14-Rebekka Baumgarten-Rundbrief N°3

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14-Rebekka Baumgarten-Rundbrief N°3
Rundbrief N°3
Ein Jahr in
Rebekka Baumgarten
Association Bayti, Essaouira, Marokko
Liebe Freunde und Freundinnen,
liebe Familie,
liebe Unterstützer und Unterstützerinnen in jeglicher Form,
liebe Allgemeinheit,
Versuche ich meinen Freiwilligendienst zu glieder, sehe ich zwei Hauptkomponenten, die teilweise
nebeneinander laufen, sich aber immer wieder und häufiger auch überschneiden. Das ist zum einen
der soziale Aspekt, meine konkrete Mithilfe in der lokalen Association Bayti. Und zum anderen all
Jenes, was sich außerhalb davon abspielt: Die Begegnung und der Austausch, Freundschaften, mein
Privat- und Alltagsleben.
Vor allem diesen zweiten Teil, meine Erfahrungen und Wahrnehmungen, habe ich versucht in
meinem letzten Rundbrief zu beschreiben. Es sind Momentaufnahmen, Fragmente, die vielleicht
weniger charakteristisch erscheinen für einen Freiwilligendienst, aber meiner Meinung nach ebenso
dazugehörig wie wichtig sind.
In diesem Rundbrief hingegen will ich den Schwerpunkt auf meine „Arbeitswelt“ legen, die sich
(meistens zu meiner Freude) in weite Teile meines Privatlebens ausdehnt.
Marokko 1993:
Die Regierung unterzeichnet die 1989 entstandene UN-Kinderrechtskonvention und verpflichtet
sich damit, die Umsetzung und den Schutz dieser Rechte (u. a. das Recht jedes Kindes auf
Schulbildung und Gesundheit) zu gewähren.
Dies ist ein wichtiger Schritt, denn in den Neunzigern ist die Zahl der Kinder in schwierigen
Lebensumständen in Marokko groß.
300.000 Kinder sind nicht eingeschult oder haben die Schule abgebrochen, die Analphabetenrate bei
Kindern bis 15 Jahren beträgt 43%. 30.000 Kinder arbeiten als Hauskraft (Petites Bonnes), 13,7%
der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, davon 1,5 bis 2 Millionen Kinder. (Quelle: Statistik
des Haut Commissariat Maroc)
Im Laufe der Zeit wird von staatlicher Seite aus ein Plan d'action national pour l'enfance (PANE)
und ein neues Familiengesetz eingeführt, die die (rechtliche) Situation etwas verbessern und bei der
Durchsetzung der Kinderrechte helfen, aber bis dorthin liegt ein langer Weg vor Marokko.
Doch auch die Zivilbevölkerung sieht die neuen Fragen und Anforderungen und sucht
Antwortmöglichkeiten, so z. B. die Kinderärtzin Dr. Najat M'JID.
Sie gründet 1995 die Association Bayti in Casablanca. Dort will sie sich für all jene Kinder in
schwierigen Lebenssituationen, vornehmlich die Straßenkinder, einsetzen und beschreibt die
neugegründete Association mit folgenden Worten:
„Bayti auf Arabisch bedeutet „mein Daheim“ oder „mein Haus“, das Haus der Straßenkinder,
gebildet mit, durch und für die Kinder. Es ist ein mobiles Haus, das sich auf die Kinder zubewegt,
ihnen eine Alternative zum Leben auf der Straße anbietet. Es ist ein vielfältiges Haus, das sich
jedem Kind anpasst. Es ist ein motivierendes Haus, jedes Kind in der Ausarbeitung und Umsetzung
seines persönlichen Lebensprojekts unterstützend. Es ist ein die Kinderrechte vertretendes und
beschützendes Haus, in dessen Schutz jedes Kind die Mittel hat, sich für seine Rechte einzusetzen
und sie zu verteidigen.“
Abbildung 1: Gründerin Dr. Najate M'jid Im Kreis von Bayti-Kindern (2009)
Bald erweitert Bayti seine „Zielgruppe“ und nimmt allgemein Kinder aus schwierigen Situationen
auf, wobei der Hintergrund von Kind zu Kind unterschiedlich ist. Charakteristische Hauptgruppen
sind Kinder, die auf der Straße leben, die Opfer von Gewalt, wirtschaftlicher oder sexueller
Ausbeutung sind, unbegleitete minderjährige Migranten, aber auch Kinder, die aus schwierigen
sozialen Verhältnissen kommen oder denen eine intakte Familie fehlt.
