Motivation 3.0

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Motivation 3.0
SCHWERPUNKT MOTIVATION
Bestseller-Autor Daniel H. Pink über Motivation, Belohnung und Strafe
Motivation 3.0 –
G
eld und Status sind auf lange
Sicht schlechte Motivatoren, sagt
Daniel H. Pink, das Geheimnis unseres
persönlichen Erfolgs liege vielmehr in
dem zutiefst menschlichen Bedürfnis,
unser Leben selbst zu bestimmen,
zu lernen, Neues zu erschaffen und
damit unsere Lebensqualität und unsere Welt zu verbessern. In „DRIVE“
stellt Pink den in der Wirtschaft noch
immer weitverbreiteten Ansätzen von
Belohnung und Bestrafung ein neues
Konzept gegenüber, das auf Selbstbestimmung, Perfektionierung und
Sinnerfüllung abzielt. Der folgende
Beitrag ist ein Auszug aus seinem
jüngsten Buch, das die Umrisse der
„Motivation 3.0“ skizziert.
Daniel H. Pink, amerikanischer Wissenschaftsjournalist und ehemaliger Redenschreiber
des früheren Vizepräsidenten Al Gore, wurde
durch seinen Bestseller A Whole New Mind
bekannt. Auch sein neues Werk Drive
schaffte es innerhalb kürzester Zeit auf die
Bestsellerliste der „New York Times“. Daniel
H. Pink lebt in Washington, D. C.
Motivationstraining brauchte er nicht: Sir Edmund
Hillary (links) gelang 1953 zusammen mit Tenzing Norgay die Erstbesteigung des Mount Everest. Was ihn
angetrieben habe? Der Berg sei einfach da gewesen,
antwortete er einmal lakonisch auf diese Frage.
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Am Anfang der Menschheit, vor ungefähr 50 000 Jahren, war die zugrunde
liegende Annahme über das menschliche
Verhalten einfach und zutreffend. Wir
versuchten zu überleben. Vom Durchstreifen der Savanne, um Nahrung zu
sammeln, bis zur schnellen Flucht in die
Büsche, wenn sich ein Säbelzahntiger näherte – dieser Antrieb lenkte den Großteil unseres Verhaltens. Lassen Sie uns
dieses frühe Betriebssystem Motivation 1.0 nennen. Es war weder sonderlich
elegant, noch unterschied es sich stark
von den Systemen der Rhesusaffen, Menschenaffen oder vieler anderer Tiere. Aber
es leistete gute Dienste. Es funktionierte gut. Bis es dies nicht mehr tat.
Als Menschen begannen, komplexere Gesellschaften zu bilden, sich gegen
Fremde zur Wehr zu setzen und besser
zusammenarbeiten mussten, um Dinge
zu erschaffen, war ein Betriebssystem,
das rein auf dem biologischen Trieb basierte, unpassend. Wir mussten tatsächlich manchmal sogar versuchen, diesen
Trieb zu zügeln – um zu verhindern, dass
ich Dir Dein Essen stehle und Du mir
meine Frau wegnimmst. Und so haben
wir in einem bemerkenswerten Prozess
der Entwicklung kultureller Höchstleistungen unser Betriebssystem langsam
durch eine Version ersetzt, die besser daran angepasst war, wie wir nun arbeiteten und lebten.
Ein harter Knochen, würden wir heute
vermutlich sagen: Der norwegische Polarforscher
Roald Amundsen schlief schon als Jugendlicher im
eisigen Winter bei geöffnetem Fenster, um sich
auf eine Karriere als Polarforscher vorzubereiten.
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sowie den wachsenden Wunsch nach Selbstverwirklichung
der Abschied von Zuckerbrot und Peitsche
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Wie Belohnung und Strafe wirken
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Im Herzen des neuen, verbesserten Betriebssystems befand
sich eine korrigierte und spezifischere These: Wir Menschen
sind mehr als nur die Summe unserer biologischen Bedürf-
vom Vertragsrecht bis hin zu Nachbarschaftsläden alles Mögliche daraus entwickelt wurde.)
Die Nutzung dieser zweiten treibenden Kraft hat insbesondere in den letzten zwei Jahrhunderten weltweit zum wirtschaftlichen Fortschritt beigetragen. Denken Sie nur an die
Was umtreibt Weltraumtouristen? Für Charles Simonyi, amerikanischer
Programmierer und Softwareentwickler ungarischer Abstammung, waren
seine Flüge zur Internationalen Raumstation gleichsam Studienreisen.
