beiden Kondome aufnehmen, die ich Mathias stibitzt hatte. Mehr paßten nicht hinein. Ich
machte mir keine Gedanken, mit ihrem Verlust vielleicht einmal ihn in Verlegenheit zu bringen.
Es sah ja nicht so aus, als ob er solche Artikel je wieder brauchen würde.
In Münster mußte ich vom Bahnhof noch ein Stück mit dem Stadtbus fahren. Die Adresse der
beiden Studenten fand ich nicht auf Anhieb: Zwischen den Hausnummern 210 und 226 klaffte
eine Lücke. Tatsächlich hatten sie sich eine aufgegebene Tankstelle hergerichtet, womit ich
natürlich nicht gerechnet hatte. Ich wurde mit Hallo empfangen und erst einmal durch ihr Reich
geführt, auf das sie mächtig stolz waren: Der ehemalige Kassenraum war zum Treff- und
Erlebnisraum geworden. Die großen Fensterflächen hatten sie mit weißer Farbe undurchsichtig
gemacht, um sich nicht den Blicken irgendwelcher Spießer auszusetzen. Das Ergebnis war eine
Art Milchglas-Effekt, der eine eigentümlich konturenlose Raumausleuchtung schuf. Auf den
Fliesenboden hatten sie zwei Wagenladungen Sand geschaufelt und ihn damit in einen Strand
verwandelt. Als Möblierung dienten ein Strandkorb, mehrere Liegestühle, ein aufblasbares
Kinder-Planschbecken samt Gartenbrause, ein paar mannshohe Plastik-Kakteen und ein blaues
Iglu-Zelt, das in seiner vollen Bodenfläche von vielleicht zwei Metern im Quadrat mit
Schaumgummi-Matratzen ausgelegt war. Die Wände waren mit Palmen und anderen exotischen
Gewächsen bemalt, die Decke strahlte azurblau: Das ganze Ambiente eine Lichtung im
Dschungel. Als Sonne diente ein greller Bühnen-Scheinwerfer an der Decke, der auf das Zelt
gerichtet war und in seinem Inneren eine magische blaue Stimmung schuf. Ich denke, CapriUrlauber wissen, was ich meine.
Thomas hatte sich als Schlaf- und Arbeitsklause die ehemalige Teeküche hergerichtet, fast so
winzig wie mein Kinderzimmer daheim. Ihre Küche hatten die Drei dafür in die ehemalige
Toilettenanlage verlegt, eine etwas irritierende Lösung. Ebenso die Dusche. Sven hatte sich von
der früheren Waschanlage das hintere Viertel mit einer hohen Gipswand abgeteilt. Der Raum
war hoch genug, um eine zweite Ebene einzuziehen, aus Metallregal-Teilen
zusammengeschraubt: Oben wurde geschlafen, unten gearbeitet. Das große verglaste Falttor
bot einen Panoramablick über Wiesen und Kuhweiden bis zu einem Wäldchen am Horizont.
Die Dritte im Bund war an diesem Wochenende bei ihrem Freund, die Beiden zeigten mir aber
auch ihr Refugium: Den vorderen Teil der Wagenwaschanlage, den sie zugleich zum Wohnen
und als Atelier nutzte. Candida hieß sie und studierte Bildhauerei. Ich mußte plötzlich
losbrüllen vor Lachen. Thomas und Sven blickten verständnislos. - "Candida heißt sie?",
versuchte ich ihnen auf die Sprünge zu verhelfen, "da kann man sich ja sonstwo sonstwie
infizieren!" Natürlich hatten die Beiden immer noch nichts kapiert und wirkten jetzt ernsthaft besorgt, bis
ich ihnen erläuterte, daß das meines Wissens auch der Name für den pilzförmigen Erreger eines
gerade dort ziemlich unangenehmen Juckreizes ist. Das würden sie der Betreffenden bei
passender Gelegenheit weitererzählen, kicherten sie jetzt durchaus begeistert. Als ich mich in
Candidas Atelier noch ein wenig weiter umsah, brach ich ein zweites Mal in schwer zu
bremsendes Gelächter aus. Wahrscheinlich war ich einfach ziemlich nervös angesichts der
Dinge, die da kommen sollten. Unmittelbarer Auslöser war aber eine naturalistische
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Broncestatue, die ich zwischen recht epigonalen abstrakten Lochskulpturen à la Henry Moore
entdeckt hatte. Der dargestellte Jüngling trug nämlich eindeutig die Züge von Sven. Sein
Geschlecht aber hatte in schöner antiker Tradition höchstens das Format eines Zehnjährigen.
Ob ich da wohl wirklich die richtige Wahl getroffen hatte?
Besser gefiel mir eine andere Arbeit, ebenfalls ein junger Mann, der mir aber unbekannt war. Er
war wohl noch in Bearbeitung, jedenfalls noch im Tonmodell, und stellte einen Sportler dar,
einen Kurzstreckenläufer in Startposition, voll Konzentration auf den Startschuß. Und wirklich
gut fand ich die skizzenhaften Rötelstudien, die überall an den Wänden hingen und auf dem
Boden herumflogen. Da war einfach die Dynamik drin, die der Künstlerin anscheinend auf dem
mühevollen Weg von der Skizze zur Skulptur bisher mitunter noch verloren ging. An einer
weiteren lebensgroßen Gestalt, einer Art weiblicher Schneiderpuppe mit beweglichen
Gliedmaßen, hatte sie patchworkartig allerhand Stoffreste drapiert, aus denen wohl einmal ein
Karnevalskostüm werden sollte. Anscheinend schneiderte sie gern, genau wie ich. Die
Karnevalsfête der Akademie-Erstsemester, Quietschis genannt, war ja in Münster und darüber
hinaus berühmt und berüchtigt, allerdings mehr für ziemlich gewagte Verkleidungen und das,
was gegen Ende der Party noch davon übrigblieb: Manchmal wirklich nur noch eine
Gesichtsmaske.
Nach der Führung durch ihre Villa zogen die beiden Männer und ich uns dann in die UrwaldOase (was es alles so gibt, und das in Münster!) zurück, genauer gesagt ins Zelt. Sven schleppte
noch zwei Arme voll Kissen aus den diversen Schlafgemächern herbei, Thomas ließ derweil das
Kinderplanschbecken mit kaltem Wasser vollaufen und versenkte darin eine Batterie
Bierflaschen, obergäriges aus Pinkus Müllers Altbierbrauerei. Der Kühlschrank streikte nämlich
gerade. Der Deckenscheinwerfer ließ sich zum Glück herunterregeln, so daß wir uns allmählich
in einer blauen Dämmerstunde wiederfanden, voll Behaglichkeit nicht nur infolge der
kreisenden Flaschen. Einen guten Tip hatte ich ja immerhin von meiner großen Schwester
Natalie, eigentlich den einzig brauchbaren: Eine Frau müßte immer mindestens so viel Alkohol
vertragen wie die Männer, mit denen sie es zu tun hätte. Nichts wäre so peinlich wie ein hilflos
lallendes Blondchen, das sich unter den Tisch saufen und von den Kerls zum Spielball machen
ließe. Da wäre eben unter Umständen hartes Training angesagt! Ich konnte denn auch
tatsächlich ganz gut mithalten und gewann eher den Eindruck, daß sich bei den Jungs die ersten
Ausfallerscheinungen zeigten. Richtige Musik hatten sie auch nicht, nur ein schäbiges
Kofferradio, das auch erst später am Abend etwas einigermaßen Tanzbares ausspuckte.
Sven wollte oder konnte sowieso nicht tanzen, und Thomas fühlte sich bei den langsamen
Sachen zwar ganz gut an, aber irgendwie ging mir doch seine Aschenbecher-Ausdünstung auf
die Nerven. Außerdem war die Sache -barfuß im Sand- ziemlich anstrengend und schien auch
Thomas kräftemäßig zu überfordern. Als er schließlich um Schonung bat und wir ins Zelt
zurückstapften, bequemte sich wenigstens Sven als der besser Erholte zu einer schüchternen
Umarmung und einem Wangenküßchen. Aber irgendwie schienen sich die Beiden in ihren
Aktivitäten gegenseitig zu lähmen. Allmählich bekam ich Bedenken, ob sich überhaupt noch
etwas ergeben würde, und ging erst einmal telefonieren, um meine Freiräume auszuloten.
Zuhause meldete sich nur der Anrufbeantworter meiner Mutter und verriet für dringende Fälle
die Nummer ihres neuen Lovers aus der Volkshochschule. Na ja, das würde sich wohl noch
eine Weile hinziehen, da durfte der Abend auch für mich ruhig etwas länger werden.
Zurück im Zelt wollten meine beiden Helden anscheinend noch einmal ein längeres
Plauderstündchen einlegen. Erst als ich Thomas unmißverständlich zu verstehen gab, daß ich
mit Sven noch etwas unter vier Augen zu besprechen hätte, trollte der sich schließlich sichtbar
murrend. Und Sven wollte, als wir endlich allein waren, tatsächlich wissen, was es denn so
Vertrauliches zu besprechen gäbe! Ich mußte ihn höflich daran erinnern, wozu wir uns
eigentlich verabredet hatten, aber er murmelte nur, wir würden uns doch noch fast gar nicht
kennen. Genau, und das müßte sich jetzt auf der Stelle ändern, wischte ich seine Skrupel vom
Tisch und flüchtete erst einmal aus dem Zelt. Er machte aber keine Anstalten, mir zu folgen,
bis ich ihn, langsam ungeduldig, zu mir kommandierte und ihm klare Anweisungen gab.
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Er mußte sich dazu vor mir niederknien und mir wie ein Minister bei der Vereidigung
nachsprechen: "Ich will jetzt dieses Mädchen endlich kennenlernen..." - " ... " - "...und zwar so,
wie sie es erwarten kann..." - " ... " - "...von einem Mann!" - Bei meinen letzten Worten legte er
immerhin schon einmal seine Hände auf meine Waden, aber natürlich nur von außen an mein
langes Strickkleid. So ging das nicht weiter! - "Na komm endlich. Zieh mich aus. Und dich
auch."
Bei mir fiel ihm das Ausziehen anscheinend leichter als bei sich selbst, jedenfalls begann er
vorsichtig, mir das Kleid über die Waden und die Knie hochzukrempeln. Ich hatte meine Hände
dabei in seinem Haar vergraben und mußte ihm immer wieder hindurchfahren, so oft er zögerte
weiterzumachen, um ihn zu beruhigen und um ihm die Gewißheit zu geben, daß er nicht
träumte und es schon seine Richtigkeit hätte mit uns Beiden. Als er die Sache so etwa bis zum
Nabel aufgerollt hatte, fiel er natürlich fast mit der Nase über mein Arrangement mit dem
Samtbändchen und war nicht mehr auf den Knien zu halten. Er schnellte hoch vor Schreck und
befreite sich so erst einmal aus der Ängste auslösenden Nähe allzu weiblicher Objekte seiner
erwachenden Begierden. Ich empfing ihn bei mir oben, indem ich ihm die Arme um den Hals
legte. Als er aber merkte, daß dabei der Saum meines Kleides wieder nach unten zu rutschen
und damit alle seine mühsam errungenen Fortschritte zunichte zu machen drohte, trat er dem
denn doch noch mit einer reflexhaften Bewegung seiner Hände entgegen und landete mit ihnen
unverhofft auf meinem nackten Po. Ich hätte es ihm zu gern nachgetan, aber er war ja immer
noch komplett bekleidet. So konnte ich ihm nur die Hände in die Gesäßtaschen stecken und ihn
noch ein wenig näher ziehen. Und ihn dort ein bißchen massieren.
Er hatte jetzt wohl eingesehen, daß er sich für seine Erregung nicht zu entschuldigen brauchte,
die ja aus meiner Sicht durchaus als Kompliment zu verstehen war. Er genoß es spürbar, sich
derart eng an mir zu reiben, wenn auch noch durch viel zu viele Lagen Textilien getrennt. Jetzt
war es an mir, in die Knie zu gehen, und während er mir endlich das Kleid vollends über den
Kopf zog, konnte ich ihn unten herum von allem lästigem Beiwerk befreien. Als ich wieder
hochkam, legte er mir die Hände auf die Schultern und schob mich ein bißchen von sich weg,
um mich besser anschauen zu können.
Ich versuchte diese peinliche Zeremonie der rituellen Fleischbeschau etwas aufzulockern,
indem ich mich freiwillig einmal um meine Achse drehte und mich rundum seinen Blicken
darbot. Es war kein unangenehmes Gefühl. - "Du bist wunderschön", fand er seine Sprache
wieder, "aber bist du wirklich schon achtzehn?" - "Jetzt red´ nicht, komm endlich!", rief ich
übermütig und wuselte zurück ins Zelt. Er schleuderte im Nacheilen noch sein Hemd fort, wohl
etwas zu schwungvoll: Es landete auf diese Art im Planschbecken.
Irgendwie war das Kofferradio unter den Haufen Kissen geraten, die Jens mir unters Kreuz und
-anscheinend doch ganz Profi- unter den Po geschoben hatte. Es sollte eine ganze Stunde lang
Reggae spielen, nur unterbrochen von Verkehrsstaus, nicht unpassend einerseits für unser
Ambiente und andererseits für seine doch nicht so tolle Liebestechnik. Die Rhythmen hatten
aber durchaus etwas von der Konsequenz, die Sven zu fehlen schien, und brachten es immerhin
fertig, seinen Trieb ein wenig anzuheizen, so daß wir uns nicht mehr lange mit Zärtlichkeiten
aufhielten. Ich konnte ihm gerade noch das Geheimnis meines aufklappbaren Amuletts
erklären, bevor er endlich pflichtbewußt loslegte wie ein Dampfhammer. Er selbst schien dabei
nicht viel zu spüren, vermutlich alkoholbedingt, und steuerte seine Motorik wohl mehr nach der
Musik aus der Tiefe unter unseren Ohren als nach seinen unmittelbaren Empfindungen. Mich
dagegen beförderte er von einem Schauer zum nächsten, und es schien noch lange kein Ende
abzusehen. Ganz nüchtern war ich ja auch nicht mehr, was mir wohl den Einfall mit der
Trillerpfeife eingab. Ich war selbst erschrocken von ihrer Lautstärke. Sven dagegen bäumte sich
noch einmal auf, dann grunzte er nur noch vor Zufriedenheit, den Zieleinlauf schließlich doch
noch erreicht zu haben. Er streichelte noch einmal mein Gesicht, dann schlief er fast
augenblicklich über mir ein.
Nach einer Weile konnte ich unbemerkt unter ihm wegtauchen und mich aufrappeln, um zu
duschen. Ich warf mir einen mit Gips und Farbe bekleckerten Kittel über, den wohl Candida in
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einen Liegestuhl fallengelassen hatte, und schlich mich so leise wie möglich in die ehemalige
Fernfahrertoilette, um weder Sven noch Thomas zu wecken. Der hatte aber wohl nur hinter der
Tür auf mich gelauert, jedenfalls stand er plötzlich vor mir unter der Dusche. Und wie er stand!
Er hatte sich aus Paritätsgründen ohne Zögern seiner Boxershorts entledigt und flehte mich an,
ich dürfte doch auch ihn nicht zu kurz kommen zu lassen, schließlich brauchte er auch dringend
mal ein Mädchen. Ich brauchte zwar momentan nicht unbedingt einen Mann, hatte aber
eigentlich auch nichts dagegen. Bloß störte mich schon ziemlich die Vorstellung, meinen Atem
mit seinem Nikotinteer anzureichern.
Während er mich unter Ausnutzung meines unschlüssigen Zögerns rückwärts in seine Bude
drängelte, verschaffte ich mir blitzschnell einen Überblick. Der Eßtisch stand voll schmutzigem
Geschirr, und auch sein Schreibtisch lag voller Bücher, Klammerzwicker, Filzstifte und
Aktenlocher. Mit der etwas mehr Distanz wahrenden Darmstädter Methode war es also nichts.
Ich ließ mich ziemlich ratlos und fast schon resigniert in seinen Lesesessel fallen, und gerade
das brachte anscheinend ihn auf die Idee, mit der auch ich mich schließlich abfinden konnte: Er
faltete mich wie ein Leporello zusammen, mit seiner Brust auf meinen Schienbeinen, mit dem
ganzen Gewicht seines Körpers und der Kraft seiner Arme. Dabei preßte er mir die Knie und
die Schultern, die Fersen und den Po so eng zusammen, daß ich kaum noch Luft bekam. Mein
Kopf versank immer tiefer in der Rückenlehne, auf nicht sehr angenehme Weise nach vorn
abgeknickt, bis ich ihn mit aller Kraft in den Nacken zurückdrücken und mich mit dem
Hinterkopf am Rückenpolster abstützen konnte. Es war dann eine echte Erlösung, als Thomas
trotz dieser ziemlich verquälten Position das fast unmöglich Scheinende fertigbrachte, sich
irgendwie bei mir unterzubringen, mir einen weiteren Höhepunkt und sich selbst die ersehnte
Triebabfuhr zu verschaffen. Wir mußten also noch einmal unter die Dusche, dann schlich ich
mich ganz schnell zurück zu Sven und kuschelte mich noch einmal an ihn. Er hatte meinen
kleinen Abstecher zum Glück wohl schlicht verschlafen. Nach einer Stunde mußte ich ihn aber
doch wecken. Er hatte mir schließlich versprochen, mich noch in der Nacht mit seiner
Maschine zurück nach O. zu fahren, damit ich zuhause keinen Ärger bekäme. Ich wurde
notdürftig in Tanjas Lederkluft gesteckt, die mir allerdings viel zu groß war. Und unter ihrem
Helm war mein Haar kaum unterzubringen.
Eine knappe Stunde später in O., es war wohl schon gegen ein Uhr nachts, mußte ich die
Sachen dann im Vorgarten unauffällig wieder loswerden: Meine Mutter durfte ja nicht wissen,
wie gefährlich ich lebte. Sven sollte auf alle Fälle noch ein Viertelstündchen vor der Haustür
warten und möglichst noch auf einen Sprung mit nach oben kommen, falls die Luft rein wäre.
