James Owen - H-Soz-Kult

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James Owen - H-Soz-Kult
James Owen: Labour and the Caucus
Owen, James: Labour and the Caucus. Working
Class Radicalism and Organised Liberalism in
England, 1868–1888. Liverpool: Liverpool University Press 2014. ISBN: 978-1-84631-944-0;
256 S.
Rezensiert von: Detlev Mares, Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt
Manche Studie beantwortet eine Teilfrage der
Geschichte so überzeugend, dass sich das historische Gesamtbild kaum noch erklären lässt.
Dieses Kunststück ist James Owen mit seiner Darstellung gelungen: Er erläutert, warum es in den zwanzig Jahren nach der Ausweitung des Wahlrechts auf die städtische
Arbeiterschaft (1867) in Großbritannien nicht
zur Ausbildung einer eigenständigen Arbeiterpartei kam, sondern die politische Arbeiterbewegung sich an der Liberal Party orientierte. Seine Ausführungen sind dermaßen
schlüssig, dass sie es am Ende kaum noch
nachvollziehbar erscheinen lassen, wie es jemals zur Gründung einer eigenständigen Arbeiterpartei kommen konnte.
Die herkömmliche Arbeiterhistoriographie
hat damit wenig Probleme: Sie beschreibt für
die Zeit ab 1868 einen allmählichen Frustrationsprozess, in dessen Verlauf die Hoffnung
der Arbeiter, ihre „Klasse“ als Teil der Fraktion der Liberalen im Parlament repräsentiert
zu sehen, enttäuscht wurde. Vertreter der Unterschichten stießen nach dieser Lesart in den
einzelnen Wahlkreisen oft schon bei der Kandidatenkür auf Widerstände durch den lokalen Parteiapparat, so dass nur in Ausnahmefällen (so in zwei Fällen in Bergbaudistrikten
in der Parlamentswahl 1874) Arbeitern der
Einzug ins Unterhaus gelang. Als dem Arbeiterführer Keir Hardie 1888 bei einer Nachwahl im schottischen Mid-Lanark wie so vielen Arbeiterkandidaten zuvor wegen Widerständen im lokalen liberalen Establishment
der Einzug ins Unterhaus versagt blieb, war
das Maß voll: Die Niederlage erschien als
Beleg für die fehlende Bereitschaft der Liberalen, Arbeiterkandidaturen jenseits rhetorischer Floskeln zu unterstützen. Hardie rief eine Independent Labour Party ins Leben, die
zu einer Keimzelle der späteren Labour Party
wurde.
Hardie und seine Unterstützer machten
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in ihrer Kritik an der Liberal Party vor
allem einen Übeltäter für die Verhinderung von Arbeiterkandidaturen verantwortlich: das „Caucus-System“. Darunter verstanden sie die von lokalen liberalen Eliten gesteuerten Parteiapparate, die mit Tricks und
Raffinessen eigene Kandidaten gegen die Interessen der Mehrheit der Wähler eines Wahlkreises durchzusetzen wussten. Ursprünglich
zur Sicherung liberaler Wahlkreismehrheiten
gegen die konservative Konkurrenz geschaffen, hatte sich der Caucus zu einem Instrument zur Verhinderung der Arbeiterrepräsentation entwickelt.
Mit diesem Bild des Caucus räumt Owen
energisch auf. Er argumentiert, die Attacken
auf den Caucus seien in erster Linie ein rhetorisches Mittel der jungen Labour Party gewesen, um die Trennung von den Liberalen
zu forcieren und zu legitimieren. Durch die
Angriffe auf den Caucus wurde nach dieser Lesart ein klarer Bruch mit der Vergangenheit inszeniert, der der neuen Partei einen motivierenden Start in die Eigenständigkeit erlaubte. Historikerinnen und Historiker, die eine unaufhaltbare Ablösung der Arbeiterschaft von der Liberal Party beschreiben, sitzen nach Owen der taktisch motivierten Selbstdarstellung der frühen LabourProtagonisten auf. In seiner auf die Untersuchung von vier Wahlkreisen (Birmingham,
Nottingham, Newcastle, Sheffield) gestützten, chronologisch Themenschwerpunkte setzenden Studie zeigt er auf, dass das Verhältnis
zwischen Arbeiterbewegung und Liberal Party vielgestaltiger war, als es das herkömmliche Bild vermuten lassen würde. Es gab keine teleologische Entwicklungslinie, sondern
lokal unterschiedlich verlaufende Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Akteuren.
Allerorten stößt Owen auf Kontinuitäten in
den Argumentationsmustern, die gegen eine
allmähliche Verschlechterung des Verhältnisses von Arbeitern und Liberalen sprechen.
Bereits nach den für Arbeiterkandidaten erfolglos verlaufenen Wahlen 1868 und bei den
verschiedenen Organisationsansätzen der Arbeiterrepräsentation in den Folgejahren findet
sich eine Rhetorik der Kritik an den lokalen
Parteiapparaten, die bis in die Formulierungen hinein Keir Hardies Vorwürfen aus dem
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Jahr 1888 entspricht. Diese brachten somit keine neue Erfahrung der späten 1880er Jahre
zum Ausdruck, sondern wiederholten gängige Klagen. Den Caucus-Begriff übernahm
man in den 1870er Jahren – sowohl für die organisatorischen Neuansätze innerhalb des liberalen Wahlkreismanagements als auch für
die Vorbehalte dagegen – aus den USA, wobei
die Kritiker meist eine amerikanisierte „political machine“ gegen die gute alte britische Tradition stellten.