„Warum ich noch klettere?“, fragt sich Reinhold Messner in seinem
Buch Westwand (2009). Die Antwort darauf sei keine Sache des
Verstandes, sondern „tief in der Emotion verankert“.
nisse. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die erste treibende
Kraft noch immer eine wichtige Rolle spielte – aber sie stand
nicht mehr gänzlich dafür, wer wir sind. In uns steckte noch
eine zweite treibende Kraft, die uns motivierte, verstärkt nach
Belohnungen zu streben und Strafen zu vermeiden. Als Folge dieser Einsicht entstand ein neues Betriebssystem – nennen wir es Motivation 2.0. (Natürlich reagieren auch Tiere
auf Belohnung und Bestrafung, aber nur Menschen haben
sich als fähig erwiesen, diesen Antrieb so zu steuern, dass
Industrielle Revolution. Technische Fortschritte – wie die Erfindung der Dampfmaschine, der Eisenbahn oder der Elektrizität – haben bei der Förderung des Industriewachstums eine entscheidende Rolle gespielt. Aber auch weniger greifbare
Innovationen haben ihren Teil dazu beigetragen – wie die Arbeit eines amerikanischen Ingenieurs namens Frederick Winslow
Taylor, der den Eindruck hatte, dass die Unternehmen auf eine ineffiziente und willkürliche Art und Weise geführt wurden – er entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts das von ihm
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so bezeichnete „wissenschaftliche Management“. Diese
Erfindung war eine Art „Software“, perfekt geplant, um
im Betriebssystem Motivation 2.0 zu laufen. Und sie wurde schnell und flächendeckend eingeführt.
Nach diesem Ansatz verhielten sich Arbeiter wie Teile einer komplizierten Maschine. Wenn sie die
richtige Arbeit auf die richtige Weise zur richtigen Zeit erledigten, würde die Maschine problemlos funktionieren. Und um dies zu gewährleisten,
müsse man lediglich das erwünschte Verhalten belohnen und das verpönte bestrafen. Menschen
würden rational auf diese äußeren Antriebskräfte – die extrinsischen Motivatoren – reagieren und
dadurch sich selbst und dem Unternehmen Erfolg bringen. Wir neigen dazu zu glauben, Rohstoffe wie Kohle und Öl hätten die wirtschaftliche Entwicklung angetrieben. In gewissem Sinne
aber wurde der Motor des Handels gleichermaßen mit Zuckerbrot und Peitsche betrieben.
Das Betriebssystem Motivation 2.0 hat sich
sehr lange Zeit gehalten. Tatsächlich ist es so fest
in unserem Leben verankert, dass die meisten
von uns seine Existenz kaum bemerken. Seit wir
uns erinnern können, haben wir unsere Unternehmen darauf ausgerichtet und unser Leben auf
seiner Grundthese aufgebaut: Um die Leistung
zu verbessern, die Produktivität zu erhöhen und
das Beste zu fördern, muss man das Gute belohnen und das Schlechte bestrafen.
ten, stieß der Ansatz von Motivation 2.0 auf so manchen
Widerstand. In den 1950er Jahren entwickelte Abraham
Maslow, ein ehemaliger Student von Harry Harlow an
der Universität von Wisconsin, das Fachgebiet der Humanistischen Psychologie – welches die Theorie infrage
Grenzen des
Systems Motivation 2.0
Doch obwohl Motivation 2.0 ausgereifter war
Sich selbst treu geblieben ist Rüdiger Nehberg, Abenteurer und Gründer der Menschenund höhere Ansprüche stellte als Motivation 1.0, rechtsorganisation Target. Foto: Nehberg eröffnet die aktuelle Ausstellung „Mit dem
hat es uns nicht gerade geadelt. Im Grunde be- Islam gegen weibliche Genitalverstümmelung“ im Hamburger Völkerkundemuseum.
hauptete das System, dass sich Menschen kaum
von Pferden unterscheiden – wenn es darauf ankommt, stellte, dass das menschliche Verhalten wie bei einer Ratuns mithilfe von „Zuckerbrot“ oder „Peitschenhieben“ te lediglich darin bestehe, nach positiven Impulsen zu
in die richtige Richtung zu lenken. Woran es diesem Sys- suchen und die negativen zu vermeiden. 1960 übernahm
tem an Erkenntnis mangelte, machte es durch Effektivi- Douglas McGregor, ein Professor für Management am
tät wieder gut. Es funktionierte gut, ja sogar sehr gut – MIT (Massachusetts Institute of Technology), einige
Ideen von Maslow und führte sie in die Welt der Wirtbis es dies nicht mehr tat.
