Henry Dunant und Stuttgart

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Henry Dunant und Stuttgart
 Henry Dunant und Stuttgart
Von Christian B. Schad, Konventionsbeauftragter des DRK-Kreisverbandes Stuttgart
Rund zehn Jahre hat Henry Dunant in Stuttgart gelebt.
Nach seinem finanziellen Ruin nahmen sich ihm seine
Stuttgarter Freunde an. Er wohnte im Hause von Pfarrer
Dr. Ernst Wagner in der Hasenbergsteige.
Vier Städte sind es, die für Dunants Biographie von
Bedeutung sind: seine Geburtsstadt Genf, das Schlachtfeld von Solferino, sein Erholungsort Stuttgart und im
Alter sein Wohnort Heiden.
Verarmt erhielt Dunant 1876 im Hause von Pfarrer Dr. Ernst
Wagner in der Hasenbergsteige 7, die heute die Hausnummer 10 trägt, eine Bleibe. Das Gebäude wurde im Zweiten
Weltkrieg zerstört.
Foto rechts: Der am 8. Mai 1828 geborene Jean Henry Dunant im Jahr 1863.
Es war im November 1862. „Eine Erinnerung an Solferino“ betitelte Henry Dunant sein Buch.
Er war lange Zeit zur Erholung in den Bergen gewesen, um niederzuschreiben, was ihn seit
der Schlacht vom 24. Juni 1859 bewegte und nicht mehr losließ. Einer breiten Öffentlichkeit
zu vermitteln, welches Leid er gesehen hatte, war seine Absicht. Auf eigene Kosten hatte er
1600 Bücher drucken lassen. Nun galt es, dieses Werk Menschen im gesellschaftlichen und
öffentlichen Leben zukommen zu lassen, um die am Ende seines Buches geäußerte Idee
...“irgendeinen internationalen, vertragsmäßigen und geheiligten Grundsatz festzustellen,
der, einmal angenommen und gegenseitig anerkannt, als Basis zur Errichtung von
Hilfsgesellschaften für Verwundete in allen Teilen Europas dienen würde“, Realität werden
zu lassen. Damit schlug die Geburtsstunde, aus dem das Rote Kreuz seinen weltweit
anerkannten und völkerrechtsmäßig verbindlichen Auftrag herleitet.
Dunants Buch und die darin formulierten Ideen begeisterten viele Menschen. Schon im
Dezember musste eine zweite Auflage gedruckt werden. Es war ihm wichtig, dass
Konsequenzen aus seinen Forderungen gezogen werden. Zusammen mit dem Genfer
Wohlfahrtsausschuss, dem „Ausschuss der Fünf“ (Guillaume-Henri Dufour, Gustave
Moynier, Louis Appia, Théodore Maunoir und Henry Dunant), der sich die Umsetzung der
Ideen Dunants vorgenommen hatte, wurde in einer Sitzung im Februar 1863 beschlossen,
Gesandte europäischer Regierungen nach Genf zu einer Konferenz einzuladen. Ziel war die
Ausarbeitung eines Vertrags, um Kriegsopfern und ihren Helfern - als nicht am kriegerischen
Konflikt Beteiligte - einen neutralen Rechtsstatus zu garantieren. Bevor jedoch diese
Konferenz am 23. Oktober 1863 in Genf beginnen konnte, mussten die Vertreter der Staaten
von der Notwendigkeit eines solchen Treffens zur Unterzeichnung eines derartigen
internationalen Vertrages überzeugt werden. Dunant machte sich auf die Reise durch
Europa und gelangte so erstmals am 14. Oktober 1863 auch nach Stuttgart. Ausgestattet mit
einer unerhörten Überzeugungsgabe und begleitet von Pfarrer Christoph Ulrich Hahn, gelang
es ihm, am Hofe und bei der Regierung vorgelassen zu werden.