1999 wird Bayti als Nichtregierungsorganisation (NGO) anerkannt und im selben Jahr wird die
Zweigstelle in Essaouira gegründet.
Hassan El Kadiri, studierter Soziologe, lernt die Association Bayti in Casablanca kennen und ist von
dem Konzept begeistert. Er denkt an seine Heimatstadt Essaouira, eine kleine Küstenstadt, die
hauptsächlich von Fischfang und -verarbeitung lebt. Auch hier gibt es zahlreiche Straßenkinder,
Kinder, die in den Fabriken arbeiten oder betteln.
Eine Einrichtung wie Bayti wäre in seinen Augen eine große Bereicherung für die Stadt und ein
Lösungsansatz für die aktuelle Situation.
Es kommt tatsächlich zu der offiziellen Einrichtung einer Zweigstelle, vier Mitarbeiter widmen sich
dem tabuisierten Problem Straßenkinder.
Am Anfang ist die Arbeit beschwerlich: es gibt kein Lokal, die Mitarbeiter arbeiten auf der Straße,
suchen den direkten Kontakt zu den Kindern, die ihnen mit Misstrauen begegnen. Die Einwohner
sind voller Zweifel. Die neue, offene Art dieses Problem anzugehen, trifft auf Ablehnung. Auch die
Behörden und die Polizei sind der Association gegenüber skeptisch, es kommt immer wieder zu
Problemen.
Doch mit der Zeit etabliert sich die Organisation, durch die Unterstützung des schweizerischen cfd
(Feministische Friedensorganisation) kann ein Lokal gemietet werden, zeitweise wird ein
Appartment für betreutes Wohnen eingerichtet. Die Arbeit wird zögernd akzeptiert und anerkannt,
sowohl von Seiten der Kinder als auch von Seiten der Einwohner und Behörden.
Ein Kontaktnetz entsteht, die Abläufe klappen reibungsloser und das Programm kann ausgebaut
werden.
Dieses Jahr hat Bayti Essaouira sein 15 jähriges Bestehen gefeiert. Sieht man heute die Association,
ihre Bedeutung für Essaouira und das Vertrauen, das ihr entgegen gebracht wird, kann man sich
kaum mehr vorstellen, wie schwer die Anfänge waren.
Doch so viel sich auch verändert hat in diesen 15 Jahren, die große Mission, sich für Kinder in
schwierigen Lebenssituationen und deren Rechte einzusetzen, ist die selbe geblieben.
Um diese Mission umzusetzen, hat sich die Association die folgenden Ziele gesetzt.
• Vorbeugung von sozialem Ausschluss, Gewalt und Ausnutzung
• Physischer, psychischer, juristischer und sozialer Schutz
• Psychosoziale Rehabilitation
• Schulische und familiäre Wiedereingliederung
• Ausbildung und Arbeitseinstieg für Jugendliche
• Förderung der Kinderrechte
Als ich vor gut elf Monaten das erste Mal das Gebäude von Bayti Essaouira, eine Miethaushälfte,
durch die leuchtend blaue Tür betrat, war hier seit Einzug nicht mehr renoviert worden. Die
Treppenstufen waren abgebrochen, überall blätterte Farbe von Wänden und Decken. Die Räume
waren schlecht beleuchtet, Steckdosen funktionierten nicht, im ehemaligen Badezimmer war das
Lager untergebracht. Dort stapelten sich Spiele, Kleidung, Bastelmaterialien und Akten in der alten
Badewanne. Das Büro und der einzige Computer darin wurden von allen Mitarbeitern genutzt,
sodass man ständig im Weg saß oder stand.
Die Toilettenspülung war kaputt, das Waschbecken ständig verstopft und die Fenster schlossen nicht
richtig. Ein ganzer Raum war voller unbrauchbarer Computern, die Küche, das Klassenzimmer und
der Aufenthaltsraum überfüllt.
Innerhalb dieses Jahres hat sich viel getan im Lokal, zwei Projekte haben es uns ermöglicht,
aufwendige Umbau- und Renovierungsarbeiten vorzunehmen. Jetzt strahlt das Gebäude frisch
gestrichen, kaputte Möbel wurden ersetzt, ein zweites Büro und ein richtiges Lager eingerichtet.