Ich fand auf meinem Zimmer nur einen Zettel von der Mama, ich sollte sie sofort anrufen,
wenn ich zurück wäre. Das war schnell getan und sie damit so beruhigt, daß sie sicher nicht vor
Sonntagmorgen heimkommen würde.
Also her mit Sven und noch ein bißchen mit ihm kuscheln! Sicherheitshalber stellten wir uns
den Wecker auf sechs Uhr früh. Aber eigentlich wäre es mir auch egal gewesen, wenn man uns
ertappt hätte. Es war ja das erste Mal, daß ich ganz ungeniert ein männliches Wesen mit zu mir
in mein eigenes Bett genommen hatte. Für mich bedeutete das definitiv den Abschied von dem
Gefühl, immer noch wie ein Kind unter der Vormundschaft meiner Mutter zu leben. Ich
schmuste also mit Sven in einer ganz besonderen Stimmung, gemischt mit Stolz auf meine
gelungene Initiative, und freute mich schon darauf, nachher engumschlungen mit ihm
einzuschlafen -dafür würde wohl schon das schmale Kinderbett sorgen- und ihn beim
Aufwachen Haut an Haut neben mir wiederzufinden. Vielleicht müßte er dann wirklich einfach
frech am Frühstückstisch erscheinen und endgültig klarmachen, daß ich kein kleines Mädchen
mehr war.
Aber vorher mußte ich ihn doch noch fragen, ob es eigentlich schön gewesen wäre mit mir, am
Abend in Münster, oder ob er mit seiner Tanja mehr davon hätte. Er druckste erst ein bißchen
herum, dann ließ er aber doch heraus, daß er mit ihr schon so seine Probleme hätte. Wenn sie
überhaupt mit ihm ins Bett ginge, selten genug, ließe sie es wohl nur ihm zuliebe über sich
ergehen. Sie selbst hätte anscheinend überhaupt keinen Spaß daran, manchmal meinte er sogar,
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daß es ihr geradezu weh täte. Na ja, klärte ich ihn auf, manche Mädchen wären da unten wohl
von Natur aus erst einmal etwas eng, oder aber es sträubte sich bei Tanja eher innerlich etwas
dagegen und ließe sie verkrampfen, obwohl ich mir kaum vorstellen könnte, wie ein Mädchen
ausgerechnet vor Sven Berührungsängste haben könnte. Auf alle Fälle wäre es vielleicht nicht
verkehrt, es bei ihr mal mit einer weniger aufreibenden Methode zu versuchen. Ich fände das
zwar eigentlich nicht so umwerfend, aber mein immer-noch-Freund zum Beispiel stünde schwer
darauf, mich wie ein wildes Tier auf allen Vieren von hinten her zu nehmen. Dabei dachte ich
natürlich an Thorsten, obwohl die Sache mit ihm ja längst aus war.
Sven hatte keine Ahnung, wie sich die wilden Tiere paaren, und wollte natürlich, daß ich es ihm
zeigte. Er stellte sich ziemlich blöd an und fand ewig lang nicht den richtigen Ansatzpunkt,
vergaß auch immer wieder, sich an meinem Becken festzukrallen, damit er nicht ständig neue
Anläufe nehmen mußte. Auch als er die Technik dann einigermaßen ohne Ausrutscher im Griff
hatte, war es für uns beide nicht viel erotischer als eine gymnastische Übung. Aber bei Tanja
wollte er schon unbedingt einmal sein Glück damit versuchen. Wir dagegen nahmen uns lieber
noch einmal "richtig herum" in die Arme und schliefen schließlich glücklich ein.
Die Sache mit Sven verschaffte mir dann tatsächlich bis kurz vor meinem Abgang nach
Lauterbronn ein ziemlich regelmäßiges Geschlechtsleben. Beinahe jeden Sonnabend schwänzte
ich jetzt grundsätzlich die Schule und fuhr nach Münster. Schon vom zweiten Mal an nahm ich
Melanie mit, die sich auf Anhieb recht gut mit Thomas verstand. Vom Körperbau her war er
wohl der erste aus ihrer bis heute anhaltenden Bademeister-Serie. Damit die Sache bei den
Eltern nicht zu viele blöde Fragen provozierte, verlegten wir unsere Abenteuer allmählich mehr
auf die Tagstunden und waren abends meist brav wieder zuhause. Unter der Woche traf sich
Sven manchmal in O. mit Tanja, beziehungsweise offiziell natürlich mit seinem Kumpel
Thomas. Dann rief Tanja meistens ihre Schulfreundin Melanie oder inzwischen auch schon mal
mich an, und es wurden zwanglos die Bäumchen zur Bildung von gemischten Doppeln
gewechselt: Wer von den Geschwistern gerade welchen Gast auf seinem Zimmer hatte,
konnten ihre Eltern ja nicht so genau nachvollziehen, falls mal Kontrollanrufe von daheim
kommen sollten. Und ab und zu mal bei einer Freundin zu übernachten, wenn es spät würde,
erlaubte sogar mir meine Mutter, wenn sie nur wüßte, wo ich steckte.
Wenn Melanie und ich sonnabends in Münster mal keinen von unseren Jungs oder nicht gleich
alle beide antrafen -feste Verabredungen hatten wir uns abgewöhnt-, half uns eben unsere
Kartei weiter. Ich hatte sie inzwischen ständig in meiner Schulmappe dabei, die ich natürlich
zur Vertuschung meiner wirklichen Wochenend-Aktivitäten auch sonnabends mit mir führte.
Vorsichtshalber hatte ich ja allen halbwegs ernst zu nehmenden Kandidaten angekündigt, daß
ich gegebenenfalls auf sie zurückkommen würde, falls sich meine erste Wahl als Flop erweisen
sollte. Je nach Laune überfielen dann Melanie oder ich einen unserer Aushilfsstudenten,
entweder ganz ohne Vorwarnung an der Wohnungstür, oder wir riefen kurz vorher an. Wenn wir
dabei ein Mädchen an der Strippe hatten, stellte sich eine von uns als Sweety vor, "seine"
Lieblings-"Kusine" aus O., von der er bestimmt schon viel erzählt hätte, und die heute bei ihm
übernachten würde. Es war ja klar, daß das auf den allermeisten Studentenbuden rein räumlich
bedingt nur in engster Intimität möglich war. Aber erstaunlich, wie viele von unseren
männlichen Opfern es allein auf die Aussicht auf ein solches Abenteuer hin fertigbrachten, dazu
ihre Freundinnen unter irgendwelchen Vorwänden vorübergehend aus dem Weg zu schaffen.
Ein Glanzstück in meiner Sammlung war sicher auch Martin. Thomas hatte uns -Melanie, Sven
und mich- an einem Sonnabend mal mit an die Uni geschleift, weil er noch irgendeine
Hausarbeit abzugeben hatte, bevor wir mit seinem Golf zum Picknick an den K.Ü. fahren
konnten. Der K.Ü., eigentlich Kanalübergang, war ein stillgelegter Abschnitt des DortmundEms-Kanals (mit einer Brücke über die Ems) und hatte in Münster eine ähnliche Funktion wie
andernorts die Baggerseen oder die Münchner Isarauen: Grillfêten, wildes Bade- und ziemlich
freies Liebesleben hinterm Gebüsch. Wir hatten also auf dem Gang vor seinem Institut auf ihn
warten müssen, und ich hatte aus lauter Langeweile die Aushänge studiert. Dabei war mir eine
Liste mit den demnächst zum Examen anstehenden Studenten ins Auge gefallen, und auf dieser
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Liste ein gewisser Martin B., dessen Name mir bekannt vorkam. Zuhause brachte mir ein Blick
in die Kartei mit unseren Kandidaten die Gewißheit, daß ich mich nicht geirrt hatte. Ich hatte
mir auch seinen Prüfungstermin gemerkt, einen Freitag in den Sommerferien, und war pünktlich
wieder zur Stelle.
Als ich sah, daß sich die Prüflinge schon mit schlotternden Knien auf dem Flur versammelt
hatten und auf ihre Ergebnisse warteten -die Kommission tagte noch-, hielt ich mich lieber erst
einmal im Hintergrund. Allerdings hätte mich ja sowieso niemand gekannt. Endlich kam der
Schicksalsbote, wohl ein Assistent des Institutes, mit einem Zettel heraus, den er zur weiteren
Steigerung der Spannung zunächst fröhlich herumschwenkte und dann feierlich ans Schwarze
Brett heftete. Sofort bildete sich eine Traube um ihn herum, die für einen Augenblick
mucksmäuschenstill wurde, bis die Ersten das Ergebnis begriffen und es auch den eher zaghaft
hinten Zurückgebliebenen verkündet hatten: Alle hatten bestanden, alle! Die ersten Sektkorken
knallten noch auf dem Gang, aber dann verkrümelten sich die Glücklichen allmählich zum
Feiern an schnell verabredete gemütlichere Orte. Mein Instinkt sagte mir, daß die Feiern nach
dem ersten kollektiven Rausch in der nächstgelegenen Kneipe später in privaterem Rahmen
fortgesetzt werden würden. In zwei Stunden würde ich Martin als Überraschungsgast auf die
Bude rücken; vielleicht hätte ich ja Glück, daß er bis dahin zuhause wäre. Ich fand, er müßte
unbedingt mein zweiter Vollakademiker werden, nach Schwager Mathias. Aber jetzt
verschwand ich erst einmal auf der Toilette und richtete mein aufwendiges Make-up.
Ich hatte noch genug Zeit, um in einem Blumenladen, der mir schon bei früheren Streifzügen
durch die Stadt durch seine ungewöhnlichen Dekorationen aufgefallen war, einen in jeder
Hinsicht beeindruckenden Strauß von sieben kinderwagenrad-großen Sonnenblumen zu
besorgen, der mich auch in der Länge um einen halben Meter überragte. Billig war er nicht, aber
Geld spielte für mich damals keine große Rolle mehr, seitdem Melanie und ich dazu
übergegangen waren, Adressen von überzähligen Studenten aus unserer Sammlung, die wir für
uns schon aussortiert hatten, zur Aufbesserung unseres Taschengeldes für je hundert Mark an
interessierte "Freundinnen" zu verkaufen. Tatsächlich war bei Martin die feuchtfröhliche Party
in vollem Gange, was bis ins Treppenhaus zu hören war. An der Tür empfing mich eine junge
Frau, keine Schönheit und sicher zehn Jahre älter als ich. Sie guckte ziemlich irritiert aus der
Wäsche, als ich mit vorgestrecktem Riesen-Blumenstrauß nach Martin verlangte. Der geriet bei
meinem Anblick genauso aus der Fassung: Ich kannte ihn ja wenigstens von seinem Foto, er
mich aber überhaupt nicht. Seine Verblüffung machte es mir leicht, ihm um den Hals zu fallen
und dabei verschwörerisch ins Ohr zu flüstern, ich wäre Sweety, und er sollte mich seinen
Gästen am besten einfach als alte Freundin vorstellen, sonst würde nämlich ich das selber
machen.
Mangels einer besseren Idee tat Martin wie ihm geheißen. Zuerst stellte er mich wohlerzogen
seiner weißhaarigen Mutter vor, die irgendwo im Hintergrund mit einem Glas Sekt sehr aufrecht
in einem Sessel gesessen war und gar nicht gewußt hatte, daß ihr Sohnemann eine "so junge und
hübsche" Freundin hatte. Auch die jüngeren Gäste waren anscheinend ziemlich überrascht, daß
ausgerechnet Martin, dieses stille Wasser, mich so lange vor ihnen hatte geheimhalten können.
Vor allem die Frau, die mir die Tür aufgemacht hatte, wirkte ziemlich säuerlich. Ich erkannte sie
jetzt als eine seiner Semesterkolleginnen wieder, die mit ihm auf dem Flur auf ihr
Prüfungsergebnis gewartet hatte. Es dauerte nicht lange, bis Martins Mutter sich erhob, um den
jungen Leuten das Feld zu überlassen, nicht ohne zuvor noch mich zu einem Besuch daheim in
Bielefeld eingeladen zu haben. Aber auch seine Kumpels fühlten sich jetzt wohl irgendwie
unbehaglich, wußten anscheinend auch nicht so recht, ob die Fête jetzt nicht doch noch etwas
privater werden sollte und sie dabei etwa stören würden. Schließlich entschloß sich der erste
zum Aufbruch und zog die anderen mit sich, als letzte mit einem vernichtenden Blick die
Kommilitonin, die sich wohl als meine Rivalin fühlte.
Als wir dann allein waren, bekam Martin von mir endlich das überfällige GlückwunschKüßchen und dazu noch einen Wunsch frei. Er gefiel mir einfach, vielleicht weil er mich an
Mathias erinnerte und auch so etwa dessen reifes männliches Alter hatte, aus der Perspektive
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einer Sechzehnjährigen gesehen. Mir war natürlich klar, was er sich von mir als Präsent
wünschen würde: Mich! Während ich die Sonnenblumen mit einem Putzeimer voll Wasser
versorgte, suchte er noch einmal die Scheibe heraus, die vorhin schon einmal gelaufen war, und
stellte sie auf volle Lautstärke: "We are the champions...!" Und ich entschloß mich, ihm einen
Striptease hinzulegen, so gut ich es verstand, bis ich nur noch das schwarze Samtschleifchen auf
dem Leib trug, das schon bei Sven so gut angekommen war und seitdem zu meinem StandardRepertoire gehörte. Auch Martin war ziemlich begeistert und schob mir kurzentschlossen seine
riesigen Hände und Unterarme unter die Kniekehlen und Achseln, um mich auf sein Bett zu
tragen. Ich fühlte mich im siebten Himmel, er war ganz schnell auch selbst so weit und begann
mich mit unvermuteter Zärtlichkeit zu lieben. Mittendrin meinte er seufzend, ich erinnerte ihn
an seine kleine Schwester. Na, hoffentlich hielt er sich wenigstens bei der etwas mehr zurück!
Erst als wir in jeder Beziehung fertig waren, kamen ihm ein paar leichte Skrupel, weil er ja
eigentlich eine feste Freundin hätte und die ihn jetzt bestimmt in die Wüste schicken würde. Ich
versuchte ihn damit zu beruhigen, daß wir doch unsere Affäre einfach geheimhalten könnten.
Aber es war, wie ich fast schon vermutet hatte: Es handelte sich um die Frau, die mich an der
Tür empfangen hatte. Allerdings wäre die schließlich auch nicht bereit, sich für ihn von ihrem
angetrauten Mann zu trennen. Was sein schlechtes Gewissen augenblicklich beruhigte.
Ich fühlte mich, wie gesagt, in Martins Armen trotzdem einfach rundum behaglich und gut
aufgehoben. Er behandelte mich wie ein rohes Ei oder eben tatsächlich so fürsorglich wie eine
kleine Schwester: Am Sex mit mir reizte ihn anscheinend nicht so sehr die Befriedigung seiner
eigenen Lust, sondern die Entdeckung, daß in einem so unschuldigen kleinen Mädchen wie mir
wohl Wünsche verborgen waren, die er mir nur an den Augen abzulesen brauchte und
umgehend nach Kräften erfüllen konnte. Und er war ja durchaus bei Kräften! Ich hätte ihn mir
gut als festen Partner vorstellen können: Ich traute ihm einfach genug Statur zu, mir beim
Ausbruch aus der lästigen Umklammerung durch meine Mutter den Rücken zu stärken. Und daß
ich so bald wie möglich zuhause abhauen müßte, stand für mich ja fest. In Wirklichkeit habe ich
das allerdings erst eine ganze Reihe von Jahren später geschafft, und zwar ohne die Hilfestellung
irgendeines männlichen Mentors. Hilfreich war dabei dann eher meine unfreiwillig durch die
Zeit in Lauterbronn gewonnene Selbständigkeit.
Ich kam im Moment gar nicht auf die Idee, daß ich mich jetzt irgendwie zuhause melden oder
gar heimfahren müßte, sondern ließ mich nach der Liebe einfach von Martin in den Schlaf
streicheln. Nach Thorsten, Mathias, Jens, Thomas, Henner (den ich später an Melanie abtreten
mußte), Peter, seinem Vater und seinem Prof (zu denen später mehr) und schließlich Jochen
(der da jetzt am anderen Wagenende den Schlafwagenschaffner spielte) war ja Martin zwar
schon mein zehnter Liebhaber, aber erst der dritte, mit dem ich die ganze Nacht
zusammenblieb, und dazu noch der allererste, der einen leichteren Schlaf hatte als ich. Als ich
nämlich morgens aufwachte, schlich er schon mit einem Fotoapparat um unser Bett herum und
hatte sicher fast einen ganzen Film mit seiner schlafenden Muse vollgeknipst, nichts
Unzüchtiges, aber doch eindeutig zerwühltes Haar, hier und da ein unter der Bettdecke
hervorgestrampeltes Bein oder eine nur halb bedeckte Brust. Jedenfalls schönes Beweismaterial,
um damit bei seinen Freunden zu renommieren. Mich störte das nicht, ich legte ja keinen Wert
darauf, als braves Mädchen zu gelten, das später in den Himmel kommen würde. Als ich mich
nach dem Frühstück im Bett wieder ein bißchen hergerichtet hatte, machte er auch noch ein
züchtig bekleidetes Brustbild von mir, für seinen heimischen Schreibtisch bei Muttern in
Bielefeld.
