Johannes Gutenberg-Universitä t Mainz FB - ingo

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Johannes Gutenberg-Universitä t Mainz FB - ingo
Universita t:
Johannes Gutenberg-Universita t Mainz
Fachbereich:
FB Sozialwissenschaften, Institut fur Soziologie
Dozent:
Dr. R. Sudek
Ubung:
Jugendsoziologie
Autor:
Ingo Ostwald
Thema:
Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht
Studienfa cher:
Mathematik (7), Sozialkunde (7) und Informatik (3) auf Lehramt
Adresse:
Talstra䔠 e 68 / 55218 Ingelheim
Telefon:
07000 ostwald (= 07000 6789253)
e-mail:
[email protected]
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
G
Gliederung der vorliegenden Arbeit:
0.
Einleitung
1
1.
Einfu hrung und Schwerpunkte der 12. Shell Jugendstudie ´Jugend “97ä
1
1.1
Das Jugendwerk der Deutschen Shell
1
1.2
Ausgangslage, Methoden und Schwerpunkte der 12. Shell-Jugendstudie
2
2.
Befunde zur Lebenssituation Jugendlicher
3
2.1
Hauptprobleme Jugendlicher
3
2.2
Die Jugend als u bergangsphase
5
2.3
Zukunftsvisionen der Jugend
7
2.4
Jugendkultur und Freizeitpraferenzen
8
2.5
Demokratieverdrossenheit
9
2.6
Politische Aktivitaten, Motivationen und Wertorientierungen
11
3.
Fazit
13
3.1
Bewertung des methodischen Vorgehens
13
3.2
Bewertung der inhaltlichen Aussagen
14
4.
Literaturverzeichnis
15
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
1
Einleitung
0.
In dieser Arbeit mo chte ich die wesentlichen Aussagen der 12. Studie des Jugendwerks
der Deutschen Shell ´Jugend “97äherausstellen und zueinander in Bezug setzen. Dabei
liegt der Schwerpunkt nicht auf einer exakten Analyse der statistischen Erhebungen, z umal diese sicher den Rahmen einer solchen Arbeit sprengen w u rden, sondern vielmehr
auf der Bedeutung der Folgerungen, insbesondere der These der Autoren der Studie:
´Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreichtä
. Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: In
Kapitel 1 wird zunachst erlautert, was eigentlich eine Shell-Studie ist (1.1), worin die
Schwerpunkte und methodischen Besonderheiten dieser Studie liegen und von we lcher
Definition von Jugend die Autoren ausgingen (1.2). Kapitel 2 befaÜt sich mit der aktuellen Lebenslage Jugendlicher und ihrer Bedeutung f u r die Jugend als Lebensphase. Hierfu r wird zunachst auf die Hauptprobleme Jugendlicher (2.1) und deren Auswirkungen auf
die Jugend als Ubergangsphase (2.2) und die Zukunftsvisionen Jugendlicher (2.3) eingegangen, dann werden Kultur und Freizeitpraferenzen der Jugend analysiert (2.4), die
Frage nach Politikverdrossenheit der Jugend diskutiert (2.5) und schlieÜlich eroiert, in
welcher Form sich Jugendliche aufgrund welcher Motivationen und Werte engagieren
oder dies eben nicht tun (2.6). Das Fazit (Kapitel 3) ist eine perso nliche Stellungnahme
zur Shell-Studie unter Einbeziehung verschiedener o ffentlicher A uÜerungen bzgl. der
Studie. Den AbschluÜ bildet das Literaturverzeichnis (Punkt 4). Zu diesem und zur Zitie rweise sei noch angemerkt, daÜ einige Internet-Vero ffentlichungen benutzt wurden, die
u ber keine Seitenangaben verfu gen.
1.