Die Küche ausgebaut, weitere Waschbecken installiert, Sitzgelegenheiten angebracht und der
Balkon mit einem Sonnensegel überdacht.
Auch wenn es weiterhin eng ist, herrscht nun eine viel einladendere Atmosphäre bei Bayti. Dies ist
eine großartige Veränderung, sowohl Kinder als auch Mitarbeiter fühlen sich wieder wohler und
halten sich gerne im Lokal auf.
In einem solchen „Wohlfühl-Umfeld“ erscheint auch die Umsetzung der Ziele einfacher.
Abbildung 2: Fassade vorher
Abbildung 3: Fassade hinterher
Abbildung 5: Küche vorher
Abbildung 4: Küche hinterher
Wie genau wird bei Bayti Essaouira gearbeitet, um die Ziele umzusetzen?
Zur Erinnerung:
Hier in Essaouira arbeiten fünf hauptamtliche und eine freiwillige Mitarbeiterin: Hassan, der
Koordinator; Asmaa, die Erzieherin; Najate, die Sozialassistentin; Said, der Lehrer für den
informellen Unterricht; M'barka, die Köchin und Halima, als unterstützende Kochkraft. Hicham, der
bisher freiwillig geholfen hat, ist nun selbst in einer anderen Organisation angestellt und nur noch
gelegentlich da.
Darüber hinaus wird Bayti von einem großen Netz Freiwilliger unterstützt, die in unterschiedlichem
Rahmen bei Bayti aktiv sind.
Im Jahr 2013 haben sich diese sechs Mitarbeiter um insgesamt 101 Kinder gekümmert, davon 51
Mädchen und 50 Jungs. (Dass die Anzahl der Kinder, die auf einen Mitarbeiter kommen, alles
andere als wünschenswert ist, muss man glaube ich nicht weiter ansprechen. Zumal nur zwei der
vier Mitarbeiter für die Kinderbetreuung zuständig sind.) Die Kinder sind ab sechs Jahren aufwärts,
wobei ca. 20 % im Alter von 6 bis 10 Jahren, 33 % im Alter von 11 bis 14, 35 % im Alter von 15 bis
17 und 12 % im Alter ab 18 aufwärts sind. Die Zahlen änderen sich jedes Jahr, da im Laufe eines
Jahres neue Kinder in das Programm aufgenommen und andere daraus entlassen werden. So gab es
letztes Jahr 22 Zugänge und 24 Abgänge.
Um die Arbeitsweise von Bayti zu erklären, werde ich einige Beispiele zur Hilfe nehmen. Diese
sind zugleich repräsentativ für die Situationen vieler Bayti-Kinder.
1. Amal* ist 1989 in einem Dorf in der Umgebung Essaouiras geboren. Während ihrer
Kindheit leidet sie, ebenso wie ihre Mutter und ihre Geschwister, unter ihrem gewalttätigen
Vater. Im Alter von fünf Jahren schickt dieser sie als Arbeitskraft auf einen Bauernhof im
Dorf. Ein Jahr später flieht Amals Mutter mit ihren Kindern vor der Gewalt des Ehemanns
nach Essaouira. Dort arbeitet die Mutter als Putzfrau bei mehreren Familien. Doch ihr
Verdienst reicht nicht, um die Kinder zu ernähren und aus Grund mangelnder Alternativen
„verdingt“ sie ihre Töchter als Hausmädchen. Dabei handelt sie mit den Familien die
Bedingung aus, dass ihre Töchter eingeschult werden. Mit sieben Jahren arbeitet Amal
demnach als Hausmädchen, was ihr große Schwierigkeiten bereitet. Denn neben der Schule
und den Hausaufgaben, muss sie sich um sämtliche Hausarbeiten kümmern. In diesem
Zustand verbringt sie die nächsten fünf Jahre, während denen sie zweimal eine Klasse
wiederholen muss. Als ihre Arbeitgeber sie dazu zwingen die Schule abzubrechen, um sich
aussschließlich dem Haushalt zu widmen, sucht die zwölfjährige Amal Hilfe bei der
Association Bayti. Bayti hilft ihr beim Verlassen ihrer Arbeitgeber und unterstützt einen
Umzug zur Mutter. Zunächst nimmt Amal an dem informellen Unterricht im Lokal teil, kann
dann aber wieder eingeschult werden. Sie verfolgt ihre schulische Bildung bis sie 2012 das
Abitur erhält und beginnt ihr Studium in Marrakesch.