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Dunant hatte Freunde in Stuttgart. Zwei Pfarrer, die er schon während seiner
Korrespondenzarbeit als Sekretär des CVJM kennengelernt hatte, waren zunächst seine
Ansprechpartner. Der eine war Pfarrer Dr. Christoph Ulrich Hahn (1805-1881), der die
Heslacher Kirchengemeinde betreute und Mitglied des 1817 gegründeten „Württembergischen Wohltätigkeitsvereines“ war. Er hatte als einer der ersten, die „Erinnerungen an
Solferino“ gelesen. Der zweite Stuttgarter Bekannte Dunants war ebenfalls Pfarrer, Dr. Ernst
Rudolf Wagner (1808-1878), wohnhaft in der Hasenbergsteige 7. Beide sprachen gut
Französisch. Nach der direkten Begegnung mit Dunant übernahm Wagner die Aufgabe,
Dunants Werk ins Deutsche zu übersetzen. Im Jahre 1864 veröffentlichte der Stuttgarter
Belzer Verlag Dunants Schrift mit dem Untertitel „Die Barmherzigkeit auf den
Schlachtfeldern“, ergänzt mit einem Bericht von der Konferenz im Jahr 1863 in Genf.
Pfarrer Hahns Kontakte zum Hof in Stuttgart waren sehr gut. Es gelang ihm, in offizieller
Mission, sowohl als Beobachter des Kriegsministeriums, als auch als Mitglied des
Wohltätigkeitsvereines zur internationalen Konferenz nach Genf vom 26. bis 29. Oktober
1863 als Vertreter Württembergs entsandt zu werden. Privat wurde er von Wagner begleitet.
31 Vertreter aus 16 Staaten waren in die Stadt Calvins gekommen, um zu verabreden, der
Idee Dunants den notwendigen rechtlichen Rahmen zu geben. Die Konferenz endete mit
einer Zehnpunkte-Resolution und der Willenserklärung, in einem Jahr wieder zusammenzukommen, um den Resolutionen eine verbindliche Rechtsform zu geben. Ein einheitliches
Zeichen, ein rotes Kreuz auf weißem Grund, sollte dazu dienen, die Neutralität der den
verwundeten Soldaten zur Hilfe Kommenden zu dokumentieren sowie deren Material zu
kennzeichnen.
Hahn kehrte nach Stuttgart zurück und berichtete, tief von der Persönlichkeit Dunants
beeindruckt, am 12. November dem Wohltätigkeitsverein von den Ergebnissen des
Kongresses. Er trug die zehn Punkte der Resolution vor, in denen es in Artikel 1 heißt: „Es
besteht in jedem Lande ein Ausschuss, dessen Aufgabe es ist, in eingetretenen Kriegszeiten
mit allen in seiner Macht stehenden Mitteln bei dem Sanitätsdienst der Heere mitzuwirken.“
In Artikel 4 heißt es: „In Friedenszeiten beschäftigen sich die Ausschüsse und Sektionen mit
dem was nötig ist, um sich im Kriege wahrhaft nützlich machen zu können.“ Das Zentralkomitee des Wohltätigkeitsvereines fasste nach dem Bericht von Hahn den Beschluss, einen
„Internationalen Verein zur Pflege verwundeter und erkrankter Soldaten“ als nationale
Rotkreuz-Gesellschaft unter dem Namen „Württembergischer Sanitätsverein“ zu gründen.
Schon im Dezember 1963 erfolgte die Anerkennung der Stuttgarter Gesellschaft durch das
Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Damit ist das Rote Kreuz in Stuttgart die
älteste nationale Gesellschaft weltweit. Am 24. Januar 1864 meldete Hahn dem Verein den
Vollzug der Eintragung in das Vereinsregister. Stuttgart hat neben Genf das historische
Recht, personengeschichtlich und organisationsgeschichtlich zu den Gründungsorten der
weltweiten Rotkreuz-Bewegung zu zählen.
