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Arts & Lettres
Anne-Berenike Binder
Metamorphosen des Selbsts
Rachildes Monsieur Vénus (1884)
I. Hintergrund: Dekadenz und Metamorphose
In der literarischen Moderne formuliert sich nicht nur die Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, sondern es findet ein Paradigmenwechsel im Verständnis
der Figur der Verführten und der Verführerin und ihrem männlichen Pendant statt.
Das Verhältnis von Verführung und Verführbarkeit wird im 19. Jahrhundert vor dem
Hintergrund einer vehement einsetzenden wissenschaftlichen Diskussion über die
Natur der Geschlechter diskutiert. Der Frage „Was ist die Frau?“ wird besonders
im ausgehenden 19. Jahrhundert, der Zeit der europäischen Dekadenz, intensiv
nachgegangen.1
„Ambiguité esthétique,“ „ambiguité sexuelle“ und „ambiguité morale“ – die Zeit
der Décadence2 stellt eine historische Phase der Entwicklung dar, die eine grundsätzliche Umorientierung im Verständnis traditioneller Rollenzuschreibung und
eine Herausarbeitung von Weiblichkeitsvorstellungen mit einer literarischen Selbstreflexion widerspiegelt. Die Ambiguität zeigt sich nicht nur im Ichkult und der Zweiheit des Individuums, sondern der Ichspaltung in männlich und weiblich. Metamorphosen gelten nicht nur als Schlagwort dieser Jahrtausendwende, sondern auch
als Sinnbild für das fin de siècle. Die Charakteristika der Metamorphose, des Wandels und der Transformation werden in den Texten der Décadence sinnfällig.
Hierbei sind zeitgenössische Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit
entscheidend, die sich in der Geschlechterpolitik und zeittypischen Frauenbildern
widerspiegeln. In der Décadence, in der die Frauenbilder „als eine Form männlicher Wunsch- und Ideologieproduktionen in literarischen Texten“ zu verorten sind,
bildet die Grundlage der Imagination von Weiblichkeit das dialektische Bild von
Idealisierung und Dämonisierung.3 Zwei der in Literatur und Kunst dargestellten
Frauenbilder sind die femme fatale4 und die femme fragile, die in diesem Kontext
nur allgemein und kurz charakterisiert werden können: Die femme fragile wird
„entweder als hysterische Kranke, sterile Kunstschönheit oder sensitives Opfer“5
dargestellt. Sie verhält sich gegenüber Männern aufgrund eines geringen
Selbstbewusstseins unterwürfig und fügt sich in Konventionen und Regelwerke der
Gesellschaft. Sie verspürt wenig sexuelle Lust, verachtet und verneint die Gegenwart und konzentriert sich auf einen Rückzug in die Vergangenheit oder realitätsferne Diskurse.6 Die femme fatale hingegen kann geradezu als Gegentypus gesehen werden, die sich über jegliche gesellschaftliche und moralische Konventionen
hinwegsetzt, die Männer zu ihren Zwecken verführt und ins Unglück stürzt.7 Als
Inkarnation von Lüge, Sünde und Unheil wird sie für die Degeneration der Gesell155
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schaft verantwortlich gemacht und ist somit „a mixture of pleasure and danger, the
known and the unknown.“8
Weniger bekannt und wissenschaftlich erschlossen ist ein anderes Frauenbild,
das im Besonderen den der Epoche eigenen vielfältigen und widersprüchlichen
Geschlechterdiskurs in sich selbst vereint: der weibliche Dandy. Da sich der weibliche Dandy als männlicher inszeniert, sollen zunächst einige Charakteristika des
männlichen Dandys aufgezeigt werden. Der Dandy ist – wie keine andere Verführergestalt – Sinnbild von Zeitströmungen und Geschlechterwahrnehmung. Im Dandy
findet der l’art-pour-l’art-Gedanke seine Verkörperung, indem er sich seine künstlichen Auftritte und seine ästhetisierte Welt schafft. Er gilt als Symbol für das Andere,
das kulturelle Traditionen, Konventionen, Moralvorstellungen und Überzeugungen
herausfordert.9 Der Dandy verkörpert den Gegenentwurf zur Gesellschaft. Ästhetizismus, Androgynie, zerebrale Liebeskonzepte und Perversionen, die sich in phantastischen Welten und künstlichen Paradiesen abspielen, werden in der Figur des
Dandys in der Dekadenz ausgelebt. Er ist Repräsentant eines Ästhetizismus, der
Kunst als männlich und Natur als weiblich definiert.10 Unfähig, seinen Körper wie
seine Sexualität auf natürliche Weise zu erleben, stimuliert der Ästhet seine sensible Genussfähigkeit mittels Aphrodisiaka. Ein Prinzip des Dandytums liegt in
seinem offensichtlichen Widerspruch: Der Dandy ist eine Kreation des Paradoxen,
in welchem Sein und Schein, Realität und Imagination, das Selbst und das/der Andere, das Männliche und Weibliche in einem einzigen Bewusstsein sich innerhalb
der dynamischen Kräfte der Metamorphose als Maskerade vermengen. Der weibliche Dandy bietet zusätzlich die Elemente der Verdopplung bzw. des Palimpsestes:
Die Maskerade ist hier verdoppelt (Maskerade als Abkehr von der Gesellschaft und
Maskerade als Mann), wobei der weibliche Dandy Weiblichkeit und Männlichkeit
gleichermaßen durch den Aufbau von Gegenbildern inszeniert. Der weibliche
Dandy propagiert die Trennung von Sex und Gender und stellt eine (geschlechtsbedingte) Inversion des männlichen Dandys dar. Das gestörte Verhältnis des männlichen Dandys zur Frau wird durch den weiblichen Dandy parodiert, indem diese/r
die Verkehrung von geschlechtsspezifisch besetzten kulturellen und sozialen Normen verkörpert. Somit wird ein Frauenbild entworfen, das sich selbst widerspricht
und durch die (vom männlichen Dandy übernommene) Misogynie selbst unterläuft.
(Selbst-)Inszenierung, Maskerade und Metamorphose sind wichtige Bestandteile des dekadenten Lebensentwurfs.
Metamorphosen (im eigentlichen Sinne und allgemeinen Verständnis als überraschende Verwandlungen [menschlicher Körper in andere Lebewesen], Veränderungen oder Entwicklungen) gibt es in der künstlerischen Imagination von der Antike bis heute.11
Der Begriff der Metamorphose meint die passiv erlittene und unumkehrbare Verwandlung eines Menschen in ein anderes Naturwesen, wobei bis zu einem gewissen Grad
das alte Bewusstsein in der neuen Gestalt weiterlebt. Die Metamorphosen in Ovids Metamorphosen sind in sich geschlossene Erzählungen, komplexe Geschichten. Sie machen eine komplexe Geschichte in einem Bild, dem Moment der Verwandlung, an156
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schaubar. Zur Metamorphose, die ja kein Faktum ist, sondern als Mythos immer schon
Erzählung, gehört dazu, dass der Vorgang der Gestaltveränderung dargestellt wird.12
Ovids Metamorphosen werden in der Dekadenz rezipiert und in Richtung einer Erotisierung des Mythos durchgespielt.