Einfu hrung und Schwerpunkte der 12. Shell Jugendstudie ´Jugend “97ä
1.1
Das Jugendwerk der Deutschen Shell
Das Jugendwerk der Deutschen Shell gru ndete sich 1950 mit dem Ziel, ´nicht nur finanzielle Unterstu tzung [zu] liefern, sondern Problemfelder von Jug endlichen [zu] erkennen
1
und aktiv an Lo sungen mit[zu]arbeiten.ä
Sein Engagement erstreckte sich u ber Aktivita-
ten wie z.B. die Ausru stung von Kindertagesstatten, die Gestaltung von Ferienfreizeitprogrammen oder die Durchfu hrung von Kinderfreizeiten und Sportveranstaltungen. Im
1
Deutsche Shell (Hrsg.) 1997
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
2
Laufe der Jahre bildeten sich die Bereiche Jugendverkehrserziehung und Jugendfo rschung als Schwerpunkte heraus. Wahrend die Verkehrserziehung inzwischen ein fester
Bestandteil der Grundschule ist, gelten die Shell-Studien als ´Gradmesser fu r Befindlich2
keit der Jugend im Land.ä
Die Idee der Jugendstudien ist in den 50er Jahren aufgrund
des Bedarfs von Erziehern und Jugendbetreuern an ´wissenschaftlich fundierten Unterla3
gen u ber Meinungen und Verhaltensweisen der Nachkriegsjugend im Bun desgebietä
entstanden. Seit 1953 beauftragt die Deutsche Shell in Abstanden von mehreren Jahren
fu hrende Meinungsforschungsinstitute mit der Durchf u hrung entsprechender Studien,
stellt die notwendigen Mittel zur Verfu gung, nimmt jedoch keinen EinfluÜ auf den Inhalt.
1.2
Ausgangslage, Methoden und Schwerpunkte der 12. Shell-Jugendstudie
Die von Arthur Fischer (Meinungsforschungsinstituts Psydata in Frankfurt) und Prof. Dr.
Richard Mu nchmeier (Institut fu r Sozial- und Kleinkindpadagogik der FU Berlin) verfaÜte
12. Shell-Studie wurde der O ffentlichkeit am 13.05.97 prasentiert und beleuchtet somit
die Lebenslage der Jugendlichen im Hinblick auf die knapp 10 Jahre zuru ckliegende Wiedervereinigung. Im Gegensatz zu den vorangehenden Studien se tzte sich die 12. Studie
ein Thema: Ziel war die Analyse der Voraussetzungen, Motive und Formen sowie des
Verstandnisses des sozialen, gesellschaftlichen und politischen Engagements Jugendl icher. Die Studie versuchte, ´Jungsein aus der Perspektive der Jugendlichen selbst zu
4
portratierenä
und ´zu erfahren, wie sie fu r sich selbst Politik und (politsches) Engage5
ment definierenä
, ohne dabei einer Festlegung durch Erwachsene zu unterliegen. Um
die tatsachliche Lebensrealitat Jugendlicher und deren Verstandnis von Jungsein beschreiben zu ko nnen, wurden 19 biografische Portraits angefertigt und 60 narrative Interviews gefu hrt. Aus den Ergebnissen dieser qualitativen Studie heraus entstand das
Instrumentarium fu r die darauffolgende quantitative Fragebogenerhebung unter 2100
reprasentativ ausgewahlten Jugendlichen zwischen 12 und 24 Jahren. Hierbei wurden
offene Fragen gestellt, die Antworten also nicht vorgegeben. Zudem wurden neue Ma Üskalen entwickelt, da traditionelle Skalen der politischen Sozialisationsforschung der Realitat nicht mehr zu entsprechen schienen, so konnte z.B. der Eintritt in politische O rgani2
3
4
5
Feddersen 1997 [die tageszeitung (taz), 14.05.98]
Deutsche Shell (Hrsg.) 1997
Fischer/Mu nschmeier 1997, S.11
Freitag 1998
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
3
sationen nicht mehr als Indikator fu r die Engagementbereitschaft Jugendlicher dienen.
Trotz der Eingrenzung auf ein Thema folgt die 12. Shell-Jugendstudie damit methodisch
6
ihren Vorgangern, ko nnte als ´thematisch ausgerichtete Panoramastudieä
bezeichnet
werden.