Ich blieb noch eine Weile bei ihm, wir rückten auf dem Balkon zwei Stühle zusammen und
schauten uns in die Augen. Er hatte ein sehr interessantes Gesicht, dem man ansah, daß er
schon über Manches nachgedacht hatte und nicht ganz blind durchs Leben ging. Er mußte mir
von zuhause erzählen, vor allem von seiner kleinen Schwester Michaela, und warum ich ihn an
sie erinnert hätte. Sie hatte auch noch einen Zwillingsbruder, Gabriel. Die Beiden standen jetzt
kurz vor dem Abitur. Martin war ja schon sieben oder acht Jahre älter und hatte aus dieser
Distanz miterlebt, wie seine Geschwister erst kaum auseinander zu halten gewesen waren und
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sich wie Pech und Schwefel vor allem gegen ihren großen Bruder verschworen hatten, bis es
von einem bestimmten Punkt an für sie plötzlich keine gemeinsamen Spiele mehr gab und sie
sich völlig auseinander entwickelt hatten. Während Gabriel immer stiller und weltabgewandter
wurde und sich in eine Traumwelt verkrochen hatte, entdeckte Michaela ihre Macht über
wesentlich ältere "Männer". Ihr erstes Studienobjekt war natürlich ihr großer Bruder, aber bald
flirtete sie wie eine Große auch mit seinen Schulfreunden und später dann mit seinen
Mitstudenten. Obwohl innerlich immer noch eher ein Kind, gefiel ihr diese Wirkung zusehends
mehr. Tatsächlich war ja auch längst nicht mehr zu übersehen, wie hübsch sie einmal sein
würde. Martin hatte sich natürlich prompt in seine eigene Schwester verliebt. Ihm war allerdings
klar, daß es unschuldigen kleinen Mädchen ja wirklich noch nicht bewußt sein kann, wie sehr
auch eine Frau für die Gefühle verantwortlich ist, die sie bei ihrem Gegenüber weckt. Eine Frau
war sie ja noch nicht, meinte wenigstens er. Also hatte er auch noch diese Verantwortung auf
seine eigene draufgepackt und sich jede Äußerung seiner Verliebtheit verboten. Um diese
unglückliche Sehnsucht aber nicht auch noch im Herzen zu verraten, bestrafte er sich in der
Folge mit "Freundinnen", die er eigentlich selbst nicht leiden konnte. Die derzeit aktuelle hatte
ich ja schon kennengelernt.
Als ich dann Sonnabend nachmittag so langsam wieder in O. eintrudelte, wurde ich gleich an
der Tür von meiner Mutter empfangen. Sie wollte natürlich wissen, wo ich gewesen wäre. Für
mich hatte es sich ja ganz von selbst ergeben, über Nacht bei Martin zu bleiben, so daß ich
nicht einmal daran gedacht hatte, mir dafür eine Ausrede einfallen zu lassen. Liebe und was so
alles dazugehörte war für mich inzwischen so selbstverständlich, daß ich gar nicht mehr auf die
Idee kam, daß ich in Mamas Augen noch ziemlich jung war. Ich räumte also einfach freimütig
ein, bei meinem Freund -als ob ich nur den einen gehabt hätte!- übernachtet zu haben.
Schließlich wäre ich alt genug, um zu wissen, was ich täte. Meine Mutter war sicher nicht der
gleichen Meinung, war aber wohl von meinem Geständnis so verblüfft, daß sie gar nichts mehr
sagte. Mir fiel dann zu meiner Entlastung immerhin gerade noch ein, daß mich Martin ja auch
seiner Mutter vorgestellt hatte. Ich behauptete also frech, sie hätte mich abends zum Bleiben
überredet, als es für die Heimfahrt zu spät geworden wäre, und erwähnte beiläufig, daß sie in
Bielefeld wohnten. Wenigstens waren damit Münster und meine diversen dortigen Aktivitäten
erst einmal aus der Schußlinie, falls meine Mutter auf die Idee kommen sollte, mir
nachzuspionieren.
Am Montag lagen dann für mich gleich zwei Briefe aus Bielefeld im Kasten. Der eine war von
Martin, sehr formell gehalten, zum Glück auch ohne jeden Hinweis auf unsere kaum
überstandenen Liebesfreuden in Münster. Er lud mich im Namen seiner Mutter zu deren
fünfundfünfzigstem Geburtstag nach Bielefeld ein. Es war klar, daß diese dem doch etwas
leichtsinnigen Verhältnis ihres Sohnes zu einem so jungen Mädchen auf den Zahn fühlen und es
bei entsprechender Eignung in geordnete gutbürgerliche Bahnen überführen wollte. Ich
rechnete im schlimmsten Fall mit einer von ihr "spontan" verkündeten offiziellen Verlobung
ihres Sohnes, vor ihrer versammelten Verwandtschaft. Zwar dürfte ihr als Frau -im Gegensatz
zu Martin- wohl kaum entgangen sein, daß ich noch keineswegs achtzehn war, wie ich in
meinem Aushang an der Uni behauptet hatte. Aber verloben kann man schließlich auch schon
halbe Kinder. Martins Brief war für mich natürlich ein Geschenk des Himmels. Ich ließ ihn also
ganz unabsichtlich mit einem Zipfel unter einem Stapel Schulbücher auf meinem Schreibtisch
hervorschauen, nicht gerade als Einladung an meine Mutter, ihn zu lesen, aber doch als
unwiderstehliche Versuchung.
Der zweite Brief war anonym. Es handelte sich um ein Liebesgedicht. Das Wort Liebe kam
zwar nicht darin vor, nur allerlei Symbole einer unerfüllten Sehnsucht, Graugänse am
Abendhimmel, einsame Nachtwachen am Lagerfeuer, verkohlte Tagebücher und das Bildnis in
einem Amulett, das in einem Moortümpel versenkt werden wollte. Nachts im Bett träumte ich
dann von dem Verfasser. Er hatte ein blasses schmales Gesicht, trauerumwölkt und von
dunklen Locken eingerahmt. Ich hatte wohl irgendwo einmal ein Portrait von Shelley gesehen,
oder war es Lord Byron? Mein Dichter jedenfalls war etwas Bedeutendes, hervorgehoben schon
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dadurch, daß er gerade mir als Erster und Einziger ein Gedicht gewidmet hatte. Woher er mich
wohl kennen mochte? Mit Martin jedenfalls brachte ich ihn seltsamerweise nicht in
Zusammenhang. Und diesen Brief ließ ich natürlich nicht auf dem Schreibtisch liegen.
Ich hatte dann doch ein etwas mulmiges Gefühl im Bauch, als ich etwa drei Wochen später
meiner Mutter den nunmehr bevorstehenden Geburtstagsbesuch in Bielefeld ankündigte. Sie
hatte erstaunlicherweise gar keine Einwendungen, ich sollte bloß unbedingt zuhause anrufen,
wenn es wieder so spät werden würde wie letztes Mal. Wollte sie mich etwa verkuppeln? Meine
durch diese Reaktion durchaus nicht ausgeräumten Bedenken hatten sich ohnehin mehr auf die
fast zur Gewißheit verdichtete Ahnung bezogen, daß ich in Zukunft statt von einer gleich von
zwei Müttern beaufsichtigt werden würde. Ade schöne Freiheit! In der Tat entwickelten die
Beiden in der Folge telefonisch einen regen Gedankenaustausch, der mit der Zeit auf eine fast
lückenlose Überwachung aller unserer Kontakte hinauslief. Wenn ich aus dem Haus ging,
konnte ich sicher sein, daß meine Mutter im nächsten Augenblick am Telefon hing und sich
nach Martins Aufenthalt erkundigte. Das hatte allerdings den Vorteil, daß sie wieder völlig
beruhigt war, wenn bloß Martin unter zuverlässiger Aufsicht stand. Pech vor allem für ihn. Ich
jedenfalls konnte in einem trotzigen Aufbäumen ungestört noch schnell meinen "vorehelichen"
Erfahrungsschatz um zwei weitere junge Männer erweitern, Charly und Mario. Leider hatten
sich aber beide als ziemlich erbärmliche Liebhaber erwiesen, Charly hatte sogar noch die
Frechheit gehabt, mir ins Gesicht zu sagen, von mir hätte er sich eigentlich auch mehr
versprochen. Abgehakt. Auch davon noch entsprechend frustriert trat ich die Reise nach
Bielefeld an. Meine Schwester Natalie wollte mich mit dem Wagen hinfahren, sicher sollte sie
ein bißchen für unsere Mutter spionieren. Ich sah während der ganzen Fahrt bloß so eine
spießige Grußkarte vor mir - "die Verlobung ihrer Kinder Swetlana und Martin geben
bekannt...die stolzen Mütter." Auf handgeschöpftem Bütten!
Aber dann bei der Begrüßung und allgemeinen Vorstellerei in Bielefeld rührte mich fast der
Schlag: Vor mir stand mein anonymer Dichter. Genau so, wie ich ihn im Traum gesehen hatte.
Martins Bruder Gabriel. Der blickte mich genauso erschrocken an wie ich ihn, beide unfähig
auch nur ein Wort zu sagen. Die anschließende Geburtstagsfeier wurde entsprechend steif und
auch ziemlich kurz. Um halb sechs ließ ich mich von Martin zurück nach O. fahren. Natürlich
fand er im Teutoburger Wald alle paar Kilometer einen lauschigen Seitenweg, um mit mir zu
schmusen, aber er küßte mich dann so schüchtern und schaute sein fleischgewordenes Glück
nur so ungläubig staunend von der Seite an, als hätten wir nie miteinander geschlafen. Ich hätte
es eigentlich gern gehabt, wenn er einfach hier im Auto richtig wild über mich hergefallen wäre.
Vielleicht hätte ja so etwas das Gespenst seines kleinen Bruders aus meinem Hirn gepustet. Als
ich ihn direkt darauf ansprach, meinte er aber nur lächelnd, im Bett wäre es schöner. Ja
vielleicht, aber doch frühestens in einer Woche, und ich hätte ihn jetzt gebraucht! Ich kann
nicht einmal sagen, ob er mit seiner Ansicht zum Auto-Sex Recht hat: Melanie behauptet
nämlich, es wäre dort wahnsinnig aufregend! Vor allem die Vorstellung, man könnte dabei
beobachtet werden. Allerdings habe ich den Verdacht, sie hat ihre diesbezüglichen Erfahrungen
auch bloß mit Thomas gemacht. Der wird wohl seine mir schon aus der Tankstelle
wohlbekannte Leporello-Methode auch mal mit ihr in seinem Golf probiert haben. Als Martin
mich schließlich wenigstens für heute so gut wie unberührt bei meiner Mutter ablieferte, war die
wohl trotzdem ziemlich erschrocken. Anscheinend hatte sie sich vorgestellt, mein "erster
Freund" wäre auch nicht viel älter als ich. Er gefiel ihr zwar ausgesprochen gut, aber daß er
schon derartig erwachsen war, daß er ja fast schon eher für sie in Frage kam als für mich, ließ
wohl auf der Stelle ihre ganze mütterliche Sorge wieder aufleben, bei so einem Mann würde ich
unausweichlich schon bald meine Unschuld verlieren. Gleich in der nächsten Woche schleifte
sie mich mit zu ihrem Frauenarzt, damit ich wenigstens die Pille bekäme. Zum Glück war das
ein feiner Kerl, ein älterer Herr, der nur still in sich hineinlächelte und mit keinem Mucks
verriet, daß er mir die schon ein halbes Jahr zuvor verschrieben hatte.
Nun ja, aus der Ehe mit Martin ist dann aber doch auch nichts geworden. Das lag daran, daß er
mich wenig später am hellichten Tag mit seinem kleinen Bruder erwischt hat, ausgerechnet
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unter dem Dach seiner Mutter und auch noch in seinem eigenen Bett. Eigentlich war ich da mit
Martin verabredet. Ich rede nicht gern darüber, aber schließlich war es auch ein bißchen seine
Schuld, eine feste Verabredung mit mir einfach zu verschwitzen. Und Gabriel war eben, wie
gesagt, auch sehr, sehr süß.
Milan Kundera beschreibt ja in seinem bekanntesten Buch die beiden klassischen Grundtypen
des Weiberhelden, den "lyrischen" (der bei seinem Treiben lebenslänglich immer nur der
gleichen irrealen Traumfrau nachjagt) und den "epischen" (der zwanghaft die unergründliche
Vielfalt der Frauen auskosten muß und natürlich letztlich als Kuriositätensammler endet). Ich
habe den Eindruck, daß sich Männer und Frauen auch in diesem Punkt nicht so stark
voneinander unterscheiden, wie viele glauben. Jedenfalls ist es wohl nur folgerichtig, daß ich
eher Romane schreibe als Gedichte. Kundera übrigens auch!
Gabriels vorletzter Vorgänger in meiner Kuriositätensammlung hatte sich übrigens später
tatsächlich als der Student entpuppt, der mir seinerzeit im Studentensekretariat meine
Suchanzeige blanko abgestempelt hatte. Nach seinem Foto hätte ich ihn niemals wiedererkannt.
Er hatte wohl damals gleich anschließend das Schwarze Brett inspiziert. Es war, wie schon
angedeutet, der selbe Jochen, der jetzt im Zug keine zehn Meter von mir entfernt im
Dienstabteil vielleicht schon von mir träumte, wenn er sich so ungetreue Regungen überhaupt
erlaubte. Wie auch immer, kaum spricht man vom Teufel, schon rüttelt er an der Tür: Natürlich
Jochen. Angeblich mußte er die Fahrkarten kontrollieren, aber in Wirklichkeit wollte er
natürlich mit mir alte Erinnerungen auffrischen. Er hatte jetzt zweieinhalb Stunden Zeit, mit
mir zu plaudern; vor Göttingen würde der Nachtzug nicht mehr halten. Als ich
kurzentschlossen die Abteiltür verriegelte, hatte er sofort verstanden. Schließlich kannte er
mich ja von früher. Wir genossen die Enge im Abteil, die uns schon beim Ausziehen zu allerlei
gegenseitigen Berührungen zwang. Dann kletterte ich mit ihm aufs Oberdeck, fast wie vor
Jahren mit Thorsten und in der gleichen Absicht. Von wegen, er hätte seit seiner Heirat nie das
Bedürfnis gehabt, mit einer fremden Frau zu schlafen! So wild war schon lange kein Mann mehr
auf mich gewesen. Aber ich wollte ihn ja auch. Und es ist schon ein ziemlich erregendes Gefühl,
auf einem Mann herumzuturnen und dabei vor dem offenen Abteilfenster die Lichter der Nacht
vorbeirasen zu sehen.
Als wir schließlich ruhig wurden und allmählich ins Träumen verfielen, kam mir ausgerechnet
Luc in den Sinn. Eine blöde Angewohnheit, mit einem Mann in den Armen an einen anderen zu
denken. In einer Weinlaune hatte ich meinem Nobelpreisträger damals in Lacanau-Océan einen
Schwank aus meiner Jugend erzählt, die Affaire mit Candidas persönlichem Goldschmied,
Peters Vater. Luc hatte nämlich unbedingt von mir bestätigt haben wollen, daß ich ihn nicht zu
alt fände für mich als Liebhaber, und da hatte ich ihm eben zur Beruhigung die alte Geschichte
mit Peters altem Herrn gebeichtet, von dem auch ich mir ein sehr persönliches Schmuckstück
hatte anpassen lassen.
Und natürlich war mein Dichter noch in der gleichen Nacht zu mir ins Campingzelt auf die
Luftmatratze gekrochen. Morgens beim Aufwachen hatte er mich dann beschworen, ich müßte
unbedingt meine Memoiren schreiben. Wahrscheinlich wollte er bloß auch mal in so einer
frivolen Story erwähnt werden. Damals hatte ich das ziemlich lächerlich gefunden, aber hier und
jetzt nahm ich mir vor, diese Sache tatsächlich daheim in Geismar gleich als Nächstes in Angriff
zu nehmen.
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6. gestandene Herren
Eigentlich hatte ich mir ausgemalt, mich nach den Strapazen der süddeutschen Reise erst
einmal richtig auszuschlafen. Im eigenen Bett. Bloß traf ich meine Kellerwohnung dann in
deutlich anderem Zustand an, als ich sie verlassen hatte: Auf meinem Bett hockte unverhofft
die "kleine" Jenny, und hinter ihrem Rücken räkelte sich grinsend Andy. Ich glaube, ich habe
die Szene schon beschrieben. Erst nach und nach bekam ich heraus, was passiert war: Meine
Freundin Melanie hatte sich in meiner Abwesenheit wohl gelangweilt, war kurzentschlossen
nach Aurich durchgestartet und hatte sich dort für ein paar Tage in einem Gasthof eingemietet.
Ein Anruf bei den Eltern von Benny hatte ihr den Hinweis auf sein Gymnasium gebracht;
mittags hatte sie ihn dort einfach abgepaßt und in ein Café abgeschleppt. Es hatte eine Menge
zu erzählen gegeben, und als es viel zu früh dunkel geworden war, hatte sie ihn kaltblütig mit
auf ihr Gastzimmer geschmuggelt. Als er dann aber auch in der nächsten Nacht nicht
heimgekommen war, hatten seine Eltern sich Sorgen gemacht und sich bei Jenny erkundigt, ob
er etwa dort wäre. Die hatte das vor lauter Scham und verletztem Stolz bestätigt, ihm aber am
nächsten Morgen vor der Schule aufgelauert und ihn dort natürlich erwischt, als ihn Melanie
gerade absetzen wollte. An diesem Abend war es dann Benny, der Jennys Eltern am Telefon
wahrheitswidrig damit beruhigen mußte, daß sie bei ihm wäre und daß ihr da schon nichts
passieren würde: In Wirklichkeit war sie nämlich auf der Stelle nach Göttingen aufgebrochen,
um ihre allen Betroffenen -außer natürlich den Eltern- bekannte Drohung wahrzumachen. Andy
war sie so verwirrt erschienen, daß sie ihn damit wohl angesteckt hatte und ihn zunächst gar
nicht auf die Idee hatte kommen lassen, was sie eigentlich mit ihm vorhatte. Er hatte sich
anscheinend vorgestellt, daß sie nur vorübergehend einen Schlafplatz brauchte, um wieder zu
sich zu kommen. Ganz keuscher Kavalier, der er nun einmal ist, war ihm dafür natürlich nicht
sein eigenes Bett in den Sinn gekommen, sondern eher meins. Den Schlüssel zu meiner
Wohnung hatte er ja, zum Blumengießen. Erst als sich Jenny ohne Umschweife splitternackt
entkleidete, während er ihr noch ganz fürsorglich mein Bett aufschüttelte, hatte er die auch von
ihm ja eigentlich längst herbeigesehnte Situation endlich erfaßt und allem Anschein nach dann
auch genossen.