[…] tout ce qui rattache Monsieur Vénus et Dorian Gray à ces épisodes de la fable ovidienne, et particulièrement le thème de la ‘métamorphose’ qui nourrit abondamment
l’inspiration décadente. Certes l’érotisme souriant d’Ovide a cédé le pas à la perversion
sulfureuse et tragique des personnages décadents, mais la structure du mythe reste,
dans une large mesure intacte.13
II. Geschlecht, Gender und Metamorphose – Der weibliche Dandy in
Rachildes Monsieur Vénus
In Rachildes Monsieur Vénus funktioniert die Metamorphose im Sinne einer (zunächst) reversiblen Verwandlung auf drei Ebenen: auf der erzählerischen Ebene
einer Repräsentation einer psychischen und physischen Verwandlung (Geschlechterwechsel und Maskerade), auf der poetologischen Ebene, die die Erzählung
auch in ihrer narrativen Metaphorologie und Poetik reflektiert (Rachilde – „homme
de lettres“) und auf einer intertextuellen14 Ebene (der Leser erkennt die Analogie
zu Pygmalion etc.).
Im Folgenden soll die Dekonstruktion der Geschlechtergrenzen innerhalb des
Geschlechterdiskurses des 19. Jahrhunderts beleuchtet werden und in Zusammenhang mit einer kulturwissenschaftlichen Auffassung des Begriffs der Metamorphose gesetzt werden. Als Textgrundlage dient Rachildes Monsieur Vénus, die anstelle eines männlichen Dandys einen weiblichen Dandy als Repräsentantin des fin
de siècle zeigt und damit das weibliche Dandytum als literarisches Programm des
Romans nimmt.15
1. Rachilde, „reine des décadents“ und Monsieur Vénus
La femme est le contraire du Dandy. Donc elle doit faire. La femme a faim et elle veut
manger. Soif, et elle veut boire. Elle est en rut et elle veut être foutue. Le beau mérite!
La femme est naturelle, c’est à dire abominable. Aussi est-elle toujours vulgaire, c’està-dire le contraire du Dandy (Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. I, 677).
Im ansonsten männlich dominierten Literaturbetrieb des ausgehenden 19. Jahrhunderts stellt Rachilde eine Ausnahmeerscheinung dar. Ihr Leben und Werk ist
eng mit der Kultur und dem Lebensgefühl der Décadence verbunden. Rachildes
(eigtl. Marguerite Eymery, 04.02.1860-04.04.1953) Biographie liest sich wie ein
fiktiver Lebenslauf eines Beispieldekadenten: Ein Vorfahre war Dominikanerpriester, zugleich Großinquisitor von Spanien und Vater eines unehelichen Kindes. Mit
einem von der Armee desillusionierten Vater und einer depressiven Mutter wuchs
Marguerite Eymery ohne außerordentliche emotionale Zuwendung auf,16 die ihr
nicht nur von der gefühlskalten Mutter versagt blieb; auch der Vater wandte sich früh
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von ihr ab: „[…] mon père, la plus magnifique des brutes, ne me pardonnait pas
d’être une petite fille …“17 Die Annäherung an das Ideal des Vaters fand auf verschiedenen Ebenen statt (ein maskulines Äußeres, „männliche“ Freizeitbeschäftigungen wie Reiten, Fechten, der Lektüre der „œuvres classiques“ und allen voran
der Werke des Marquis de Sade).18 Nach der Verweigerung der Heirat mit einem
Offizier wurde sie für zwei Jahre ins Kloster geschickt und begann danach, um ihren Lebensunterhalt selbst finanzieren zu können, für Regionalzeitungen Geschichten zu schreiben. Der (geschlechts- und klassenneutrale) Name Rachilde
gab ihr die Möglichkeit, frei als Schriftstellerin zu publizieren. Um ihren literarischen
Durchbruch in Paris zu beschleunigen und sich von anderen Schriftstellern abzusetzen, „elle fait imprimer sur ses cartes de visite: Rachilde, homme de lettres.“19
Durch ihre Mitarbeit bei der Zeitschrift L’Ecole des femmes, ihre jahrzehntelange
Arbeit am Mercure de France (unter ihrer Mitwirkung entwickelte sich die berühmte
Literaturzeitschrift zu einer angesehenen Institution der Décadence) und ihre provokativen Texte avancierte sie zur „Reine des Décadents.“ Mit dem (Literatur-)Salon, den sie bis zum Tod ihres Mannes Alfred Vallette führte, bot sie bedeutenden
Autoren der Zeit ein Diskussionsforum. Dank ihres ersten Romans Monsieur
Vénus, in dem sie literarische Konventionen der Décadence variiert und den Geschlechterdiskurs ins Zentrum stellt, erlangte Rachilde öffentliche Aufmerksamkeit.
In Belgien wurde der Roman sogar wegen seines mitunter pornographischen Inhalts konfisziert und die Autorin zu Freiheitsentzug und Geldstrafe verurteilt. Sie
führte ihr Leben als décadente weiter, „[e]lle dépouilla la bonne éducation
complètement …, porta le costume d’homme traditionnel, courut les bals publique
en compagnie de décadents héroïques.“20 Sie schrieb bis 1925 im Jahresrhythmus bis zu sechzig Romane, Kurzgeschichten, Tiergeschichten, Essays, Dramen
und Lyrik.
Leben und Werk sind bei Rachilde eng miteinander verbunden, so wird die
Selbstinszenierung der Autorin als weiblicher Dandy in ihren Romanen anhand der
Protagonistinnen gespiegelt.21 „Durch Pathologisierung und Hysterisierung von
Roman und Autorin werden dekadente Qualitäten forciert. Die Kultivierung des Pathologischen erweist sich als Lesekonvention des Fin de siècle, die einerseits bürgerliche Ideale wie Gesundheit und Normalität in Frage stellt, andererseits auf den
Konnex Genie und Wahnsinn rekurriert und insofern auch kreative Kompetenz verheißt.“22 Rachildes Eintauchen in die männliche Rolle ging sogar so weit, dass sie
in Briefen von ihrem Mann Alfred Vallette als „Monsieur-Mademoiselle“23 angesprochen wird. Sie inszeniert sich mit Kurzhaarschnitt und schwarzem Anzug und
wird von Freunden mitunter „Mademoiselle de Vénérande“24 genannt. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschmelzen, wenn Maurice Barrès im Vorwort
zu Monsieur Vénus bemerkt, „[d]ans toute son œuvre, qui aujourd’hui est considérable, Rachilde n’a guère fait que se raconter soi-même“25 und „Son livre n’est
qu’un prolongement de sa vie.“26
Besondere Bedeutung kommt Rachilde in den letzten Jahren zu, da ihr Werkcorpus im Besonderen um das Thema (Geschlechts-) und (Autor-)Identität kreist
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und sie sich damit in die postfeministische Debatte um Judith Butler einreihen
lässt. Sie zeigt in ihren Romanen nicht nur das zeitgenössische Verständnis der
Geschlechter auf, sondern gibt zugleich auch Einblick in das Verständnis der Autorin zu ihrem eigenen Geschlecht und zu ihrer Rolle als Schriftstellerin.
Der Roman Monsieur Vénus stellt eine junge Aristokratin, Raoule de Vénérande, in den Handlungsmittelpunkt. Zusammen mit ihrer religiösen Tante lebt sie
in einer Familienvilla in Paris. Sie gestaltet sich ein Leben in Luxus und Freiheit.
Statt sich einen standesgemäßen Mann zu suchen, lehnt die burschikos-dominante Raoule die Männer ihrer Klasse ab und verliebt sich in den schönen Blumenhändler Jacques Silvert. Sie macht ihn zu ihrer(m) Geliebten und beginnt ein
Spiel von Macht und Unterwerfung, Sexualität und Perversion, an dessen Ende
Tod und Wahnsinn der Protagonisten stehen. Der Kampf der Geschlechter zeigt
sich in einem sadomasochistischen Gewaltverhältnis. Im bis dahin männlich konnotierten Herrschaftsverhältnis kommt nun der Frau die männlich-dominante Position zu.