Als das 20. Jahrhundert voranschritt, die Wirtschafts- schaft ein. Er bezweifelte die These, dass Menschen grundsysteme immer komplexer wurden und die Menschen sätzlich faul seien – dass wir ohne äußere Anreize wie Bedarin neue, weiterentwickelte Fähigkeiten einsetzen muss- lohnung und Bestrafung wenig tun würden. McGregor
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behauptete, dass der Mensch andere, stärkere Antriebskräfte besäße. Diese Kräfte könnten für Unternehmen nützlich
sein, wenn Manager und Führungskräfte sie anerkennen würden. Es ist zum
Teil McGregors Arbeit zu verdanken,
dass sich die Unternehmen schrittweise
weiterentwickelten. Der „Dress Code“
wurde gelockert, Zeitpläne wurden flexibler. Viele Unternehmen versuchten
den Mitarbeitern größere Autonomie zu
ermöglichen und unterstützten ihre Weiterentwicklung. Diese Neuerungen konnten zwar einige Schwächen ausmerzen,
liefen aber auf eine mäßige Verbesserung
des Systems hinaus, anstatt ihm ein
gründliches Upgrade zu verpassen – Motivation 2.1. (…)
Ziele und
unethisches Verhalten
Was kann wertvoller sein, als ein Ziel zu
haben? Seit frühen Jugendtagen empfehlen uns Lehrer, Trainer und Eltern,
uns Ziele zu setzen und hart daran zu
arbeiten, diese zu erreichen – und das
aus gutem Grund. Ziele funktionieren.
Die wissenschaftliche Literatur zeigt,
dass uns Zielsetzungen dabei helfen können, uns mehr zu bemühen, länger zu
arbeiten und mehr zu erreichen – indem
sie uns Ablenkungen ignorieren lassen.
Vor Kurzem aber hat eine Gruppe
von Wissenschaftlern der Harvard Business School, der Kellogg School of Management der Northwestern-Universität, Illinois, des Eller College of Management der Universität von Arizona
und der Wharton School der Universität von Pennsylvania die Wirksamkeit
dieser umfassenden Rezeptur infrage gestellt. „Anstatt sie als ‚rezeptfreies‘ Allheilmittel zum Ankurbeln der Leistung
zu verkaufen, sollten Ziele sehr selektiv
gesetzt, mit einem Warnhinweis verse56
hen und genau überwacht werden“1,
schrieben die Wissenschaftler. Ziele, die
sich Menschen selbst setzen und der eigenen Perfektionierung widmen, sind
meistens gesund. Jene Ziele hingegen,
die uns von anderen auferlegt werden –
Verkaufsziele, monatliche Erträge, standardisierte Testergebnisse und so weiter –, können manchmal gefährliche Nebenwirkungen haben.
Wie alle extrinsischen Motivatoren,
engen Zielsetzungen unseren Fokus ein.
Das ist ein Grund dafür, weshalb sie effizient sein können: Sie bündeln unsere
Aufmerksamkeit. Aber wie wir gesehen
haben, hat ein enger Fokus seinen Preis.
Bei komplexen und kreativen Aufgaben
kann eine Belohnung das weitsichtige
Denken einschränken, welches zum Finden innovativer Lösungen jedoch unerlässlich ist. Gleichfalls kann es sein, wenn
ein extrinsisches Ziel vorrangig ist – speziell ein kurzfristiges, messbares, dessen
Erreichen einen großen Erfolg darstellt –,
dass die Präsenz dieses Zieles unsere Sicht
auf die weiteren Dimensionen unseres
Handelns einschränkt. Die hochkarätigen Wirtschaftsprofessoren beschreiben
dieses Phänomen so: „Stichhaltige Beweise zeigen, dass Zielsetzungen nicht
nur konstruktives Bemühen, sondern
auch unethisches Verhalten auslösen
können.“
Risiken des
Führens mit Zielen
Dafür existieren zahlreiche Beispiele, wie
die Wissenschaftler feststellen. Das bekannte amerikanische Unternehmen
Sears führt bei den Angestellten seiner
Autowerkstätten Verkaufsziele ein – und
diese reagieren damit, dass sie den Kunden zu hohe Preise verrechnen und komplett unnötige Reparaturen durchführen. Der Energiekonzern Enron setzt
sich hochtrabende Umsatzziele – und
der Versuch, diese mit allen nur möglichen Mitteln zu erreichen, beschleunigt
den Untergang des Unternehmens. Der
Autohersteller Ford ist derart bemüht,
einen bestimmten Wagen mit einem bestimmten Gewicht zu einem bestimmten Preis an einem bestimmten Tag fertigzustellen, dass dabei Sicherheitschecks
ausgelassen werden und ein Auto wie
der gefährliche Ford Pinto vom Stapel
gelassen wird.
