Vor-Urteil
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Vor-Urteil
Ulrich Sommer Vor-Urteil 1. das überkommene gesetzliche Konzept der Vermeidung richterlicher Vorurteile Die Abwesenheit von Vorurteilen ist eine der wesentlichen Bedingungen für die Akzeptanz von Strafurteilen. Der Eingriff in die Grundrechte des Angeklagten durch den Urteilsspruch ist in einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft legitimiert durch die Garantien einer Urteilsfindung, die dem entscheidenden Richter zwingend Vorgaben macht. Der Weg zu einer Entscheidung ist losgelöst von den Strukturen alltäglicher gedanklicher Operationen des Entscheiders. Ein im vertrauten Gespräch mit Freunden erzieltes Ergebnis des Richters über das „Richtige“ und das „Falsche“ kann und muss daher u.U. in einem Urteil am Ende eines Strafprozesses anders ausfallen. Der Strafprozess und seine Vorgaben können als Methode umschrieben werden, in einer logischen und damit überprüfbaren Form Behauptungen der Anklage zu verifizieren oder zu falsifizieren.1 Die Justizförmigkeit des Prozesses unter Einhaltung begrenzender und kanalisierender Formalien modifiziert daher zwangsläufig den auch dem Richter außerhalb des Gerichtssaals vertrauten Umgang mit der Frage, ob er etwas für wahr oder unwahr erachtet. Auch wenn die Wahrheitssuche als Ziel in allen Fällen gleichermaßen benannt werden kann, ist der Weg und damit auch das Ergebnis differenziert.2 Die inhaltlichen Vorgaben dieses formalisierten Erkenntnisprozesses sind zum einen von einem der Freiheitsrechte des Angeklagten verpflichteten Schutzgedanken getragen. Zum anderen versucht die Prozessordnung Vorkehrungen für Konstellationen zu treffen, die den Richter von der Konzentration auf die maßgeblichen strafprozessualen Entscheidungskriterien abhalten könnten. Ein akzeptables Urteil setzt einen unbelasteten Umgang mit dem Verfahrensstoff voraus. Störende externe Einflüsse auf diesen Umgang gilt es zu unterbinden. Der Gesetzgeber von 1877 setzte sich ausdrücklich die Vermeidung selbst unbewusster Voreingenommenheiten des Richters zum Ziel.3 Die gesetzlichen Strategien zur Vermeidung unerwünschter Vorurteile sind vielfältig. Das vernunftgeleitete, transparente und kontrollierte richterliche Vorgehen im 1 Jürgen Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S.5ff. S. umfassend zur Diskussion um die Begründung der „prozessualen Wahrheit“: Frauke Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, 1998. 3 S. hierzu den Bericht der Kommission nach den ersten Entwurfsberatungen einer RStPO 1874/75, in: Hahn/Mugdan, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 2.Aufl. hrsg. von Stegemann 1886, Bd.3, Abt.2, S.1541. 2 1 Strafprozess soll die Auswirkung von Faktoren auf die Entscheidungsfindung minimieren, denen verfahrensrechtlich keine Relevanz zukommen soll. Schon die Vorschriften zum gesetzlichen Richter effektivieren nicht nur mit der Institutionalisierung der richterlichen Unabhängigkeit die Vermeidung interessengeleiteter Entscheidungsfindung; auch die Zuweisungsregeln der einzelnen Verfahren stellen prozedurale Vorkehrungen zur Garantie persönlicher Distanz dar. Die angstrebte Erweiterung des verengten Blicks des Vorurteils wird gefördert duch die Intersubjektivität des Entscheidungsprozesses, sei es durch den institutionalisierten Dialog mit anderen Verfahrensbeteiligten oder die Wahrnehmung der Teilhaberechte des Angeklagten, sei es durch die notwendige Auseinandersetzung in Kollegialgerichten. Der Zwang zu rationalen Begründungen vermittelt die Chance der Aufdeckung vorurteilsgeprägter Gedankenführung. Enge methodische Vorgaben zur Operation der Beweisführung enthalten letztlich das Prinzip der Unschuldsvermutung und der „in dubio“-Satz. Die unbewusste Einflussnahme von Vorprägungen ist in der strengen Logik dieser Vorgaben auch für den Entscheider selbst sehr viel leichter zu detektieren. Das Leitbild des unvoreingenommenen Richters hat sich am deutlichsten in den Regelungen der §§ 24ff. StPO niedergeschlagen. Jeder Angeklagte hat Anspruch auf einen Richter, der nicht einmal den Anschein einer unsachlichen inneren Einstellung zum Verfahrensgegenstand erkennen lässt. Die „Sache“ als Bezugspunkt des Unsachlichen ist das Fehlen jeder gedanklichen Vorbelastung in der Auseinandersetzung mit dem Prozessstoff, die Idee der Abwesenheit jeden Vorurteils. Nicht nur Interessensituationen können den Erkenntnisprozess negativ beeinflussen; es war eine banale Erkenntnis des Gesetzgebers des 19.Jahrhunderts, dass bereits jede gedankliche Vorbefassung mit dem Entscheidungsstoff außerhalb der Richterrolle dessen Unbefangenheit minimieren müsse. Unabhängig davon, wie das Vor-Urteil in der Vorbefassung aussah, beschrieb das Gesetz schon früh Konstellationen der Befangenheit, in denen auch bei Unterstellung eines rationalen Prozedierens und Entscheidens des Richters menschliche Unzulänglichkeiten erahnt wurden. Lassen schon vorprozessuale persönliche Konstellationen Vorurteile befürchten, gilt dies erst recht bei unsachlichen Prägungen im Verfahren selbst. Auch wenn das Vorurteil auf dem formalisierten Erkenntnisprozess beruht, ist es unsachlich, wenn es das Gebot der Vollständigkeit der Beweisaufnahme und die bis dahin notwendige Offenheit des Entscheidungsprozesses verletzt. Befangen ist daher der Richter, der schon vor Abschluss des Verfahrens zu erkennen gibt, dass sein Urteil feststeht. Will die Verfahrensordnung unter dem Willkürverdacht stehende Abweichungen von Entscheidungsstrukturen verhindern, muss sie auch dieses Vor-Urteil vermeiden helfen. 