2. Maskerade und Metamorphose – Dekonstruktion der Geschlechtergrenzen
La Décadence met au premier plan la singularité profonde de son mal-être que nous
pouvons définir comme oscillation constante entre négation du sexe et confusion des
genres. Dans les deux cas, ce qui est révélé, c’est toujours la prégnance de l’idéal androgyne en tant qu’expression obsessionnelle d’un Eros qui signifie ‘fin de sexe’.27
Die Dekonstruktion von Geschlechtergrenzen ist die Aufgabe der gender studies
und diese Dekonstruktion personifiziert der weibliche Dandy.28 Das Thema Sexualität wird in der Dekadenz durch seine unterschiedlichen Spielarten aufgegriffen:
Freizügigkeit, Homosexualität, Androgynität, aber auch Liebesmüdigkeit werden in
Monsieur Vénus thematisiert. Während die femme fatale vorrangig eine Reduktion
auf Leidenschaft und Körperlichkeit erfährt und mit natürlichen Attributen assoziiert
wird, ist der männliche Dandy ein misogyner Ästhet, der jegliche (natürliche) Form
der Körperlichkeit ablehnt und sich der Vernunft und dem Geist verpflichtet sieht.29
Im Gegensatz hierzu inszeniert sich der weibliche Dandy als Zusammenschau von
männlichem Dandy und femme fatale: Der weibliche Dandy versinnbildlicht gutes
Aussehen, Geist und Verstand und proklamiert aber auch ein Ausleben der Sexualität.
Rachilde selbst inszeniert sich in der Rolle des weiblichen Dandys und personifiziert damit die Ideale der Dekadenz, die die Trennung zwischen Leben und Werk vorgeben. Sie verteilt Visitenkarten mit „Rachilde. Homme de lettres.“ Somit wirft sie nicht
nur die Frage nach ihrer Geschlechtszugehörigkeit auf, sondern definiert sich selbst
als Literat. Dieses klare Bekenntnis zur „männlichen“ Lebensweise wird auch
durch die Protagonistin in Monsieur Vénus, Raoule de Vénérande, verkörpert.30
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a) Erzählerische Ebene – femme dandy – femme perverse – femme fatale
Raoules androgynes Erscheinungsbild wird als „éphèbe grec“ (MV, 6)31 umschrieben, sie ist groß, blass, wohlgestalt, zartgliedrig mit eisblauen Augen und langen
Wimpern. „Les lèvres minces, estompées aux commissures, atténuaient d’une manière désagréable le dessin pur de la bouche […]. Très noirs, avec des reflets métalliques sous de longs cils recourbés, les yeux devenaient deux braises quand la
passion les allumaient“ (MV, 34). Der inszenatorische Aspekt ihres Auftretens als
femme dandy wird noch durch die beständige Selbstvergewisserung im Spiegel
verstärkt (sie wirkt wie „un homme beau comme tous les héros de roman que
rêvent les jeunes filles,“ MV, 191). Raoule inszeniert sich in der Gesellschaft in vielen Kostümierungen: Als „étrange beauté“ (MV, 34) liebt sie ihre Auftritte in der Pariser Gesellschaft und lässt sich für diese speziellen Anlässe von Jacques ein
Nymphenkostüm anfertigen (MV, 64sq.). Hier ist die Maskerade lediglich eine Kostümierung, mit der Raoule sich eine gesonderte Position in den höheren Kreisen
verspricht. „In der Literatur der Jahrhundertwende wird das Kostüm bevorzugt zur
Kennzeichnung unterschwellig erotischer Ausstrahlung eingesetzt [...].“32 Ihr Auftritt in der Dandyrolle, in distinguierten schwarzen Anzügen mit Champagner und
Zigarre sowie einer männlichen Stimme und „männlichen“ Freizeitbeschäftigungen
(Fechten, Sammeln von exquisiten Waffen, Philosophieren über den Eros in ihrem
Herrenzimmer, „une académie masculine,“ MV, 36) verschafft ihr den Zugang zu
einer exklusiven Männerwelt. Ihre Dandyrolle übersteigt damit den Zweck der Kostümierung, wird zur Verkleidung, die zunächst noch kontrolliert ist, letztendlich aber
mit dem Identitätsverlust einhergeht und als intensivierte Form des Transgendering
und Cross Dressing33 bezeichnet werden kann: „Celle-ci vint une fois, vers minuit,
vêtue d’un complet d’homme, le gardénia à la boutonnière, ses cheveux dissimulées dans une coiffure pleine de frisons, le chapeau haute forme, son chapeau de
cheval, très avancé sur son front“ (MV, 110sq.). Raoules Äußeres wird von Grund
auf verwandelt, weshalb der Übergang von Verkleidung zur Verwandlung fließend
ist. Diese physische Metamorphose versinnbildlicht den Übergang von einer Gestalt (der weiblichen) zur anderen (der männlichen) und zeigt auch eine radikale
innere Verwandlung (Raoule personifiziert den männlichen Part in der Beziehung).
Die Maskerade der äußeren Erscheinung reflektiert sich auch in der Einrichtung
Raoules und ihrer Tante. Spiegel der dekadenten Seele Raoules ist das Dekor
ihres Zimmers, „capitonnée de damas rouge et lambrissée, aux pourtours, de bois
des îles sertis de cordelières de soie,“ das durch eine luxuriöse Ausstattung, bestehend aus „une panoplie d’armes de tous genres et de tous pays“ und „un lustre de
Carlsruhe“ (MV, 36), besticht. Kontrastiert werden Raoules Gemächer mit denen
ihrer Tante, die „était tout entière d’un gris d’acier désolant le regard“ (MV, 37).
Ihre sexuelle Ausrichtung ist – dem männlichen Dandy entsprechend – androgyner Natur, wobei sie weder den Kontakt zu Frauen sucht,34 noch die Männer ihres
Standes akzeptiert: „Les hommes de ma classe sont d’une telle brutalité ou
d’impuissance“ (MV, 87). Ihr dandyistisches Überlegenheitsgefühl zeigt sich in ihrer Beziehung zu Jacques, dem Blumenbinder, der aus der niedrigsten sozialen
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Klasse stammt („fils d’un ivrogne et d’une catin,“ MV 15) und der ihr in sämtlichen
Bereichen (finanziell, geistig und körperlich) unterlegen ist. Die dominante Raoule
gibt ihm Geld, macht ihn u.a. mit Drogen gefügig und praktiziert ihre Perversitäten
stets auf seine Kosten (vgl. MV, 144). Raoule sieht Jacques als ihre(n) Geliebte(n)
an, versetzt ihn immer mehr in die Rolle einer Frau, die sich ihrem Partner unterwirft und verkleidet sich als Mann, um den Geschlechtertausch auch visuell zu inszenieren: „[…] Jacques Silvert, lui cédant sa puissance d’homme amoureux, devint sa chose, une sorte d’être inerte qui se laissait aimer parce qu’il aimait luimême d’une façon impuissante. Car Jacques aimait Raoule avec un vrai cœur de
femme. Il l’aimait par reconnaissance, par soumission, par un besoin latent de voluptés inconnues“ (MV, 107).