2. Siham* ist 1994 geboren und kommt aus einer stark zerrütteten Familie. Der Vater
konsumiert Haschisch und Alkohol und unter Einfluss dieser Drogen misshandelt er seine
Frau und Kinder. Er verkauft Zigaretten im Detail, verbraucht jedoch all seine Einnahmen
für seinen Drogenkonsum.1 Um die Familie ernähren zu können, ist die Mutter gezwungen
als Putzfrau zu arbeiten. Als Siham fünf Jahre alt ist, verliert ihr Vater durch seinen Alkoholund Haschischkonsum den Verstand und versucht seine Ehefrau zu töten. Diese überlebt,
muss aber drei Tage im Krankhaus verbringen. Siham, die der Szene beiwohnt, leidet
daraufhin unter Angstzuständen und Panikattacken. Diese gehen soweit, dass sie sich beim
reinen Erheben einer Stimme einnässt. Sie kann eingeschult werden, zieht es aber vor, sich
nach der Schule auf der Straße aufzuhalten. Das Zuhause meidet sie, da sie dort
* Die Namen der Personen sind geändert, die Ereignisse entsprechen aber in vollem Maße der Realität.
1 In Marokko verdienen viele Männer oder Frauen ihr Geld, indem sie an Sraßenecken aus Holzkisten heraus
Taschentücherpackungen, Bonbons und einzelne Zigaretten verkaufen.
Misshandlung und die Furcht vor dem Vater erwarten. Dies hat negative Auswirkungen auf
ihre schulischen Leistungen. In diesem Zustand sprechen Mitarbeiter von Bayti sie in der
Straße an, sie und ihre ältere Schwester werden in das Programm aufgenommen. Bayti
begleitet sie bei ihren schulischen Problemen ebenso wie bei den psychischen. Die
Mitarbeiter helfen ihr, mit ihrem Vater umzugehen, der trotz psychischer Behandlung
weiterhin zu Gewaltausbrüchen neigt. Mit finanzieller Unterstützung von Bayti beginnt sie
nach dem Erhalt ihres Abiturs ihr Studium.
3. Hassan*, geboren 1992, wird im Alter von acht Jahren von Bayti-Mitarbeitern in der Straße
angesprochen. Er ist nicht eingeschult und hat keine Papiere. Da er vor der offiziellen
Hochzeit seiner Eltern geboren wurde, trauten sich diese nicht, die zum Eintrag in den
Personenstand notwendigen Behördengänge auszuführen. Hassan leidet unter der
konfliktreichen Beziehung seiner Eltern: die Mutter ist überfordert mit den Ereignissen und
der Vater gleichgültig, unverantwortlich und gewalttätig gegenüber seiner Ehefrau und den
Kindern. Da Hassan an das freie Umherstreifen gewöhnt ist, fällt ihm das komplette
Verlassen der Straße schwer. Bayti erledigt alle notwenigen Behördengänge, um ihn amtlich
erfassen zu lassen und einzuschulen, begleitet ihn und hilft ihm, sich in das neue soziale
Umfeld einzugliedern. Er erhält sein Abitur, kann aber auf Grund fehlender Mittel sein
Studium nicht verfolgen und ist momentan auf Arbeitssuche.
Die Arbeit von Bayti beginnt mit dem ersten Kontakt. Dieser kann auf verschiedene Arten
entstehen: manchmal sprechen die Mitarbeiter (bettelnde) Kinder auf der Straße direkt an. Es
kommt aber auch vor, dass überforderte Mütter, aufmerksame Nachbarn oder besorgte Lehrer den
Kontakt zu Bayti suchen und auf ein Kind hinweisen.
Sobald der erste Kontakt geknüpft ist, ist eine allgemeine Einschätzung der Situation und eine
Beurteilung der vorhandenen Problematik notwendig. Dazu macht die Sozialassistentin einen
Termin mit der Familie/den Erziehungsberechtigten aus. Während eines ersten Treffens erklärt sie
der Familie was Bayti ist, welche Angebote und Möglichkeiten es bietet. Bei dem ersten Treffen
sind viele Eltern noch scheu und fühlen sich angegriffen in ihrem Erziehungstil bzw. ihrer Autorität.
Sobald die Bereitschaft und das Vertrauen da sind, füllt Najate einen Fragenbogen aus, der die
genauen Lebensumstände, Hintergründe und Probleme festhält.
