Ibrahim, Björn und die Flucht nach oben

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Ibrahim, Björn und die Flucht nach oben
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Foto: © Juliane Fischer (6)
DAS THEMA DER WOCHE | Braucht Nächstenliebe Grenzen? |
DIE FURCHE • 38 | 17. September 2015
Hilfe auf
Schwedisch
Die Gratis-U-BahnZeitung Metro will
beim Helfen helfen (li.). Sie widmet dem Flüchtlingsthema die
gesamte Ausgabe. „Refugees Welcome“ heißt es am
Bahnhof in Stockholm (re.). Freiwillige Helferinnen
und Helfer teilen
Kleidung, Essen
und Hygieneartikel aus.
Gemessen an der Bevölkerungszahl hat Schweden bislang die meisten Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union aufgenommen.
Wie kommt der skandinavische Parade-Wohlfahrtsstaat damit zurecht? Eine Reportage über Asylpolitik und Integration in Blau-Gelb.
Ibrahim, Björn und die Flucht nach oben
| Von Juliane Fischer / Stockholm
linge?“, wollen Freiwillige von ihr wissen.
Daphne kennt die Grundbedürfnisse: Wasserflaschen, Schmerztabletten, Deo, Zahnpasta. „Ich sage immer: Denkt daran, was ihr
braucht, um euch gut und frisch zu fühlen.
Flüchtlinge kommen ja nicht von einem anderen Planeten.“
Draußen vor dem Bahnhofseingang tummeln sich derweil die Gratiszeitungsverteiler. Den Umschlag der Metro-Zeitung ziert
doppelseitig die gelb-blaue Schweden-Flagge und der Schriftzug „Välkomna till Sverige“ – Willkommen in Schweden. Die gesamte Ausgabe ist dem Flüchtlingsthema
gewidmet, in der Heftmitte finden sich 59
Willkommenswünsche der Stockholmer
I
n Syrien hätte Ibrahim der Militärdienst
gedroht, die Gültigkeit seines Passes
konnte nicht verlängert werden. Vor 14
Monaten ist er deshalb mit seiner Frau Satanay nach Schweden geflohen – wie bisher
rund 15.000 Syrerinnen und Syrer. Insgesamt 48.000 Schutzsuchende hat Schweden
bis dato aufgenommen, hochgerechnet auf
die Zahl der Einwohner die meisten innerhalb der Europäischen Union.
In der teuren Hauptstadt Stockholm waren bislang freilich kaum Veränderungen
zu merken. Meist wurden die Flüchtlinge
in ungenutzten Gebäuden an der Peripherie untergebracht. Doch in den vergangenen
zwei Wochen hat sich die öffentliche Wahrnehmung gewandelt. 15.000 Menschen haben sich vorvergangenen Sonntag in einem
Meer aus Regenschirmen am Stockholmer
Medborgerplatsen (Bürgerplatz) zur „Refugees-Welcome“-Demonstration versammelt.
„Schweden wird weiterhin seine Verantwortung wahrnehmen“, erklärte der sozialdemokratische Premierminister Stefan Löfven
bei der Kundgebung. „Aber das reicht nicht
mehr aus. Ganz Europa muss mehr tun. Es
braucht ein verpflichtendes und permanentes Umverteilungssystem.“ Am Morgen
darauf listete er zehn Standpunkte für eine Europäische Flüchtlingsreform und reiste damit am Dienstag zur deutschen Kanzlerin, bevor er den österreichischen Kanzler
Werner Faymann in Stockholm empfing.
Polarisierte Gesellschaft
Seither hat sich die Lage freilich dramatisch zugespitzt. Zugleich nimmt – wie in
den meisten europäischen Ländern – die gesellschaftliche Polarisierung zu. Die nationalistischen Schwedendemokraten kamen
in den letzten Umfragen auf 18 Prozent, was
ein Plus von fünf Prozent innerhalb eines
Jahres bedeutet. Andererseits unterstützt
ein Großteil der Schweden die Zuwanderung: In Umfragen geben zwei Drittel an, sie
seien bereit, Flüchtlingen zu helfen.
Wobei die meisten darunter vor allem
Kleider- oder Geldspenden verstehen, die
sie etwa am Stockholmer Bahnhof deponieren. Im Vergleich zur Situation in München oder Wien ist die Lage hier aber vergleichsweise überschaubar. Daphne, eine
junge Modejournalistin, stapelt gemeinsam mit anderen in einem Seitentrakt des
riesigen Bahnhofkomplexes Jausenbrote
auf drei Tischen. „Was brauchen die Flücht-
„
Durchschnittlich sieben bis neun Jahre dauert es,
bis ein anerkannter Flüchtling in Schweden
Arbeit findet. In peripheren Gebieten ist es fast
unmöglich, einen passenden Job zu bekommen.
“
Bevölkerung. Auch vom Vorzeigeprojekt
„Kompis Sverige“ ist hier die Rede. Das Buddyprogramm organisiert Treffen zwischen
Flüchtlingen und Schweden durch Interessens-Matching: Menschen mit ähnlichen
Hintergründen sollen einander kennenlernen – egal, wo sie aufgewachsen sind.