Jenny war schon im Aufbruch. In Andys Armen hatte sie ihre Eifersucht anscheinend ganz
locker so weit abgekühlt, daß sie jetzt ungerührt und ohne erkennbar zurückgebliebene
Kränkung einfach wieder zurück nach Aurich und zu ihrem Benny wollte. Ich wünsche mir
schon oft, ich hätte ihr sonniges Gemüt! Andy brachte sie zur Bahn, während ich mich trotz
aller Müdigkeit noch dazu aufraffte, mein Bett neu zu überziehen.
Ich ließ gerade zwischen den kühlen und frisch duftenden Leintüchern im Halbschlaf noch
einmal die letzten Ereignisse Revue passieren, als schon wieder Andy vor meinem Bett stand,
mit einem niedlichen Lippenstiftabdruck auf der Wange. Einerseits wollte er mir meinen
Wohnungsschlüssel wieder aushändigen, andererseits wohl sichergehen, daß ich nicht etwa
Jennys wegen sauer auf ihn wäre. Als er mich so friedlich in meinem Bett liegen sah, in
Wirklichkeit eher abgekämpft als harmoniesüchtig, kam er wohl auf die Idee, sich unsere
Versöhnung mit einer freundschaftlichen Umarmung bestätigen zu lassen. So ungeschickt er als
Liebhaber auch ist, den ganz persönlichen Duft und das Gefühl von seiner Haut mag ich nun
einmal. Zum Glück war er wohl von all seinen überstandenen Aufregungen genauso erschöpft
wie ich und beließ es bei einer kleinen Pflichtübung, die man gerade noch als halbwegs
gelungen durchgehen lassen konnte. Aber anschließend schliefen wir Wange an Wange und Arm
in Arm fast vierundzwanzig Stunden lang den Schlaf der Gerechten.
Anscheinend hatte mein Hirn im Schlaf unbemerkt weitergearbeitet, jedenfalls fand ich am
nächsten Morgen, endlich mal wieder allein, unerwartet leicht den Einstieg in meine
Geschichte. Zunächst die Sache mit dem Keuschheitsgürtel, die mit großem Erfolg im Jahr
zuvor schon Luc aufgetischt hatte:
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Candida studierte wie erwähnt an der Kunstakademie Bildhauerei; auch ihre Schneiderpuppe
habe ich schon erwähnt, weil mir darauf im Garagenatelier bei Sven und Thomas ihr
Faschingskostüm im Entwurfsstadium imponiert hatte. Aber es machte mich dann doch noch
etwas neugieriger, daß an der Puppe eines Tages ein seltsames Metallgebilde glitzerte. Bei
näherer Betrachtung erwies es sich als eine Art Bikini-Unterteil, in absoluter Paßform aus
schwerem Silberblech getrieben, wie ein kostbares Tabernakel in feinster Goldschmiede-Arbeit
ziseliert: Ein wunderschönes Schmuckstück, nur für den Einen bestimmt, der es betrachten
durfte. Falls es nur einer war. Das Gebilde bestand eigentlich aus vier Teilstücken: Einem eher
flächig gearbeiteten vorderen Dreieck, in orientalisch anmutenden Mustern überall
durchbrochen und an allen drei Ecken mit zierlichen, paarweise angeordneten Scharnieren
versehen, von denen jeweils auf der Höhe der Hüftknochen und des Venushügels drei schmale
Metallbänder ausliefen, auch diese ohne scharfe Kanten mit aufgebördelten Rändern. Diese
Halteglieder folgten zwischen den Schenkeln hindurch und um die Taille herum exakt der
Anatomie der Puppe und wurden hinten beim Steißbein mit einem kunstvoll in Herzform
gearbeiteten Schloß zusammengehalten. Es handelte sich also tatsächlich um eine Art
Keuschheitsgürtel. Um die Verhöhnung eines womöglich unbefugten und jedenfalls nicht die
Schlüsselgewalt innehabenden Liebhabers auf die Spitze zu treiben, war der entscheidende
untere Riegel an passender Stelle sogar mit einem vielversprechenden Schlitz versehen, bloß
war der leider sehr, sehr schmal. Ein zärtlicher Finger hätte vielleicht hindurchgepaßt, mehr aber
sicher nicht.
Ich wußte zwar angesichts meiner gerade erst stolz errungenen sexuellen Freiheit eigentlich
nicht so recht wofür, aber so ein Ding mußte ich unbedingt auch haben!
Auf meine neugierige Nachfrage hin schickte Candida kichernd ihre beiden männlichen WGGenossen vor die Tür und legte vor meinen Augen das Kunstwerk an. Es saß auch auf ihrer
nackten Haut so perfekt, daß man nirgends mehr als ein Blatt Papier hätte darunterschieben
können, von vorwitzigen männlichen Pfoten oder gar noch Schlimmerem ganz zu schweigen.
Auch das Geheimnis um seine erstaunliche Paßform klärte sich auf: Candidas neuer Freund
Peter war wie sie Kunststudent. Im Rahmen seiner Ausbildung hatte er auch die Technik von
Gipsabdrücken am menschlichen Körper lernen müssen, wie man sie zum exakteren Studium
der Anatomie und zum Beispiel auch für Totenmasken braucht. Natürlich lag ihm als frisch
verliebtem Studenten für diese Übung der noch kaum in allen Winkeln entdeckte und
ausgekostete Leib seiner neuen Freundin näher, und so hatte er sich als Prüfungsarbeit den
Gipsabdruck von Candidas Torso gewählt, nicht ohne schon im Hinterkopf ganz pragmatisch
dessen spätere Weiterverwendung als Anprobierpuppe für ihr Schneiderhobby mitzubedenken.
Dummerweise hatte er das Pech, daß nicht nur er selbst ein Künstler war, sondern auch sein
Herr Papa. Wenn auch nicht wie er ein studierter, sondern nur ein Goldschmied. Und daß der
Alte ein sehr wohlgefälliges Auge auf seine künftige Schwiegertochter geworfen hatte. Als
Candidas Abbild bis zu Peters Prüfung bei ihm zuhause im Bastelkeller herumstand, hatte das
seinen Vater auf die entscheidende Idee gebracht: Vor vielen Jahren als junger Mann hatte er
nämlich schon einmal einen solchen Keuschheitsgürtel entworfen und ausgeführt, unter dem
anzüglichen Grinsen und der heimlichen Bewunderung seiner Prüfer und Mitstreiter, die für ihre
Meisterstücke keine so originellen Ideen gehabt hatten. Allerdings war es damals keineswegs ein
solches Paßstück gewesen und hätte seiner nur erträumten Trägerin im Ernstfall nichts als blaue
Flecken eingebracht. Er hatte das unter beredtem Schweigen zu verstecken verstanden, wenn
ihn seine Kollegen in dieser Richtung auszuhorchen versuchten. In Wirklichkeit hatte er ja zu
dieser Zeit noch kein einziges Mal ein Mädchen oder eine Frau berührt. Die Sitten waren eben
damals noch strenger im katholischen Münsterland.
Ich überlasse die Frage lieber den Psychologen, ob er seinem höchstens halbflüggen Sohn Peter
vielleicht uneingestanden die heute üblichen Freiheiten mißgönnte, ihn womöglich gar
beneidete um seine junge Freundin und den ungezwungenen Umgang miteinander und gerade
deshalb wieder auf ein solches Objekt verfallen war, das ja wohl nur entweder eigene aggressive
Besitzansprüche oder eben völlige Lustfeindschaft dokumentieren konnte. Jedenfalls hatte er
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das in aller Heimlichkeit dem Abguß seiner künftigen Schwiegertochter Candida angepaßte
Kunstwerk feierlich eben dieser überreicht, an deren einundzwanzigstem Geburtstag. Und nicht
etwa ihrem Schlüsselgewaltigen Peter.
Candida war von der Idee nicht begeistert, daß auch ich so ein Ding haben wollte. Ich suchte
also kurzentschlossen einfach im Branchenbuch die Adresse von Peters Vater heraus und
vereinbarte einen Termin. Der wiegte erst einmal bedächtig sein Haupt, als ich zu ihm in die
Werkstatt kam. Es war ihm offensichtlich peinlich, daß er als der Schöpfer von Candidas
Verschlußteil schon weiteren Kreisen bekannt geworden war. Und ich wäre ja anscheinend
noch nicht einmal volljährig. Außerdem, wie wollte ich das überhaupt bezahlen? Sechs- bis
siebentausend Mark müßte ich für so ein Schmuckstück schon anlegen, zahlbar in Monatsraten
à tausend. Wahrscheinlich störte ihn aber mehr noch die Vorstellung, daß er die Vorarbeit mit
den Gipsabdrücken wieder diesem unreifen Lümmel Peter würde anvertrauen müssen. Erst als
ich ihm vorflunkerte, mein Stiefvater würde das finanzieren, damit ich nicht zu früh in
irgendwelche Männergeschichten hineingeriete, und außerdem könnte den Abdruck doch sicher
genauso gut auch Candida machen, mit der ich gut befreundet wäre, nahm er meinen Auftrag
an.
Als nächstem erzählte ich Candidas Freund von der Geschichte. Der war erwartungsgemäß
begeistert, daß er auch bei mir Hand anlegen sollte. Von der offiziellen Version, dies Geschäft
lieber seine Candida machen zu lassen, sagte ich ihm natürlich nichts. Er allerdings war
tölpelhaft genug, ihr sofort von seinem Glück zu berichten. Sie empfand das wohl etwas anders
als er, mit der Folge, daß er zwar den Abguß bei mir vornehmen durfte, aber nur in ihrem
Atelier und unter ihrer strengen Aufsicht.
Zunächst mit ihr allein, mußte ich mich mit nacktem Unterleib in eine Art Sandkiste setzen, je
einen halben Meter lang und breit, seitlich von zwanzig Zentimeter hohen Brettern begrenzt.
Am Beinabschluß und um die Wespentaille herum war die Kiste durch halbrunde Ausschnitte
in den querliegenden Abschlußbrettern meinen unteren Extremitäten und dem Oberkörper
angepaßt, was dem ganzen Gebilde Ähnlichkeit mit einem mittelalterlichen Schandpranger
verlieh. Schließlich wurde noch ein blauer Müllsack zerschnipselt, um meine sensibelsten
Regionen mit dünnen Folienstreifen abzudecken. Danach erst durfte auch Peter hereinkommen
und mit einem Schäufelchen Sand aus der Wohnoase in die Kiste auffüllen, um meine Hüften
herum und zwischen den Beinen, bis zu einer gedachten mittleren Höhenlinie. Während
Candida in einem Bottich den Gips anrührte, fand ihr Freund natürlich trotz aller Überwachung
immer wieder günstige Momente, wo er seine rauhe Schafferhand unverschämt lange an meinem
Nabel oder auf meinen Schenkeln ruhen lassen und mich dort sogar zaghaft ein bißchen
streicheln konnte. Ich warf ihm dabei ermunternd und verschwörerisch Schlafzimmerblicke zu
und machte meinen süßesten Kußmund, wohl wissend, was in ihm vorgehen mußte.
Der Gips wurde zum Glück mit lauwarmem Wasser angemacht, so war das Gefühl nicht ganz
so unangenehm auf der Haut. Außerdem würde er so schneller trocknen. Ich nutzte die
Wartezeit, um Candida ein paar künstlerische Fragen zu stellen: Ob es stimmte, daß ein
Bildhauer alles, was er formen wollte, zunächst mit seinen Händen ertastet haben müßte? Wie
fast immer, wenn man eine Frau etwas fragt, antwortete natürlich der zugehörige Mann: Genau
so wäre es. Nicht nur die Formen, konkaven und konvexen Wölbungen, Höhlen und
Vorsprünge, sondern auch die Oberflächenstrukturen und die Ahnung davon, was darunter in
noch tieferen Schichten verborgen liege, müßte man erst am Modell fühlen, möglichst mit
geschlossenen Augen, bevor man sie in einer Skulptur wiedergeben könne. Nicht alles ließe sich
ja so einfach abbilden, Wärme oder Kälte etwa oder Härte und Weichheit oder Trockenheit und
Feuchtigkeit, dafür müßte man dann erst einmal eine eigene Umsetzung erfinden. Peter hockte
jetzt mit dem Rücken zu Candida vor mir, so daß die wohl nicht einmal mitbekam, daß er dabei
wie zur Bestätigung seiner Theorie seine Hand unter mein nabelfreies Hemdchen bis zum
Brustansatz vorschob, sie noch einmal zurückzog, den Zeigefinger genußvoll an seinen Lippen
benetzte und, nachdem ich mich bisher nicht gewehrt hatte, diesmal sogar ganz kurz und fast
ungläubig die Spitze berührte. Ich konnte die Augen nur noch einen Spalt weit offenlassen, um
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möglichst viel zu fühlen. Und ich wußte in diesem Moment, daß ich diesen Mann so bald wie
möglich haben mußte, Candida hin oder her.
Bei der nächsten Sitzung ein paar Tage später mußte ich mich dann bäuchlings in die inzwischen
ausgetrocknete Formhälfte legen. Meinen nackten Po fand Candida wohl nicht so aufregend,
daß er vor ihrem Peter versteckt werden müßte. Der gab sich auch betont cool, während er mir
den lauwarmen Gips für die Ergänzung der Form darauf klatschte und sehr geschäftsmäßig
verteilte, als hätte er unser stilles Abenteuer vom letzten Mal schon vergessen. Für die
Wartezeit bis zum Austrocknen hatte ich mir diesmal ein Vokabelheft mitgebracht, in dem ich
mit aufgestützten Ellenbogen ein bißchen pauken konnte. Die Situation erschien Candida wohl
jetzt so unverfänglich, daß sie mich sogar für einen Moment mit ihrem Freund alleinließ. Der
nutzte natürlich die Gunst der Sekunde, um seinen neugierigen Künstlerhänden, diesmal beiden
parallel, einen noch genaueren Eindruck von der Festigkeit und Oberflächenstruktur meiner
Brüste zu verschaffen: Gänsehaut! Ich konnte ein tiefes Seufzen nicht unterdrücken. Dann
kritzelte ich kurzentschlossen eine Botschaft in mein Heft und schob es in Peters Blickfeld:
"Sonnabend sturmfreie Bude von 10 bis 18 Uhr", und meine Adresse in O.: Jetzt war es an ihm,
zu seufzen. In diesem Moment kam aber Candida wieder herein. Ich war mir nicht sicher, ob er
sich so schnell alles gemerkt hatte, würde mein Vokabelheft also wohl nachher für ihn hier
"vergessen" müssen. Natürlich zugeklappt. Aber erst einmal hatte ich die schmerzhafte
Ablösung der jetzt schon fast harten Gipsschale zu überleben, mit Haut und Härchen.
Am Sonnabend früh hatte ich schon auf dem Schlafzimmer-Balkon den ganzen Fußboden mit
Liegestuhlpolstern und Badetüchern ausgelegt, ein Laken über das Geländer geworfen, um uns
nachher vor neugierigen Blicken zu schützen, den Regenschirmständer aus der Garderobe
bereitgestellt und ihn mit Eiswürfeln zum Sektkühler für unser zweites Frühstück
umfunktioniert. Ich stand gerade unter der Dusche, um mich für Peter taufrisch herzurichten,
als er auch schon läutete. Auch nicht schlecht, nasse Haut macht schließlich sinnlich. Ich warf
mir nur schnell Mamas Morgenmantel um die Schultern und ließ meinen heimlichen Gast ein.
Peter trug schwer an einem riesigen Paket, das er aber sofort abstellte, um mich in die Arme zu
nehmen. Während er mir noch ganz sittsam die Wangen küßte, hob er mir schon nonchalant das
Négligé von den Schultern und ließ es zu Boden gleiten. Dabei sülzte er mir ins Ohr, eine
Dusche könnte er jetzt auch erst einmal gebrauchen, aber eher eine kalte, er wäre nämlich völlig
durchgeschwitzt. Ob vom schweren Tragen in der Sonne oder vom Herzklopfen und der
Vorfreude auf mich, blieb natürlich offen. Aber ganz sicher fühlte er sich von meinen zarten
sechzehn Jahren als Mann berührt. Jedenfalls wollte er sofort ungeniert aus den Hosen steigen.
Ich konnte ihn gerade noch mit Engelszungen davon abhalten und ihm vorschlagen, das doch
besser mich machen zu lassen. Mit Absicht zog ich diese für mein weibliches Selbstgefühl
wichtige Prozedur etwas in die Länge, aber dann wälzten wir uns auch schon auf dem
ausgebreiteten Morgenmantel und hatten nicht einmal mehr Zeit, nach einem Zipfelmützchen
für "ihn" zu suchen. Danach hatten wir eine kalte Dusche nun wirklich nötig. Noch aufgekratzt
und naß wie zwei junge Hunde stürmten wir dann hoch auf den Balkon, um uns die Haut von
der Morgensonne trocknen zu lassen. Peter war vorhin in der Diele für mich ein wenig zu
schnell gewesen, so daß ich noch nicht richtig zur Ruhe gekommen war. Deshalb tat es doppelt
gut, daß er mich jetzt noch einmal fest an seine Brust drückte und mir das Gefühl gab, daß wir
in diesem Moment tatsächlich zusammengehörten.