2 2. aktuelle psychologische Erkenntnisse zu Strukturen der (richterlichen) Entscheidungsfindung Was in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer diffusen Einschätzung allgemein menschlicher und damit auch richterlicher Unzulänglichkeiten bei der Realisierung der als idealem rationalen Vorgang gedachten Urteilsfindung gründete, stellt sich heute nicht zuletzt auf Grund psychologisch wissenschaftlicher Untersuchungen differenzierter dar. Der nicht weiter überraschende Kern dieser Einsichten besteht aus zwei Elementen. Zum einen: Der Strafprozess ändert auch bei Richtern nicht deren alltägliche Strukturen des Denkens und Entscheidens. Zum anderen (trotz aller Betonung der vernunftgeleiteten Wahrheitssuche im Strafprozess): Die Forderung nach Rationalität hebt den Befund der Irrationalität des richterlichen Evidenzerlebnisses beim Finden der Entscheidung nicht auf. Der Widerspruch existiert und dominiert den Strafprozess, er lässt sich aber immer schwerer mit richterlichem Pathos verdecken. a. Emotionalität der Entscheidungsfindung Der Prozess der Informationsaufnahme und -verarbeitung sowie der Entscheidungsfindung ist keinesfalls ein steuerbarer und damit im klassischen Verständnis rationaler Vorgang. Unerkanntes und Unkalkulierbares ist bei jeder Entscheidung im Spiel. Zumindest bei simplen Alltagskonstellationen – so deuten neueste Forschungen an konnte durch Hirnmessungen die vom Probanden getroffene Entscheidung etliche Sekunden vor dem Zeitpunkt prognostiziert werden, den der Entscheider selbst als Zeitpunkt seiner Entschlussfassung bezeichnete. Der Entscheider wurde offensichtlich von unbewussten Prozessen „geleitet“. Was ihn leitet, ist auch der Wissenschaft ein Rätsel. Seit Freud wissen wir, dass nur ein Teil unserer Emotionen die Bewusstseinsschwelle übertritt. Das Schlagwort der „emotionalen Intelligenz“4 versucht Erklärungen der Gefühlsbetontheit rationaler Entscheidungen. Untersuchungen zur Amygdala5, ei4 5 Populär wurde der Begriff durch den Bestseller von Daniel Golemann, Emotionale Intelligenz, der neueste psychologische und neurobiologische Untersuchungsergebnisse nicht nur zur Analyse benutzt, sondern auch deren „Beherrschbarkeit“ postuliert. Der Mandelkern (Amygdala) und die so genannten limbischen Zentren sind Teil eines allgemeinen Bewertungssystems im menschlichen Hirn, das ohne weitere gedankliche Reflexion entscheidet, ob ein Sachverhalt gut/vorteilhaft/lustvoll war und entsprechend wiederholt werden sollte, oder schlecht/nachteilig/schmerzhaft und entsprechend zu meiden ist. Dieses Bewertungssystem sorgt – wie bei allen Wirbeltieren - dafür, dass unser Gehirn alle bewußten und unbewußten Handlungsentscheidungen immer im Lichte vergangener Erfahrung trifft. Sog. somatische Marker, teils angeboren, teils entwic kelt im Zuge der Sozialisation des Individuums, „helfen“ beim Denken, indem sie Vorentscheidungen treffen und, ohne dass es be- 3 nem Teil des menschlichen Gehirns, beweisen, dass jede Wahrnehmung unbewusst gefiltert wird durch ein emotionales Erfahrungsnetz. Das neu Erfahrene wird automatisch mit Emotionen besetzt, die ihren Ursprung im komplexen Gefühlsarchiv des Betrachters finden. Die laienhafte Beobachtung von affektiven Primärbewertungen ist zwischenzeitlich auch durch die kognitiven Neurowissenschaften belegt. Bei komplexen Entscheidungsvorgängen vermischen sich unbewusste Prozesse, emotionale Reaktionen und gezielte rationale Überlegungen, was auf sich teilweise erheblich überlappenden Gehirnstrukturen basiert. Diese Entscheidungsprozesse sind auf allen Stufen menschlicher Informationsverarbeitung miteinander verbunden. Im Gerichtssaal machen derartige Prozesse nicht halt.6 Der Einfluss richterlicher Emotionen im Urteil über die Schuld eines Angeklagten und darauf basierende Strafzumessungsentscheidungen sind zumindest im amerikanischen Gerichtswesen belegt.7 Die These von der intuitiven Struktur der Beweiswürdigung ist heute fundiert begründbar. Allgemeine psychologische Erkenntnisse der Kognition lassen sich unschwer auch auf den Strafprozess anwenden. Der Entscheidungsprozess bei Gericht – so die mittlerweile unbestrittene Erkenntnis der Psychologie – beruht weitgehend auf unbewussten Mechanismen.8 Das richterliche Erlebnis, dass z.B. ein Zeuge durch sein Verhalten „Lügensignale“ aussendet, dass eine Einlassung des Angeklagten den Eindruck von Ausflüchten vermittelt oder gegen jede Lebenserfahrung verstoße, basiert primär auf einer emotionalen Rezeption, die ihren Ursprung in der individuellen richterlichen Erfahrung hat. Rezeption und Verarbeitung von Informationen sind bei Richtern internalisiert und von ihnen selbst kaum beschreibbar. Erfahrungen und Eingeübtes verdichten sich auch in der Entscheidungsfindung zu Automatismen. Ist sie vom Richter selbst nicht kontrollierbar, verschließt sie sich der rechtsstaatlichen Berechenbarkeit. Rationalität als Forderung erfasst erst den nachfolgenden Bereich der Verarbeitung einer ersten – emotional gesteuerten – Beweisanalyse. 6 7 8 4 wusst würde, in eine bestimmte Richtung drängen. Auf diesem Weg beeinflussen sie auch das abstrakte Räsonieren, das wir als gefühlsneutral erleben. Daraus schließt heute ein Großteil der Wissenschaft, dass für rationale Entscheidungen Emotionen unerlässlich sind, dass Rationalität ohne Emotionen sogar undenkbar ist. S. hierzu insbes. Damasio, Descartes´Irrtum, 1995; ders., Ich fühle, also bin ich, 2000; Siebert, Die Bedeutung der Amygdala für Emotionsverarbeitung und Gedächtnis, 2002. E.A. Phelps, Emotion und Cognition: Insights from studies of the human amygdala, Annual Review of Psychology, 24, 27 – 53, 2006. N.Feigenson/J. Park, Emotions und attributions of legal responsibility und blame, Law und human behavior, 30, 143 – 161, 2006. S. hierzu insbesondere die englischsprachige Untersuchung von M.K.Dhani, Psychological models of professional decision making, in: Psychological Science, 14, 175 – 180 (2003). Partiell lässt sich dieser richterliche intuitive Prozess näher analysieren: b. Wahrnehmungsselektion bei komplexen Sachverhalten Jede Entscheidungsfindung im Alltagsleben ist ein kognitiver Prozess, der von Heuristiken dominiert ist. Urteilsheuristiken sind zu vergleichen mit kognitiven „Schnellverfahren“. Derartige menschliche Fähigkeiten sind evolutionsbedingt. Die Entwicklung von Lebewesen lehrte diese, als Überlebensstrategie einerseits eigenes – auch hoch komplexes – Handeln als Programm zu codieren und andererseits dieses Programm nach einer simplen Stimulans abzurufen. Die mangelnde Fähigkeit, schnell sämtliche relevanten Umweltfaktoren zu erfassen, die eine abgewogene Entscheidung