Die Analyse der Hauptprobleme Jugendlicher setzt eine zumindest kurze Besch aftigung
mit der Frage daru ber, was Jugend eigentlich heiÜt, voraus. Jugend ist zum einen ´eine
subjektive biographische Lebensphase [...] der inneren Entwicklung, des Lernens, und
7
der Identitatsbildungä
, zum anderen auch eine gesellschaftlich bestimmte Lebenslage,
verbunden mit gesellschaftlichen Bedingungen und Erwartungen mi t dem Ziel des Erwachsenwerdens, der Vorbereitung auf die Arbeitswelt und der Verbindung von Gege nwart und Zukunft. Dieser Definition folgend ist Jugend eine Ubergangsphase, eine Zwischenstellung zwischen Nicht-mehr-Kind- und Noch-nicht-Erwachsen-Sein und hat nur
dann Zukunft, wenn sie nach den Zukunftsmo glichkeiten der Gesellschaft ausgerichtet
ist. Die Qualitat von Jugend ist demnach abhangig vom Gelingen und der Sinnhaftigkeit
der Einfu gung dieser Lebensphase in den Lebenslauf und der Frage, ob die Jugen d Zukunft ero ffnet, nicht aber primar von Wohlstandsniveau, Qualifikationsmo glichkeiten und
8
Lebensqualitat. Aussagen wie ´Der Jugend ging es noch nie so gut wie heuteä
mo gen
zwar auf den Lebensstandard, nicht aber unbedingt auf die Zukunftsaussichten und damit auf die eigentliche Qualitat von Jugend zutreffen.9
2.
Befunde zur Lebenssituation Jugendlicher
2.1
Hauptprobleme Jugendlicher
Um zu ergru nden, in welchen Problemen Jugendliche Hauptprobleme sehen, wurden
zwei verschiedene Befragungsmethoden angewendet: Zum einen wurde die Frage ´Welches sind nach Deiner Meinung die Hauptprobleme der Jugendlichen heute? äoffen gestellt, zum anderen wurden den Jugendlichen Antworten vorgegeben, unter denen sie
6
7
8
9
Fischer/Mu nchmeier 1997, S.13
Fischer/Mu nchmeier 1997, S.13
Fischer/Mu nchmeier 1997, S.277
vgl. Fischer/Mu nchmeier 1997, S.13 und S.277f.
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
4
beliebig viele ankreuzen konnten. Bei der offenen Frageform gaben die Befragten im
Schnitt drei Antworten.10
Das Problem der Arbeitslosigkeit wurde von fast jedem zweiten Jugendlichen genannt
(45,3%), bei der geschlossenen Frage bezeichneten es 92% der Befragten als gro Ües
oder sehr groÜes Problem. Unter den Berufstatigen (64,4%) ist die Problemwahrnehmung sogar deutlicher als unter den Arbeitslosen (62,4%), mit dem Erlangen der E rwerbstatigkeit stellt sich also offenbar subjektiv nicht das Gefu hl langfristiger Sicherheit
ein. Des weiteren ist festzustellen, daÜ mit zunehmenden Alter auch die Problemwahrnehmung zunimmt. Fu r 12- bis 14-Jahrige, die sich in der Ubergangsphase vom Kind
zum Jugendlichen und auf der Suche nach Selbstandigkeit und eigener Identitat befinden, stehen Schul- und Ausbildungsprobleme (43,9%), Probleme mit Personen im Nahbereich (41,0%), z.B. Autoritatskonflikte aufgrund der Abkopplung von der Familie, und
Drogenprobleme (38,3%), die ihre Ursache sicher in der Hinwendung zu (experimentie rfreudigen) Peers haben, deutlich vor Lehrstellenmangel (18,2%) und Arbeitslosigkeit
(18,0%). Fu r Personen in der Ubergangsphase vom Jugendlichen zum Erwachsenen, die
zwar soziokulturell selbstandig, aber meist noch o konomisch abhangig sind, ist die Arbeitslosigkeit dagegen aufgrund der starkeren perso nlichen Betroffenheit und unabhangig von ihrem Berufsstatus das Hauptproblem (58,5% bei den 18- bis 21-, 62,5% bei
den 21- bis 24-jahrigen). Das Problem des Lehrstellenmangels bewerten Arbeitslose