Ich hatte ihn jetzt unter mir und begann genüßlich, seine immer noch nasse Haut vom Nacken
bis zu den Kniekehlen abzuschlecken. Er hatte da natürlich ein paar sensible Stellen, die auch
ihn schon nach kurzer Zeit nicht mehr auf dem Bauch liegen ließen. Ja, es mußte noch einmal
sein, jetzt sofort! Unter freiem Himmel ist es eben einfach am schönsten! Überdreht wie wir
waren, hatten wir vorher leider nicht daran gedacht, uns unserem Freiluftrefugium auf allen
Vieren kriechend zu nähern. Tatsächlich entdeckte ich jetzt erst, zwei Stockwerke über uns in
der Häuserzeile gegenüber, an seinem Klofenster den im ganzen Quartier bekannten Spanner,
an den ich eigentlich schon vorher gedacht hatte, als ich an der Balkonbrüstung den Sichtschutz
angebracht hatte. Der arme Irre lauerte nämlich jedes Wochenende den mehr oder weniger
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unverhüllt sonnenbadenden Mädchen und Frauen auf unserer Seite mit Feldstecher und
Teleobjektiv auf. Übrigens ein Sportvereinskamerad meines Schwagers Mathias. Vielleicht
sollte eine von uns ihm wirklich einmal einfach den Gefallen tun, ihn zu verführen, um ihn ein
für alle Male von seinem Tick abzubringen. Eigentlich sah er nämlich gar nicht mal so schlecht
aus, durchaus der Typ braver Traumschwiegersohn Anfang dreißig. Meine Schwester Natalie
hatte er allerdings schon mal auf fiese Art mit einem ziemlich indiskreten Foto dazu erpressen
wollen, mit ihm in die Kiste zu steigen, aber sie hatte ihm nur granatenmäßig eine gescheuert.
Na ja, jedenfalls würde jetzt wohl ich mich von ihm auf einiges gefaßt machen müssen.
Als die Sonne nachmittags hinter den Nachbarhäusern verschwand, ging unser
Kuschelstündchen zu Ende. Mamas Négligé mußte in die Waschmaschine und nachher noch
gebügelt werden, und auch auf dem Balkon mußten die Zeugnisse unseres Treibens beseitigt
werden. Schließlich trugen wir noch mit vereinten Kräften die Kiste, die Peter mitgebracht
hatte, von unten hoch auf mein Zimmer. Es war natürlich mein Torso-Abguß. Er hatte meinen
Gipsabdruck inzwischen mit Montageschaum aus dem Baumarkt ausgeschäumt, das Ergebnis
mit samtartigem Velours aus der Spritzpistole -ausgerechnet in schweinchenrosa- überzogen
und mit einem sündhaft teuren schwarzen Nichts von Höschen bekleidet, das er mir wohl als
Zugabe schenken wollte. Wir hatten uns zwar gerade erst wieder angezogen, aber jetzt wollte er
doch gern noch einmal das Abbild mit dem Original vergleichen und bei dieser Gelegenheit
beweisen, daß er auch im dritten Anlauf noch ein ganzer Mann war. Na ja. Männer scheinen
wirklich nicht zu wissen, daß eine Frau durchaus zwischen echter Lust und dem Wunsch nach
Eintrag in irgendwelche Rekordlisten unterscheiden kann. Männer sind eben eigentlich Kinder
und sollten auch so behandelt werden. Mein Bett also müßte nachher auch noch einmal frisch
überzogen werden. Schließlich wirklich erschöpft, schworen wir uns noch, daß die ganze
Geschichte natürlich geheimbleiben müßte, und daß vor allem Candida nichts davon erfahren
dürfte. Dann zog Peter, sichtlich beschwingt von seinen mehrfachen Erfolgen, von dannen.
Ein paar Tage später -ich wollte mich gerade im Drogerie-Markt mit neuem Lidschatten
versorgen- traf ich dort unseren verklemmten Nachbarn. Bernie heißt er übrigens. Er hatte am
Wühltisch mit den zur Abholung bereitgestellten Fotoabzügen einen Moment abgepaßt, wo ihm
niemand über die Schulter schaute, und blätterte nun recht begeistert in seinen Werken. Mich
hätte schon interessiert, ob etwa auch das mit Peter und mir dabei wäre, aber ich ließ dann doch
lieber einen Moment verstreichen, bevor ich ihn ansprach. Nicht besonders geistesgegenwärtig
mit der ziemlich dämlichen Bemerkung, er wäre ja wohl ein begeisterter Fotograf. Klar, er
erkannte mich wieder als seine kleine Nachbarin, zuckte aber doch überrascht und verlegen
zusammen und überspielte das mit der Frage, ob nicht vielleicht auch ich mich mal von ihm
fotografieren lassen wollte: Ich hätte doch eine richtig niedliche Figur. Und er hätte eine
Agentur an der Hand, in Belgien übrigens, Antwerpen, die ständig auf der Suche nach
Amateurmodellen wäre. Und für Bademoden, natürlich in erster Linie für so ganz knappe
Sachen, könnte er mich bestimmt verkaufen. Als ich wohl nicht so entsetzt reagierte wie
befürchtet, gestand er mir auch noch mit breitem Grinsen, ein Testbild von mir hätte er
übrigens schon, na ja, halt mit dem Tele aufgenommen. Das konnte ja wohl nur unsere
Balkonidylle sein! Ich überlegte blitzschnell, ob ich auf sein Angebot eingehen sollte. Der Mann
war sicher nicht ganz ungefährlich. Andererseits hätte ich schon gern unser Beweisfoto
zurückgehabt, vielleicht ginge das ja auf diese Art. Allein würde ich mich sicher nicht in seine
Räuberhöhle trauen, aber vielleicht könnte ich Melanie überreden, mitzumachen? Die träumte
doch schon lange von einer Model-Karriere. Und ein paar richtig scharfe Fotos von mir hätte
eigentlich auch ich ganz gern gehabt. Ich ließ mir also seine Telefonnummer geben und sagte
ihm, ich würde es mir mal überlegen.
Melanie war, wie erwartet, von der Idee ganz angetan. Erst einmal aber brauchte ich sie für den
Transport meiner Büste nach Münster. Ich hatte das gute Stück so lange hinter einem
Klapptürchen unter der Dachschräge in meinem Zimmer untergebracht, wo ich auch schon
einmal den lieben Sven bis nach dem Frühstück im trauten Familienkreis hatte verstecken
müssen. Aber auf die Dauer konnte es da natürlich nicht bleiben. Und für mich allein war die
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Kiste eben leider zu schwer, obwohl ich Melanie nur ungern verriet, was ich damit vorhatte. Sie
entwickelte dann aber zu meiner Beruhigung weniger Neid als Bewunderung für meine
Eskapaden. Wir fuhren am nächsten Sonnabend natürlich im Taxi, mit Taschengeld durch die
Verhökerung unserer Karteileichen gut versorgt, von mir zuhause zum Bahnhof und dann
wieder in Münster vom Bahnhof zur Goldschmiede-Werkstatt von Peters Vater. Der wirkte
leicht irritiert, als gleich zwei junge Mädchen bei ihm auftauchten. Und ich war fast ebenso
irritiert, weil ich auf seinem Gesicht haarscharf den gleichen Ausdruck wiederzuerkennen
glaubte, den sein Sohnemann drauf gehabt hatte, als er mich vor kurzem in O. von meinem
Négligé befreite. Nur daß Daddys Blick nicht allein auf mir ruhte, sondern unschlüssig zwischen
Melanie und mir hin und her irrte. Sollte er etwa eine Schwäche für junges Gemüse wie uns
haben? Er mußte ja wohl, von Peters Alter aus hochgerechnet, schon an die fünfzig sein!
Als ich Melanie dann auf der Heimfahrt darauf ansprach, ob diese Blicke auch ihr aufgefallen
wären, gab sie zu, sich davon ebenfalls sozusagen ausgezogen gefühlt und das nicht einmal als
unangenehm empfunden zu haben. Ich sagte dazu lieber nichts, aber auch ich hatte den Mann
irgendwie recht anziehend gefunden. Er war eigentlich ziemlich gut erhalten, sicher nicht für
jede Frau der Traummann, da nicht unbedingt ein Bär, dafür aber drahtig und schlank
geblieben. Und er hatte etwas, was junge Männer selten haben: Eine in sich selbst ruhende
Verläßlichkeit, nicht gerade eine Eiche im Sturm, aber doch ein Kerl, an den man sich sorglos
anlehnen könnte. Dazu eine für sein Alter zwar quicklebendige Mimik, die aber unter der
Oberfläche durchaus melancholische Züge durchschimmern ließ. So einen muß man als Frau
und eigentlich auch schon als Mädchen einfach ständig knuddeln. Nachts träumte ich dann
davon, daß Melanie bei unserem Ausflug nicht dabeigewesen wäre, der Alte sich also nicht hätte
zurückhalten müssen und sich zu einer sehr, sehr herzlichen Umarmung aufgerafft hätte. Wie
sich die anfühlen, und vor allem wie das enden könnte, meinte ich ja von Peter her zu wissen.
Uaaah!
Währenddessen rückte der Termin für unsere erste Fotosession mit dem Nachbarn Bernie näher.
Ich hatte ihm gesagt, daß ich noch eine Freundin mitbringen würde, wovon er erst einmal nicht
sehr begeistert war. Auf alle Fälle wollte er unbedingt vorher noch mit mir ein paar scharfe
Wäscheteile einkaufen gehen, String-Tangas, Strapse, transparente Hemdchen und solches
Zeugs. Doch doch, so etwas gibt es auch in O. zu kaufen! Wenn ich nämlich als Debütantin bei
seiner Model-Agentur einsteigen wollte, müßte eben gleich meine erste Präsentation ein Knaller
werden, auch wenn ich später nur für Jeans oder Pullis posieren würde.
Natürlich nahm ich Melanie lieber auch schon zum Wäscheeinkauf mit, und Bernie war
augenblicklich besänftigt: Sie ist ja auch nicht gerade häßlich anzuschauen, durfte sich also
gleich ein paar Stücke für sich selbst mit aussuchen. Es war ja klar, daß jetzt auch sie
fotografiert werden mußte. Wir stöberten also zu dritt durch die Regale und Kleiderständer,
kicherten -in erster Linie natürlich wir Mädchen- total aufgekratzt, wenn Bernie uns ein allzu
knappes oder frivoles Teil aufschwatzen wollte, und verschwanden schließlich mit einem
ganzen Arm voll Textilien zu zweit in der engen Umkleidekabine. Bernie lauerte vor dem
Vorhang und wollte natürlich alles auch angezogen sehen, und zwar jeweils an uns beiden. Wir
haben ja die selbe Konfektionsgröße, aber Bernie hatte schon recht, manche Sachen standen
eben Melanie besser und andere mir. Das ständige An- und Ausziehen wurde allmählich zum
echten Stress, und Melanie ging dazu über, den Vorhang zwischendurch nicht mehr richtig
zuzuziehen. Ich glaube, mit voller Absicht und aus reiner Lust an der Provokation. Bernie
bekam natürlich zusehends Stielaugen, und die wie immer in diesen Wäscheabteilungen sich
betont seriös gebenden Verkaufsberaterinnen setzten allmählich besorgte Mienen auf. Der
Mann war schließlich zu jung, um unser Vater zu sein, und wir zu jung als seine Gespielinnen.
Mit der Zeit machte das Spiel aber auch mir Spaß, und der Vorhang blieb einfach ganz offen.
Nachdem trotz aller nervösen Besorgnis niemand vom Personal tatsächlich einzuschreiten
wagte, kam Bernie schon zum Anprobieren mit in die Kabine, zupfte mal hier eine Falte an
Melanies Po glatt oder zog dort einen Träger an meinem Top gerade. Ganz so pervers
verklemmt , wie ich gedacht hatte, war er also wohl doch nicht, und ich hatte eigentlich keine
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Bedenken mehr, tatsächlich für ihn zu posieren. Ich fand es auch irgendwie gut, daß er sich den
Spaß mit uns etwas kosten ließ: Die Rechnung zum Schluß war jedenfalls gesalzen.
Die Aufnahmen sollten unter freiem Himmel stattfinden, und zwar in einer idyllischen
Landschaft mit grünen Kuhweiden und schwerfällig darauf lagerndem und wiederkäuendem
schwarzweißem Vieh, genauer gesagt am grünen Ufer der Düte, einem still dahinmäandernden
Nebenflüßchen der Hase am westlichen Stadtrand von O.. Das von Bernie ausgespähte
Fleckchen war zwar von den nächsten Häusern und Fußwegen durch ein Wäldchen und allerlei
Buschwerk ganz gut abgeschirmt, aber am Wochenende doch nicht ganz sicher vor
Spaziergängern, Joggern und Mountainbikern. Deshalb hatten Melanie und ich wieder einmal
auch unter der Woche die Schule zu schwänzen. Bernie hatte sich ausgedacht, daß Melanie in
einer ersten Sequenz eine Art Striptease hinlegen sollte. Sie war ja im Posieren genau wie ich
alles andere als ein Profi, deshalb würde es am natürlichsten und zugleich am professionellsten
wirken, wenn Bernie dabei ihre Bewegung einfach im Automatik-Takt aufnähme und die besten
Momentaufnahmen erst im Nachhinein aussuchte. Sie sollte also auf einem Klappfahrrad
angefahren kommen (das hatte Bernie in seinem Kombi dabei), sich beim Abnehmen ihres
Kopfschutzes so wild wie möglich das Haar zerstrubbeln, noch halb im Sattel das Flüßchen
entdecken, ihr Fahrrad ins Gras fallen lassen, sich nacheinander in aller Eile ihrer Turnschuhe,
ihrer Radlerhosen und ihres knallengen T-Shirts entledigen und zum Schluß nur noch im
Bikinihöschen dastehen, natürlich mit züchtig vor den Brüsten verschränkten Armen, bevor sie
ihre grazilen Füßchen wohlig in den Fluten der Düte zu kühlen hätte.
Natürlich hatte aber Melanie das dazu vorgesehene neongrüne Bikiniunterteil erst einmal
anzulegen und stand gerade im Hemdchen und sonst nichts da, als trotz aller vorsichtigen
Terminplanung am gegenüberliegenden Ufer drei junge Leute auftauchten, ebenfalls auf
Fahrrädern, zwei Jungs und ein Mädchen um die zwanzig. Melanie wußte sich nicht anders zu
helfen, als zur Bedeckung ihrer Blöße in die Düte zu springen. Das Flüßchen ist zwar nicht
gerade reißend, hat aber durchaus seine Strudel und hinter Wurzelbarrieren ausgewaschenen
Kolke, in denen es stellenweise auch einmal über zwei Meter tief werden kann. Und Melanie
konnte nicht schwimmen, damals wenigstens. Ich selbst war auch gerade erst beim Ankleiden
eines traumhaften schwarzen Tangas für meine erste Szene und bekam deshalb nicht alles
sofort mit, warf mich dann aber mit einem gellenden Hilfe! -Schrei todesmutig in die Fluten, um
Melanie beizustehen.
Die jungen Männer von gegenüber hatten jetzt also mit ebenso beherztem Eingreifen gleich
zwei hilflose halbnackte Mädchen zu retten und fanden es in dieser Notsituation nicht weiter
schlimm, sich dazu ebenfalls ihre Kleider vom Leib zu reißen, und zwar gleich vollständig. Ihrer
Freundin und uns könnte so viel Männlichkeit ja auf alle Fälle nur imponieren. Im Gegensatz zu
uns Wassernixen hatte ihre Begleiterin allerdings unsere Situation, begriffsstutzig wie das
weibliche Geschlecht nun einmal ist, wohl einfach als geile Gaudi mißverstanden, tat es also
ihren Freunden nach und hüpfte uns auch noch splitternackt hinterher. Bernie hatte jetzt ganz
unverhofft eine Menge zu fotografieren! Erst als es bei uns wirklich niemanden mehr zu retten
gab, ging auch er noch mit eher gequältem Lächeln ins Wasser, allerdings in seinen geblümten
Boxershorts.
Nachdem wir alle genug abgekühlt waren, gingen wir zusammen mit unseren Rettern und ihrer
Freundin am Ufer gegenüber an Land. Natürlich war alles nur halb so gefährlich gewesen, wie es
ausgesehen hatte. Die drei hatten Picknick- Utensilien und einen Klappgrill dabei und luden
uns gutgelaunt zum Mitmachen ein. Nach dem Wurstbraten lümmelten wir uns dann zu sechst
eng an eng auf den eigentlich nur für drei vorgesehenen Liegedecken in der Sonne. Karin, so
hieß unsere Gastgeberin, war gleich ziemlich selbstverständlich auf ihrer Decke zur Seite
gerückt, und zwar natürlich für Bernie. Der war nun mal schon ein richtiger Mann und als
solcher für eine Zwanzigjährige doch weit ernster zu nehmen als ihre beiden Kumpels. Sie
selbst war der Typ Frau, von dem wohl die meisten Männer träumen: Mit blonder
Lockenmähne, einem lustigen Stupsnäschen und abrgrundtiefen wasserblauen Augen, einem
wirklich nur ein wenig zu großen Mund, dafür aber betont weiblicher Figur, schwingenden
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Hüften, Wespentaille und üppiger Oberweite. Noch war das alles knackig und drall, aber in
fünf, spätestens in zehn Jahren, dachte ich nicht ohne Schadenfreude und zu meinem eigenen
Trost, würde das wohl alles in die Breite gehen und sie zur pummeligen Hausfrau machen. So
wie meine Schwester Melanie. Unten herum war Karin rasiert, so daß man nicht ganz sicher
sein konnte, ob ihr Blondhaar wirklich echt war. Aber es war für ihren Typ auf alle Fälle die
einzig mögliche Haarfarbe.