ermöglichen würden, zwingt zur Informationsselektion. Das Reaktionsprogramm auf Grund eines einzelnen Aspekts ersetzt die Entscheidung auf Grund der Gesamtinformation. Die Überwindung dieser Evolutionsstufe durch die moderne menschliche Spezies ist ein Irrtum. Zwar zeichnen sich z.B. wissenschaftliche Einsichten gerade durch Strukturierung umfassender Erkenntnisse und deren Deutung zu neuen Horizonten aus. Die Beherrschung der Komplexität hat den Menschen zum dominanten Lebewesen der Erde gemacht. Der Alltag auch dieses hoch entwickelten Lebewesens ist jedoch nur selten von Erkenntnisstreben dieser Tragweite geprägt. Auch dieses Wesen muss minütlich Entscheidungen treffen, vom Kauf des richtigen Waschmittels bis zur Auswahl des angenehmsten Fernsehprogramms. Gerade das Zeitalter der Informationstechnologie überschwemmt den Entscheider mit relevantem Material, das er in seinen Lebensumständen nicht sinnvoll verarbeiten kann. Er kennt noch heute das Gefühl des kleinen Affen im gefährlichen und undurchschaubaren Dschungel. Auch unsere Zivilisation hat Selektions-Überlebensstrategien in Entscheidungssituationen entwickelt. Diese erlernte und täglich angewandte Lösungsstrategie auch des hochzivilisierten Menschens verdeutlicht, warum abwägende Vollständigkeit in Entscheidungen im Gerichtssaal oft eine Illusion bleiben muss. Entscheidungsleitende Informationen sind auch hier meist auf wenige Kernpunkte beschränkt. Auch bei hochkomplexen Sachverhaltsstrukturen hat sich in Untersuchungen herausgestellt, dass Richter regelmäßig als entscheidungsrelevant lediglich auf wenige Faktoren zurückgreifen. Minimalstinformationen sind häufig ausreichend, um insbesondere in als „typisch“ empfunden Fällen Entscheidungsstrukturen vorzuzeichnen.9 9 J.Hupfeld-Heinemann/M.Oswald, Richterliche Urteilsbildung: Strafentscheid und Strafzumessung; in: R.Volbert/M.Steller (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, Band 9, Handbuch der Rechtspsychologie, S. 477-485, 2008. Zu dieser Erscheinung bei Entscheidungen von Kleinstkriminaliät: B. Helversen / J. Rieskamp, Predicting Sentencing in Low Level Crime: A Cognitive Modeling Approach (2007). 5 c. Simplifizierung von Lösungsstrategien bei der Entscheidungsfindung Nicht nur die Anzahl der Informationen ist oft unüberschaubar. Auch die Möglichkeiten ihrer Verarbeitung im Hinblick auf das erstrebte Ziel sind vielfältig. Komplexe Situationen erfordern unterschiedliche Lösungsstrategien. Die Furcht vor der Unüberschaubarkeit der Methoden wird bei Entscheidungen gern durch deren Minimierung mittels Ignorieren kompensiert. Durch Reduzierung möglicher Antworten auf eine Frage, durch Heranziehung sogenannter „Faustregeln“, lässt sich aufgrund individueller Lernerfahrungen der Denkprozess des Entscheiders effizienter gestalten.10 Selektion von Informationen aus einem komplexen Geschehen einerseits und ihre zügige Einbettung in eine von mehreren Bewertungsstrukturen andererseits stellt eine subjektiv empfundene Erleichterung des Entscheiderprozesses dar. Er fordert keine mentale Anstrengung und wird vom Entscheider selbst als Form einer Art intuitiven Wissens oder Gefühls bewertet. Die Strategie zur richterlichen Wahrheitsfindung gründet oft in der viel gelobten richterlichen Erfahrung, verbunden mit dem Kompliment des „guten Judiz“. In zahlreichen Fällen entwickelt der richterliche Entscheider seine methodischen Ansätze, in das jeweils hochkomplexe widersprüchliche Gespinst der Beweisaufnahme die Schneise seiner Wahrheit zu schlagen. Der einmal gefundene und als richtig gefühlte Weg im Umgang mit der Erhebung und Bewertung von strafprozessualen Beweisen blendet alsbald alternative Denkansätze aus. Das Bewusstsein für die individuellen Bedingungen des Erfolgs einer Methode in einigen – vielleicht wenigen – Fällen geht verloren. Die Handlungsform wird automatisiert. Der Handelnde frönt nur noch dem Methodismus.11 Dass schon die Änderung winziger Umstände die Gesamtfiguration des Verlaufs einer Beweisaufnahme verändern kann und daher völlig anderes Handeln notwendig macht, entgeht dem Methodizisten. Identifiziert er seine erlernte Methode mit der Erfahrung von Allgemeingültigkeit, dokumentiert er primär die Fehleranfälligkeit seiner „Wahrheitssuche“.12 Richter unterliegen nicht nur der allgemeinen Tendenz von Entscheidern, erarbeitete simplifizierte Methoden der Entscheidungsfindung durch Ignorieren individueller Besonderheiten aufrecht zu erhalten. Fördert das Ausblenden besonderer Entscheidungsbedingungen schon allgemein die Überschaubarkeit von Lösungskonzepten, 10 J. Haidt, The emotional dog und its rational tail, psychologicle review, 108, 814 -834, 2001. V.Clausewitz, Vom Kriege, 1880, 130f., kritisierte schon mit diesem Begriff formalisierte Handlungsschemata. 12 D.Dörner, Die Logik des Misslingens, Strategisches Denken in komplexen Situationen (6.Aufl., 2007), S.257, spricht sogar von „Dummheit“. 11 6 muss diese Tendenz bei Richtern schnell in „Rechthaberei“ umschlagen. Zum einen gründen simplifizierende Strategien der Urteilsfindung in einem höchstpersönlichen Aspekt. Überschaubarkeit und Beherrschbarkeit der eigenen Methode der Wahrheitsfindung fördert das Gefühl, diesen Suchvorgang im Griff zu haben. Da individuelle Komponenten eines Prozesses diese Sicherheit gefährden könnten, werden solche Bedingungen intuitiv aus der Problemlösung ausgeblendet. Die von der Justiz geforderte Bewahrung des positiven Richterbildes der eigenen Kompetenz und Handlungsfähigkeit ist gewährleistet. Diese Tendenz ist im Gegensatz zu anderen - auch bedeutsamen - Entscheidersituationen notwendig verstärkt. Es fehlt an einem Korrektiv. Denn Richtern ist das allgemeine Arsenal der kritischen Überprüfung eigener Entscheidungen entzogen. Dass das Management für besonders gravierende Entscheidungssituationen einer verstärkten Rückkoppelung bedarf, zeigt die Pilotenaus- und weiterbildung. Zur Vermeidung gerade vorurteilsbedingter Fehlentscheidungen in 10.000 m Höhe hat man ein formalisiertes Verfahren geschaffen, das streng zwischen Faktensammeln, Aufzeigen von unterschiedlichen