Auch bei der Untersuchung ländlicher Arbeiterorganisationen und der kurzlebigen republikanischen Bewegung der frühen 1870er
Jahre fördert Owen zwar einen „sense of separateness“ (S. 77) zutage, aber dieser ging
einher mit einer „cross-organisational activity“ (S. 61) zwischen politischen Gruppierungen von Liberalen und Arbeiterbewegung.
Diese Kooperationen bestanden trotz so mancher aufgebauschter Konfrontationsrhetorik
oft langfristig fort. So war selbst in den 1880er
Jahren nicht ganz klar, was eine eigenständige Arbeiterpartei jenseits der Liberal Party
eigentlich bedeuten sollte. Für manche Protagonisten existierte eine solche „Partei“ bereits innerhalb der liberalen Fraktion durch
die (wenigen) Arbeiter, die den Einzug ins
Parlament geschafft hatten; manche rechneten auch bürgerliche Verfechter von Arbeiterinteressen zur Arbeiterpartei, wieder andere
beharrten darauf, nur Personen aus der Arbeiterklasse selbst könnten eine solche Partei bilden. Zusätzlich unübersichtlich wurden die Konflikt- und Überschneidungslinien
zwischen Liberalen und Arbeiterbewegung
durch die Irland-Problematik: Manche englischen Arbeiter sahen sich gemeinsam mit
den Iren im Kampf gegen die herrschende
Aristokratie, andere wandten sich als Verteidiger des Empire gegen die irischen Forderungen nach mehr Autonomie. Selbst explizit
als sozialistisch auftretende Arbeiterkandidaten orientierten sich – wie Owen am Beispiel
einer Parlamentskandidatur von John Burns
in Nottingham zeigt – stark an den lokalen
Gegebenheiten, die oft eingespielte, bisweilen religiös untermauerte Kooperationsmechanismen zwischen Liberalen und Arbeiterschaft aufwiesen. Entgegen der marxistischen
Interpretationslinie argumentiert Owen, dass
dies keineswegs Ausdruck eines mangeln-
den Klassenbewusstseins der (in diesem Fall:
Berg-)Arbeiter war – „quite the opposite: Harmonious relations between the miners and local Liberalism and employers reflected an assertion of equality, not subservience“ (S. 185).
Für die Arbeiter sei es darum gegangen, einen
„true liberalism“ gegen den Parteiapparat zu
formulieren, wo dieser die Arbeiterrepräsentation behinderte.
Statt einer grundlegenden Ablehnung gegenüber Arbeiterkandidaten betont Owen
immer wieder die jeweiligen lokalen Voraussetzungen, die das Verhältnis zwischen Arbeitern und Liberalen als Kaleidoskop spezifischer Konfigurationen statt einer klaren ideologischen Abgrenzung erscheinen lassen. Gerade wenn neben den Parlamentswahlen weitere Erfahrungen mit Wahlkämpfen, zum Beispiel bei der Zusammensetzung der School
Boards, einbezogen werden, ergibt sich ein
ganzes Bündel an möglichen Ursachen für
das Scheitern von Arbeiterkandidaten, so
„lack of finance, localism, working-class Conservatism and, more broadly, working-class
apathy towards direct labour representation“
(S. 50).
Mit dem Aufzeigen des Kooperationspotentials von Liberalen und Arbeiterbewegung
steht Owen in der Tradition einer seit den
1990er Jahren als „Revisionisten“ auftretenden Historikerriege, die die gesellschaftliche
und politische Integrationskraft von Liberalismus und Liberal Party nach 1867 herausstellt. Owens Ideen sind daher nicht immer
so neu, wie er suggeriert – so sind unter anderem die ins Leere laufenden Bestrebungen
um einen „wahren Liberalismus“ bereits Gegenstand historischer Analyse gewesen. Wo
Owens Studie mit wenigen ausblickenden
Sätzen abbricht, müsste die Forschung ansetzen, um den trotz aller Kooperation mit den
Liberalen einsetzenden Erfolg der eigenständigen Labour Party zu erklären. Owens Ergebnisse weisen somit über die Markierungen
von 1868 und 1888 hinaus und verlangen nach
einer neuen Vor- und Entstehungsgeschichte
der Labour Party. Dabei wäre auch die Rolle des Klassenbegriffs als Element einer identitätsstiftenden Mobilisierungsrhetorik näher
zu untersuchen – gerade diesen Begriff verwendet Owen, der ansonsten sorgfältig den
Konstruktcharakter politischer Sprache be-
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James Owen: Labour and the Caucus
rücksichtigt, oft seltsam „essentialistisch“; die
„Arbeiterklasse“ erscheint stellenweise wie
ein selbstverständlicher historischer Akteur
gegenüber den Liberalen, statt dass der Begriff durchgehend auf seine strategische Ausgestaltung in den unterschiedlichen politischen Kontexten hin untersucht würde. Wichtig ist Owens Studie wegen der sorgfältigen
Nachzeichnung lokaler Voraussetzungen für
die Entwicklung des Verhältnisses von Arbeiterschaft und Liberal Party. Dadurch lenkt sie
den Blick weg von den meist im Zentrum stehenden Metropolen, insbesondere Londons,
und weg von der Engführung auf die landesweiten Parlamentswahlen hin zur Vielzahl lokaler Aktivitäten. Zudem bringt seine Studie
die Argumentation prägnanter auf den Punkt
als manche bisherige Arbeit zu diesem Thema. Damit leistet Owen einen wesentlichen
Beitrag zur Untersuchung des Verhältnisses
von Liberal Party und Arbeiterschaft nach der
Wahlreform von 1867.
HistLit 2015-4-070 / Detlev Mares über Owen,
James: Labour and the Caucus. Working Class
Radicalism and Organised Liberalism in England,
1868–1888. Liverpool 2014, in: H-Soz-Kult
28.10.2015.
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2015-4-070