Bernie fiel es offensichtlich schwer, seine Blicke von ihr loszureißen, er tat es aber trotzdem
immer wieder und schaute dann irgendwie hilflos mit flackerndem Blick abwechselnd Melanie
und mich an, wie um sich zu vergewissern, ob das alles wahr wäre. Vielleicht fühlte er sich von
diesem Prachtweib auch einfach überfordert, besonders als sie ihn mit vorweggenommener
Mütterlichkeit auch noch zu überreden versuchte, doch ebenfalls seine nasse Unterhose
abzulegen und sich nicht den Tod zu holen, so prüde müßte man doch unter Freunden nicht
sein. Mit der Freundschaft ging das anscheinend recht schnell bei ihr! Er blickte noch einmal
fragend Melanie und mir direkt in die Augen, ob er das uns Minderjährigen zumuten dürfte, und
tat dann auf mein zustimmendes Lächeln hin wie ihm geheißen. Natürlich konnte ich mir einen
verstohlenen Blick auf seinen Unterleib nicht verkneifen -Jugend forscht!- und verstand
augenblicklich seine Überforderung: "Er" stand zwar erwartungsgemäß wie eine Eins. Aber es
war das mickrigste Teil, das ich jemals an einem Mann gesehen hatte! Nicht daß ich dem eine
übertriebene Bedeutung zugemessen hätte. Ich hatte es ja in den paar Monaten, seit ich mich
intensiver mit der Erforschung des männlichen Geschlechtes befaßte, schon mit den
verschiedensten Kalibern zu tun gehabt, dicken und dünnen, kurzen und langen, und eigentlich
waren sie alle für die Liebe im engeren Sinne ganz gut tauglich gewesen. Aber Bernie war ja nun
einmal ein eher athletischer Typ, und an dem sieht so etwas einfach etwas lächerlich aus. Nicht
daß ich mir etwas hätte anmerken lassen. Ich machte mir vielmehr Gedanken, ob er für dieses
Gliedmaß nicht vielleicht als junger Mann von seinen Freunden oder gar von seiner ersten Liebe
brutal gehänselt worden wäre. Das wäre ja dann eine halbwegs plausible Erklärung oder gar
Entschuldigung seiner Verklemmung und der ersatzweisen Leidenschaft für heimliche Fotos
gewesen.
Melanie hatte auch ziemlich sexy ausgesehen in ihrem nassen Hemdchen, fast wie ein
amerikanisches College-Girl auf einem dieser unsäglichen Wet-T-Shirt-Wettbewerbe, bloß daß
die Mädels dort im prüden Amerika natürlich nicht unten ohne herumsprangen. Sie hatte sich
ungefragt nicht ihrem eigentlichen Retter, sondern dem offensichtlich älteren der Jungs an die
Brust geworfen, einem ebenfalls ziemlich robusten Kerl. Werner hieß er, mein Typ wäre er nicht
gewesen. Allerdings war sie blöd genug gewesen, sich sofort das nasse Ding über den Kopf zu
ziehen. Jetzt sah sie in ihrer unschuldigen Blöße eigentlich nur noch aus wie ein braves
Schulmädchen beim FKK-Urlaub im Familienkreis. Sie hatte ihr Wuschelköpfchen, ihm
zugewandt, an seiner rechten Schulter gebettet und ihre rechte Hand auf seine linke Hüfte
gelegt, aber obwohl ihr Ellenbogen dabei ganz leicht und wie zufällig sein Glied berührte, tat
sich dort nichts. Werner wirkte überhaupt wie die Ruhe selbst, aber ich glaube, das mag sie.
Blieb mir also der dritte Mann, Mark. Allerdings sowieso mein Favorit: Der Typ, der als erster
ins Wasser gesprungen war und -ein kleiner Stachel im Fleisch- zuerst Melanie herausgezogen
hatte. Er war bei näherem Hinsehen deutlich jünger als die beiden Anderen, vielleicht auch erst
so alt wie ich. Karin und Werner waren Azubi-Kollegen in einer in O. renommierten
Buchhandlung, Mark ging noch zur Schule, Werners kleiner Bruder. Bei ihm war es
absurderweise genau umgekehrt wie bei Bernie: Sein Körper war zwar durchaus muskulös, aber
eher zartgliedrig, ganz im Gegensatz zu seinem unglaublich großen Geschlechtsteil. Auch so
etwas hatte ich noch nie aus der Nähe gesehen. Irgendwo jenseits von erstem Erschrecken über
seine schiere Größe und die in seiner Disproportion zum Rest liegende unfreiwillige Komik
regte es mich allerdings schon auch zu durchaus unkeuschen Phantasien über seine eventuelle
Verwendung an, ganz besonders, als Mark mir beim Rückeneincremen so lange an den TangaSchleifchen herumfummelte, bis die drei knappen Stoffdreiecke an meiner Vorderfront nur noch
lose unter mir lagen. Als einzige halbwegs sittsam Angezogene unter lauter Nackedeis wäre ich
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mir allerdings auf die Dauer auch etwas komisch vorgekommen. Ich revanchierte mich, indem
ich mich dann bei ihm vielleicht doch etwas zu intensiv seinem Hinterteil widmete. Aus reiner
Fürsorge, schließlich ist das beim Sonnenbaden ein besonders empfindlicher Körperteil. Und
bei ihm auch ein besonders niedlicher: Es wäre wirklich schade gewesen, wenn ihm dort etwas
zugestoßen wäre. Ich spürte natürlich, daß er bei meiner Behandlung schwer mit seinen
Empfindungen zu kämpfen hatte. Vielleicht ist es ja nicht gerade fair, aber ich liebe es nun
einmal, meine Wirkung auf Männer zu testen. Jedenfalls wären wir jetzt wohl innerhalb von
Sekunden übereinander hergefallen, wenn wir miteinander allein gewesen wären.
Karin hatte einen anderen Vorschlag: Mensch-ärgere-dich-nicht! Die drei hatten doch
tatsächlich bei ihrer Picknick-Ausrüstung ein Spielbrett, Figuren und Würfel dabei und spielten
dies Spiel anscheinend öfter zusammen. Aber Wener hatte eine noch bessere Spielidee: Eine
Art Flirtspiel, ganz einfach zu erlernen. Hatte er neulich auf einer Party bei einer Freundin
kennengelernt, deren Namen er aber Karin auch auf drängendes Nachfragen hin nicht verraten
wollte. Wir mußten uns dazu in bunter Reihe im Kreis hinknien, Männlein und Weiblein
abwechselnd. Dann ging der Würfel um, und wer eine Sechs warf, durfte sich bei einer seiner
Sitznachbarinnen (beziehungsweise als Mädchen bei einem seiner Nachbarn) ein Küßchen
abholen. Bei welchem oder welcher von beiden, stand ihr oder ihm frei, allerdings mußte man
anschließend auf die andere Seite des oder der Erwählten wechseln und mit dem oder der dort
vorher Hockenden den Platz tauschen. So hätte man ständig wechselnde Nachbarn, und jeder
bekäme mal seine Chance. Es gab noch eine zweite Spielregel, aber die war nicht ganz
jugendfrei und müßte deshalb nicht unbedingt ernsthaft befolgt werden: Wenn zwei Spieler
direkt hintereinander beide eine Sechs werfen würden, dürften sie ungestört von den
Mitspielern für ein Viertelstündchen das Spiel unterbrechen und miteinander hinter dem
nächsten Busch verschwinden.
Mark war der Erste, der eine Sechs warf, und küßte: MICH! Ich war natürlich happy, hatte aber
eigentlich auch nichts anderes erwartet. Die nächste Sechs warf ich und küßte ihn, wen sonst,
natürlich schon etwas lasziver als er es gewagt hatte. Bei so etwas müssen ja immer wir
Mädchen die Grenze des Erlaubten definieren und zugleich durchblicken lassen, daß ein
wirklich tolkühner Mann sie ja vielleicht auch noch ein wenig überschreiten dürfte. So sind
eben die Spielregeln. Melanie küßte mit Vorliebe ihren Werner, wenn sie das Glück hatte, ihn
neben sich zu haben, und Bernie natürlich Karin. War es Zufall oder wohl teilweise auch die
Folge unserer wechselseitigen Küsse, jedenfalls hatte ich Mark eigentlich ständig an meiner
Seite, mal rechts, mal links. Ich hatte es mir jetzt zur Angewohnheit gemacht, meine durchaus
nicht mehr ganz jugendfreien Küsse, natürlich nur die mit Mark, mit einer richtigen Umarmung
zu verbinden, und dabei, immer noch auf Knien, meinen Bauch an seinem und an diesem
Riesending zwischen unseren Bäuchen zu reiben. Und mit zunehmender Dringlichkeit auf eine
Doppel-Sechs zu hoffen. Als die dann allerdings tatsächlich kam, war es zu spät: Es war ein
Gewitter aufgezogen, unsere Mitspieler hatten schon vorher mehr den Wolkenhimmel als den
Würfel im Auge gehabt und wohl gar nicht mehr mitgekriegt, daß es wenigstens nach den
Erwachsenen-Spielregeln jetzt eigentlich zwischen Mark und mir hätte ernst werden können.
Stattdessen herrschte hektische Aufbruchsstimmung. Bernie hatte angeboten, die drei Radler,
ihre Räder und das Gepäck mit uns in seinem Kombi zu verstauen, und statt eines
zeitraubenden Umwegs über die nächste Brücke hatte man beschlossen, das ganze Zeug mit
hocherhobenen Armen durch das Flüßchen zu tragen. Gerade noch vor dem ersten heftigen
Schauer wieder leidlich sittsam bekleidet, saßen wir schließlich eng zusammengequetscht im
Auto, aber irgendwie glücklich wie nach einem gemeinsam durchgestandenen Abenteuer. Ich
natürlich -selbstverständlich nur aus Platzmangel!- auf Marks Schoß. Ich flüsterte ihm ins Ohr,
wir müßten "das" natürlich nachholen, und er gab mir hoch einverstanden seine
Telefonnummer.
Mark, Karin, Werner und Melanie wurden nacheinander zuhause abgesetzt, die Mädchen
bekamen von Bernie noch ein Küßchen an der Haustür und Mark eins von mir. Ich war also als
Letzte dran und bat Bernie, mich lieber vor seiner Wohnung aussteigen zu lassen. Meine liebe
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Familie und besonders meine große Schwester mußten ja nicht unbedingt mitkriegen, daß ich
leichtsinniges Kind zu diesem Unhold ins Auto gestiegen war. Er benahm sich dann auch
tatsächlich entsprechend rüpelhaft: zog mich hinüber auf den Fahrersitz und auf seinen Schoß,
ging mir an die Wäsche und bedrängte mich mit Küssen. Zum Glück war es schon etwas
dunkel. Karin wäre ihm zwar sicher lieber gewesen, aber nun hatte er eben nur noch mich, und
irgendwie war ihm ja der ganze Tag aus dem Ruder gelaufen. Ich traute mich nicht recht, mich
zu wehren, weil das alles schon reichlich triebhaft wirkte und ich es nicht darauf ankommen
lassen wollte, wie er wohl auf Widerstand reagiert hätte. Ich fragte ihn also bloß betont sachlich,
ob er etwa auf kleine Mädchen stehen würde?
Sein Elan war augenblicklich gebremst. Prinzipiell schon, gab er zu. Für ihn gäbe es auf dieser
Welt nichts Schöneres als ein hübsches Mädchen in meinem Alter. Hätte ich mir schon gedacht,
weil sein kleiner Freund da unten so einen Riesenaufstand machte, konnte ich schon wieder
kichern. Vor allem weil sich die Sache mit dem Aufstand bei ihm schon wieder schlagartig
gelegt hatte und weil ich ja nun wohl doch nicht vergewaltigt werden sollte. Er meinte noch,
daß wohl viele Männer das so sähen, sich aber nicht getrauten, es sich einzugestehen. Aber er
wüßte natürlich auch selbst, daß er viel zu alt wäre für mich. Trotzdem bräche manchmal
einfach so eine Sehnsucht nach Zärtlichkeit bei ihm durch. Prinzipiell, meinte ich, jetzt selbst
nachdenklich geworden, könnte ich mich wohl auch mal in einen Fünfzigjährigen verlieben, und
Bernie wäre ja sogar noch deutlich jünger. Ich mußte dabei natürlich an den Vater von Peter
denken, den Goldschmied. Und so verrückte Sexphantasien hätte ich schließlich auch
manchmal. Zum Beispiel mal einen ganz unschuldigen kleinen Jungen zu verführen, mit
vierzehn oder fünfzehn vielleicht, am liebsten in einem rappelvollen Schulbus voller lärmender
und tobender Kids, die überhaupt nicht mitbekämen, was wir zwei da auf der letzten
Polsterbank vor dem Heckfenster trieben. Und falls doch, wäre es vielleicht sogar noch
aufregender. So etwas hatte ich mal auf Video in einem dieser blöden Schulmädchen-Reports
gesehen, die Schwager Mathias aus seiner Junggesellenzeit in die Ehe gerettet hatte und
manchmal als Inspiration beim Entwurf irgendeiner Einkaufspassage oder eines
Bürohochhauses benutzte.
Na ja, etwas älter wäre ja mein neuer Freund Mark schon, lächelte Bernie, inzwischen wieder
leidlich entspannt. Und der junge Mann neulich auf dem Balkon sowieso. Peter! Den hatte ich
ganz vergessen gehabt, und unsere belastenden Fotos auch. Ich sagte also Bernie, daß ich die
unbedingt wiederhaben müßte, und der hatte wohl nichts dagegen. Inzwischen hätte er ja viel
schönere von mir.
Ich ging also, wenn auch mit etwas weichen Knien, mit ihm hoch in seine Wohnung. Er führte
mich zunächst in seine Küche, anscheinend fast ausschließlich sein gewöhnlicher Aufenthalt,
jedenfalls stand dort neben Eßtischchen und Fernseher auch ein schmales ungemachtes Bett.
Ein Schampus aus einem ungespülten Wasserglas, den mir Bernie anbieten wollte, war nicht
unbedingt nach meinem Geschmack. Er wollte dann meine Fotos von nebenan holen und
konnte nicht verhindern, daß ich ihm neugierig folgte. Auch in diesem größeren seiner Räume,
sicher mal als Wohnzimmer gedacht, stand mittendrin eine große Liege, allerdings wohl kaum
zum Schlafen gedacht, elegant silbergrau bezogen und mit einem ganzen Haufen kleiner
schwarzer Kissen beladen. Hier sollten sich wohl seine Amateurmodelle räkeln, es handelte sich
offenbar um sein Privatstudio. Sonst gab es in dem Zimmer nur noch eine chinesisch
anmutende Spanische Wand, einen Thonet-Bugholzstuhl (sicher auch ein Fotorequisit) und ein
paar altweiße Flokatis auf dem Boden. Die Wände waren rundum mit verschiedenfarbigen
Stoffbahnen behängt, halb transparenten Hintergrundkulissen, die sich vor den Wänden dank
mehrläufigen Vorhangschienen unter der Decke hinter- und voreinander schieben ließen, auch
über die Eingangstür und vor das Fenster. Und hinter diesen Vorhängen waren die Wände
rundum ebenfalls fast raumhoch mit Leuchtkästen bestückt, in denen seine Diasammlung
steckte. Tausende von Dias. Es gab drei Kategorien von Fotos: Erstens die sattsam bekannten
heimlichen Teleschnappschüsse auf Nachbar-Balkons und offene Schlafzimmerfenster,
Liebespärchen am Waldrand, im Hauseingang oder im Auto, zweitens ein paar wohl tatsächlich
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für Modellagenturen gedachte Fotoserien von jungen Frauen, diese immerhin stets bekleidet
und höchstens mal topless, und dann den Löwenanteil: Junge Mädchen, zum Teil sehr junge.
Ein paar von ihnen erkannte ich vom Sehen her wieder, aus dem Supermarkt, von der Disco
oder aus irgendwelchen Boutiquen. Und alle waren sie schamlos pudelnackt und bemühten sich
um möglichst verführerische Posen.
Er hätte da ja wohl ein gewaltiges Problem, kam ich nicht umhin, in Bernies Richtung
anzumerken. Er gab das sofort zu: Den meisten Teenies hätte er wider besseres Wissen in
Aussicht gestellt, sie mit solchen Fotos bei irgendwelchen Agenturen unterzubringen, zum
Auftakt einer Weltkarriere beim Film oder wenigstens im Playboy. In Deutschland oder auch in
Amerika ginge das allerdings kaum, da würde zumindest das schriftliche Einverständnis der
Eltern verlangt, und bei Mädchen unter sechzehn liefe auch damit gar nichts. Aber in Holland,
Belgien oder Italien zum Beispiel ließe sich da unter der Hand schon etwas machen, erst recht
in Fernost. Diese Sauerei hatte ich mit meiner Bemerkung allerdings gar nicht gemeint, sondern
einfach seine offensichtliche Fixierung auf mehr oder weniger minderjährige Mädchen. Einmal
in Bekennerlaune, gab er zu, auch damit ein Problem zu haben. Bei erwachsenen Frauen hätte
er immer das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Es hatte da für ihn wohl auch
tatsächlich ein paar traumatische Erlebnisse gegeben. Ich selbst hätte ja vorhin auch von seinem
"kleinen Freund" gesprochen, sicher nicht böse gemeint, aber es hätte mal wieder gesessen,
wenn ich verstünde, was er meinte. Um ganz ehrlich zu sein, und jetzt käme es ja auf ein
Bekenntnis mehr auch nicht mehr an: Genau wegen dieses Handicaps häte er noch nie mit einer
Frau geschlafen. Noch nicht ein einziges Mal, mit dreiunddreißig Jahren. Natürlich wäre er auch
in Behandlung deswegen, bei einem Psychiater, Dr. Sommer. Den kannte ich, er wohnte nur ein
paar Ecken weiter. Meine Schwester Natalie hatte einmal durchblicken lassen, daß sie mit dem
früher mal etwas gehabt hätte, natürlich bevor sie Mathias kennengelernt hatte. So nebenher
wäre das bei ihr völlig unvorstellbar gewesen, da hatte sie einfach unumstößliche Grundsätze.