(35,9%) ho her als Studenten (28,3%) und Berufstatige (23,4%), die ja selbst keinen
Bedarf mehr oder noch keinen Bedarf an Lehrstellen haben. Wohl aufgrund ihres wen iger festgelegten (beruflichen) Werdegangs weisen Studenten bei Zu kunftsangsten und
Perspektivlosigkeit einen wesentlich ho heren Wert (42,1%) auf als Berufstatige (24,4%)
und Arbeitslose (23,1%).11
Der Ost-West-Vergleich zeigt tendenziell kaum Unterschiede, wohl aber eine durchweg
starkere Problemwahrnehmung im Osten; im Westen wird nur der Umweltschutz h aufiger genannt. Die subjektive Einschatzung der Jugendlichen scheint der objektiven Realitat zu folgen. So ist die Arbeitslosigkeit ist bei beiden ein groÜes Problem (45,5%/
43,5%)12, im Osten deutlich starker vertreten sind Lehrstellenmangel (41,4%/23,8%),
Mangel an Freizeitmo glichkeiten (30,2%/13,0%) und Kriminalitat, Banden und Gewalt
10
11
vgl. Fischer/Mu nchmeier 1997, S.278f.
zu den Zahlenwerten in diesem und den beiden nachfolgenden Absatzen dieses Kapitels vgl. Fischer/Mu nchmeier, S.279-285, insbesondere die dort aufgefu hrten tabellarischen Ubersichten
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
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(27,2%/17,8%). Wenn auch die fast identische Reihenfolge der Probleme zumindest
eine gewisse Angleichung von Ost und West in Bezug auf Einstellungen, Werte und Ve rhaltensweisen zeigen mag, so kann in Bezug auf Lebenslagen und Zukunftsperspektiven
nicht von einer solchen Angleichung gesprochen werden.
Auch der Vergleich der von Jungen und Madchen ergibt eine gleiche Plazierungen bei
den fu nf meistgenannten Problemen, bei jedoch unterschiedlicher Gewichtung charakteristischer Themen: Madchen nannten o fter Probleme mit Personen im Nahbereich, Arbeitslosigkeit, Drogen und Lehrstellenmangel, Jungen o fter Geldprobleme und mangelnde Freizeitmo glichkeiten. Vergleicht man mannliche und weibliche Jugendliche in West
und Ost, so wird deutlich, daÜ signifikante Unterschiede nicht zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen Ost und West bestehen, die Geschlechterunterschiede werden
13
also ´durch Regionalunterschiede u berformt und modifiziertä
. Insgesamt scheinen sich
jedoch die strukturelle Bedingungen der Jugendphase von Jungen und M adchen angeglichen zu haben.
Offenbar erleben Jugendliche anstelle eines ´typischenäEntwicklungsproblems das gesellschaftlich-o konomische Problem der Krise der Erwerbslosigkeit als ´pragende Genera14
tionenerfahrungä
. Da ohne Erwerbsarbeit kann kein gesichertes Einkommen erzielt und
somit auch keine gesicherte Erwachsenenexistenz erreicht werden kann, bedroht dies die
eingangs erlauterte Sinnstruktur der Jugendphase, was die Autoren der Studie zu ihrer
15
Hauptthese veranlaÜte: ´Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht.ä
2.2
Die Jugend als Ubergangsphase
Auf die Frage, ob die Befragten sich eher als Jugendliche oder eher als Erwachsene ei nstufen, antworteten fast zwei Drittel, sie sahen sich eher als Jugendliche. Zwischen den
Geschlechtern gibt es hierbei kaum Unterschiede, wohl aber zwischen ost - und westdeutschen Jugendlichen: Der Anteil der Ostdeutschen, die sich selbst subjektiv bereits
als Erwachsene ansehen, ist um ca. 10% geringer. ´Dies korrespondiert sehr auffallig mit
12
13
14
15
Der jeweils erstgenannte Wert gilt fu r Ostdeutschland, der letztgenannte fu r Westdeutschland.