Raoule bemüht sich im Laufe der Handlung, bewusst die Geschlechtergrenzen
zu sprengen, „ils riaient tous les deux, mais ils s’unissaient de plus en plus dans
une pensée commune: la destruction de leur sexe“ (MV, 110). Eine weitere Situation,
die in besonderer Weise die Vermischung der Geschlechtergrenzen zeigt, ist der
symbiotische Tanz von Raoule und Jacques, der sie zu einer Person (zum Androgyn, zum „l’individu complet“35) verschmelzen lässt, während eines Festes im Schloss
der Vénérandes: „Il ne cherchait pas à soutenir sa danseuse, mais il ne formait
avec elle qu’une taille, qu’un buste, qu’un être. A les voir pressés, tournoyants et
fondus dans une étreinte où les chairs, malgré leurs vêtements, se collaient aux
chairs, on s’imaginait la seule divinité de l’amour en deux personnes, l’individu
complet dont parlent les récits fabuleux des brahmanes, deux sexes instincts en
un unique monstre“ (MV, 171). Die geschilderte Beziehung zwischen Raoule und
Jacques dreht die Herrschaftsverhältnisse der beiden Geschlechter um, wobei Raoule die (männlich konnotierte) Machtposition ergreift. „Der Geschlechtertausch
karikiert zwar bestehende Rollenbilder und zeigt sie insofern in einem kritischen
Licht, zugleich wiederholt er traditionelle Bewertungsschemata, in denen die Männerrolle idealisiert und die Frauenrolle abgewertet wird.“36 Paradoxerweise beinhaltet der Text damit misogyne Aussagen,37 die zwar im Geiste der Dekadenz stehen, jedoch mit dem Geschlecht der Autorin nicht vereinbart werden können.
Als femme perverse38 übt sie ein brutales Sexualverhalten aus, das bereits im
Kindesalter diagnostiziert wurde: „Pas de milieu! Ou nonne, ou monstre! Le sein
de Dieu ou celui de la volupté!“ (MV, 40) und der Erzähler beschließt die Retrospektive mit „Il y avait dix ans de cela, au moment où commence cette histoire …
et Raoule n’était pas nonne …“ (MV, 41). Somit agiert das „monstre“ ihre sadistischen Perversionen bis hin zum „vertige frénétique“ (MV, 144) aus. Das perverse
Sexualverhalten besteht in der Vergötterung eines Mannes, der sämtliche „weiblich“ konnotierten Eigenschaften (Schönheit, Unterwürfigkeit, Natürlichkeit etc.) innehat. Raoule macht sich Jacques zu ihrem Besitz.39 Raoules Hang zur Perversion resultiert zum einen aus ihrer Ablehnung von Frauen, zum anderen auch aus
dem Hass gegenüber „la force de mâle“40 und führt schließlich zum Wunsch nach
einem beide Geschlechter vereinenden Wesen, das sie allerdings erst in der
Wachsstatue des toten Jacques erfüllt sieht bzw. selbst verkörpert, indem sie so161
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wohl als Mann wie auch als Frau verkleidet die Wachspuppe besucht: „La nuit, une
femme vêtue de deuil, quelquefois un jeune homme en habit noir, ouvrent cette
porte. Ils viennent s’agenouiller près du lit et, lorsqu’ils ont longtemps contemplé
les formes merveilleuses de la statue de cire, ils l’enlacent, la baisent aux lèvres“
(MV, 227). Das Ende der Beziehung ist also „the heroine’s triumphant desire has
led only to the ritual enactment of mastery over a dead lover.”41
Zusätzlich zu den beiden geschilderten Weiblichkeitsentwürfen erinnert Raoule
de Vénérande an einigen Stellen an eine femme fatale. Allein die Namensgebungen setzen sie in den Kontext einer femme fatale. Zunächst suggeriert ihr Name
verschiedene Facetten der Verführung: „Vénérande“ kann sowohl auf „la vénérie“
als auch auf „la vénération,“ die sie bei Männern auslöst, zurückgeführt werden.42
Ein weiteres Indiz für die Konnotation mit der Jagd ist die Maske der Diana, die Raoules Zimmer schmückt (MV, 84). Beinamen, die sie direkt mit dem Teufel assoziieren („agréable monstre,“ MV, 68, „petit Faust,“ MV, 86 und „fille de Satan,“ MV, 189),
sind für die Charakterisierung einer femme fatale typisch.43 Sie macht sich Jacques
nicht nur gefügig, sondern er wird unter ihrer Herrschaft zu ihrem persönlichen „bel
instrument de plaisir qu’elle désirait“ (MV, 34).44 Ihre Fatalität erweist sich auch im
Verhalten zur Gesellschaft: So heiratet sie unstandesgemäß einen Blumenbinder
und bewirkt durch die von ihr ersonnene Intrige den Tod Jacques’ und die Flucht
ihres Freundes Raittolbes, den sie zum Mörder an Jacques gemacht hat.
Doch nicht nur Raoule de Vénérande vereinigt unterschiedliche Weiblichkeitsentwürfe. Rachilde konstruiert die Beziehung von Raoule und Jacques vor dem
Hintergrund zweier kontrastierender Frauenfiguren, Marie Silvert, die Schwester
Jacques’, und Mme Elisabeth, die Tante Raoules, gegen die Raoule kämpft. „Elisabeth und Marie Silvert, l’ange du bien qui avait toléré le démon de l’abjection qui
avait excité, fuyaient en même temps, l’un vers le paradis, l’autre vers l’abîme, cet
amour monstrueux qui pouvait, à la fois, aller dans son orgueil, plus haut que le
ciel et, dans sa dépravation, plus bas que l’enfer“ (MV, 184). Auslöser von Streit
und Intrigen zwischen den Frauen ist die Liebe zu Jacques, über den letzten Endes Raoule den Sieg davonträgt, indem sie ihn, trophäengleich, als Wachsstatue
in ihrem Zimmer aufbahrt.45
b) Poetologische Ebene – Rachilde, „homme de lettres“
Rachilde verwendet ein Inversionsverfahren, indem sie nicht nur dekadente Themen und Motive und mythische Themen umdeutet, sondern auch den weiblichen
Blick ins Zentrum rückt: Rachilde zeigt sich nicht nur in der Öffentlichkeit in Männerkleidung, auch ihre Texte zeigen eine Art metaphorische Verkleidung auf, die
wie ihr äußeres Erscheinungsbild auf eine Doppelgeschlechtlichkeit hinweist. Über
die Inversion der Geschlechtsidentität weist Rachilde die von der Gesellschaft erwünschte und definierte Frauenrolle zurück. Nicht nur die Protagonistin Raoule de
Vénérande verkleidet sich als weiblicher Dandy, sondern auch „der Textkörper
weist analog zum Frauenkörper eine rhetorische Form der Verkleidung auf“46 und
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dies in zweifacher Hinsicht: zum einen auf inhaltlicher Ebene, zum anderen auf
einer sprachlichen Ebene.