Auch Ibrahim und seine Frau Satanay haben sich hier angemeldet. Am Matching-Tag
treffen sie erstmals auf ihren „Kompis“, den
schwedischen Freund, mit dem sie zumin-
Gesichter
der Krise
Hans Rosling erklärt, warum
Flüchtlinge nicht in
Flugzeuge steigen
können; Grün-Politiker Jakop Dalunde weiß, dass Integration die größte
Herausforderung
darstellt; im Rahmen des Projektes
„Kompis Sverige“
(Freund Schweden) begegnen einander Björn und
Ibrahim sowie
Satanay und Marie
(von links oben im
Uhrzeigersinn).
dest im nächsten halben Jahr immer wieder einmal etwas unternehmen werden. Am
Donnerstag steht Kajakfahren auf dem Programm, doch zuerst lernen sich die Freunde
in spe im Aufenthaltsraum einer Rot-KreuzStation bei der „Fika“ kennen, dem traditionellen schwedischen Kaffeekränzchen.
Unter einem Pop-Art-Plakat von Nelson
Mandela plaudert die Layout-Designerin
Satanay angeregt mit der Bildhauerin Marie. Sie schmieden schon gemeinsame Pläne für Slow Motion Videos mit Keramikfiguren, während sich nebenbei auch
Satanays Schwedischkenntnisse verbessern. Ibrahims Freund soll Björn werden,
ein Journalist beim schwedischen Boulevard-Blatt Expressen. „Ich bin für ein offenes
Schweden der unterschiedlichen Kulturen,
aber eigentlich habe ich nur schwedische
Freunde“, gesteht er. „Das finde ich schade.“ Warum die beiden Männer als „Kompis“
ausgewählt wurden, liegt auf der Hand: Wie
Björn hat auch Ibrahim als Journalist gearbeitet, er war als Dokumentarfilmer in Dubai unterwegs. Von dort war die Reise nach
Syrien einfach, aber Satanays Brüder mussten den lebensgefährlichen Seeweg in überfüllten Flüchtlingsbooten auf sich nehmen.
Warum Asylsuchende nicht einfach in ein
Flugzeug steigen können, hat Hans Rosling,
Professor für Internationale Gesundheit am
Karolinska Institut in Stockholm, in einem
seiner tausendfach angeklickten Kurzvideos erklärt. Das Problem sei die EU-Direktive 2001/51/EC, so Rosling: Sie verpflichtet
Fluglinien und Schifffahrtsunternehmen,
welche Menschen ohne gültiges Visum in
ein EU-Land transportieren, etwaige Kosten
für deren Rücktransport zu übernehmen.
Damit stiehlt sich die Europäische Kommission aus der Verantwortung und delegiert
sie an das Personal am Check-In-Schalter.
Jakop Dalunde, Parlaments-Abgeordneter der Grünen, die in Schweden gemeinsam mit den Sozialdemokraten die Regierung stellen, plädiert für offene Grenzen,
hält aber einen alternativen Mittelweg für
wahrscheinlicher: Mit einem Visum im Herkunftsland soll man auf legalem Weg flüchten können, um im Zielland um Asyl anzusuchen. Ideen kommen auch aus der
Zivilgesellschaft: Vergangenes Wochenende
wurde etwa die Initiative „Refugee Air“ ins
Leben gerufen. Die Kooperation mit Fluggesellschaften soll Flüchtlingen einen sicheren Luftweg eröffnen.
Ankunft im Wohlfahrtsstaat. Und dann?
Der Zivilgesellschaft wird das Helfen einfach gemacht. Viele Privatpersonen nehmen
selbst Flüchtlinge bei sich auf, weil es unbürokratisch ist und von staatlicher Hand finanziell unterstützt wird. Zudem ist vielen
Schweden bewusst, dass Zuwanderung auch
einen Zugewinn an wichtigen Arbeitskräften bedeuten kann. Das bestätigt der Diplomat Lars-Erik Lundin vom Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI):
„Ein Viertel unserer Ärzte sind Einwanderer.
Wir können uns über Arbeitskräftezuwachs
freuen. Uns abzuschotten können wir uns
schlichtweg nicht leisten“, ist er überzeugt.
Doch laut schwedischer Arbeitsagentur
dauert es durchschnittlich sieben bis neun
Jahre, bis ein anerkannter Flüchtling Arbeit
findet. „Die wahre Herausforderung liegt also in der Integration“, sagt Jakop Dalunde,
der ebenfalls zum Stockholmer Bahnhof gekommen ist, um zu helfen. In peripheren
Gebieten sei es fast unmöglich, einen passenden Job zu finden. Damit steigt nicht
nur die Gefahr, dass am sozialen Rand eine
Parallelgesellschaft entsteht – auch große
Chancen für Schweden selbst sind verloren.
Wie man die Aufgenommenen in Gesellschaft und Arbeitswelt eingliedern kann,
dafür fehlt also noch das Konzept. Aber zumindest den Willen dazu gibt es – und Projekte wie „Kompis Sverige“, deren Wunderwaffe die Begegnung ist.
| Dieser Artikel entstand im Rahmen von
„eurotours 2015“, einem Projekt des Bundespressedienstes im Bundeskanzleramt. |