Stimmen die Eltern der Aufnahme in das Programm zu, wird dann gemeinsam mit ihnen, dem Kind
und Asmaa entschieden, wie weiter vorgegangen werden soll. Denn je nach Situation des Kindes
(und jedes Kind hat seine eigene Geschichte) sind unterschiedliche Maßnahmen nötig: Eintragung
in den Personenstand, Einschulung, psychische Betreuung...
Ist ein Kind in das Programm von Bayti Essaouira aufgenommen, kann es an allen verfügbaren
Aktionen und Angeboten teilnehmen, bis es die Association verlässt (erfolgreicher Schulabschluss,
beendete Ausbildung bzw. im Allgemeinen bis zur Lösung der Probleme/Überweisung an andere
Einrichtung).
Es beginnt mit der ärztlichen Erstuntersuchung, bei Bedarf einer weiteren medizinischen
Behandlung, regelmäßigen Gesprächen mit der Sozialassistentin und der Erzieherin, Teilnahme am
informellen Unterricht und den täglichen Angeboten.
Das ganze Jahr über ist Bayti montags bis freitags von 9.00h bis 18.00h geöffnet.
Asma und die Köchinnen sind die ersten, die morgens das Lokal aufschließen und betreten. Nach
und nach kommen dann Said und ich an. Hassan und Najate sind die meiste Zeit außerhalb von
Bayti unterwegs und kommen zwischendurch ins Büro, um etwas am Computer zu erledigen. Ab
halb zehn beginnt Said mit dem informellen Unterricht, in einem kleinen Klassenzimmer
unterrichtet er ca. 12 Kinder/Jugendliche. Für die meisten ist dies nur eine Übergangslösung bis sie
das offizielle Schulniveau erreicht haben und wieder in die normale Schule einsteigen können. Auf
dem Lehrplan stehen Mathematik-, Arabisch-, Gesellschaftskunde- (eine Mischung aus Geographie,
Geschichte und Biologie), Französisch- sowie Religionsunterricht.
Für neu aufgenomme Jugendliche, die keine Möglichkeit auf Wiedereingliederung ins Schulsystem
haben, gibt es außerdem die Möglichkeit eine Ausbildung bei lokalen Handwerksbetrieben zu
machen. Typische Ausbildungsberufe sind Elektriker, Schreiner und Klempner. Im Gegensatz zu
dem Zentrum in Casablanca ist das Lokal in Essaouira nur als Tageszentrum angelegt. Sprich, die
Kinder können sich im Laufe des Tages hier aufhalten, leben aber in ihrer Familie. Es ist Ziel von
Bayti, die Kinder in der Familie zu lassen bzw. die Beziehung wieder herzustellen. Nur in Fällen, in
denen dies nicht möglich ist, werden die Kinder ins örtliche Waisenhaus oder ins
Kinder-/Jugendheim von Bayti Casablanca übergeben.
Während des marokkanischen Schuljahres (September bis Juni/Juli) besteht die Hauptbeschäftigung
vormittags wie nachmittags in der Erledigung/Betreuung der Hausaufgaben. Diesen, sowie der
schulischen Bildung im Allgemeinen, misst Bayti viel Wert bei, was die Konsequenz in diesem
Bereich erklärt. Erst wenn alle Hausaufgaben erledigt sind, können die Kinder sich anderweitig
beschäftigen. Je nach Lust und Laune basteln wir dann, malen, spielen Gesellschaftsspiele oder auf
einem naheliegenden Platz Fußball und Verstecken. Ab und zu schauen wir auch gemeinsam einen
Kinderfilm auf Französisch oder Daija (marokk.Nationalsprache) an, aber das ist die Ausnahme.
Abbildung 6: Bastelbegeisterung
Abbildung 7: Clowns von Hamza, Amal und Hassan
Abbildung 8: Ergebnis eines Bastelnachmittags
Abbildung 9: Einsamer "Fern-Seher"
Die Schüler haben hier sehr unregelmäßige Stundenpläne, manche beginnen morgens um 8.00 h,
andere erst nachmittags um 14.00 h. Entsprechend ihrer Freiräume kommen sie in die Association,
spätestens um 12.00 h ist aber das ganze Lokal voll, da es dann die tägliche warme Mahlzeit gibt.
Für viele Kinder ist dies die erste Mahlzeit am Tag. Nach dem Mittagessen wird das Lokal
geschlossen und um 15.00 h wieder geöffnet bis zum frühen Abend.