Fischer/Mu nchmeier 1997, S. 284
Fischer/Mu nchmeier 1997, S. 14; bei dieser Folgerung ist zu hinterfragen, ob die Formulierung der Frage
mo glicherweise die Nennung gesellschaftlicher Probleme in den Vordergrund stellt; vgl. hierzu auch das Fazit.
Fischer/Mu nchmeier 1997, S.13
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
6
16
den gro Üeren Problemen des Erwachsenwerdens im Ostenä
und legt die Vermutung
nahe, daÜ junge Menschen sich um so langer als Jugendliche einschatzen, je gro Üer die
Schwierigkeiten mit dem AbschluÜ der Jugendphase (oder deren Wahrnehmung) sind.
Dies wird auch durch die Antworten auf die Frage ´Wie schnell willst du ein Erwachsener
werden?äbestatigt: vor allem die, deren Ubergang in die Lebenslage Erwachsener besonders unsicher ist, wie Frauen, Arbeitslose und Ostdeutsche mo chten sich mehr Zeit
lassen als Berufstatige, Westdeutsche und Manner.
Die Begriffe ´Jugendlicheräund ´Erwachsenerästellen demnach eher einen sozialen als
einen Altersstatus dar. Deutlich wird dies vor allem bei der Differenzierung nach dem
Berufsstatus: Im Gegensatz zu Studenten (Durchschnittsalter 21,9 Jahre) f u hlen sich
Jugendliche, die sich in der Berufsausbildung befinden (Durchschnittsalter 18,6 Jahre)
eher schon als erwachsen. Dies liegt daran, daÜ mit dem Ende der Schulzeit und dem
Beginn der Ausbildung auch tatsachlich ein wesentlicher Schritt zum Erwachsensein vollzogen wird. Studenten dagegen sind bzgl. ihrer (beruflichen) Zukunft noch wenig fes tgelegt. AuÜerdem ist das Studentsein ein relativ gesicherter, legitimer und meist auch positiv bewerteter Jugendstatus, so daÜ der Wunsch, ihn zu verlassen, nicht haufig geauÜert
wird.17
Die paradoxe Aufgabe der Bewaltigung der Jugendphase scheint darin zu liegen, einerseits Erwachsenwerden zu wollen, andererseits aber jugendlich bleiben zu mu ssen. Damit entsteht eine neue Lebensphase zwischen dem klassischen Jugendalter und dem
Erwachsensein, die als Postadoleszenz bezeichnet wird. Diese ist gekennzeichnet ´einerseits [durch] die Ausdehnung und Verselbstandigung eines eigenstandigen Jugendlebens
mit eigenen Stilen und Mustern, andererseits [durch] eine unfreiwillige Verl angerung der
18
(o konomisch) abhangigen Jugendä
. Jungbleiben wollen Jugendliche nicht aufgrund ju-
gendkultureller Gesichtspunkte, .sondern um sich nicht standig an den schwieriger gewordenen Bedingungen des biografischen Ubergangs zu stoÜen, aber auch, um zugunsten spaterer besserer Chancen ihre Qualifikationsphase zu verl angern. Der schwieriger
werdende Ubergang in den Beruf hat ‚ ebenso wie der Ausbau des Bildungswesens seit
den 60er Jahren, die Verlangerung der Schul- und Ausbildungszeit, und der soziale und
kulturelle Wandel sowohl in den Familien als auch in der Gesellschaft ‚ die Ausgangs16
17
18
Fischer/Mu nchmeier 1997, S.285
zu beiden Fragestellungen vgl. Fischer/Mu nchmeier 1997, S.285-289
Fischer/Mu nchmeier 1997, S.289
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
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konstellation der Jugendphase und folglich auch deren Aufgaben und Ziele, kurz die
Struktur dieser Phase verandert.
