Ich bin dann mal off - Wirtschaftspsychologie aktuell

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Ich bin dann mal off - Wirtschaftspsychologie aktuell
»Ich bin dann mal off«
Über die Vergeblichkeit eines Silvesterversprechens
Die digitale Kränkung
Im Winter 2009 wurde das Buch »Payback« des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher zum Bestseller, und die
Vorstellung begann uns zu beunruhigen, dass nicht mehr
wir das Internet benutzen, sondern wir zu Agenten und
Informationslieferanten weltweit agierender Konzerne
geworden sind: die Algorithmen von Google, Facebook,
Microsoft und Apple beginnen, unser Denken zu bestimmen, die Software-Architektur unserer Computer
zwingt uns zum Multitasking. Nirgendwo können wir
uns mehr zurückziehen vor den Anfechtungen all der
praktischen Tools, die uns kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Wir finden die Tür nicht mehr, um aus
dem weltumspannenden Büro auszutreten, wir wissen
nicht, wann die Arbeitszeit vorüber ist, wir sind nicht
mehr Herr im eigenen Haus.
Nach Kopernikus, Darwin und Freud fügen uns nun Internet und Handy die vierte, die digitale Kränkung zu.
Das alles klingt furchtbar dramatisch, und ich will nicht in
Abrede stellen, dass die Folgen der Digitalisierung unserer Welt zuweilen auch dramatische Ausmaße annehmen. Daran, dass ständige Erreichbarkeit per Mail und
Handy Stress bedeutet, muss nicht lang gezweifelt werden. Und selbstverständlich kann man Menschen den
Rat erteilen, das Handy öfter einmal auszuschalten, die
Grenze zwischen Berufs- und Arbeitsleben klarer zu ziehen und sich den Arbeitstag nicht durch ständiges Beantworten belangloser E-Mails zu zerstückeln. Allein, helfen werden solche Ratschläge wenig. Sie nützen ungefähr
so wenig wie der Hinweis am Ende der Kindersendung
Löwenzahn, bei der Peter Lustig die jungen Zuschauer darauf hinwies, doch bitte nach Ablauf der Sendung den
Fernsehapparat abzuschalten. Hat sich dadurch der Medienkonsum verändert? Nein. Sich vorzunehmen, weniger
Mails zu schreiben oder weniger zu telefonieren, bringt
ungefähr so wenig wie das ewige Silvesterversprechen an
sich selbst, im kommenden Jahr doch etwas weniger
Schokolade zu essen und sich mehr zu bewegen.
Erweiterungen des Menschen
Als Psychologen neigen wir dazu, die Ursachen für unser Denken und Handeln beim Individuum zu suchen
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oder zumindest uns vor allem um das Individuum zu
kümmern, wenn es um das Verändern von Denken und
Handeln geht.
Wenn es um die Anfechtungen des modernen Menschen durch die digitalen Medien geht, lohnt sich jedoch unbedingt ein Blick in andere Disziplinen. Ausgehen möchte ich dabei von einer ganz simplen Frage, auf
die es eine ebenso simple Antwort gibt: Warum benutzen wir das Handy, das Internet und all die digitalen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte? Die zugegebenermaßen beinahe banale Antwort darauf lautet:
Weil sie praktisch sind, weil sie uns das Leben erleichtern, weil wir diese Dinge inzwischen brauchen.
Warum aber fällt es uns so schwer, unseren Medienkonsum einzustellen? Der Medientheoretiker Marshall McLuhan bezeichnete in den 1960er-Jahren Medien als »extensions of man«, als Erweiterungen des Menschen. Ein
Medium dient McLuhan zufolge nicht dazu, etwas anderes zu ersetzen, sondern dazu, die Möglichkeiten des
menschlichen Körpers zu erweitern. So ersetzt ein Fernseher in keiner Weise Augen und Ohren des Menschen,
sondern erweitert die körperlichen Möglichkeiten, in die
Ferne zu blicken (und zu hören). Ein Telefon ist kein Ersatz für das direkte Gespräch, sondern eine Ausdehnung
der Möglichkeiten, miteinander zu sprechen. Ein Handy
entbindet diese Kommunikationsmöglichkeit des Kabels,
das Internet ermöglicht es uns, unterschiedliche Kanäle
für die Verbreitung von Informationen und deren Aufnahme zu verwenden. Das mobile Internet stellt noch
eine Eskalationsstufe dieser Erweiterungen des Menschen
dar.
Wozu dient nun diese Feststellung? Wichtig an der Bezeichnung von Medien als Erweiterungen des Menschen
ist die Erkenntnis, dass Medien aus einem Bedürfnis von
Menschen genutzt werden. Eine wesentliche Folge davon
ist, dass Medien nicht dazu dienen, ein menschliches Bedürfnis zu schaffen, sondern dieses lediglich erweitern.