Das Problem, eine extrinsische Belohnung zur einzig relevanten Zielsetzung zu erklären, liegt darin, dass manche in der Folge den schnellsten Weg
dorthin wählen, auch wenn dies nur der
Weg des geringsten Widerstandes ist.
In der Tat gehen die Skandale und das
Fehlverhalten, die so typisch für unser
modernes Leben scheinen, meistens mit
Abkürzungen einher. Leitende Geschäftsführer spielen leichtsinnig mit dem Quartalsgewinn, damit sie selbst einen Leistungsbonus bekommen. Mittelschullehrer fälschen die Arbeiten von Schülern,
damit die Schulabgänger studieren können.2 Athleten spritzen sich Steroide, um
bessere Plätze zu erreichen und lukrative
Leistungsprämien kassieren zu können.
Vergleichen Sie diese Herangehensweise mit einem durch intrinsische Motivation ausgelösten Verhalten. Wenn die Belohnung die eigentliche Tätigkeit ist – wie
Wissen zu vertiefen, Kunden zufriedenzustellen oder einfach sein Bestes zu geben –, bedarf es keiner Abkürzungen. Der
einzige Weg zum Ziel ist, den ehrlichen
Weg zu gehen. In einem gewissen Sinn
kann man dann gar nicht unethisch handeln, weil die benachteiligte Person kein
Konkurrent, sondern Sie selbst sind.
Selbstverständlich sind nicht alle Ziele gleich. Und – lassen Sie mich diesen
Punkt betonen – Ziele und extrinsische
Belohnungen sind nicht von Natur aus
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verderbend. Ziele sind allerdings viel schädlicher,
als Motivation 2.0 dies eingesteht. Die Professoren der renommierten Wirtschaftsuniversitäten
meinen daher, dass sie mit einem eigenen Warnhinweis versehen werden sollten: Ziele können in
Unternehmen systematische Probleme verursachen – zurückzuführen auf einen eingeengten Fokus, unethisches Verhalten, erhöhte Risikobereitschaft, schlechtere Zusammenarbeit und verminderte intrinsische Motivation. Seien Sie daher vorsichtig, wenn Sie in Ihrem Unternehmen Zielvorgaben einsetzen. (…)
Daniel H. Pink über „Motivation 3.0“
Auf den dritten Antrieb bauen
Die drei Stufen der Motivation bei Daniel H. Pink – etwa die
Überlebensinstinkte, verankert in den Tiefen unseres Gehirns,
die auf Belohnung und Bestrafung konditionierte Arbeitskraft
des Industriezeitalters, der nach Selbstverwirklichung strebende Mensch in der Wissensgesellschaft – sind gleichsam nach
unten abwärtskompatibel. Das heißt, der alte Trieb kommt immer wieder durch, die Spuren unseres Jäger- und Sammlerdaseins werden wir nie ganz los, ebenso wenig wie wir gegen Lob
Umrisse des Typ-I-Verhaltens
Das Betriebssystem Motivation 2.0 war zugleich
abhängig und begünstigt von dem von mir so
bezeichneten Typ-X-Verhalten. Das Typ-X-Verhalten wird stärker von extrinsischem als von intrinsischem Begehren beeinflusst. Es beschäftigt
sich weniger mit der einer Tätigkeit innewohnenden Erfüllung als mit den äußeren Belohnungen, zu deren Erhalt diese Tätigkeit führt.