Mittwochs ist der Schul- und Hausaufgabenfreie Nachmittag, an dem ausschließlich Bespaßung auf
dem Programm steht. Wir sind z. B. eine zeitlang mit einer kleinen Gruppe in Begleitung eines
Franzosen an den Strand gefahren, wo wir in den Dünen und an einer Flussmündung Vögel
beobachtet haben.
Ein weiterer Höhepunkt der Woche ist der „Surf-Freitag“. Um viertel nach zwei treffe ich mich mit
den Kindern (mal vier, mal fünfzehn) vor dem Surfclub und dann gehen wir unter Aufsicht eines
Surflehrers anderthalb Stunden in dem kalten Atlantikwasser surfen. Jeden Freitagvormittag
wenden sich die Kinder wieder an mich mit der stürmischen Frage „Rebekka, wech kayn l surf
lyoum?“ („Rebekka, gehen wir heute surfen?).
Abbildung 10: Erfolgreicher Surfer
Abbildung 11: Auswärmen bevor es ins Wasser geht
Für die Älteren werden unter der Woche nachmittags oder gegen frühen Abend Kurse angeboten,
die man als Gruppennachhilfe beschreiben kann. Französisch, Englisch und Philosophie gab es
dieses Jahr als Angebot. Die meisten sportlichen Aktivitäten finden am Wochenende statt. Durch
Verträge mit verschiedenen Sportvereinen können die Kinder zwischen Basketball, Surfen, Karate,
Badminton und Jujitsu wählen und daran kostenlos teilnehmen. Diese Angebote finden außerhalb
des Lokals statt und obliegen der Verantwortung der Vereine.
Ungefähr dreiviertel des Jahres herrscht also eine gewisse Routine und die Tage laufen nach dem
selben Prinzip ab, aber natürlich kommt es immer wieder zu (meist spontanen) Änderungen und
Ausnahmen, kleineren und größeren Aktionen.
So kann es passieren, dass ich morgens auf die Arbeit komme, in der Überzeugung ich werde erst
Hausaufgabenbetreuung machen, dann mit einigen Kindern Französisch lesen üben, vielleicht noch
malen. Doch dann betrete ich das Büro und erfahre, dass an diesem Tag eine Gruppe Franzosen zu
Besuch ist und wir gemeinsam zum Strand gehen und dort spielen werden.
Zwei besondere Aktionen, die ich dieses Jahr mitbekommen habe, waren zum einen ein großes
„Workcamp“ im April und zum anderen der Besuch der amerikanischen Organisation „Trekking for
Kids“ im Juli. Beide Aktionen hatten als Ziel die Renovierung von Bayti.2
Abbildung 12: Abschluss der gemeinsamen Projektwoche im April - Mitarbeiter, Kinder, Freiwillige
2 Mehr zu der Renovierungsaktion im April: http://www.myessaouira.com/15yearsbaytiessaouira/indexfr.html ;
https://www.youtube.com/watch?v=JzIgL2WSaN4&feature=youtu.be (Impressionen, absolut sehenswert!);
Abschlussbericht im Email-Anhang (leider nur auf Französisch verfügbar)
Mehr zu Trekking for Kids: http://www.trekkingforkids.org/our_mission.php
Abbildung 13: Streicharbeiten
Bayti profitiert sehr von der Unterstützung Außenstehender. Nur so wurden z. B. diese beiden
Aktionen umsetzbar und auch viele andere (einmalige) Angebote für die Kinder werden durch
Freiwillige ermöglicht: Gärtnern (Bayti besitzt jetzt einen kleinen Balkon-Garten, der langsam
grüner wird), einen Zirkusworkshop,ein Schwimmbadbesuch und vieles mehr fand dieses Jahr statt.
Abbildung 14: Die Teilnehmer vom Zirkusworkshop
Abbildung 15: Schwimmbad - ein seltener Luxus
Abbildung 16: Spieleolympiade am Strand
Eine besondere Zeit sind die Sommermonate, in denen die Kinder Ferien haben. Denn da ist die
ganze Kreativität und Aufmerksamkeit der Mitarbeiter gefragt, um sie zu beschäftigen. Wir machen
Quizspiele, spielen draußen, gehen am Strand baden und basteln. Meine Bastelbegeisterung als
Kind kommt mir hier zu Gute – wir haben schon Masken gefertigt, aus alten Klopapierrollen Tiere
gebastelt, Drachen gebaut, Armbänder und Ketten gemacht...