Doch Medien erweitern nicht nur unsere Möglichkeiten
zu kommunizieren, sondern auch die Möglichkeiten anderer Menschen oder Organisationen.
Der flexible Mensch
1998 veröffentliche Richard Sennett sein inzwischen zum
soziologischen Klassiker avanciertes Buch »Der flexible
Mensch« (engl. »The corrosion of character«). Er beschrieb
darin, wie der moderne Mensch durch Flexibilisierungsprozesse in der Arbeitswelt dazu gezwungen wird, sich an
unterschiedlichste Bedingungen anzupassen, flexibel zu
sein, und dabei Gefahr läuft, den roten Faden der eigenen
Identität und stetigen Entwicklung zu verlieren. Diese
Tendenz hat sich seitdem beschleunigt und verschärft.
Atypische Beschäftigungen haben in den Nuller-Jahren
sprunghaft zugenommen. Zeitarbeit, Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, das Hangeln von einem Projekt zum nächsten – diese Phänomene sind so selbstverständlich geworden, dass sie heute kaum mehr erwäh-
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»Das Internet ist verantwortlich dafür, dass
wir uns nicht mehr konzentrieren können.«
»Das Smartphone ist schuld daran, dass die Grenze
zwischen Berufs- und Arbeitswelt verwischt.«
»Die digitale Revolution frisst ihre Kinder und sorgt für
mehr Stress und höhere Burnout-Raten.«
So ungefähr lauten die kulturpessimistischen Allgemeinplätze, die man seit geraumer Zeit einnehmen darf, wenn
es um neue Medien geht. Seit erstmals Studien über die
Folgen ständiger Erreichbarkeit an die breitere Öffentlichkeit gelangt sind, die belegen, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Stand-by-Modus des
Handys und dem Leiden an Schlaflosigkeit gibt.
r e p o r t fokus
nenswert erscheinen. Hinzu kommen wachsende Anforderungen an die Mobilität von Menschen. 50% der arbeitenden Bevölkerung Deutschlands verfügen über Erfahrungen mit berufsbedingter Mobilität, damit also, eine
Fern- oder Wochenendebeziehung führen zu müssen, als
Fernpendler auf Schiene oder Straße täglich mindestens
zwei Stunden lang unterwegs zu sein oder einen Teil des
Jahres im Zimmer einer Hotelkette zu nächtigen.
80% der beruflich mobilen und flexiblen Menschen
wünschen sich, dass dieser Zustand des Unterwegssein-Müssens nicht länger als etwa zwei Jahre andauert.
Die wenigsten von ihnen erreichen dieses Ziel.
Mobilität, Flexibilität und Erreichbarkeit sind großartige Errungenschaften der Moderne und funktionierten lange
Zeit als Synonym für unseren Freiheitsbegriff. Inzwischen
jedoch kippt die Bedeutung dieser Trias. Mobilität, Flexibilität und Erreichbarkeit stellen attraktive und zugleich unerlässliche Komponenten dessen dar, was unser Wirtschaftsleben ausmacht. Und genau aus diesem Grund gelingt es uns nicht, den Rat Peter Lustigs zu befolgen oder
unseren an Silvester gefassten Vorsatz, unsere Telefon-, Internet- oder Arbeitsgewohnheiten zu verändern, im Alltag
umzusetzen. Wer sich der Notwendigkeit, mobil, flexibel
und erreichbar zu sein, entzieht, der verzichtet auf die Teilnahme an unserem wachstums- und wettbewerbsorientierten Wirtschaftssystem. Die meisten ziehen den Stress
dem Nullwachstum vor. Meinhard Miegel hat in seinem
Buch »Wohlstand ohne Wachstum« ausgeführt, dass ein
grundlegendes Umdenken für eine Abkehr von dem uns
eingeimpften Wachstumsdenken notwendig wäre. Eher
eine Generationenfrage als ein Thema, das von vielen
während ihres Erwerbslebens angegangen werden wird.
Laufbahnberatung statt Offline-Modus
Das Problem der technologischen Überforderung des
Menschen, des Stresses, dem er sich durch die ständige Er-
reichbarkeit aussetzt, liegt nicht auf einer technologischen
Ebene. Die Lösung kann nicht darin gefunden werden, die
korrekte Funktionsweise des Offline-Modus herauszufinden. Es handelt sich vielmehr um eine tief greifende gesellschaftliche Veränderung, die auf das Erleben und Verhalten von uns modernen Menschen in der westlichen
Welt wesentlichen Einfluss ausübt. Wenn wir unter diesen
veränderten Bedingungen gesund bestehen wollen, wenn
wir unsere Leistungs- und Genussfähigkeit auftrechterhalten möchten, so ist für jeden von uns eine Auseinandersetzung mit den eigenen Werten und unseren Kompetenzen notwendig. Wir müssen erkennen, was wir zu
leisten imstande sind und was wir im Leben erreichen wollen. Sofern sich diese Werte und Kompetenzen mit unserem Berufsfeld decken, werden wir auch einigermaßen mit
den technologischen Erfordernissen dieses Feldes umgehen können. Wenn wir uns jedoch einbilden, etwas anderes tun zu müssen, als wir eigentlich wollen und können,
dann werden wir von ständiger Erreichbarkeit und den Erfordernissen, mobil, und flexibel sein zu müssen, bis zur
Unkenntlichkeit verformt, dann leiden wir unter Stress
und Schlaflosigkeit – und brennen aus.