Das Betriebssystem Motivation 3.0 – das Upgrade, das nötig ist, um uns auf die neuen Gegebenheiten: wie wir organisieren, was wir tun,
darüber denken, was wir tun, und tun, was wir
tun, einzustellen – hängt von einem Verhalten
ab, das ich Typ I nenne. Das Typ-I-Verhalten
basiert eher auf intrinsischen Wünschen als auf
extrinsischen. Es beschäftigt sich weniger mit
den äußeren Belohnungen als Ergebnis einer Tätigkeit, sondern eher mit der Befriedigung durch
die Tätigkeit selbst. Im Mittelpunkt des Typ-XVerhaltens steht der zweite Antrieb. Im Mittelpunkt des Typ-I-Verhaltens steht hingegen der
dritte Antrieb.
Wenn wir unsere Unternehmen stärken, die
schlechte Leistung des letzten Jahrzehnts hinter
uns lassen und uns mit der rudimentären Wahrnehmung befassen wollen, dass in unseren Unternehmen, unserem Leben und unserer Welt etwas schiefgelaufen ist, dann müssen wir uns weg
vom Typ-X-Konzept und hin zum Typ-I-Denken bewegen. (Ich verwende diese zwei Buchstaben vor allem, um die Bedeutung „extrinsisch“
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oder Tadel völlig immun werden. In seinem Buch Drive. Was Sie
wirklich motiviert erinnert Daniel H. Pink noch einmal an die
humanistische Psychologie (z. B. McGregor und seine X- und
Y-Typologie), deren Ansätze in der Wirtschaft noch immer sträflichst vernachlässigt werden. Bis heute dominieren Belohnung
und Bestrafung, also Anreiz- und Belohnungssysteme der Stufe 2.0, die laut Pink „wunderbar bei algorithmischen Aufgaben“
funktionierten, in der heutigen Wissensgesellschaft aber kontraproduktiv und in erheblichem Maße schädlich seien.
Kronzeugen für den Ansatz Motivation 3.0 sind Edward Deci
und Richard Ryan mit ihren Arbeiten zur Selbstbestimmung.
Einen weiteren Baustein liefert Douglas McGregor, der schon
in den frühen 1960er-Jahren darauf hinwies, dass keineswegs
alle Mitarbeiter grundsätzlich faul und auf ihren Vorteil bedacht sind.
Die zentrale Idee seines Buches sei die „Diskrepanz zwischen
dem, was die Wissenschaft weiß, und dem, was die Wirtschaft
tut“ gewesen, schreibt Pink. Aber es bestehe Grund zur Hoffnung, denn die heute immer öfter geforderten Höchstleistungen in vielen Berufen ließen sich nun einmal nicht mit Belohnungen oder Bestrafungen erreichen, sondern seien „in unseren dritten Antrieb“ verankert,
in dem „Wunsch, unser Leben
selbst zu gestalten, zu entfalten, unsere Fähigkeiten zu erweitern und ein Leben voll Sinn
zu führen“.
Daniel H. Pink: DRIVE. Was Sie wirklich motiviert. Aus dem Englischen
übersetzt von Birgit Haim, Ecowin
Verlag, Salzburg, 2010, 240 Seiten,
Euro 21,90 (A/D), CHF 38,70
ISBN 978-3-902404-95-4
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und „intrinsisch“ anzudeuten, aber
auch, um McGregor meine Ehrerbietung zu erweisen.)
Natürlich gehen bei der Reduzierung des menschlichen Verhaltens auf
zwei Kategorien gewisse Abstufungen
unter. Kein Mensch zeigt jeden Tag
und jede Minute seines Lebens ausschließlich Typ-X- oder Typ-I-Verhalten, jedoch besitzen wir bestimmte, oft
sehr deutliche Wesensarten.
Sie werden wahrscheinlich wissen,
was ich meine. Denken Sie an sich
selbst. Was gibt Ihnen Energie – was
veranlasst Sie, morgens aufzustehen,
und was bringt Sie durch den Tag,
spornt Sie an? Kommen diese Kräfte
von innen oder von außen? Und wie
ist das bei Ihrem Ehepartner, Lebensgefährten oder Ihren Kindern? Wie bei
Ihren Arbeitskollegen? Wenn Sie so
sind wie die meisten Menschen, mit
denen ich gesprochen habe, dann haben Sie sofort ein Gespür dafür, in welche Kategorie jemand passt.