In dieser Zeit sind vor allem die älteren Mädchen und Jungs von Bayti als helfende BetreuerInnen
unersetzlich.
Meine Aufgabe bei Bayti hat sich im Laufe des Jahres verändert. Zu Beginn war ich mit der vage
formulierten Aufgabenstellung „Kinderbetreuung“ überfordert, wollte gerne einen konkreten
Aufgaben- und Arbeitsplan haben. Diesen Plan hat Asmaa dann auch erstellt, aber im Laufe der Zeit
hat sich herausgestellt, dass die Arbeit bei Bayti nicht planbar ist. Heute muss ich über meinen
anfänglichen Wunsch schmunzeln, aber auch manchmal den Kopf schütteln. In meinen Augen
könnten sich die Mitarbeiter eine Menge Stress sparen, wenn sie die Planung systematischer
organisieren würden. Es wird selten etwas notiert, regelmäßige offizielle Besprechungen gibt es
nicht. Aber da spricht vermutlich meine deutsche Planungs-Erfahrung/ -Gewohnheit, denn die
Mitarbeiter kommen durchaus mit ihrer Art und Weise zurecht.
Anfangs waren mein Aufgabenbereich auf die Hausaufgabenbetreuung und die Begleitung beim
Surfen beschränkt. Mit zunehmenden Sprachkenntnissen und dadurch zunehmender Sicherheit
bewegte ich mich freier und selbständiger und traue mir mittlerweile auch zu, eine Gruppe alleine
zu beaufsichtigen. Sei es bei Aktivitäten inner- oder außerhalb des Lokals.
Durch die vielen Umbauarbeiten, mussten wir in diesem Jahr viel räumen. Und im Zuge dessen
habe ich meine zweite Hauptaufgabe gefunden – den Lagerraum. Was für die ohnehin
überlasteteten Mitarbeiter eine unbeliebte und zeitraubende Pflicht war, macht mir Spaß. Das
gesamte Material (Spielgeräte, Bastelmaterial, Schulunterlagen, Essensvorräte, Kleidung) ist
meinem Ordnungseifer zum Opfer geworden und jetzt in dem neuen Lagerraum sortiert.
Und da ständig neue Dinge hinzukommen und es sich herum gesprochen hat, dass ich mich
„auskenne“, bin ich zur Ansprechpartnerin und Verantwortlichen für sämtliche
Material-/Lagerfragen geworden.
Dadurch habe ich viele Stunden mit Einräumen und Sortieren verbracht und bin ständig auf der
Suche nach Material - Putzmittel für die Köchin, Scheren für das Gartenprojekt, ein Kind, das neue
Klamotten braucht. Wie oft ich im Laufe des Tages diesen Raum betrete und verlasse, lohnt sich
nicht zu zählen.
Wäre dies meine einzige Aufgabe, wäre ich sicher enttäuscht – Sortieren kann ich auch in unserem
Keller daheim.
Aber da ich nebenher trotzdem viel Zeit mit den Kindern verbringe, freue ich mich über die
gelegentliche Ruhe. Wenn ich nichts im Lager zu tun habe und die Kinder beschäftigt sind, füllt
sich die Zeit mir anderen Dingen z. B. Berichte für Asmaa oder Eirene schreiben, für Besucher
übersetzen, ein Kind zum Arzt begleiten oder die Informations- und Photowand im Eingangsbereich
erneuern. Oder auch ein gutes Gespräch mit den Mädels oder den Mitarbeitern führen, was die
Arbeit in meinen Augen definitiv aufwertet.
Denn das ist das Besondere an Bayti, bei all den Personen, die kommen und gehen, bei all den
Aktionen, die stattfinden, verliert man nicht das Gefühl für die Anderen, ist immer interessiert und
aufmerksam. Bayti ist für mich nicht nur meine Arbeit, sondern gleichzeitig der Ort, an dem ich
mich wie daheim fühle.
Und trotzdem geht die Zeit hier wie im Flug vorbei, der letzte Monat ist angebrochen und Wehmut
schleicht sich immer häufiger in meine Tage.
Aber dazu und zu meinen Erfahrungen und Erlebnissen der Sommermonate mehr in meinem
nächsten und zugleich letzten Rundbrief.
Bis dahin,
Rebekka