Bei aller soziologischen Erklärung für das Zustandekommen der Situation des modernen Menschen tut sich
doch für Psychologen ein ganz wesentliches und gesellschaftlich bedeutsames Betätigungsfeld auf, das unter
den Begriffen »Laufbahnberatung« und »Coaching« firmiert, aber letztlich ein viel umfassenderes Feld der psychologischen Beratung darstellt: die Bewältigung des Lebens in einer komplexer gewordenen Welt, in der sich
Orientierungspunkte wie etwa generationenweise geltende normative Entwicklungsaufgaben auf dem Rückzug
befinden und in der das Individuum selbst Pfeiler einschlagen muss, um den Weg in die eigene Zukunft nicht
zu verfehlen.
Claas Triebel
Dr. Claas Triebel (1974)
ist Psychologe und Autor.
Als Experte in Sachen
Laufbahnberatung arbeitet er an
der Universität der Bundeswehr,
München, und als Gesellschafter
der wissenschaftlichen
Beratungsfirma »PerformPartner«.
2010 erschien sein jüngstes Buch
»Mobil, flexibel, immer
erreichbar – Wenn Freiheit
zum Albtraum wird«
bei Artemis & Winkler.
»Smart Career«
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oder: Wie man seelische und
körperliche Kosten der beruflichen Entwicklung minimiert
Keine Frage, unsere Gesellschaft, vor allem die
Wirtschaft, ist in Bewegung geraten, in heftige Bewegung. Begleitet von Modethemen wie »Globalisierung«,
»Arbeitsverdichtung«, »Ressourcenkonzentration«, »Risiko- und Innovationsbereitschaft«, überschlagen sich die
Veränderungen heute manchmal regelrecht: Was gestern
galt, gilt heute nicht mehr. Und ob das, was heute gilt,
auch morgen noch gilt, ist höchst fraglich. Alle sind betroffen: von freien Unternehmern über Manager und Karrieremacher bis hin zu einfachen Angestellten und Berufsanfängern. Manche bemerken es früher, andere später.
Und auch in der Psychotherapie, in Supervision und
Coaching werden wir zunehmend mit den »seelischen
Kosten der Karriere« konfrontiert. Im Psychologischen Forum Offenbach (PFO) haben wir dafür spezielle Angebote
für unsere Klienten entwickelt. Schließlich ist eine gute
Karriere ein Marathon und keine Ansammlung von (mehr
oder weniger wahllos) aneinandergereihten Sprints.
Neben den Sonnenseiten der »Top-Jobs« – Gehälter und
Einkommen, die sich im sechsstelligen Bereich bewegen,
Prestige, Ansehen, Macht, weiträumige Gestaltungsfreiheit
– kommen irgendwann auch die Schattenseiten ins Blickfeld. Und so viel sollte jedem klar sein: Geschenkt bekommt man nichts auf der Karriereleiter oder im Karrierenetzwerk. So kann die für viele Berufe notwendige Selbstdisziplin leicht in Selbstverleugnung umschlagen. Übertriebene Außenorientierung und exzessive Anpassung führen mitunter zu chronifiziertem Fassadenverhalten (»stoßfest, bruchsicher, formschön und abwaschbar«). Andere
Aspekte des Lebens – neben dem Beruf – werden vernachlässigt. Kurzfristig können olympiareife Leistungen erbracht werden, langfristig aber droht eine Bauchlandung.
Chronischer Stress
»Der Zwang nimmt ab, aber der Druck nimmt zu«, sagte
mir unlängst ein Coachingklient und meinte damit, dass ei9
Literatur
Gross, Werner (Hrsg.):
»... aber nicht um jeden Preis –
Karriere und Lebensglück«
Freiburg 2010; Kreuz-Verlag
Wagner-Link, Angelika: Verhaltenstraining zur Stressbewältigung. Arbeitsbuch für Therapeuten und Trainer; Vollständig überarbeitete Neuauflage mit CD; Klett-Cotta 2010
Kontakt
Dipl. Psych. Werner Gross
Psychologisches Forum
Offenbach (PFO)
Bismarckstr. 98
63065 Offenbach/Main
T 069 – 82 36 96 36
E [email protected]
www.pfo-online.de