Ich möchte nicht behaupten, dass
Menschen des Typs X die natürliche
Freude an dem, was Sie tun, stets vernachlässigen – oder dass Typ-I-Menschen allen verlockenden Anreizen von
außen widerstehen könnten. Für X-Typen jedoch sind extrinsische Belohnungen der Hauptmotivator; jegliche tiefer gehende Befriedigung ist willkommen, aber nebensächlich. Für Typ-IPersonen ist der Hauptmotivator die
Ungezwungenheit, die Herausforderung und der Sinn des Vorhabens selbst;
andere Belohnungen sind willkommen, hauptsächlich jedoch als eine Art
Bonus. (…)
Das Typ-I-Verhalten ist erzeugt,
nicht angeboren. Die Verhaltensmuster sind keine unveränderlichen Charakterzüge. Es sind Neigungen, die sich
aufgrund von Umständen, Erfahrun58
gen und Zusammenhängen entwickeln.
Da das Typ-I-Verhalten zum Teil von
universellen menschlichen Bedürfnissen herrührt, hängt es nicht von Alter,
Geschlecht oder Nationalität ab. Die
Wissenschaft zeigt, wenn Menschen
erst einmal die grundlegenden Vorgehensweisen und Einstellungen erlernen – und sie in einer unterstützenden
Umgebung ausüben können –, erreichen ihre Motivation und ihre Spitzenleistungen ein höheres Level. Jeder
Typ X kann ein Typ I werden.
Typ I mit
überlegener Leistung
Auf lange Sicht übertrifft die Leistung
der I-Typen fast immer die der X-Typen. Intrinsisch motivierte Menschen
erreichen für gewöhnlich mehr als ihre belohnungshungrigen Gegenstücke.
Leider trifft dies kurzfristig betrachtet
nicht immer zu. Konzentriert man sich
intensiv auf extrinsische Belohnungen,
kann dies tatsächlich zu schnellen Resultaten führen. Das Problem dabei ist:
Dieser Ansatz kann nur schwer aufrechterhalten werden. Und er unterstützt auch nicht die Perfektionierung –
welche die Quelle für langfristigen Erfolg ist. Die erfolgreichsten Menschen –
und hier sind die Beweise eindeutig –
streben meist nicht unmittelbar die
konventionellen Erfolgsvorstellungen
an. Sie arbeiten hart und lassen sich
auch bei Schwierigkeiten nicht von ihrem Weg abbringen, weil sie das innere Verlangen haben, ihr Leben zu lenken, etwas über die Welt zu erfahren
und etwas zu schaffen, das Bestand
hat.
Typ-I-Verhalten verschmäht weder
Geld noch Anerkennung. Sowohl für
Typ-X- als auch für Typ-I-Menschen
ist Geld wichtig. Wenn die Entlohnung
eines Mitarbeiters nicht die Grundvoraussetzungen erfüllt, die ich in Kapitel 2 beschrieben habe – wenn ein Unternehmen also keine angemessene
Summe zahlt oder wenn der Lohn im
Vergleich zu anderen unfair ist, die eine ähnliche Arbeit machen –, wird die
Motivation des Mitarbeiters enorm sinken, egal, ob er oder sie eher Typ X
oder Typ I entspricht. Wenn jedoch
das Gehalt erst dieses Level erreicht hat,
spielt das Geld bei den zwei verschiedenen Typen völlig unterschiedliche
Rollen. Auch I-Typen lehnen Gehaltserhöhungen oder Gehaltsschecks nicht
ab. Aber für sie stellt eine angemessene und faire Entlohnung bloß sicher,
dass sie nicht mehr an Geld denken
müssen und sich auf die Arbeit konzentrieren können. Viele X-Typen hingegen konzentrieren sich nur auf das
Geld. Denn es ist der Grund, weshalb
sie tun, was sie tun. Ähnlich ist es bei
der Anerkennung: Die I-Typen freuen
sich, wenn sie für ihre Leistungen Anerkennung finden – weil Anerkennung
eine Form von Feedback ist. Aber für
sie ist Anerkennung kein Ziel an sich –
für X-Typen jedoch schon.
Typ-I-Verhalten ist eine erneuerbare Energiequelle. Stellen Sie sich vor, das
Typ-X-Verhalten ist Kohle und das
Typ-I-Verhalten die Sonne. Kohle war
lange Zeit die billigste, einfachste und
effizienteste Energiequelle. Aber Kohle
hat zwei Nachteile: Erstens verursacht
sie unangenehme Dinge wie Luftverschmutzung und Treibhausgase; zweitens ist sie begrenzt – ihr Abbau wird
von Jahr zu Jahr schwieriger und teurer.