Handlungsoptionen und einer erst im dritten Schritt erfolgenden Bewertung dieser Optionen unterscheidet und den gesamten Vorgang mit einer kritischen Diskussion unterschiedlicher Entscheidungsträger unterlegt.13 Demgegenüber wirkt das Postulat der Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung und die mangelnde Möglichkeit der Kontrolle ihrer Ausübung wie ein archaisches Relikt der prä-modernen Gesellschaft. „Trial and error“ ist bei jedem Manager oder Minister ein wichtiger Faktor, eigenes Verhalten für die Zukunft zu optimieren. Demgegenüber erhält der Richter praktisch keine Chance, den Weg seiner Entscheidungsfindung und dessen Ergebnis zu falsifizieren oder zu verifizieren. Filmische Dokumentationen der verurteilten Tat werden nicht nachgeliefert, Berufungsentscheidungen beruhen auf völlig anderen Beweisaufnahmen, formell verhaftete Revisionsentscheidungen wagen sich nicht in die Kategorien „richtig“ und „falsch“ vor. Das Ergebnis ist die für Entscheider außergewöhnliche Situation, sich unangefochten ein Berufsleben lang der Kompetenzillusion hingeben zu können. d. Wahrnehmungsverzerrungen und andere Fehleranfälligkeiten Heuristik als einfache und beherrschbare Technik, im Schnellverfahren bei komplexen Situationen Entscheidungen unter Unsicherheiten zu treffen, erleichtert Lösungen. So nützlich diese Fähigkeit der Reduktion von Komplexität im Alltagsleben 13 Hanno Beck, Die Logik des Irrtums, 2008, S.59 zum sog. System FORDEC (Facts, Options, Risks and Benefits, Decision, Execution, Check) 7 sein mag, so problematisch sind diese Entscheidungsstrukturen im Strafprozess. Der Wahrnehmungs- und Denkprozess beim Entscheider ist automatisiert und wird damit unbewusst. Ein derart strukturierter Entscheidungsprozess ist besonderen Verzerrungen ausgeliefert und damit in hohem Maße fehleranfällig. Detaillierte Erscheinungsformen sind der Psychologie seit langem bekannt: - Repräsentativitätsheuristik knüpft bei der Einschätzung von Sachverhalten an Verteilungswahrscheinlichkeiten an. Der farbige Mitbürger wird im Zweifelsfall nicht als deutscher Staatsangehöriger eingeschätzt, weil die allermeisten Deutschen weiße Hautfarbe besitzen. Dominiert diese Erwägung das Gesamturteil, hat die Entscheidung zwar einen recht hohen Wahrscheinlichkeitsgrad der Richtigkeit, der Irrtum für außergewöhnliche Konstellationen ist allerdings vorgezeichnet. Ist diese Anwendung einer Verteilungswahrscheinlichkeit darüber hinaus noch von der persönlichen Kenntnis des Anwenders abhängig (Verfügbarkeitsheuristik), ist der mentale Abkürzungsweg individuell besonders entlastend. Jeder Entscheider kann nur seinen persönlichen Kenntnisstand in die Einschätzung einbringen. Diese Heuristiken müssen versagen, wenn individuelle Verfügbarkeiten und tatsächliche Relevanz weit auseinanderfallen. Der Richter legt seiner Entscheidung Gesetzmäßigkeiten zugrunde, die nicht existieren. Aus vermeintlichen Mustern werden Rückschlüsse auf Handlungsabläufe gezogen, die nie geschehen sind. Obwohl die Potenzierung der Fehleranfälligkeit durch abermalige Reduktion der Entscheidungsbasis evident ist, hat dieser Bezugspunkt in der Rechtsprechung der Beweiswürdigung seinen strafprozessualen Segen erhalten. Ein Strafurteil soll richtig sein und von Revisionsgericht, Verurteiltem und der Gesellschaft als akzeptabel anerkannt werden, wenn es allein der persönlichen Überzeugung des Richters am Maßstab seiner Lebenserfahrung14 entspricht. - Ein eklatantes weiteres Beispiel ist die „Ankerheuristik“. Entscheidungsprozesse werden signifikant beeinflusst von Informationen, die völlig unabhängig vom entscheidungsrelevanten Prozess kurz zuvor vom Entscheider aufgenommen worden sind. Das Phänomen ist belegt bei Entscheidungsprozessen im Rahmen numerischer Werte. Bei Entscheidung für eine bestimmte Zahl verarbeitet der Entscheider regelmäßig, jedenfalls bei gewisser subjektiver Unsicherheit, kurz zuvor erhaltene Informationen in seine Entscheidung. Die Angabe einer Zahl wird davon beeinflusst, in welcher Höhe zuvor – u.U. in ganz anderen Zusammenhang - Angaben gemacht worden sind. Aus den allgemeinen Grundsätzen einer Verfügbarkeitsheuristik des individu14 8 Zum Wert der Lebenserfahrung bei anstehenden Entscheidungen schon Konfuzius: “Die Erfahrung ist wie eine Laterne im Rücken, sie beleuchtet stets nur das Stück Weg, das wir bereits hinter uns haben.“ ellen Gedächtnisses oder einer Repräsentativheuristik kann für den konkreten Fall des Ankereffektes die Verzerrung im kognitiven Entscheiderprozess nachgewiesen werden. Dies gilt auch für strafgerichtliche Urteile. In einem offenen richterlichen Entscheidungsprozess zur Höhe des Strafmasses muss daher zwangsläufig eine zuerst genannte Zahl – regelmäßig im Plädoyer die staatsanwaltschaftliche Strafmaßforderung – einen vom Gericht selbst nicht kontrollierbaren Einfluss ausüben.15 Dies ist erwiesen selbst für schlicht erwürfelte staatsanwaltschaftliche Strafmaßforderungen oder laienhafte journalistische Anfragen16 ebenso wie bei parteiischen Zwischenrufen von Zuschauern im Gerichtssaal.17 - Verzerrungen im intuitiven Entscheidungsprozess werden darüber hinaus durch das Phänomen des Rückschaufehlers (Hindsight-Bias) hervorgerufen. Die Einschätzung des Entscheiders von der Vorhersehbarkeit bestimmter Ereignisse wird signifikant von seiner Rückschausicht beeinflusst. Ohne dass der Entscheider sich selbst der Verschiebung seiner Entscheidungsbasis bewusst ist, verzerrt das Wissen um den tatsächlichen Ausgang eines Geschehens seine Einschätzung von der Vorausschaubarkeit in der früheren Situationsbewertung.18 Es ist offensichtlich der menschlichen Kognition unmöglich, die tatsächliche Kenntnis des Ausgangs auszublenden. Das Bedürfnis, sich Schlüssiges und Sinnvolles vorzustellen, greift quasi automatisch auch auf den tatsächlichen Ausgang und damit die plausibelste und am besten vorstellbare Möglichkeit zurück. Die Relevanz dieser Fehlermöglichkeit bei der gerichtlichen Beurteilung von Fahrlässigkeitsdelikten oder Unterlassungsdelikten liegt auf der Hand. - Die emotional gesteuerte Entscheidungsfindung gerade im Strafprozess wird von einem weiteren psychologischen Phänomen dominiert: Ob etwas richtig oder falsch ist, ob ein Sachverhalt die „Wahrheit“ darstellt, hängt für den Entscheider zumeist davon ab, ob ihm die Rekonstruktion eines Hergangs plausibel erscheint. Die rich- 15 16 17 18 S. hierzu B.Englich, Ankereffekte im juristischen Kontext; in: Bierhoff/Frey, Handbuch der Psychologie Band III.: Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, S. 309 – 313, 2006; dies., Urteilseinflüsse vor Gericht, in: Handbuch der Rechtspsychologie S.486-496, 2008, B.Englich/T.Mussweiler/F.Starck, Playing dice with criminal sentences: The influence of irrelevant anchors on experts´ judicial decision making, in: Personality and Social Psychology Bulletin, 32 (2), 188-200, 2006. B.Englich, „Geben Sie ihm doch einfach 5 Jahre!