2.3
Zukunftsvisionen der Jugend
Um die Lebenslage Jugendlicher zu analysieren, genu gt es nicht, nur die auÜeren Lebensbedingungen zu untersuchen, auch der Bezug zur biografischen und gesellschaftlichen Zukunft spielt eine bedeutende Rolle. Bei der Frage nach der Zukunft der Gesellschaft halten sich du stere und zuversichtliche Visionen die Waage (je 50%), am skeptischsten sind 15- bis 17-jahrige und ‚ erwartungsgemaÜ ‚ Arbeitslose. Bei der letzten
Perso nliche
Zukunftsaussichten
eher zuversichtlich
gemischt
eher du ster
Shell-Studie 1991 blickten ‚ sicher auch auf1984
47%
44%
9%
1991
59%
37%
4%
1997
35%
51%
14%
grund der Aufbruchsstimmung nach der gerade vollzogenen Wiedervereinigung ‚ noch
72% eher zuversichtlich in die Zukunft. Der
eigenen Zukunft sieht jeder Zweite mit gemischten Gefu hlen entgegen, 35% eher zuversichtlich, 14% eher du ster; 1991, aber auch 1984 waren die Jugendlichen, wie nebenstehende Tabelle zeigt, noch wesentlich optimistischer.
Bei beiden Fragen spiegeln geschlechts- und regionalspezifischen Unterschiede die bereits im vorangehenden Kapitel beschriebene ungleiche Verteilung der Risiken wider. Die
eigene Zukunft mit gemischten Gefu hlen zu betrachten, scheint die Reaktion auf die Ambivalenz der gesellschaftlichen Zukunft zu sein. In dem Ma Üe, in dem die gesellschaftlichen Krisenphanomene zur Sozialisationserfahrung Jugendlicher werden, werden die
gesellschaftlichen Zukunftsperspektiven eine zentrale Bedingung der Lebenslage; die
Jugend ist kein Schonraum mehr, sondern wird mit Problemen der Lebensplanung und ‚
bewaltigung belastet. Behauptungen, daÜ der Jugend die Zukunft noch alle Wege offenstu nden, sind vor diesem Hintergrund kaum noch verifizierbar. H. Riehl -Heyse (SZ)
formulierte in einem Artikel u ber die Studie, daÜ ´wenig Zweifel daran [bestehen], daÜ
es junge Leute heute so schwer haben wie noch nie seit dem Krieg: mit Sicherheit
schwerer als in den fu nfziger Jahren, in denen man objektiv viel armer, in denen aber
19
jeder sicher war, es ko nne nur noch aufwarts gehen.ä
19
Riehl-Hyse 1997 [Su ddeutsche Zeitung (SZ), 17.05.97];
zum vorangegangen Absatz vgl. Fischer/Mu nchmeier, S.290-293
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
2.4
8
Jugendkulturen und Freizeitpraferenzen
Traditionell spielen subkulturelle Gruppenstile Jugendlicher f u r Freizeit und kulturelle Orientierung eine groÜe Rolle. Die Studie zeigt jedoch, daÜ jugendkulturelle Stile zunehmend an Bedeutung, Ganzheitlichkeit und Abgrenzung verlieren. Jugendlichen f allt es
schwer, sich mit einem bestimmten Stil zu identifizieren, statt sich von anderen abz ugrenzen greifen sie mangels eigenscho pferischer Leistung auf verschiedene Stilmittel
zuru ck und nutzen diese ´poetisch und pragmatisch fu r ein individuell arrangiertes Ge20
misch.ä
So werden oftmals verschiedene jugendkulturelle Stile parallel und in schneller
Abfolge praktiziert und nehmen damit ahnlich schnellebige und diffuse Formen an wie