Dieser Dr. Sommer -wie der Kinderaufklärer aus der Bravo, mußte ich schon wieder kichernhatte Bernie also geraten, dann die Sache doch einfach mal mit so einem jungen Ding
durchzuziehen. Und sich um Gottes willen dabei kein schlechtes Gewissen einzureden, in dem
Alter wären die längst selbst scharf darauf. Wenn es da einmal geklappt hätte, wäre garantiert
der Knoten geplatzt, und Bernie könnte sich langsam auch an etwas passendere Altersklassen
herantasten. Wahrscheinlich hatte er recht. Ich mußte da, aus reiner Wißbegierde, unbedingt
mal mit dem Doktor reden. Vielleicht auch gleich über mein eigenes Sexualleben, und ob ich
mir da etwa in entgegengesetzter Richtung wie Bernie auch Sorgen machen müßte. Wenigstens
mein Balkon-Techtelmechtel mit Peter war dann aber zu meiner Beruhigung kein Problem
mehr. Es gab nur ein einziges Foto, auf dem überhaupt etwas zu erkennen war, und das durfte
Bernie schließlich sogar behalten: Es zeigte nur mich, vom Nabel aufwärts, der Rest und zum
Glück auch Peter zu meinen Füßen waren schon hinter der Geländerverkleidung verborgen. Ich
sah jetzt aber trotzdem zu, mich so schnell wie möglich aus Bernies Reich zu verabschieden.
Etwas unheimlich war er mir schon.
Wenn ich mir etwas vornehme, erledige ich es am liebsten immer sofort. So auch meinen
Besuch bei Dr. Sommer. Ich saß allerdings noch kaum in seinem Sprechzimmer, als ich es schon
wieder bereute. Er wollte mir nämlich einfach nicht abnehmen, daß ich allein aus
Hilfsbereitschaft gegenüber unserem gestörten Nachbarn Bernie in seine Praxis gekommen
wäre. Na ja, er hatte ja recht, ich machte mir ja schon auch um mich selbst ein paar Sorgen.
Aber so gründlich ausgefragt und schamlos bis in den letzten Seelenwinkel ausgeleuchtet zu
werden, ging mir doch gegen den Strich. Ich machte also erst einmal die Schotten dicht, merkte
aber sehr schnell, daß ich hier nicht so einfach wieder herauskäme, bevor ich meine Sorgen über
das Ausmaß meines Liebeslebens nicht gebeichtet hätte. Es ging dann eigentlich auch ganz
leicht, als ich bemerkte, daß der Doktor mir weder irgendwelche Vorhaltungen machen noch
sich auf meine Kosten amüsieren wollte, sondern mir einfach interessiert und mit
zustimmendem Lächeln zuhörte. Es wurde dann allerdings eine sehr lange Sitzung, keineswegs
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wie sonst beim Psychiater üblich nach 45 Minuten unterbrochen und auf den nächsten Termin
vertagt. Zum Schluß fragte er sogar auch noch von sich aus, was denn nun mit Bernie wäre.
Na ja, es ging natürlich um die Frage, ob ich auf Bernies offenherziges Geständnis seines
jungfräulichen Zustandes nicht eigentlich als barmherzige Samariterin reagieren und ihm eine
Nacht mit mir schenken müßte. Um ihn aus seiner Sackgasse zu befreien. Für mich käme es ja
schließlich auf einen Mann mehr oder weniger nicht mehr an. Dr. Sommer räumte ein, daß das
für Bernie sicher eine Chance wäre. Aber sozusagen als Opfergang sollte ich das auf keinen Fall
auf mich nehmen. Das könnte mir unter Umständen für immer den Spaß am Sex verderben.
Wenn ich mir da also nicht sicher wäre, müßte ich eben mit Bernie den Froschtest machen.
"Froschtest"?? - Der Doktor lächelte jetzt in sich hinein und fragte mich, ob er mir den etwa
vorführen müßte. Das wäre einfach das, was man eigentlich immer machen sollte, bevor man
sich mit irgend jemandem näher einließe. Als ich immer noch stumm fragende Blicke aussandte,
erhob er sich aus seinem Sessel und meinte, "na dann komm eben mal her!" - Nanu, jetzt duzte
er mich plötzlich! Ich folgte trotzdem seiner Aufforderung und stellte mich neugierig ihm
gegenüber auf. - "Jetzt machst du die Augen zu und stellst dir vor, ich wäre ein Frosch. Dann
nehme ich dich mal kurz in die Arme, und wenn dann die Vorstellung von einem Frosch nicht
auf der Stelle weg ist, solltest du am besten alles Weitere sofort vergessen!" - Leicht irritiert
schloß ich einfach wirklich die Augen. Und war noch mehr verblüfft, als er mich tatsächlich
ohne zu zögern an seine Brust zog und mir einen fetten Schmatz auf den Mund drückte. Oioi,
das waren ja seltsame Behandlungsmethoden! Aber irgendwie reizte es mich, das Spiel
mitzuspielen. Ich entriegelte also kaum merklich die Lippen und -unglaublich!- der Doktor stieß
sofort nach! Ich war augenblicklich in völlig anderen Sphären. Ein Frosch jedenfalls war er
definitiv nicht! Er hatte meine Signale wohl durchaus richtig verstanden, schob mich jedenfalls
hektisch und ziemlich linkisch rückwärts an die Wand, ging dabei irgendwie affenartig leicht in
die Knie und hatte unter meinem Kleid schon beide Hände an meinen Schenkeln. Ich überlegte
blitzartig, ob ich es mir erlauben könnte, der Wollust des Augenblicks zu folgen und mich
einfach von meinem Doktor vernaschen zu lassen. Auf Krankenkassenkosten. Aber dann hörte
ich mich zu meiner eigenen Überraschung sagen, für heute wäre es jetzt wohl genug, und wir
würden wohl noch einen weiteren Termin brauchen.
Eins war mir klar: Bei Bernie brauchte ich den Froschtest gar nicht erst anzuwenden. Er war
ziemlich glibberig und würde es sicher auch bleiben, basta. Seine Annäherungsversuche im Auto
vor seiner Haustür hatten mir doch eigentlich gereicht. Und den Zahn, ausgerechnet ich müßte
ihn von seinem sexuellen Minderwertigkeitsgefühl befreien, hatte mir der Doktor zum Glück
gezogen. Der Doktor selbst? Na ja, vielleicht später mal, wenn ich zuhause ausgezogen sein
würde. Die Sache hatte ja eigentlich nur den einen Haken, daß sich so etwas in unserem Viertel
schnell herumsprechen könnte, womöglich bis zu meiner großen Schwester oder sogar meiner
Mutter. Aber ich hatte ja noch ein Eisen im Feuer, bei dem ich mir meiner Gefühle nicht so
ganz sicher war: Den Goldschmied, Peters Vater. Meinen bis dato ältesten Verehrer.
Als er angerufen hatte, mein Keuschheitsgürtel wäre fertig und läge in seinem Atelier zur
Abholung bereit, ging ich mit der festen Absicht nach Münster, dieses Mal einen Knopf an die
Angelegenheit zu machen. Es fragte sich nur wie. Er hatte anscheinend auch bestimmte
Erwartungen an das, was passieren sollte, wenn auch bestimmt nur sehr tief im Unbewußten,
jedenfalls schickte er sofort seinen Lehrling heim und schloß die Werkstatt, obwohl es noch
nicht ganz Feierabend war. Dann holte er mit verschwörerischem Blick unser kleines
Geheimnis unter dem Ladentisch hervor. Es war wirklich wunderschön gearbeitet, eine reine
Freude, das schwere Metall durch die Hand gleiten zu lassen, es gegen das Licht zu halten, um
seine filigran durchbrochenen Verzierungen zu bewundern, oder seine zierlichen Scharniere und
das Schloß auszuprobieren. Und nachdem ich in meiner Phantasie mit seinem Schöpfer ja schon
viel weiter gegangen war, war es für mich keine große Sache mehr, mich einfach vor ihm
aufzubauen, mich an seinen Hals zu hängen und ihm einen feuchten Kuß auf die Lippen zu
drücken: Künstlers Lohn!
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Natürlich wurde es kein richtiger Kuß, weil sein Empfänger viel zu überrascht war. Weil
Männer in seinem Alter einfach keine Routine darin haben, sich von jungen Mädchen küssen zu
lassen. Damit allerdings wollte ich mich keineswegs zufriedengeben, ich mußte also wohl schon
schwereres Geschütz auffahren. Vielleicht sollte ich einfach das intime Stück Silberblech vor
seinen Augen anprobieren?
Ich bat ihn also, sich mal kurz zur Wand zu drehen, und zog mich blitzschnell aus. Komplett.
Dann schnell den Gürtel angelegt: Er paßte so perfekt wie bei Candida. Allerdings brachte ich
es nicht fertig, das alles entscheidende Schloß an meinem Steißbein fachgerecht zu schließen,
mußte also die rückwärtigen Haltebügel meiner Metallverkleidung mit beiden Händen
festhalten, während ich dem Künstler zurief, jetzt könnte er sein Werk bewundern. Er hatte
natürlich nicht damit gerechnet, daß ich mich ihm so unvollständig bedeckt präsentieren würde,
blieb jedenfalls erst einmal starr vor Schreck stehen. Also war es an mir, mich ihm zu nähern,
vorsichtig, damit dabei nicht etwa mein neues Spielzeug hinunterrutschte, also immer noch mit
beiden Händen auf den Pobacken und zur Wahrung des Gleichgewichts mit steil vorgereckter
Brust, wie man eben in derart verzwungener Haltung so daherwatschelt, und ihn kleinlaut zu
bitten, die Sache mit dem Schloß doch lieber in seine geschickteren Hände zu nehmen. Wir
standen uns jetzt also wieder Brust an Brust gegenüber, was weniger mich (ich spürte ja seinen
rauhen Sweater an meinen Nippeln) als vielmehr ihn doch recht spürbar beruhigte, weil jetzt
von meiner jugendlichen Blöße wenigstens nicht mehr so arg viel zu sehen war. Er legte darauf
tatsächlich seine Riesenpranken außen auf meine Hände (immer noch an meinem Po) und schob
sie sanft zur Seite, nicht ohne dabei den Halt meiner vorderen Silberschale im Griff zu behalten
und schließlich die Gefahr endgültig zu bannen, indem er hinten das Schloß einschnappen ließ.
Damit waren ja meine Hände frei, ich legte sie also ihm um die Hüften und bot ihm einfach
noch einmal meine Lippen. Und dieses Mal bestand er den Froschtest.
Nicht daß er so frech zugestoßen hätte wie Dr. Sommer, aber es war klar, daß er nicht
unberührt blieb. Und ich sowieso nicht. Er begann zaghaft, aber mit wachsender Begeisterung
meinen Rücken zu streicheln, nahm dann sogar ein wenig Abstand und traute sich mit
mittlerweile vor Rührung feuchten Augen auch den Rest meines Körpers zu betrachten. Um
sich gleich anschließend für seinen "Übergriff" zu entschuldigen. Was wir da eigentlich täten,
ich wäre doch so jung und zart und er könnte schließlich eher mein Vater sein! - Ja, als Vater
hätte ich so einen wie ihn schon auch ganz gern gehabt, versuchte ich ihm den Wind aus den
Segeln zu nehmen. Vielleicht deshalb, weil ich eigentlich keinen richtigen gehabt hätte. Aber
wahrscheinlich wären es doch keine so ganz lupenreinen Vater-Tochter-Gefühle zwischen uns,
sondern einfach, sagen wir mal, Sympathie. Und, zugegeben, gemischt mit einem Schuß
erotischer Anziehung. Aber dafür brauchten wir uns schließlich auch nicht zu schämen, so wäre
das eben manchmal zwischen Mann und Frau, vom lieben Gott persönlich so eingerichtet. Er
für seinen Teil hätte sich sowieso überhaupt nicht zu schämen, schließlich hätte ich es selbst so
gewollt und wäre ja auch kein Kind mehr. Und was andere Leute dazu zu bemerken hätten,
könnte uns völlig egal sein. Wir müßten mit unserer vielleicht etwas ungewöhnlichen Beziehung
zueinander schließlich nicht hausieren gehen. - In diesem Moment beschloß ich definitiv, ihn
bei nächster Gelegenheit tatsächlich zu verführen. Wenn ich nur gewußt hätte wie! Es ging
natürlich in erster Linie um eine Art Mutprobe und Selbstbestätigung. Daß ich mit meiner
Weiblichkeit auch einen wirklich gestandenen Mann aus dem Gleichgewicht bringen könnte.
Obwohl ich ihn irgendwie wirklich gern hatte. Aber das mußte einfach noch besser vorbereitet
werden, dieses Mal würde ich nur alles vermasseln, wenn ich zu schnell vorpreschen würde.
Und ein guter Anfang war ja gemacht.
Aber nachts, zurück in O., lag ich noch lange wach und überlegte, wie es weitergehen sollte.
Am nächsten Morgen, es war einer dieser verschlafenen Sonntagmorgen, ließ ich mir dann von
der Auskunft seine Privatnummer in Angelmodde geben und rief ihn einfach an. Jetzt hieß es
am Ball bleiben. Ob ich ihm meinen Traum erzählen dürfte? Also, ich hätte schon im Dunklen
gelegen, da wäre ganz leise die Tür aufgegangen, ein kurzer Lichtstrahl, und eine Gestalt hätte
sich hereingeschlichen. Ein Mann. Dann hätte ich Kleider rascheln gehört und nackte Füße auf
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dem Parkett. Meinen Ex-Freund (welchen eigentlich?) hätte ich im Verdacht gehabt, dem wäre
so etwas zuzutrauen. Er hätte meine Kuscheldecke leicht angehoben und sich vorsichtig neben
mir ein wenig Platz verschafft, um mich gleich darauf bäuchlings auf seine Brust zu ziehen.
Tatsächlich ein nackter Mann, aber ziemlich stachlig und schon deshalb ganz sicher nicht mein
Ex. Und als er mir das Nachthemd über den Po geschoben und begonnen hätte, mich dort zu
streicheln, hätte ich ihn natürlich sofort erkannt: Niemand anderen als meinen persönlichen
Goldschmied! - Ach Kind, meinte dieser, was ich aber auch für Sachen träumte! - Wenn er mich
noch ein einziges Mal als "Kind" anreden würde, würde ich ihn nur noch "Opa" nennen! Also,
mein Traum-Mann hätte entgegen seinem vielversprechenden Einstieg leider keine Anstalten
gemacht, mich auch nur zu küssen, was ich ja wohl hätte erwarten dürfen. Und als ich es selbst
versucht hätte, hätte er nur ungnädig den Kopf weggedreht. Als ich dann aber ziemlich
enttäuscht ganz von ihm gelassen und ihm den Rücken gezeigt, sogar ein wenig geheult hätte,
hätte er das wohl auch wieder nicht mit ansehen können, mir sogar mein Nachthemd -diesmal
gegen meinen hinhaltenden Widerstand- vollends über den Kopf gezogen und mich von oben
bis unten mit Küssen bedeckt. Bis wirklich ziemlich tief unten. Um sich wie ein ertappter
Sünder sofort anschließend wegzustehlen, nicht einmal mehr seine Kleider wieder aufzunehmen
und so schnell zu verschwinden, wie er gekommen war.
Mein Gesprächspartner wurde ziemlich wortkarg, und ich wußte instinktiv, daß ich ihm da jetzt
ein ziemlich süßes Gift ins Herz gepflanzt hatte, und daß er sicher noch manche Nacht lang
meinen Traum würde zuende träumen müssen. Ich fühlte mich fast verpflichtet, mich für diese
Intimität zu entschuldigen: Schließlich wäre ich doch neulich (gestern war das!) so etwas wie
seine Freundin geworden und er mein väterlicher Freund, und da könnte man doch miteinander
auch schon einmal über solche Dinge reden. Ob er denn nie solche Träume hätte? - Den
"väterlichen Freund" fand er wohl fast so schlimm wie den "Opa". Dann sollte ich doch lieber
Lambert zu ihm sagen. - ">Lieber Lambert< oder doch lieber >lieber Onkel Lambert<?", zog
ich ihn noch einmal unbarmherzig auf. Ich fand, der Name paßte zu ihm; und ob er eigentlich
tatsächlich ziemlich stark behaart wäre? - Zugegeben, eine etwas seltsame Frage, aber durchaus
zu erklären: Er hatte mich nämlich an die Lambertikirche erinnert, an ihren Turm am
Prinzipalmarkt in Münster, rank und schlank, auch schon ein bißchen grau und verwittert. Aber
eben über und über von oben bis unten mit kräuseligem gotischem Maßwerk verziert. Jedenfalls
der Mann in meinem Traum hatte sich genau so angefühlt. Bei den jungen Männern, die ich bis
dahin gehabt hatte, hätte mich so etwas eher gestört, aber bei einem so ausgewachsenen
Exemplar von Mann wie Lambert fand ich es irgendwie passend.
Ob er eigentlich nie daran gedacht hätte, wieder zu heiraten? (Ich wußte ja von seinem Sohn
Peter, daß seine Frau sich von ihm vor ein paar Jahren hatte scheiden lassen.) - Doch, schon,
aber als er sich mal unter Frauen in seinem Alter umgesehen hätte, wäre ihm klar geworden, daß
er mit denen niemals mehr zurechtkommen würde. Dann lieber eine Zwanzigjährige, oder gar
keine! Ach, manchmal wünschte er sich schon, er wäre zwanzig Jahre jünger! - Dann sollte er
doch einfach mich nehmen! - Da käme er sich dann wieder vor wie ein Kinderschänder! Genau, Lambert, der Lustgreis! Und wenn er mich stattdessen adoptieren würde? - Da hätte
sicher meine Mutter etwas dagegen! - Dann müßte er eben die heiraten und kriegte mich als
Gratisbeilage! Ach nein, das dann doch lieber nicht, das müßte ich zurücknehmen. Er als Hahn
im Korb, zerrieben zwischen zwei Frauen, das könnte ich nicht verantworten. Aber könnte er
mich nicht einfach als Lehrling einstellen, und ich könnte endlich zuhause ausziehen? Ein
kleines Zimmer für mich neben der Werkstatt könnte er doch sicher abzweigen, und wir
könnten uns jeden Tag sehen! Goldschmiedin wäre ich auch schon ganz gern, ein schöner
Beruf, fände ich ... - "Ach, Kind..." - Da war es schon wieder, das Kind! - Dann müßte er mit
dem Heiraten eben warten, bis er zwanzig Jahre jünger und ich drei Jahre älter wäre! - Die Idee
fand er nun ausnahmsweise nicht schlecht. - Ob ich das als Verlobung auffassen dürfte? - "Klar,
wir verloben uns. Aber wie sage ich das meiner alten Mutter? Wir sollten sie wohl nicht allzu
sehr schockieren, sie hat es am Herzen! Und ich kenne ja nicht einmal deinen Namen!" "Sweety!" - "Sweety? Klingt eher wie ein Scherzartikel. Ich fürchte, ich werde ausgelacht, wenn
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ich bekanntgebe, meine Verlobte hieße Sweety und würde demnächst siebzehn. Wie heißt du
denn richtig?" - "Swetlana. Aber den Namen finde ich blöd." - Wie wäre es denn mit einem
Kompromiß? Lana?" - Das war o.k. . Aber der Name verfolgt mich bis heute.