Im Literaturbetrieb des 19. Jahrhunderts war es schwer, sich als Frau zu positionieren.47 Das Genieverständnis des Künstlers war mit der Frau als Literatin nicht
zu vereinbaren. So bot das Dandytum gerade für weibliche Autoren eine Möglichkeit, durch seinen „Sinn für subtile Provokation und Revolte, die sich innerhalb äußerster Grenzen der Konvention bewegen,“48 aus der ihnen durch die Gesellschaft
zugeschriebenen Rolle auszubrechen. Durch Parodie der dekadenten Themen
findet eine Inversion statt, die den Subtext (Probleme weiblicher Autorschaft und
(Selbst-)Inszenierung) freisetzt. Das Dandytum dient als Kritikmöglichkeit für die
Autorinnen im fin de siècle, mit deren Hilfe sie eine Parodie und Kritik an den Ideologien der Gesellschaft üben konnten. Raoules ironisches Spiel mit den vorherrschenden Geschlechterrollen führt zur Ehe mit „Mme Jacques Silvert“ (MV, 154)
und kann somit zum einen als Rebellion gegen gesellschaftliche Normen gesehen
werden, zugleich aber auch als Parodie des Dandytums, denn „sie hat den gesellschaftlichen Ausschluss zur Konsequenz und kann somit als parodistisches Exempel für die dandyistische Maxime der Revolte gedeutet werden,“49 welche letzten
Endes fehlschlägt (Tod Jacques’ und Wahnsinn Raoules). Ein weiteres Beispiel für
Rachildes Kritik an den Geschlechterunterschieden demonstriert sie an Jacques’
Einfältigkeit und Raoules Raffinesse, wobei hier gleichzeitig auch Anleihen an den
misogynen Diskurs des 19. Jahrhunderts von Rachilde zu erkennen sind, da
Jacques immer mehr als „weiblich“ definiert wird und Raoule sich immer mehr in
ihre „männliche“ Rolle begibt. Eine weitere Parodie auf die Gesellschaft, aber zugleich auch auf das Dandytum ist die Liebesbeziehung zwischen Jacques und Raoule, die als sadomasochistischer Machtdiskurs gezeichnet wird, denn Raoule verführt Jacques weder mit „weiblichen“ noch mit „männlichen“ Reizen, sondern durch
Drogen („[…] elle mit son bras autour de sa tête et une cuiller de vermeil à portée
de sa bouche,“ MV, 75). Der Kult um die Jungfräulichkeit in Monsieur Vénus
verschleiert zum einen die Unfähigkeit des Dandys zur körperlichen Liebe, zeigt
aber auch die Heuchelei der Gesellschaft: So erinnert Raoule Jacques jeden Tag
durch einen Strauss „des fleurs blanches immaculées“ (MV, 109) an seine Jungfräulichkeit, und Raoules Tante ist fest davon überzeugt, dass ihre Nichte in einem
jungfräulichen Zustand ist:
Seulement la chanoinesse avait, de son côté, trop de monde, trop de race, trop de parchemin dans le caractère, pour douter une seconde de la pureté corporelle et morale
de sa descendante. Une Vénérande ne pouvait être que vierge (MV, 42).
Die Geschlechterrollen werden nicht nur auf inhaltlicher Ebene umgekehrt, sondern im Text findet auch ein Bruch mit den sprachlichen und grammatikalischen
Regeln statt. Bereits der Titel des Romans suggeriert die Verbindung von männlich
(„Monsieur“) und weiblich („Vénus“). Raoule verkündet beispielsweise „Je suis
amoureux d’un homme“ (MV, 88) oder „je serai son amant“ (MV, 90) und bezeichnet Jacques als „belle“ (MV, 197). Der Rollentausch wird mit der Ehe der beiden
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vervollkommnet: „Mlle Jacques Silvert épouse M Raoule de Vénérande“ (MV, 154).
Damit zeigt sie durch die Wahl der jeweils konträr eingesetzten männlichen/weiblichen Form den Geschlechterwandel auch auf sprachlicher Ebene.
c) Intertextuelle Ebene – „[…] je n’ai pas écrit mon livre moi“ (MV, 84)
Die Vorstellung von Intertextualität als textueller Metamorphose unterstreicht
produktionsseitig das Mysterium des künstlerischen Schaffens, rezeptionsseitig das
Staunen als Voraussetzung jeglicher Erkenntnis. Diese vollzieht sich in der Wahrnehmung und Deutung der Spuren textueller Metamorphose als konstruktiver Leistung des
Lesers.50
Intertextuelle Bezüge lassen sich auf verschiedenen Ebenen in Monsieur Vénus
erkennen; da das Venus- und Pygmalion-Motiv besonders zentral sind, sollen
diese beiden exemplarisch hier behandelt werden.51
Der Romantitel Monsieur Vénus rekurriert sowohl auf Raoule (als „männlicher“
Frau), als auch auf Jacques (als „weiblichem“ Mann) und zeigt zugleich den ambivalenten Geschlechterdiskurs. Die Liebesgöttin Venus, in der Kunst mit weiblichen
Rundungen dargestellt, wird optisch im schönen Jacques widergespiegelt, der
„bras rond“ (MV, 111), „épaules rondes“ (MV, 128) hat und seine Schenkel „possédaient une rondeur solide, qui effaçaient leur sexe“ (MV, 55). Bereits in der ersten
Szene tritt Jacques als männliche Transformation einer Eva auf. Er verkörpert,
ausgestattet mit sämtlichen „natürlich-weiblichen“ Attributen (sein Name erinnert
an „Wald“, ihn umweht ein Duft von Äpfeln) genau das Bild, das der männliche
Dandy von einer Frau entwirft.52 „Die Äpfel als Metapher für Natürlichkeit fungieren
ebenso als ‘verbotene Frucht’ und verweisen auf Jacques als maskuline Eva, dem
Sinnbild weiblicher Verführung zur fleischlichen Lust.“53 Rosen und Äpfel als Sinnbild von Weiblichkeit und Verführung sind auch der Venus zugeschriebene Attribute.54 Einer Venus Verticordia55 entsprechend, wird er mit keuscher Reinheit assoziiert, „pure comme un œuil de vierge“ (MV, 207) und „candeur d’un vierge“ (MV,
123; auch hier wird wieder der männliche Artikel verwendet), im Text an mehreren
Stellen direkt als Venus bezeichnet56 und durch seine außerordentliche „beauté
presque surhumaine“ (MV, 99) mit sämtlichen Gottheiten (u.a. Eros, MV, 129; Adonis, MV, 169) assoziiert, die alle im Kontext von Liebe und Liebeswerben anzusiedeln sind. In diesen Beschreibungen finden wir bereits Hinweise auf den Pygmalion-Mythos, wenn Jacques als „marbre antique“ (MV, 129), also als fleischgewordene Statue bezeichnet wird.
Während der männliche Dandy sich in seiner Kunstwelt, die für ihn zur realen
Welt geworden ist, Frauen zu Kunstfiguren stilisiert,57 stilisiert sich der weibliche
Dandy Männer zu Frauenfiguren und erschafft diese durch den „männlich-weiblichen“ Blick. Verführung58 kommt in Monsieur Vénus einem Erschaffungsprozess
gleich, indem Raoule Jacques Silvert als „ihr Werk“ bezeichnet: „J’ai eu des
hommes dans ma vie comme j’ai des livres dans ma bibliothèque, […] je n’ai pas
écrit mon livre moi“ (MV, 84). Raoule sieht sich als Schöpferin eines ganz beson-
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deren menschlichen Kunstwerks, des perfekten Liebhabers, der für sie die Sehnsucht nach einem „weiblichen“ Mann erfüllen kann. Der „Schaffensprozess“59 beginnt mit der finanziellen Unterstützung Jacques’ (MV, 67) und endet mit der Anbetung des toten Jacques als Wachsstatue (MV, 227). Raoule erschafft sich letztendlich ihre künstliche Venus, indem sie Leichenteile Jacques’ an einer Wachsfigur
anbringt: „Le soir de ce jour funèbre, Mme Silvert se penchait sur le lit du temple de
l’Amour et, armée d’une pince en vermeil, d’un marteau recouvert de velours et d’un
ciseau en argent massif, se livrait à un travail très minutieux … Par instants, elle
essuyait ses doigts effilés avec un mouchoir de dentelle“ (MV, 224).60 Somit wird
die Relation Künstler und Muse geschlechtsspezifisch karikiert, indem der schöne
Jacques, als der Erschaffungsprozess fehlschlägt (Jacques lässt sich auf ein Verhältnis mit Raittolbe ein), zu einem Kunstwerk abgetötet wird. „Sur la couche en
forme de conque, gardée par un Eros de marbre, repose un mannequin de cire
revêtu d’un épiderme de caoutchouc transparent […] Ce mannequin, chef d’œuvre
d’anatomie, a été fabriqué par un Allemand“ (MV, 227). In ihren Schlusssätzen
bezieht sich Rachilde, auf der Grundlage der Zitierung des Pygmalion-Motivs,
nochmals explizit auf mythologische und literarische Vorbilder: Das Schlussbild
parodiert zum einen die berühmte „Geburt der Venus“ und verweist nochmals auf
die Erschaffung des Wunschpartners, wie sie auch durch den Mythos vorgezeichnet ist.61 Doch Jacques erinnert nicht an ein vollkommenes Kunstwerk, sondern
vielmehr an ein technisiertes Monstrum, das durch einen Mechanismus bewegt werden
kann. Die Anleihe an E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann wird nicht nur durch den
textuellen Verweis geliefert („Ce mannequin, chef d’œuvre d’anatomie, a été fabriqué par un Allemand,“ MV, 227), sondern Rachilde zieht hier eine deutliche Parallele zwischen der perfekten weiblichen Olympia und dem nur mäßig technisierten
Jacques. Kritik wird hier wie bei Hoffmann auch am im Wahnsinn endenden
Schöpferwillen geübt, der die Erschaffung des perfekten Menschen im Auge hat,
wobei Rachilde hier durch ihr optisch missglücktes Werk noch den Ästhetikgedanken
des Dandys karikiert: „Les cheveux roux, les cils blonds, le duvet d’or de la poitrine
sont naturels; les dents qui ornent la bouche, les ongles des mains et des pieds
ont été arrachés à un cadavre. Les yeux en émail ont un adorable regard“ (MV, 227).