die Gesellschaft selbst. Dieses Verwischen von Grenzziehungen und Polarisierungen beinhaltet eine Absage an langerfristige Verbindlichkeiten (z.B. Mitgliedschaften) und somit
eine Absage an Verbands- oder Vereinskarrieren; gesellschaftliche und politische Institutionen und Organisationen sowie deren Reprasentanten werden z.T. ironisiert oder erfahren starke Ablehnung. Angenommen werden vor allem Jugendstile, ´die SpaÜ machen, Zerstreuung und Unterhaltung bieten und einen unkomplizierten Umgang mit
21
Gleichgesinnten ermo glichen.ä
Vor dem Hintergrund abnehmender politischer und ideo-
logischer Ausrichtung scheint es zunachst fraglich, von ´Gleichgesinntenäzu sprechen,
dies erklart sich aber damit, daÜ jugendkulturelle Stile noch immer den Charakter einer
Gegenwelt haben, die sich zwar nicht mehr als Alternative fu r eine bessere Gesellschaft,
aber als Gegengewicht zur schwieriger gewordenen Situation im Leistungs- und Anforderungsbereich darstellt. Im Sinne einer ´Frustprophylaxeä(´SchluÜ mit frustigä
)22 ru ckt die
Haltung der Jugend insgesamt in eine Position des Zuschauers und begrenzten Nutz ers,
des Ausprobierens und Experimentierens, nicht der Opposition und des Ausl ebens. Von
einer Fun-Generation kann jedoch keine Rede sein, in der Studie heiÜt es z.B.: ´Die Freizeitbeschaftigung, die bei der SpaÜgeneration in den letzten Jahren am meisten an Be23
deutung gewonnen hat, ist ‚ die berufliche Weiterbildung.ä
Bei der Vorstellung der
Studie betonte Mu nchmeier diesbezu glich: ´Zwar verlangten die jungen Leute nach
24
SpaÜ, aber auch dieser sei zielgerichtet.ä
Anders ausgedru ckt: ´SpaÜ ist nicht alles,
20
21
22
23
24
Kahl 1997 [taz, 15.05.97]
Fischer/Mu nchmeier, S.21
beide Zitate aus: Fischer/Mu nchmeier S.21
Riehl-Heyse 1997 [SZ, 17.05.97]
Schulte 1997 [Hannoversche Algemeine Zeitung (HAZ), 14.05.98]
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
9
25
aber ohne SpaÜ ist alles nichtsä
, auch ´Engagement soll Jugendlichen SpaÜ machen.
SpaÜ bedeutet ihnen nicht selbstbezogenes Vergnu gen, sondern die Freude am Erleben
26
der eigenen Wirksamkeit.ä
Dies kann auch als Orientierungssuche in der Unu bersicht-
lichkeit verstanden werden, die im u brigen von einer recht zeitintensiven selbstverst andlichen Nutzung neuer Medien flankiert wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang
eine Analyse der Vorbilder Jugendlicher: Wahrend dies in den 50er Jahren noch Personen aus dem Nahbereich ‚ wie z.B. Eltern oder Lehrer ‚ waren, werden heute seltener
Vorbilder genannt, und wenn, dann vor allem Perso nlichkeiten aus den Medien.27
Die Veranderungen im Bereich der jugendkulturellen Stile haben auch Auswirkungen auf
das Freizeitverhalten Jugendlicher. ´Die Zugeho rigkeit zu einer Gruppe ist [...] nicht
28
mehr so wichtig fu r die eigene Identifikation.ä
Daher ist der ´Organisationsgrad in hie29
rarchischen und von Erwachsenen dominierten Bezugsgruppen ä
insgesamt niedrig, am
ho chsten noch bei mannlichen und ju ngeren Jugendlichen im Westen.
2.5
Demokratieverdrossenheit?