Mein nächster Schlag kam zwei Wochen später, am 20. August. Ich weiß das noch so genau,
weil es der Tag vor meinem 17. Geburtstag war. Ich hatte mir die ganze Zeit überlegt, womit außer mit meinem Liebreiz- ich Lambert imponieren könnte. Schließlich war ich darauf
gekommen, ihn mit der Idee zu einem weiteren silbernen Körperschmuck zu überraschen,
einem Pendant zu meinem bzw. seinem Keuschheitsgürtel: Einer Art Brustpanzer. Nach recht
umfangreichen Versuchen hatte ich aus Pappe, alufolien-kaschiert, zwei (durchaus
entsprechend meinen Brüsten) eher kleine Abdeckschalen gebastelt, herzförmig und im
Durchmesser vielleicht sechs Zentimeter groß. Die Spitzen der Herzchen sollten schräg nach
oben und nach innen zeigen, die Einkerbungen entsprechend schräg unten und außen sitzen. An
den Spitzen, sozusagen in ihrer Fortsetzung, hatte ich einen ziemlich starren Draht befestigt,
der von dem einen Herz, unter dem Schlüsselbeingrübchen gekreuzt, einmal um meinen Hals
herum zu dem anderen führen sollte. Natürlich müßte das Ding in seiner endgültigen Form in
Silber ausgeführt werden. Ein paar Ziselierungen hatte ich auf meinem Modell mit schwarzem
Marker angedeutet, dazu an den erhabensten Punkten beider Schalen je eine Glasperle
montiert. Echte, vielleicht graue, wären natürlich besser, oder vielleicht zwei 24-karätige
Rubine. Mein Entwurf erwies sich aufgrund der Wölbung der Brustschalen und der Schwerkraft
trotz des Fehlens einer unteren Fixierung als erstaunlich unverrückbar, solange ich mich
aufrecht hielt. Nur wenn ich mich vorbeugte, hoben sich die Sichtblenden etwas von ihrer Basis
ab und gewährten gewisse Einblicke. Das könte man später beim Flirten, fein dosiert, sicher
gezielt als Reizverstärkung einsetzen. Ich war sehr stolz auf mein Werk.
Jetzt mußte ich bloß noch ganz schnell knackig braun werden: Auf blasser Haut sieht ja Silber
einfach unmöglich aus. Nachdem das Wetter das so schnell nicht hergab, mußte eben
Bräunungscreme eingesetzt werden. Dann aber kündigte ich Lambert gleich meinen nächsten
Besuch an, ich hätte nämlich eine Überraschung für ihn. Diesmal verabredeten wir uns in
seinem Häuschen in Angelmodde, einem Villenvorort in Münsters Südosten. Ich kam natürlich,
ganz standesgemäß, wieder im Taxi.
Selbstverständlich hatte ich mir einen Schlachtplan zurechtgelegt: Ich wollte Lambert zunächst
in allerlei Gesprächsthemen verwickeln, etwa über sein Verhältnis zur Weiberwelt, ob da
eigentlich überhaupt noch etwas liefe, seit er geschieden war, oder über meine Berufsaussichten
als Goldschmiedin, ob ich da wohl begabt wäre, und wie man das herausfinden könnte,
vielleicht in einem Schnupperpraktikum? Es würde eben einfach darum gehen, Zeit zu
gewinnen. Irgendwann, möglichst schon etwas später am Abend, würde er sich dann sicher
neugierig nach der Überraschung erkundigen, die ich für ihn hätte, und ich würde ihm meine
Bastelarbeit vorstellen. Am lebenden Objekt natürlich. Ich hatte ja schon gemerkt, daß er für
die visuellen und taktilen Reize meiner weiblichen Jugend nicht ganz unempfänglich war. Sicher
gäbe es auch über Detaillösungen und die technische Durchführbarkeit meines Entwurfes noch
einiges zu diskutieren, und schließlich gälte es natürlich hautnah Maß zu nehmen. Irgendwann
mitten in der Arbeit würde ich auf meine Uhr schauen und erschreckt feststellen, daß ich
meinen letzten Zug zurück nach O. nicht mehr bekommen würde. Ich müßte also wohl oder
übel bei ihm übernachten. Nur keinen großen Aufwand, vielleicht einfach irgendwo auf einer
Luftmatratze, so etwas wäre für junge Leute wie mich nichts Besonderes. Jetzt könnte es also
richtig gemütlich werden, vielleicht käme eine Flasche Wein auf den Tisch. Und irgendwann
kurz nach Mitternacht und vor dem Schlafengehen würde ich ihm eröffnen, heute hätte ich jetzt
Geburtstag, meinen siebzehnten. Ob ich mir nicht etwas wünschen dürfte von ihm. Er würde
natürlich an meine Brustzier denken und leichtsinnig ja sagen. Und dann käme mein Hammer:
Ob wir nicht diese Nacht zusammenkuscheln könnten. Zur Feier unserer "Verlobung". Er
müßte ja nicht richtig mit mir schlafen, wenn er da noch Skrupel hätte. Aber mich in die Arme
nehmen und in den Schlaf streicheln. Und mich bis zum ersten Hahnenschrei nicht mehr
loslassen.
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Tatsächlich kam dann aber alles etwas anders. Ich hatte mich kaum in Bodennähe in einen
seiner grellgelben Siebziger-Jahre-Knautschsäcke gleiten lassen und zur Schonung meiner
Schienbeine unauffällig die Glaskante seines nicht ganz stilechten Cocktailtischchens etwas auf
Distanz gebracht, als Lambert auch schon meine angekündigte Überraschung sehen wollte. Was
sollte ich machen. Ich kramte also mein Silberpapier-Modell aus der Schultasche hervor, machte
mich oben herum frei und legte das gute Stück an. Er kapierte sofort, wofür es gut sein sollte.
Aber natürlich mußte er ausprobieren, wie es funktionierte: Es von der Unterlage abheben und
wieder daraufgleiten lassen, um schließlich erstaunt festzustellen, daß es ganz allein und wie
von Geisterhand geführt immer seine richtige Position wiederfand. Er tänzelte jetzt ziemlich
aufgeregt um mich herum und murmelte zwischendurch anerkennend "nicht schlecht", wenn er
die Geschichte auf- oder zugeklappt auch einmal aus seitlicher Perspektive begutachtete.
Wobei nicht ganz klar wurde, ob er mich persönlich oder mein Schmuckstück meinte. Ziemlich
plötzlich verschwand er dann mal mit einem "ich hab´s" im Nebenraum, um triumphierend mit
einem Lippenstift zurückzukehren. Den hätte seine Schwiegertochter Candida hier vergessen.
Und dann begann er zielgerichtet, die Kontur meiner Verkleidung auf der Haut
nachzuzeichnen. Ich hatte mich jetzt ziemlich lasziv auf dem Sesselsack ausgestreckt, den Kopf
im Nacken und die Augen geschlossen, um seine Berührungen zu genießen, besonders nachdem
er mir ganz vorsichtig die Pappteile über den Kopf gehoben hatte, um sich ganz unbehindert
den Formen widmen zu können, denen er später mit seiner Silberarbeit nachzufahren haben
würde. Allerdings verlor die Übung für mein Gefühl zusehends den Charakter eines
handwerklichen Maßnehmens, und ihm ging es anscheinend ähnlich. Ich wußte nicht mehr so
recht wohin mit meinen Händen, und als ich sie schließlich an meinem Hosengürtel
verkrampfte und nervös an der Schnalle herumfummelte, verstand er das wohl als
Hilfeersuchen und zog mir kurzerhand die Hose aus.
Und dann kam er über mich. Und wie er kam! Er hatte nichts verlernt in den Jahren seiner
Abstinenz. Sehr fordernd, aber keineswegs unsensibel. Er reagierte augenblicklich auf jede
meiner Zuckungen, jeden Seufzer, jedes Ach! und Oh!, indem er seine Leidenschaft mal leicht
zurücknahm, mal noch etwas steigerte, um uns schließlich in einem grandiosen Finale zu
vereinigen. Es war, bei aller Ähnlichkeit, ganz anders als mit Peter, seinem Sohn. Bei Peter
hätte man sagen können, wir hatten Sex miteinander. Beim Papa eher: Er hatte Sex mit mir. Ich
mußte, oder durfte, fast nichts dazutun. Und erst als er mich mit einem leicht verlegenen
Lächeln in sein Bett trug, die Rolläden herunterließ und sofort das Licht löschte, kamen wir
noch ein wenig zum Schmusen.
Wir brauchten in den folgenden Wochen noch mehrere Anproben, bis sein Prototyp genauso
perfekt saß wie mein Modell. Erst hatte er beim Treiben der Silberschalen die erforderliche
Wölbung unterschätzt, obwohl er ständig mit Zollstöcken und eklig spitzkantigen Schieblehren
um mich herumsprang: Die Teile mußten eben am Rand auf der Basis aufliegen und nicht etwa
weiter oben, an den Nippeln sogar ein paar Millimeter Abstand lassen, wenn sie nicht
verrutschen sollten. Dann erwies sich der verwendete Silberdraht für die Schleife um den Hals
herum als zu leicht verformbar. Wir mußten auf einen hochelastischen Stahldraht umsteigen,
der anschließend auch noch aufwendig galvanisch versilbert werden mußte. Für die Spitzen
konnten wir uns tatsächlich schnell auf die grauen Perlen einigen, die mir ja auch schon
vorgeschwebt hatten. Und zwar in gekonnt raffiniertem Understatement auf ziemlich kleine, die
dann auch einfach niedlich aussahen. Und zum guten Schluß gelang es Lambert beim Anbringen
der Punzungen und durchbrochenen Ziselierungen, eine der Schalen so zu verhunzen, so daß
sie noch einmal ganz von vorn neu getrieben werden mußte. Inzwischen endete ganz
selbstverständlich jede unserer Sitzungen in seinem Bett, und das jetzt sogar bei offenen
Rolläden.
Seine eigentliche Bewährungsprobe bestand mein Silberschmuck -beide Teile, oberhalb wie
unterhalb der Gürtellinie- allerdings erst ein paar Monate später im Fasching. Bei der legendären
Akademiefête, zu der mich Peter und Candida mitgenommen hatten, hatte ich mir dazu einfach
noch einen hüftlangen Poncho aus Gardinentüll genäht, was ja eigentlich nicht besonders
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originell war. Candidas buntes Patchwork-Kostüm war wesentlich origineller, und manche
anderen Mädchen sahen in ihrem gewagten Outfit im Vergleich zu mir wirklich ziemlich sexy
aus. Trotzdem kam ich in die engere Wahl, als gegen Morgen die drei schönsten Kostüme -oder
ging es eigentlich um die drei begehrenswertesten Mädchen?- versteigert werden sollten. Halb
wohltätig, halb pseudopolitisch, zugunsten irgendwelcher Waisenkinder in Nicaragua, wenn ich
mich richtig erinnere. Ich stellte mich zunächst ziemlich bockig und stimmte meiner Kandidatur
schließlich erst zu, als mir zugestanden wurde, daß anschließend auch noch drei Männer
versteigert würden. Ich hatte nämlich in dem silbernen Jugendstil-Zigarettenetui, das ich bei
solchen festlichen Gelegenheiten als Handtäschchen benutzte, vorsorglich ein paar Hunderter
deponiert. Selbstverständlich aus dem Verkauf der überzähligen Bewerber aus Melanies und
meiner Studentenkartei. Ersteigert wurde ich zu meiner Überraschung von Peters BildhauerProf, einem ziemlich smarten und verdammt gutaussehenden Enddreißiger, entsprechend
arrogant wirkend. Einem unter Kunstkennern nicht ganz Unbekannten. Es war klar, daß ich das
nicht einfach so hinnehmen konnte. Ich ließ also meine ursprüngliche Absicht fallen, mir einen
süßen Zwanziger zu kaufen, der mich die ganze Zeit angehimmelt, aber nie angesprochen hatte,
und ersteigerte mir aus reiner Revanche eben diesen Prof, für fünfhundert Mark. Später wollte
er dann von mir wissen, was wir nun eigentlich miteinander anfangen sollten, wo wir uns doch
gegenseitig ersteigert hätten. Das würden wir wohl in aller Ruhe ausdiskutieren müssen, gab ich
ihm zur Antwort, und ob wir dazu nicht zu ihm könnten. Und dort haben wir es dann eben
ausdiskutiert. Den Schlüssel für unten herum hatte ich ja zum Glück dabei.
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7. alles Aus
So ein Mist! Andy, mein lieber Andy, hat hier in meinem Computer herumgeschnüffelt. Und
diese Datei entdeckt, obwohl ich sie doch so gut versteckt hatte, hinter der Steuererklärung für
1991. Jetzt verlangt er, daß ich dies alles lösche. So etwas Geschmackloses hätte er bis dato nur
alten Männern zugetraut, jenseits von Gut und Böse. Noch dazu alles erstunken und erlogen. Ja,
wäre es ihm etwa lieber gewesen, wenn ich ihn wirklich wiedererkennbar abgebildet hätte? In
einem Punkt hat er ja Recht: Eigentlich sollte dies eine Art Roman werden und auf keinen Fall
ein Tagebuch. Allerdings habe ich mir bisher nie Gedanken darüber gemacht, wie die
Geschichte eigentlich kompositorisch plausibel auf ein Ende zuzuführen wäre. Irgendwie nimmt
mir Andy wenigstens das jetzt ab.
Hatte ich eigentlich schon erwähnt, daß er und ich letzten Sommer geheiratet haben? Na ja, ein
Pillenunfall. Kann schließlich auch hochintelligenten Frauen passieren. Und als Vater, kann ich
mir vorstellen, ist er ja vielleicht wirklich ganz passabel. Ich werde mich also wohl einfach
fügen. Die Sache sähe sicher anders aus, wenn ich eine wirklich zündende Idee hätte für den
vorläufigen Abschluß dieser Geschichte. Auf alle Fälle gehe ich noch bei Melanie vorbei. Deren
neuer Gustl hat so eine Maschine, mit der man solche Sachen auf CDs brennen kann. Falls ich
es mir später doch noch einmal anders überlegen sollte.
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8. Bibliographische Notiz
Dieses Buch wurde vom 17.02. bis 07.12.2000 (vermutlich als eines der ersten in deutscher
Sprache verfaßten überhaupt) zunächst komplett im Internet veröffentlicht. In 94 Folgen. Das
Forum dazu bot der “loop” (www.imloop.de), ursprünglich von Sven Lager (“Phosphor”) und
Elke Naters (“Königinnen”, “Lügen”) als Gästeseite ihrer Netzkunst- und Literatur-Plattform
“pool” (www.ampool.de) gegründet, inzwischen unter Webmaster Mario Lorenz als eine Art
Amateurabteilung des “pool” verselbständigt. Allen Genannten gilt mein Dank. Zu finden ist
die Netzversion nach wie vor im “loop”-Archiv (s.o.), und zwar mit Einträgen vom
17.02.00, 18.02.00, 20.02.00, 21.02.00, 22.02.00, 23.02.00, 24.02.00, 25.02.00, 28.02.00,
29.02.00, 01.03.00, 22.03.00, 23.03.00, 24.03.00, 27.03.00, 28.03.00, 29.03.00, 30.03.00,
31.03.00, 03.04.00, 05.04.00, 06.04.00, 07.04.00, 10.04.00, 11.04.00, 12.04.00, 13.04.00,
14.04.00, 17.04.00, 18.04.00, 20.04.00, 26.04.00, 27.04.00, 28.04.00, 23.05.00, 24.05.00,
06.06.00, 07.06.00, 08.06.00, 09.06.00, 13.06.00, 14.06.00, 16.06.00, 19.06.00, 20.06.00,
21.06.00, 23.06.00, 27.06.00, 28.06.00, 29.06.00, 17.07.00, 19.07.00, 20.07.00, 21.07.00,
25.07.00, 26.07.00, 27.07.00, 28.07.00, 31.07.00, 01.08.00, 02.08.00, 03.08.00, 04.08.00,
07.08.00, 08.08.00, 09.08.00, 07.09.00, 08.09.00, 11.09.00, 12.09.00, 14.09.00, 15.09.00,
19.09.00, 20.09.00, 21.09.00, 22.09.00, 26.09.00, 27.09.00, 28.09.00, 29.09.00, 04.10.00,
05.10.00, 06.10.00, 14.11.00, 15.11.00, 17.11.00, 20.11.00, 21.11.00, 22.11.00, 24.11.00,
01.12.00, 06.12.00 und 2x am 07.12.00.
Eine unvollständige Rohfassung war zuvor in “PerPlex” (Zeitschrift für Kunst, Kommunikation
und Kwatsch, Tübingen) erschienen, ebenfalls in Fortsetzungen (Hefte Nr. 197-210), unter der
Ägide von “Q-Tips” Andrejas Peruzzi-Schnell. Auch ihm mein Dank.
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