III. Schluss
Vor dem Hintergrund der Dekadenz und des Geschlechterdiskurses im 19. Jahrhundert präsentiert Rachilde ihre Hauptfigur Raoule de Vénérande aus Monsieur
Vénus als weiblichen Dandy. Im komplementären Austausch von Realität und Fiktion setzt sich Rachilde analog zu ihrer Hauptfigur im Roman in Szene und nimmt
somit Stellung zu Fragen weiblicher Existenz und Autorschaft im fin de siècle.
Metamorphose und Maskerade dienten in der vorliegenden Arbeit als Analysekategorien, um die erzähltechnische, sprachliche und intertextuelle Inszenierung
des weiblichen Dandys zu beleuchten. Es wurde deutlich, dass mit der Dekon165
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struktion der Geschlechtergrenzen und traditionellen Rollenbilder (im Kontext der
Darstellung zeittypischer Frauenbilder) das Verhältnis Mann-Frau in ein umgekehrtes sadomasochistisches Gewaltverhältnis ausphantasiert wurde. Die ambivalente
Struktur und facettenreiche Ästhetik von Monsieur Vénus spiegelt in außerordentlicher Weise den Diskurs der Décadence wider.
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Die vorhergehenden großen Frauenromane (Madame Bovary, Anna Karenina, Effi Briest)
beschäftigten sich mit der Frage der Verführbarkeit der unglücklich verheirateten Frau im
Spannungsfeld von gesellschaftlicher Konvention und individuellem Glücksanspruch. Im
19. Jahrhundert hingegen wurde das Verhältnis von Verführung und Verführbarkeit vor
dem Hintergrund einer vehement einsetzenden wissenschaftlichen Diskussion über die
Natur der Geschlechter von Interesse (vgl. Ortrud Gutjahr: „Lulu als Prinzip. Verführte
und Verführerin in der Literatur um 1900“, in: Irmgard Roebling (ed.): Lulu, Lilith, Mona
Lisa…: Frauenbilder der Jahrhundertwende, Pfaffenweiler, 1989, 45-76, 50).
Die Décadence gilt als eine bedeutsame literarische Strömung des französischen fin de
siècle. Mit ihr ist im weiteren Sinne eine kulturelle und im engeren Sinne jene literarische
Bewegung und deren spezifische künstlerische Produktion gemeint, die in der Kultur
Frankreichs in der Zeit um die Jahrhundertwende präsent war und sich durch bestimmte
Merkmale als eigene literarische Strömung gab. Die Trennung von Bürgertum und
Künstlertum zählt zu ihren Hauptkennzeichen. In ihrer bewussten Abkehr von der Gesellschaft wollten sich Künstler und Literaten bürgerlichen Wertvorstellungen wie Sparsamkeit, Arbeitsamkeit, Redlichkeit, vor allem aber dem Kapitalismus, Pragmatismus und Utilitarismus entziehen. Diese Form der gesellschaftlichen Distanzierung geschieht nicht auf
politischer, sondern auf künstlerischer und soziokultureller Ebene und lässt die Trennung
von Leben und Werk verschwimmen. Nicht nur das künstlerische Œuvre ist einer Inszenierung unterworfen, sondern auch das Leben wird als Kunstwerk entworfen (vgl. Iris-Ulrike Korte-Klimach: Rachilde: Femme de lettres – Homme de lettres. Weibliche Autorschaft im Fin de siècle, Marburg, 2002, 9sqq.).
Vgl. Inge Stephan: „Bilder immer wieder Bilder“, in: Inge Stephan/Sigrid Weigel (eds.):
Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft, Berlin, 1988, 15-34, 20sq. Der Versuch, modernes Selbstbewusstsein durch Feminisierung,
durch eine Öffnung zu jenen Wahrnehmungs- und Gefühlsweisen, die in dieser Zeit als
weiblich gelten, einerseits und andererseits durch männliche Selbsterkenntnis, also gerade durch Abgrenzung, auszubilden, führen in der Literatur zu Frauenbildern, deren
Ambivalenz in der Verführungsthematik ihren deutlichsten Niederschlag findet.
Einhergehend mit einem radikalen Wandel der Don-Juan-Gestalt, die durch Psychologisierung und Reflektiertheit die Züge des großen Verführers verliert und sich in Richtung
eines Dandys entwickelt, nimmt ein anderer Typus, die femme fatale, die Stelle der herausragenden Verführergestalt des 19. Jahrhunderts ein. Die femme fatale wurde zuerst
in der Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh.s verortet. Aber viele Facetten der ihre erotische Macht bis zum fatalen Ende auskostenden Frau finden sich
schon in Gestalten der Literatur seit der Antike – Helena, Klytaimnestra, Medea, Salome,
Judith, Salambo – die die Roman- und Tragödienautoren der Jahrhundertwende bewusst
und ausdrücklich aufgriffen (vgl. Jürgen Blänsdorf (ed.): Die femme fatale im Drama. Heroinen – Verführerinnen – Todesengel, Tübingen, 1999, 7).
Korte-Klimach, 42.
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Vgl. Ariane Thomalla: Die „femme fragile.“ Ein literarischer Typus der Jahrhundertwende,
Düsseldorf, 1972, 36.
Vgl. Elizabeth K. Menon: Evil by Design: The Creation and Marketing of the Femme Fatale, Chicago, 2006, 94.
Menon, 94. Die Darstellung der femme fatale reicht von den Anfängen (Altes Testament:
Eva, Judith, Salome), über die Antike (Cleopatra), das Mittelalter bis hin zur Gegenwart.
Zu Darstellungen der femme fatale siehe auch Os W. van Henk: Femmes Fatales, Antwerpen, 2002.
Der Protagonist Jean Des Esseintes aus Joris-Karl Huysmans Referenzwerk der dekadenten Literatur A rebours (1884) verliert sich in einem exklusiven Ästhetizismus als Gegengewicht zu dem als trivial verachteten Geschmacksempfinden des Bürgertums. Neurose, Impotenz und Krankheit bekunden ebenfalls Widerstand gegen eine als fortschrittsfixierte und darwinistisch verstandene Leistungsgesellschaft. Sexualität artikuliert sich als
Suche nach noch nie da gewesenen Lüsten, die sich ebenso in Homosexualität oder im
Auskosten erotischer Phantasien äußert, aber in keinem Falle der geschlechtlichen Fortpflanzung dienlich ist und damit aus bürgerlicher wie auch medizinischer Sicht als pervers eingestuft wird.