Das IKRK lud zusammen mit der schweizerischen Regierung die Vertreter der Staaten vom
8. bis 22. August erneut nach Genf ein. Wieder nahm Hahn im Auftrag der Regierung und
des Königs von Württemberg teil. Diese Konferenz verabschiedete den ersten
internationalen Vertrag mit humanitärem Inhalt, der unter dem Namen „Genfer
Konventionen“ bekannt geworden ist. In zehn Artikeln wurde bestimmt, wie die nun
völkerrechtlich anerkannte Neutralität von Verwundeten und den ihnen zu Hilfe Kommenden
anzuwenden sind.
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Noch bevor die Verträge durch die Staaten ratifiziert wurden, galt es „Erfahrungen“ auf den
Schlachtfeldern Schleswig-Holsteins im „Dänischen Feldzug“ zu sammeln. Stuttgart
engagierte sich mit Spenden- und Sammelaktionen, die von Hahn und dem damaligen
Oberbürgermeister Sick organisiert wurden. Wie erfolgreich die erste Stuttgarter Aktion war,
zeigte das Schreiben aus Kiel: „Unendlichen Dank sind wir den edlen Stuttgartern schuldig,
die uns so treu und ausdauernd zur Seite stehen.“
Dunant entfaltete in den kommenden Jahren weitere Aktivitäten und verfasste Schriften, wie
beispielsweise „Eine Erneuerung des Orients“, die auch in Stuttgart gelesen wurden. Daraus
folgte ein reger Kontakt mit der schwäbischen Templer-Gesellschaft. Dunant verpflichtete
sich, sich dafür einzusetzen, dass die Templer das Recht erhalten, sich in Palästina
niederzulassen. Er erhält deshalb vom Stuttgarter Templer-Kassier Adolf Gräter 1868 einen
Scheck in Höhe von 2.500 Franken.
Ganz für die Sache des Roten Kreuzes engagiert, vernachlässigte der Idealist Dunant seine
eigentlichen Aufgaben als Kaufmann und musste 1867 in erster und 1868 in zweiter Instanz
vor dem Handelsgericht Genf erscheinen, wo er zunächst freigesprochen, dann aber
schuldig gesprochen wurde. Jahre der bittersten persönlichen Not folgten, in denen er wie er
schreibt „die Armen wirklich beklagen“ lernte. Weiter heißt es: „Wenn man nicht selbst das
Elend gekostet hat, so ist es schwer, sich eine richtige Vorstellung davon zu machen.“
Dunant irrte in den folgenden Jahren durch Europa, sich immer auf der Flucht vor Gläubigern
wähnend. Inzwischen lebte die Institution „Rotes Kreuz“ und führte ein eigenständiges
Dasein.
Völlig verarmt fand Dunant im Jahre 1867 in Stuttgart bei Pfarrer Wagner Unterkunft. Dieser
stellte ihm zwei Dachzimmer seines Hauses in der Hasenbergsteige 7 unentgeltlich zur
Verfügung. Auch nachdem Wagner 1878 starb, durfte er, betreut von der Witwe Ida Wagner,
geborene Lind, wohnen bleiben. Dunant kam durch die warme Atmosphäre innerlich zur
Ruhe. Er lernte neue Freunde kennen, so den Oberbaurat Neuffer, mit dem sich ein
lebenslanger Kontakt entwickelte und mit dem er zusammen vier Collage-Bilder zeichnete,
die seine Weltsicht darstellen sollten. Auch traf er oft mit dem Kaufmann Graeter von den
Templern zusammen, der in der Paulinenstraße 22 eine Seifen- und Parfümeriefabrik
betrieb.
Während den Spaziergängen Dunants auf den Hügeln Stuttgarts kam es zu einer weiteren
für Dunant entscheidenden Begegnung. Er begegnete dem Studenten und später am
königlichen Realgymnasium (heute Dillmann-Gymnasium) unterrichtenden Gymnasialprofessor Rudolf Müller (1856-1922). Dieser unterrichtete Französisch und Englisch und
schreibt über die Begegnung: „In den Ferien des Jahres 1877, an einem schönen
Sommermorgen, machte ich einen Spaziergang auf dem Hasenberg und genoss dort die
Aussicht von der nahe der Wirtschaft befindlichen Plattform, auf welcher sich außer mir noch
ein Herr in mittleren Jahren befand. Es war der Gründer des Roten Kreuzes Henry Dunant.“
Müller ist der erste Biograph Dunants. Ihm ist es im Wesentlichen zu verdanken, dass
Dunant von der öffentlichen Vergessenheit befreit wurde. Müller begleitete Dunant bis zu
seinem Lebensende im Jahr 1910 als Freund, Vertrauter, Korrespondenzpartner und Initiator
seiner öffentlichen Rehabilitierung.