“ – Einflüsse parteiischer Zwischenrufer auf richterliche Urteile, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie, 36 (4), 215-225, 2005. E.M. Harley, Hindsight-Bias in Legal decision making in: Social cognition, 25, 48 -63, 2007; Bryant, F.B./Guilbault, R.L., „I knew it all along“, Basic and applied social Psychology 24, 27-41, 2003. 9 terliche Kognition drängt danach, schlüssige Geschichten zu akzeptieren.19 Plausibilität ist allerdings ein pseudo-rationales Kriterium. Zwar wird beim Entscheider letztlich eine kohärente Kausalkette bestehend aus auslösenden Ereignissen sowie Zielen und Handlungen aller Beteiligten gesucht. Die Einschätzung der Kohärenz wird allerdings weitgehend unbewusst durch eigene Bewertungen und Erfahrungen vorgenommen. Gerade bei professionellen Richtern basiert sie weitgehend auf Parallelbewertungen ähnlicher Fälle oder als ähnlich erkannten Strukturen des eigenen Erfahrungsschatzes. Maßstab für die Plausibilität sind damit nur beschränkt überprüfbare emotionale Entscheidungsstrukturen. Der Hang, der plausibelsten Geschichte zu folgen, kollidiert eklatant mit der Struktur des deutschen Strafprozesses. Im Gegensatz zum angelsächsischen System hat der Richter nicht zwischen verschiedenen vorgetragenen Sachverhaltsvarianten zwingend zu wählen. Schweigt der Angeklagte, steht allein die aufgrund der Eröffnungsentscheidung dem Richter ohnehin plausibel erscheinende Darstellung der Anklageschrift zur Verfügung. Die richterliche Aufgabe in dieser Situation, lediglich die Zweifelhaftigkeit des von der Staatsanwaltschaft behaupteten Sachverhalts zu untersuchen, kollidiert mit der kognitiven Neigung, die einzig erkennbare und damit schlüssige Variante eines Geschehens auch als die Wahrheit zu akzeptieren. Die Umsetzung des tragenden Prozessgrundsatzes „in dubio pro reo“ gleitet damit noch tiefer in den Bereich des Unkontrollierbaren und rechtlich nicht Fassbaren ab. Der vom dubio-Satz verlangte gedankliche Weg des Richters einer skeptischen Herangehensweise an die Bewertung ihm offerierter Beweismittel kollidiert mit einer fehlenden Wertschätzung des Zweifels, der als positive menschliche Eigenschaft in unserem gesellschaftlichen Leben neben dem Strafverfahren allenfalls noch Anerkennung bei tüftelnden Wissenschaftlern findet.20 Die gefragten aktuellen Management Eigenschaften bestehen demgegenüber eher aus Entscheidungsfreude und Gradlinigkeit. Der Zweifel säende Pedant wird durch seine Negierung negativ wahrgenommen. Er muss untergehen auch bei aufgeklärten Richtern, die – verstärkt durch alltägliche Bestätigung zweifelsfreien Agierens - dem unreflektierten Bedürfnis erliegen, sich letztlich eine positive Vorstellung vom Tatgeschehen zu machen. 19 S. hierzu die amerikanischen Untersuchungen zum „Story telling model“: N.Tenngton/R. Haistie, The story telling model for juror decision making (1993). V.Waye, Judicial fact-finding: Trial by judge alone, in serious criminal cases, in: Melbourne University Law Review 27, 423 – 457, 2003. 20 Anders noch in dem berühmt gewordenen Film „Die zwölf Geschworenen“ (der auf einem Theaterstück von Reginald Rose beruht), in dem der Autor den besonders skeptischen Geschworenen sagen lässt: „Wir haben einen begründeten Zweifel, und darin liegt eine unschätzbare Sicherheit für unser ganzes S ystem. Verstehen Sie, was das heißt? Wir dürfen zweifeln. Unsere Freiheit beruht darauf. Kein Geschworener in diesem Lande darf einen Mensch für schuldig erklären, wenn er nicht sicher ist.“ 10 - Ein nicht bewusst steuerbares Phänomen der Kognition besteht darin, Informationen beim Entscheidungsprozess je nach der Reihenfolge der erhaltenen Informationen unterschiedlich zu verarbeiten. Ausgangspunkt dieser Erkenntnis sind psychologische Untersuchungen, die einen konflikthaften Zustand von Menschen entdeckten, die einer Information ausgesetzt sind, die zu früheren Entscheidungsbildungen im Widerspruch steht. Die Theorie der kognitiven Dissonanz 21 beschreibt allgemeine Strukturen menschlichen Entscheidens in diesen Situationen. Die Psychologie hat hier einen aversiven Zustand des Entscheiders detektiert, den dieser gerne reduzieren oder beseitigen möchte. Untersucht wurden die menschlichen Strategien, die mit bisherigen Einschätzungen unvereinbaren (dissonanten) Informationen zu verarbeiten. Die meisten Lösungen laufen darauf hinaus, um der Konsistenz der eigenen Struktur willen neue Informationen nur unter der Prämisse wahrzunehmen, diese in das bisherige Bild zu integrieren und – notfalls – diese Informationen schlicht zu ignorieren. Die Konsequenz für das Strafverfahren ist für das Zwischenverfahren belegbar. Mit der Eröffnung des Hauptverfahrens hat das Gericht rechtlich zum Ausdruck gebracht, dass es eine Verurteilung des Angeklagten für wahrscheinlich hält. Diese gesetzlich verlangte Schuldhypothese22 korreliert mit der Statistik einer minimalen Freispruchsquote.23 Lassen sich diese Werte u.a. mit einer Bindungskraft der einmal gefällten, wenn auch vorläufigen Entscheidung erklären, findet sich dieser Effekt auch im zeitlichen Kontext einer Hauptverhandlung, die dem Richter keine vorläufige Entscheidung abverlangt. Die Auswirkungen, die bereits die schlichte Reihenfolge von Informationen im Strafverfahren haben kann, hat Schünemann24 in den „Mannheimer Experimenten“ untersucht. Ergebnis: eine ausgeprägte Schuldhypothese beeinflusst die Verarbeitung nachfolgender Fallinformationen und die Beurteilung des Angeklagten signifikant. - Weitergehende Forschungen haben den fatalen menschlichen Hang aufgedeckt, eine einmal gefällte Entscheidung beizubehalten. Dabei sind die (unbewusste) Ignorierung von entgegenstehenden Fakten oder die Weigerung der Ergebnisüberprüfung durch alternative Denkansätze nur einige Strategien einer zwanghaften Beharrungs21 Begründet 1957 von Leon Festinger, A theory of cognitive dissonance, 1957; ders. Theorie der kognitiven Dissonanz, 1978; weiterentwickelt von Irle, Kursus der Sozialpsychologie, Bd. II, 1978, S. 304 ff. 22 Vgl. Eschelbach, Festschrift Richter II (2006), S. 113, 114: „gesetzlich verlangtes Vorurteil“. 