Vgl. Hiltrud Gnüg: Kult der Kälte: Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart, 1988, 12sqq.
Zur weiteren Differenzierung siehe Peter Kuon: „Metamorphose als geisteswissenschaftlicher Begriff“, in: Herwig Gottwald/Holger Klein: Konzepte der Metamorphose in den
Geisteswissenschaften, Salzburg, 2005, 1-16.
Ibid., 4.
Jean-Pierre Saidah: „Préface“, in: Catherine Lingua: Ces anges du bizarre. Regard sur
une aventure esthétique de la Décadence, Paris, 1995, 13-17, 15sq.
Metamorphose als Intertextualität ist für den naiven Leser zunächst eine gegenständliche
Metamorphose. Sobald er aber die Analogie zur Ovid-Episode erkennt, vollzieht sich in
seinem Geist blitzartig eine zweite Metamorphose, die die Figuren jeweils mit den Ovidschen Figuren gleichsetzt. Die zweite Metamorphose setzt voraus, dass die erste nicht
mehr als mythologische oder fiktionale Wirklichkeit, sondern als textuelles Phänomen
wahrgenommen wird (vgl. Kuon, 11).
Als klassischer weiblicher Dandy gilt Marguerite de la Mole aus Stendhals Le rouge et le
noir (1830). „Sie entspricht in ihrer Erscheinung und ihrer Selbstdarstellung ganz dem
Bild, das Barbey d’Aurevilly und Baudelaire vom Dandy entworfen haben“ (Gnüg, 165).
Vgl. Diana Holmes: Rachilde: Decadence, Gender and the Woman Writer, Oxford, 2001, 9sqq.
Rachilde: Dans le puits ou la vie inférieure 1915-1917, Paris, 1918, 36.
Vgl. André David: Rachilde – Homme de lettres. Paris, 1924, 13.
Ibid., 20.
Rachilde: A Mort. Paris, 1886, 20sq.
„In her work, she wove her anger [benachteiligte Stellung Rachildes innerhalb ihrer Familie, benachteiligte Position der Frauen insgesamt; Anmerkung der Verf.] into dramatic images of gender disguise and confusion, sadistic confrontation and violent death, love not
just withheld but transformed into the desire to kill“ (Holmes, 112).
Korte-Klimach, 125.
Holmes, 44.
Korte-Klimach, 23.
Maurice Barrès: Préface de Monsieur Vénus. Paris, 1977, 14.
Ibid., 17.
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27 Catherine Lingua: Ces anges du bizarre. Regard sur une aventure esthétique de la Décadence. Paris, 1995, 24.
28 „Konsequent hinterfragt er [der dekonstruktive Feminismus, Anmerk. der Verf.] die Oppositionsbildungen männlich/weiblich und die essentialistische Vorstellung der Geschlechtsidentität, sei sie nun als biologische, gesellschaftliche, historische oder kulturell geprägte
Positionalität gedacht“ (Gabriele Rippl: „Feministische Literaturwissenschaft“, in: Miltos Pechlivanos/Stefan Rieger (eds.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart, 1995, 230).
29 Diesen misogynen Frauenbildern liegen philosophisch fundierte Fiktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit zugrunde, die auf eine traditionsreiche geschlechtsspezifische Polarisierung zwischen Kultur und Natur, Verstand und Gefühl, Geist und Körper, Subjekt und
Objekt rekurrieren. Demnach kommt dem Mann der Subjektstatus zu, während man die
Frau als sogenanntes schwaches Geschlecht zum Objekt der Betrachtung degradiert.
Männlichkeit wird mit Potenz, Kraft, Stärke, Aktivität, Geist, Intellekt, Kreativität assoziiert,
Weiblichkeit mit Schönheit, Impotenz, Passivität, Rezeptivität und Naturhaftigkeit. „‘Frau’
konnotiert in unserer westlichen Kultur heute nur deshalb Passivität, Gefühl, Körper, Natur und Anpassungsfähigkeit, weil ‘Mann’ Aktivität, Rationalität, Geist, Kultur und Individualismus verkörpert“ (Rippl, 230).
30 An dieser Stelle sollen nun nicht alle (vermeintlichen) Gemeinsamkeiten von Autorin und
Protagonistin aufgeworfen werden (vom geschlechtsneutralen Namen angefangen bis hin
zur Selbstinszenierung als Mann in Bild (Verkleidung) und Schrift („Rachilde – homme de
lettres;“ „Monsieur Raoule de Vénérande“)), sondern textimmanent eine Analyse der Dekonstruktion der Geschlechtergrenzen vorgenommen werden.
31 Bei Textzitaten und Verweisen werden die Seitenzahlen in Klammer gesetzt und Monsieur Vénus mit MV abgekürzt.
32 Gutjahr, 61sq.
33 „It [Cross dressing, Anmerk. der Verf.] ranges from simply wearing one or two items of
clothing to a full-scale burlesque, from a comic impersonation to a serious attempt to pass
as the opposite gender, from an occasional desire to experiment with gender identity to
attempting to live most of one’s life as a member of the opposite sex“, Vern L. Bullough/
Bonnie Bullough: Cross Dressing, Sex, and Gender, USA, 1993, VII.
34 Sie lehnt die lesbische Liebe ab: „Etre Sapho, ce serait être tout le monde! Mon éducation m’interdit le crime des pensionnaires et les défauts de la prostituée“ (MV, 85).
35 „Neueste Forschungsrichtungen in den USA, wie beispielsweise die Transvestismus-Forschung, rückt momentan von der üblichen Vorstellung von den zwei Geschlechtern ab
und spricht von einem dritten Geschlecht, das der Transvestit verkörpert. Mit dem dritten
Geschlecht als dritter Person wird versucht, das schwierige Problem des Denkens in binären Oppositionen wie männlich/weiblich zu umgehen“ (Rippl, 230).
36 Korte-Klimach, 144.
37 Raoule de Vénérande lehnt alle Frauen, die sie umgeben, ab, Marie Silvert sieht sie lediglich
als „une servante, rien de plus!“ (MV, 91) an, mit ihrer Tante Elisabeth bricht sie (MV, 114-120).
38 Perversion ist eine Bezeichnung für eine zeit- und gesellschaftliche Abweichung von den
allgemein als verbindlich geltenden kulturellen und sozialen Normen. Besonders im sexuellen Bereich spricht man bei der Bevorzugung unüblicher sexueller Praktiken (wie
dem Sadomasochismus) von Perversion (Vgl. Lexikon der Psychologie, Heidelberg,
2001, „Perversion,“ 246sq.).
39 Die Szene, in der Jacques vor den Augen Raoules badet, erinnert zunächst stark an „Susanna im Bade“ und Jacques wird bewusst, dass Raoule gänzlich von ihm Besitz ergriffen
hat, „troublé subitement par la honte de lui devoir aussi la propreté de son corps“ (MV, 54).
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40 Barrès, 19sq.
41 Holmes, 120. Hier wird ein Topos der Literatur angesprochen: Sandra Gilbert/Susan Gubar
nennen den Akt der Verstummung weiblicher Romanfiguren bei männlichen Autoren „killing
into art“ (vgl. Susan Gilbert/Susan Gubar: The Madwoman in the Attic, London, 1980, 72).