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Bis zum Tode von Ida Wagner im Jahre 1885 lebte Dunant in Stuttgart. Auch als er 1887 in
den Schweizer Luftkurort Heiden übersiedelte, blieben seine Stuttgarter Freunde mit die
wichtigsten Ansprechpartner in seinem Leben, denn im Jahre 1892 begann Müller die Arbeit
an der Biographie Dunants. Auch Dunant selbst versprach sich davon seine Rehabilitierung.
Fast täglich schrieb er nach Stuttgart.
Im August 1895 erschien ein bewegender Artikel des Schweizer Journalisten Georg
Baumberger über Dunant, der auch in der Stuttgarter Zeitschrift „Deutsche Illustrierte Zeitung
- Über Land und Meer“ abgedruckt wurde. Darin wurde die beklagenswerte Situation
Dunants dargestellt. Mit dem Artikel wurde ein Foto veröffentlicht, das Dunant mit einem
langen weißen Bart zeigte. Die Sensation war perfekt, denn die Öffentlichkeit hatte
vergessen, dass „dieser Wohltäter der Menschheit“ noch am Leben war.
Auf Vorschlag Graeters und Müllers wird in Stuttgart im April 1896 eine „Dunant-Stiftung“ ins
Leben gerufen. Den Vorsitz dieser Stiftung übernahm Oberbürgermeister Dr. Rümelin. Eine
Spendenaktion erbrachte die stolze Summe von 24.292 Goldmark, die aber Dunant nicht für
seine persönlichen Bedürfnisse verwenden wollte. Dunant war es viel wichtiger, mit dem
Geld die nach vierjähriger Arbeit von Müller 1897 im
Stuttgarter Verlag Greiner und Pfeiffer veröffentlichte
„Entstehungsgeschichte des Roten Kreuzes und der Genfer
Konventionen“ drucken lassen zu können. Dieses Werk gab
anhand der Quellendarstellung den entscheidenden Anstoß,
Dunant als den Gründer des Roten Kreuzes wieder ins
Bewusstsein der Menschheit zu heben. Die Stuttgarter
Dunant-Stiftung ermöglichte es, das Buch in alle Welt zu
versenden. Auf diesem Wege erhielt auch die Friedensaktivistin Bertha von Suttner, ein Exemplar. Zusammen mit
Müller gelang es ihr, die Alfred Nobel Stiftung davon zu
überzeugen, den Friedenspreis für Menschen, die sich um
das Wohl der Menschheit verdient gemacht haben, Dunant
zuzusprechen. Müllers Engagement trug mit dazu bei, dass
die Verleihung des erstmals vergebenen Friedensnobelpreises im Jahre 1901 an Dunant ging.
Bildnis des alten Henry Dunant
Noch einmal wurden die Stuttgarter Rotkreuzfreunde, insbesondere Müller aktiv, als es galt,
Dunants 80. Geburtstag am 08. Mai 1908 zu feiern. Glückwünsche aus aller Welt erreichten
Dunant, der nie ruhte, neue, bahnbrechende und zum Teil erst Jahrzehnte später
realisierbare Ideen für ein friedliches Zusammenleben der Völker zu entwickeln.
Dunant starb am 30.Oktober 1910 in Heiden. Begraben wurde er auf dem Sihlfriedhof in
Zürich. An seinem Begräbnis, an dem nur wenige Personen teilnahmen, war sein Freund
aus Stuttgart dabei: Rudolf Müller.
Bildquelle: DRK e.V. (2)
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