23 Die Freispruchsquote nach einer Hauptverhandlung lag bspw. In Baden-Württemberg im Jahre 2005 bei 2,32%.; s. www.justiz.baden-wuertemberg.de/dervlet/PB/menu/1201659/index.html. 24 Schünemann, Experimentelle Untersuchungen zur Reform der Hauptverhandlung in Strafsachen, in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätskontrolle, Bd. II, 1983, S. 1117, 1131 ff. 11 tendenz. Fakten verwirren allenfalls, wenn ein Urteil getroffen wurde. „Confirmation Bias“ dominiert menschliches Denken.25 Wo Automatismen Entscheidungen dominieren, verblasst die Möglichkeit eines abgewogenen „gerechten“ Urteils. Die aktuelle Erkenntnis der Psycho-Wissenschaften ist für den historischen Idealen verpflichteten Strafjuristen ernüchternd: Das Vorurteil ist fest integrierter Bestandteil menschlicher Problemlösungsstrategien. Das Vorurteil ist intuitiv, sein Enfluss ist für den Entscheider nicht erkennbar und kontrollierbar. Strafrichter sind hiervon nicht ausgenommen. 3. Konsequenzen für den aktuellen Strafprozess Das Vorurteil ist damit Bestandteil des Strafprozesses, solange dieser von Menschen entschieden wird. Die gesetzgeberische Idee, Vorkehrungen für vorurteilsfreie Entscheidungen zu treffen, erscheint illusionär. Das mögen forensich tätige Strafjuristen als Erlebnis des realen Strafprozesses hinnehmen, der in der alltäglichen Praxis ohnehin fortlaufend an den Vorgaben theoretischer Ideale scheitert. Das Achselzucken wird die Anzahl falscher Urteile nicht verringern. Der aufgezeigte Befund bedarf zum einen der Publizität, um das Problembewusstsein der Verfahrensbeteiligten zu schärfen. Zum anderen kann nur ein um Klärung bemühtes Nachdenken dazu führen, im Einzelfall auf der Grundlage einer konsensualen Argumentationsbasis das prozesswidrige Vorurteil aufdecken und diskutieren zu können, um dessen negativen Auswirkungen zu minimieren. a. rationale und emotionale Entscheidungsfindung Rationalität gilt als Basis strafrichterlicher Urteile im modernen demokratischen Rechtsstaat. Vernunft und Logik leiten die Entscheidungsfindung, ihre Darstellung im Urteil garantiert deren Überprüfbarkeit ebenso wie die Aufdeckung und Vermeidung emotional gefärbter Entscheidungselemente – so das traditionelle Modell. Dieses Modell muss brüchig werden, wenn hinter der Fassade des rationalen Agierens unschwer emotional gebildete Entscheidungsfaktoren ihre prägende Wirkung entfalten können. Wer trotz der Erkenntnis der notwendigen Unzulänglichkeiten in der Entscheidungsfindung das unserer Rechtskultur zugrunde liegende Bild des vernunftbegabten Wesens nicht einer grundsätzlichen Revision unterziehen will, muss die bekannten Denkschemata nicht zwingend verlassen. Die Problematik lässt sich in einem ersten 25 Raymond S. Nickerson: Confirmation Bias: an ubiquitous phenomen in many guises, in: Review of general Psychology 1998, vol.2, N.2, 175-220. 12 Schritt auch als allenfalls quantitative Veränderung überkommener Diskussionen begreifen. Danach hat Ratio als Ausgangspunkt und Lösungsanspruch den emotional bedingten Einfluss auf strafprozessuale Entscheidungen aufzudecken, zu kanalisieren und durch materielle und formale Vorgaben zu minimieren. Die Arbeitsfelder sind vielfältig. Führt die Erkenntnis schon zu struktureller Unzulänglichkeit des Prozesses, ist der Gesetzgeber zu einer Neubesinnung aufgefordert. Läßt sich der unerwünschte Einfluss von Heurismen durch eine an dieser erkannten Problematik orientierten modifizierten Auslegung von vorhandenen Normen verringern, ist die höchstrichterliche Rechtsprechung gefordert. Zeigt sich der Einfluss von emotionalen Momenten im anderweitig nicht kontrollierbaren Prozessgeschehen, ist die offene Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten um eine wesentliche Thematik erweitert. Letztlich setzt eine Lösung der Problematik stets die Akzeptanz des Entscheiders von der eigenen Fehlbarkeit ebenso voraus wie seinen Anspruch, das „gerechte Urteil“ nicht durch clandestine Irrationalitäten zu entwerten, sowie seine Bereitschaft, persönlich Strategien zur Aufdeckung und Vermeidung individueller Vorurteilsfaktoren zu entwickeln. b. strukturelle Mängel der StPO Die simpelsten Vermeidungsstrategien lassen sich binnenstrukturell entwickeln. Sind verfahrensexterne Einflüsse oft nur schwer auszumachen, lassen sich um so leichter durch den Prozess selbst bedingte Störfaktoren ausscheiden. Ist als eine der entscheidenden Fehlerfaktoren eine richterliche Vorstrukturierung zu prozessrelevanten Fragen ausgemacht, ist ein übergreifendes Verfahrensprinzip unschwer zu formulieren: Der Prozess selbst muss dafür Sorge tragen, dass der Informationsfluss an den Richter sich formal und inhaltlich auf die Beweisaufnahme konzentriert. Die aktuelle Strafprozessordnung verfehlt die Realisierung dieses Prinzips um Längen. Sie verordnet dem Richter ausdrücklich die Bildung von Vor-Urteilen im Kernbereich der Entscheidungen zu Schuld und Strafe. Mit der Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens auf der Grundlage einer nicht konfrontativen Beweissammlung werden unwiderrufliche Strukturen der Problemlösung beim Richter fixiert.26 Die Hoffnung des Gesetzgebers auf ein Ausblenden der Akteninformationen, auf einen Beginn der Rezeption in der Beweisaufnahme „bei Null“, ist heute widerlegte Illusion. 