42 Vgl. Holmes, 116.
43 Vgl. auch hierzu die Charakterisierung (in diesem Kontext) einer der bekanntesten
femme fatales der Literaturgeschichte, Prosper Mérimées Carmen (1848): Die freiheitsliebende und leidenschaftliche Zigeunerin wird u.a. mit Tieren („C’était une beauté
étrange et sauvage, une figure qui étonnait d’abord, mais qu’on ne pouvait pas oublier.
Ses yeux surtout avaient une expression à la fois voluptueuse et farouche que je n’ai trouvée
depuis à aucun regard humain. Œil de bohémien, œil de loup, c’est une diction espagnole qui dénote une bonne observation. Si vous n’avez pas le temps d’aller au Jardin
des Plantes pour étudier le regard d’un loup, considérez votre chat quand il guette un moineau.“) und dem Teufel („Tu es le diable, lui disais-je. – Oui, me répondait-elle“) assoziiert.
44 In Verbindung mit den Frauenbildern des Fin de siècle muss auch der Hysterikerinnendiskurs gelesen werden. Die Hysterie (griechisch: Gebärmutter) gilt im Fin de siècle als
spezifisch weibliche Krankheit; die Frauen, von körperlichen Begierden geleitet, sind Opfer der eigenen Gefühle, die sich bis zu epilepsieartigen Zuständen steigern können:
„Raoule s’écria Jacques, la face convulse, les dents crispées sur la lèvre, les bras étendues comme s’il venait d’être crucifié dans un spasme de plaisir …“ (MV, 98). Im weiteren
Sinn kann der Hysteriediskurs in Monsieur Vénus als kulturelles Phänomen betrachtet
werden, das den gesamten Geschlechterdiskurs und die Epoche widerspiegelt: „To apprehend the phenomenon that I call hystericization of culture we must focus here on a
historical moment experienced as anchorless and uncentered: a moment of crisis related
to the razing political and social structures and, more significantly, the demolishing of a
symbolic system. The body of the hysteric – mobile, capricious, convulsive – is both
metaphor and myth of an epoch: emblem of whirling chaos and cathartic channelling of it”
(Renée A. Kingcaid: Neurosis and Narrative. The Decadent Short Fiction of Proust,
Lorrain and Rachilde. Illinois, 1992, 13sq.).
45 Auf die Figuren Marie Silvert und Mme Elisabeth soll hier nicht weiter eingegangen werden. Erwähnt sei noch, dass Marie Silvert, „la plus dégoutante des prostitutées“ (MV,
137), mit ihrem Einsatz der Sexualität, der Fixierung auf materielle Ziele und der Skrupellosigkeit, mit der sie sowohl Raoule und Jacques verkuppelt als auch die Affäre von
Jacques und Raittolbe aufdeckt, einige Züge einer femme fatale aufweist. Mme Elisabeth
hingegen, eine Stiftsdame, „pleine de vertus“ und „vierge de quarante printemps“ (MV,
38) bietet mit ihrer schwarzen Kleidung, ihrer Hinwendung zum Glauben bis zum Rückzug ins Kloster das Bild einer femme fragile. Ihre adelige Abstammung und ihre Tugendhaftigkeit machen aus Elisabeth eine stolz-arrogante Persönlichkeit, die die Verbindung
von Raoule und Jacques in dem Maße ablehnt, dass sie sich bei der Ankündigung der
Heirat der beiden ins Kloster zurückzieht. Im Vergleich zu Raoule wirkt Elisabeth fremdbestimmt, weltfremd und devot.
46 Korte-Klimach, 127.
47 Siehe hierzu ibid., 67-74.
48 Ibid., 127.
49 Ibid., 130.
50 Kuon, 13sq.
51 Die Dekadenzliteraten plädieren für „à se fabriquer sa vision, s’imaginer avec soi-même
les créatures d’un autre temps, s’incarner en elles, endosser, si l’on peut l’apparence de
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leur défroque, se forger enfin, avec des détails adroitement triés, de fallacieux ensembles“ (Françoise Grauby: La Création mythique à l’époque du Symbolisme. Histoire, analyse et interprétation des mythes fondamentaux du Symbolisme. Paris 1994, 8sq.).
Für den Dandy steht die Frau für alles Natürliche, das er ablehnt: „Le refus du naturel est
catégorique. Aux yeux de des Esseintes l’artificiel est de mise. Il est indigne d’un esprit
évolué de s’intéresser à une fleur normale, de même qu’il est banal de choisir uniquement des fleurs ‘abnormes’ ou anormales“ (François Livi: J.-K. Huysmans: A rebours et
l’esprit décadent. Paris, 1985).
Korte-Klimach, 132.
Vgl. Irène Aghion/Claire Barbillon: Reclams Lexikon der antiken Götter und Heroen in der
Kunst. Ditzingen, 2000, 51.
Vgl. H. Cancik/H. Schneider: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 12/2, Stuttgart, 2003, 19.
„Vénus de Callipyge“ (MV, 55), „Vénus de Milo“ (MV, 47), „Vénus Impérial“ und „Vénus
du Titien“ (MV, 169). Hierbei korrespondiert die Inneneinrichtung Raoules mit VenusStatuen mit ihrem Idealbild Jacques.
Aufgrund der subjektiv-individualistischen Grundhaltung des männlichen Dandys, seiner
pervertierten Sexualität und den daraus entspringenden Unterwerfungsphantasien wird
die femme fatale zur einzig möglichen Gegenspielerin. Ihr Kunstcharakter steht dabei im
Vordergrund und wird zum Ersatz der Realität.
Den Zusammenhang zwischen Verführung, Maskerade und Metamorphose elaboriert
bereits der größte Verführer der Antike: Zeus verführt als Stier Europa, ein andermal nähert
er sich Leda als Schwan und der Antiope als Satyr. Durch die Gestaltveränderung verführt
er die Frauen auf immer neue Art und Weise.
Einen weiteren Deutungsansatz sieht Korte-Klimach hier in Verbindung von Rachilde und
der weiblichen Autorschaft: Raoule als Schöpferin des Monsieur Vénus korrespondiert
mit Rachilde, der Autorin von Monsieur Vénus, die sich den Schwierigkeiten der weiblichen Autorschaft im fin de siècle stellen musste (vgl. hierzu Korte-Klimach, 67sqq.).
Diese Sezierung von Jacques’ Körper kann im Sinne der Dekonstruktion als Parodie des
literarischen Dekonstruktionsprozesses gelesen werden.
Pygmalion erweckt eine Statue mit Hilfe der Göttin Venus und nimmt diese dann – als sie
durch seine Liebe reale Gestalt annimmt – zur Frau (vgl. Karl Kerényi: Mythologie der Griechen. Bd. 1: Die Götter- und Menschheitsgeschichten, München, 1997, 57sq.; 61).
Résumé: Anne-Berenike Binder, Métamorphoses du soi – Monsieur Vénus (1884) par
Rachilde. Le dandy symbolise la décadence du fin de siècle qui propage la séparation de la
vie et de l’œuvre. La mise en scène du dandy féminin est le thème central dans la vie et
l’œuvre de l’auteur et critique littéraire française Rachilde (1860-1953): non seulement que
Rachilde place dans Monsieur Vénus (1884) un dandy féminin au centre de l’affabulation,
mais comme Raoule de Vénérande (la protagoniste de Monsieur Vénus) Rachilde se déguise
en dandy et représente elle-même, comme homme de lettres, les thèmes principaux de son
roman: un discours des sexes ambivalent, crossdressing, androgynie et mise en scène de soi.
L’enquête s’emploie – dans le contexte de Rachilde et son œuvre – à approfondir la transposition littéraire du dandy féminin en se fondant sur des concepts de métamorphoses et ceci
sur la base du changement de paradigmes dans l’entendement du rôle des sexes à l’époque
de la décadence.
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