Beim Typ-X-Verhalten ist es ähnlich:
Der betonte Einsatz von Belohnungen
und Strafen hat negative Folgen (wie in
Kapitel 2 ausgeführt). Und „WennDann“- Motivatoren werden immer teurer. Das Typ-I-Verhalten hingegen, das
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auf der intrinsischen Motivation aufbaut, schöpft aus jenen Ressourcen, die leicht auffüllbar sind und wenig Schaden anrichten.
Auf der Motivationsebene ist es das Äquivalent zu sauberer Energie: preiswert, sicher in der Anwendung und endlos erneuerbar.
Typ-I-Verhalten begünstigt besseres physisches und mentales Wohlbefinden. Laut unzähligen Studien zur Selbstbestimmungstheorie haben all jene, die auf Selbstbestimmtheit und intrinsische Motivation ausgerichtet sind, ein höheres Selbstwertgefühl, bessere zwischenmenschliche Beziehungen und ein größeres allgemeines Wohlbefinden als extrinsisch motivierte Menschen. Leute, die sich vor allem auf die Typ-X-Bestätigungen wie
Geld, Ruhm oder Schönheit konzentrieren, neigen hingegen dazu, sich in einer schlechteren psychischen Verfassung zu befinden. Es existiert sogar eine Verbindung zwischen Typ X und
Typ A: Deci fand heraus, dass Menschen, die Kontrolle und extrinsische Belohnungen anstrebten, sich mehr darum sorgten,
wie sie bei anderen ankommen, defensiver handelten sowie eher
das Typ-A-Verhaltensmuster aufwiesen.3
Letztendlich hängt das Typ-I-Verhalten von drei Nährstoffen ab: der Selbstbestimmung, der Perfektionierung und der
Sinnerfüllung. Typ-I-Verhalten ist selbstbestimmt. Es ist dem
Zweck gewidmet, in einer bedeutenden Aufgabe immer besser
und besser zu werden. Es verbindet das Streben nach Vortrefflichkeit mit einem höheren Ziel.
Die Auszüge stammen aus dem ersten Kapitel („Aufstieg und Fall von Motivation 2.0“), Seiten 28–31, Kapitel 2 („Sieben Gründe, warum Zuckerbrot
und Peitsche (oft) nicht funktionieren“), Seiten 65–67, und Kapitel 3 („Typ I
und Typ X“), Seiten 97–101. Die Zwischenüberschriften in diesem Text
stammen nicht vom Autor, sondern von der Redaktion.
fulfillment in contrast to the approaches of reward and punishment that are still widespread in business. Pink refers to humanistic psychology and is reminiscent of Douglas McGregor, but
his prime witnesses for “Motivation 3.0” are Edward Deci and
Richard Ryan with their theory of self-determination. His book’s
central idea is the “discrepancy between what science knows and
what business does”, writes Pink. Reward and punishment, i.e.
level 2.0 incentive and reward systems, still dominate today,
which according to Pink worked “brilliantly with algorithmic
tasks” but are counterproductive and to a great degree damaging
in today’s knowledge-based society. However, there is reason for
hope as the increasingly often demanded top performances in
many professions today cannot be achieved by reward and punishment but are anchored in “our third drive”. This article is an
extract from his latest book which outlines “Motivation 3.0”.
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Hochschule Pforzheim
1/4 Seite 2sp. / 4c
Anmerkungen
1 Ordonez, L. D. / Schweitzer, M. E. / Galinsky, A. D. / Bravermann, M. H.
(2009): Goals gone wild: The systematic side effects of overprescribing goal
setting, Harvard Business School Working Paper, Nr. 09-083
2 Applebome, P. (2009): When grades are fixed in college-entrance derby,
New York Times, 7.3.2009
3 Ryan, R. M. / Deci, E. L. (2000): Self-determination theory and the
facilitation of intrinsic motivation, social development and well-being,
in: American Psychologist, 55
Summary
The End of Carrot and Stick
Money and status are poor motivators in the long term, says
Daniel H. Pink, the secret to our personal success is far rather
found in the deepest human need to shape our own life, to learn,
create something new, and therefore improve our quality of life
and world. In “DRIVE”, Pink presents a new concept that is
geared towards self-determination, perfecting development and
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