26 Dies erkennen und nutzen Staatsanwaltschaften und Polizei; s. z.B. Heiko Artkämper, Polizeibeamte als Zeugen vor Gericht (Verlag deutsche Polizeiliteratur), 2007, S.16, zur Bedeutung des Zwischenverfahrens: “Die entscheidende Schnittstelle wird damit quasi vorverlagert, da bei einer entsprechenden Rekonstruktion des Akteninhalts in der Hauptverhandlung nahezu zwingend die Verurteilung erfolgt.“ 13 Zurecht sieht sich ein Angeklagter, dem der Richter kurz zuvor im Eröffnungsbeschluss die Fortsetzung der Haft mit der Begründung des dringenden Tatverdachts nach Aktenlage bescheinigt hatte, in der hoffnungslosen Situation, in der Hauptverhandlung die für den Entscheider bereits gelöste Problematik der Schuldfrage wieder aufzubrechen. Diesen Systemfehler vertieft die Hauptverhandlung, wenn der derart strukturierte Richter maßgeblich den Umfang der Beweisaufnahme bestimmt. Aufklärung verlangt § 244 Abs. 2 StPO von ihm nur da, wo er sie (noch) für notwendig erachtet. Die bislang erwartungsgemäß verlaufene Beweisaufnahme darf ihm zur Bestätigung ihrer Beschränkung dienen. Der Blick auf das wahrscheinliche Endergebnis darf ihn veranlassen, seine Erwartenshaltung als Rechtfertigung für die mangelnde Bemühungen um ihre Widerlegung anzusehen. Das Schaukelspiel zwischen fest gefügter Struktur zur Formulierung einer Vorentscheidung, der Einschätzung der Notwendigkeit einer Ausdehnung der Beweisaufnahme und schließlich die Bewertung von Beweisen auf der Wahrheitssuche überfordert die Distanz des Entscheiders zum Bewertungsmaterial. Heuristiken – geprägt durch Erstinformationen und primär erarbeitete Lösungsstrategien - müssen die Suche nach dem endgültigen Urteil dominieren. Der verharmlosende Begriff der „Zwischenentscheidung“ kaschiert seinen psychisch bedingten wegweisenden Charaker. Die Personenidentität des Entscheiders sowohl hinsichtlich der Frage der rückschauenden Überprüfung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen als auch der Gestaltung der Beweisaufnahme als auch der letztendlichen Bewertung des Beweisergebnisses der Hauptverhandlung stellt als menschliche Überforderung das massivste Beispiel eines vorurteilsfördernden prozessualen Systemfehlers dar. Systemänderungen kann nur der Gesetzgeber vornehmen. Alternativmodelle müssen die strikte personale Trennung von jeglicher Art Zwischenentscheidung und der Rezeption und Bewertung der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung vorsehen. Die Modelle für die isolierte richterliche Voruntersuchung liegen ebenso vor wie die der erstmaligen und vom Entscheider nicht beeinflussten Präsentation der Beweismittel. Sie beruhen auf der allgemeinen Befürchtung der durch das Verfahren selbst produzierten Voreingenommenheit. Der aktuelle Forschungsstand der Psychologie lässt die Befürchtung zu einer Gewissheit werden und macht eindringlich die Notwendigkeit eines Überdenkens des überkommenen StPO-Modells deutlich. c. die Minimierung des Vor-Urteils im aktuellen Strafprozess Auch die Anwendung des vorhandenen gesetzlichen Instrumentariums unterliegt dem Gebot der Verringerung von schädlichen Vorurteilsfaktoren. Wer diese Prämisse ebenso akzeptiert wie die Normauslegung anhand dynamischer Erkenntnisse, 14 wird manch tradierte Regelung einer Revision unterziehen müssen. - So findet z.B. das Anfangsplädoyer der Verteidigung seine zwingende Rechtfertigung. Es ist ein Gebot effektiver Verteidigung, dem in der Anklage der Staatsanwaltschaft als Hypothese vorgetragenen Sachverhalt eine Alternativhypothese entgegen zu setzen. Nur die rechtzeitige Verankerung von Alternativmöglichkeiten bietet die Chance einer offenen Rezeption der Beweisaufnahme. Der Versuch seiner Unterbindung sollte aus heutiger Sicht prozesswidrig sein.27 - Die als umfassend gedachte richterliche „Freiheit“ der Beweiswürdigung muss endgültig der strafprozessualen Historie überantwortet werden. Sind verdeckte Automatismen als Gefahr der vorurteilsbelasteten Entscheidung erkannt, folgen zu ihrer Vermeidung erhöhte Anforderungen an Stringenz und Detailliertheit sowohl der beweiswürdigenden Gedankenführung als auch deren intersubjektiven Vermittelbarkeit.28 Das Vorurteil wird nur kaschiert oder bleibt unentdeckt, wenn die emotional längst fixierte Lösung nachträglich mit einer – nach aktuellen Maßstäben oft revisionssicheren - pseudo-rationale Begründung ummäntelt wird. Die Vermeidung von Vor-Urteilen heißt hier die Sicherstellung eines Optimums an Ergebnisoffenheit bis zur Entscheidung über Schuld und Strafe. Statt „Freiheit“ bedarf es der Formalisierung des Würdigungsvorgangs. Bindende Vorgaben müssen die Argumentationsrichtung lenken, um zu vermeiden, dass das Ergebnis bereits am Anfang der Würdigung steht. Der Stil der Urteilsbegründung ist diesem Anliegen ebenso abträglich wie die pauschale Bezugnahme auf eine Gesamtwürdigung. Die Unschuldsvermutung verlangt vielmehr als gedanklichen Ausgangspunkt die „Nullhypothese“, deren expliziter Widerlegung es bedarf, um eine für den Angeklagten nachteilige Entscheidung zu treffen.29 Die höchstpersönliche Überzeugung eines Richters von einem Geschehen kann da für einen Schuldspruch nicht ausreichen, wo 27 28 29 Siehe ausführl. Kautenburger-Behr, Zum Rederecht des Verteidigers nach Verlesung des Anklagesatzes, 2004, insbes. S. 152 ff.; Salditt, Verteidigung in der Hauptverhandlung – Notwendige Alternativen zum Praxisritual, StV 1993, 442, 444; Müller, Zum sog. Opening-Statement des Verteidigers, in: FS Hanack 1999, S. 67 ff.; siehe hierzu auch das gemeinsame Papier des Deutschen Richterbundes und Deutschen Anwaltvereins „Für Streitkultur im Strafverfahren“, DRiZ 1997, 491, 492. Zu der grundlegenden Forderung nach dieser Form der Rationalität der Beweiswürdigung vergl. schon Herdegen, Die revisionsgerichtliche Kontrolle der Beweiswürdigung, in: Rechtssicherheit versus Einzelfallgerechtigkeit – Kolloquium der AG Strafrecht des DAV (1991), S.30ff, 39ff.; ders. in NStZ 1987, S.193ff.; ders. in: Strafverteidiger 1992, S.527ff, 533; ders., Die strafprozessualen Beweiswürdigungstheorien des Bundesgerichtshofs, in: Festschrift für Hanack (1999), S.311 – 329; ders., Die Revisibilität der Beweiswürdigung, in dieser Festschrift (2009); zusammenfassend Sommer, Lebenserfahrung – Gedanken über ein Kriterium richterlicher Beweiswürdigung, in Rieß-FS S.585-610, 2002. zu dieser Idee bereits Tsambikakis, Strafprozessuale Beweisprinzipien im Wechselspiel, in: Kunert-Symposium, 2006, S.93. 15 das argumentative Arsenal für eine Widerlegung der Unschuldsvermutung nicht vermittelbar ist. Was zur Sicherung der Qualität aussagepsychologischer Gutachten Standard ist,30 sollte als methodisches Minimum eines u.U. existenzvernichtenden Strafurteils unbestritten sein. - Beweisantizipation ist Vor-Urteil. Das Verbot ist daher Kern des Teilhaberechts des Angklagten durch Beweisanträge. Die effektive Realisierung dieses Prinzips muss dafür Sorge tragen, dass die Ablehnungsmöglichkeiten von Beweisanträgen die Verkürzung der Beweisgrundlage nicht gerade dadurch erhöhen, dass gedankliche Automatismen den distanzierten Würdigungsvorgang ersetzen. Das Maximum an Ergebnisoffenheit fordert gerade bei den Ablehnungsgründen, die ausnahmsweise eine Prognose der beantragten Beweisaufnahme ermöglichen (z.B. beim Auslandszeugen), dasselbe strenge Argumentationsschema, das auch der Schuldfeststellung zugrunde liegen sollte: die Hypothese einer sinnvollen Verbreiterung der gerichtlichen Entscheidungsbasis durch den zusätzlichen Beweis ist dezidiert zu widerlegen – ansonsten ist dem Antrag nachzugehen. - Der in der Sache vorgeprägte Richter verfügt nicht über die rechtsstaatlich notwendige Unabhängigkeit. Er ist befangen. Diese unerwünschten Prägungen können auch durch die Beschäftigung mit dem Strafverfahren erfolgen, was zum gesetzlichen Ausschluss oder – in Erweiterung der Ausschlussgründe des § 22 StPO - zur Befangenheitsablehnung führen kann. An einer konsequenten Anwendung dieser gesetzlich vorgehaltenen Möglichkeit der Garantie einer vorurteilsfreien Beweiswürdigung sieht sich die Rechtsprechung gehindert, wenn die Prägung des Richters gerade durch eine vom Gesetz verlangte Vorentscheidung erfolgte. Befangenheit liegt nicht vor, auch wenn ein Richter im Rahmen seiner Zuständigkeit vor der Urteilsfällung – u.U. mehrfach – den dringenden Tatverdacht bei einer Haftüberprüfung bejaht hat.31 Befangenheit soll auch bei dem Tatrichter nicht vorliegen, der in einem bereits abgeschlossenen Verfahren einen Mittäter verurteilt32 und dabei den nunmehr vor ihm stehenden Angeklagten bereits ausdrücklich als schuldig ausgemacht hatte. Dass sich jeder Bürger vertrauensvoll in die machtausübenden Hände des derart eingestimmten Richters begeben soll, begründet die Rechtsprechung mit einer weithin unbekannten Kompetenz-Trias des Richters. Seine Erziehung, Ausbildung und Stellung33 sollen ihn befähigen, im anstehenden Wahrnehmungs- und Bewertungsprozess bereits vorgeprägte Strukturen schlicht auszublenden und eine neue Beweisaufnahme „quasi bei Null“ zu beginnen. Die karikaturenhaft anmutende Kompetenzbeschreibung ist – wenn es dessen noch 30 BGHSt 45, 164. BGHSt 21, 342. 32 BGH NStZ-RR 2001, 129. 33 Löwe/Rosenberg/Siolek StPO 26.Aufl., 2006, § 24 Rn. 40, m.w.N. insbes. zur ständigen RGRspr. 31 16 bedurft hätte – mit den dargestellten Forschungsergebnissen der unbewussten emotional gelenkten Entscheidungsfindung widerlegt. Weder das Elternhaus noch die universitäre Ausbildung noch ein Bewusstsein der sozialen Stellung halten für den Richter Kontrollmechanismen parat, über die normal Sterbliche nicht verfügen können. Die Rechtsprechung reflektiert allenfalls den Versuch, systembedingte Verwerfungen durch binnenprozessual erfolgte Vorurteilsbildung des Richters zu kaschieren. Dem Gebot der Realisierung größtmöglicher Vorurteilsfreiheit läuft diese Strategie zuwider. Auch wenn die grundsätzliche Zuständigkeit eines Richters trotz der Belastung durch eine Vorentscheidung prozessual konsequent nicht sein jederzeitiges Ausscheiden zur Folge haben kann, muss die Möglichkeit der Minimierung des VorUrteils offen gehalten werden. Der EGMR hat einen Weg aufgezeigt, wenn er vom Tatrichter gesetzlich verlangte summarische Zwischenprüfungen für tolerabel erachtet, intensive frühere Auseinandersetzungen des Richters mit der Schuld- und Straffrage aber als untragbare Vorprägungen kritisiert, sei es in früheren Prozessen gegen Mitbeschuldigte34, sei es in besonderen Haftprüfungsverfahren35. d. Fazit Die vorliegende Skizze kann nicht mehr als eine Annäherung an eine Problembeschreibung sein. Die psychologischen Konstellationen der Beeinflussungen von Wahrnehmungen in Gerichtssälen und die Wege ihrer richterlichen Verarbeitung bis zum Strafurteil sind vielfältiger und komplexer als hier angedeutet. Die rechtlichen Möglichkeiten ihrer Diskussion sind umfassender als hier an wenigen Beispielen dargestellt werden kann. Die Überlegungen sind ein kleiner Beitrag zu einer großen Herausforderung: der Arbeit an einem rechtsstaatlich akzeptablen Strafurteil. Die Macht des Strafgerichts über menschliche Existenzen rechtfertigt nur das richterliche Versprechen, Schuldfeststellungen auf der Grundlage maximaler Neutralität zu treffen. Die Form des Gesetzes kann nur grobe Grenzen zur Verhinderung des Abweichens von rechtsstaatlichen Idealen setzen. Auslegungen unter dem Primat der Optimierung der gesetzgeberischen Intention können allerdings neu erkannte Problemfelder einbeziehen. Die Überlegungen stellen darüber hinaus die Selbstreflektion der Strafjuristen auf die Probe. Alle am Strafprozess professionell Beteiligten arbeiten nicht maschinell, ihre Arbeitsweise unterliegt allgemeinen menschlichen Unzulänglichkeiten. Eine „gerechte“ Urteilsfindung setzt damit mehr als die juristischen Fähigkeiten voraus; 34 35 EGMR, Ferrantelli u. Santangelo ./. Italien, ÖJZ 1997, 151. EGMR, Hauschildt ./. Dänemark, ÖJZ 1990, 188. 17 sie beinhaltet die ständige Suche nach Fehlerquellen der eigenen Wahrnehmungsund Bewertungsvorgänge. Nur wer Defizite kennt und sie reflektiert, kann sie vermeiden oder kompensieren. Wenn die moderne Psychologie solche Erkenntnisse erweitert, ist deren Beachtung ein rechtsstaatliches Gebot. 18