Bei der Frage nach dem Vertrauen gegenu ber politischen Institutionen und Organisationen erhielten Umweltschutzgruppen, Bu rgerinitiativen und Menschenrechtsgruppen die
besten Bewertungen. Trotz der beschriebenen allgemeinen r u cklaufigen Identifikation
schaffen deren moralisch-wertbezogene Ausrichtung und ihr meist spontan wirkender
Einsatz vor allem fu r gesellschaftliche Zukunftsthemen offenbar Vertrauen und G laubhaftigkeit, insbesondere bei Ju ngeren, bei Madchen und im Westen. Ebenfalls gut bewertet
wurden Polizei und Gerichte. Am wenigsten Vertrauen bringen Jugendliche den klass ischen politischen Institutionen, namlich dem Bundestag, der Bundesregierung und den
politischen Parteien, aber auch den Kirchen, entgegen. 30
Im Osten ist die Institutionendistanz generell ho her, die Noten sind insgesamt schlechter. Im Unterschied zu westdeutschen Jugendlichen gaben die ostdeutschen auch den
Gerichten recht schlechte Noten, was sicherlich mit Erfahrungen (oder Erzahlungen) aus
25
26
27
28
29
30
KSK Tu bingen (Hrsg.) 1997
Kahl 1997 [taz, 15.05.98]
vgl. Fischer/Mu nchmeier 1997, S.21
N.N. 1997 [Westdeutsche Zeitung (WZ), 14.05.98]
Fischer/Mu nchmeier 1997, S.21
zu diesem und den nachsten beiden Absatzen vgl. Fischer/Mu nchmeier 1997, S.296ff. und S.17ff.
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
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der DDR zusammenhangt. Die besonders schlechten Bewertungen gegenu ber der Kirche
lassen sich mit der historisch bedingt niedrigen Zahl von Kirchenanhangern erklaren.
Ein Vergleich der Altersgruppen zeigt, daÜ mit zunehmendem Lebensalter das Vertrauen
bzgl. aller Institutionen sinkt. Dies mag zwar darin begru ndet sein, daÜ Ju ngere (noch)
naiv vertrauensvoller sind, ko nnte aber auch ein Signal dafu r gedeutet werden, daÜ Jugendliche nicht in die Gesellschaft hineinwachsen. Jugendliche beschreiben die gesellschaftliche Position der Jugend gegenu ber den Erwachsenen entweder ein Macht- (Erwachsene lassen Jugend nicht mitreden) oder ein Vernachlassigungsverhaltnis (Probleme
Jugendlicher, also Zukunftsprobleme spielen bei Erwachsenen keine Rolle). Vor dem Hintergrund der durch Arbeitslosigkeit bestimmten Lebenslage steht diese (subjektiv a ngenommene) gesellschaftliche Position im Widerspruch zur Sinnstruktur der Jugendphase:
Der Jugend ´geho rtäzwar die Zukunft, sie sieht sich aber in der Rolle, Fehler und Versaumnisse der Erwachsenengeneration ausbaden zu mu ssen und kommt zu der ´Uberzeugung, daÜ eigene Interessen im politischen Bereich nicht durchsetzungsf ahig sind
31
und am Widerstand der Erwachsenen scheitern.ä
Eine Korrelationsanalyse zeigt deut32
lich, daÜ dieser ´erlebte Gegensatz der Generationenä
mit der generellen Entfremdung
vom politischen System mit all seinen Organisationen und Ritualen zusammenhangt.
Dem Vertrauensmangel und dem Gefu hl, aktiv kaum etwas verandern zu ko nnen, entsprechend lehnen Jugendliche es meist ab, sich in politischen Organisationen zu e ngagieren. Nicht die Jugendlichen sind also an der Politik desinteressiert, sondern die P olitik
an ihnen. Diese Privatisierung (der Ru ckzug in die eigene kleine Welt) ist auch als Anpassung, als Zuru ckstellung der eigenen Interessen, zu sehen. 33 Inhaltliche Kritik an der
These der ´Jugendverdrossenheit der Politikäwird z.B. vom Politikwissenschaftler Lutz
Meyer geauÜert, der die Ansicht vertritt, daÜ die Verweigerungshaltung Jugendlicher lediglich ´als eine Art Selbstlegitimation einer Fun- und SpaÜ-Generation [dient], die
schlicht keine Lust hat, den mu hseligen Ausgleich unterschiedlicher Interessen und Fo r34
derungen zu suchen.ä
31
32
33
34
Fischer/Mu nchmeier 1997, S.18
Fischer/Mu nchmeier 1997, S.17
vgl. Fischer /Mu nchmeier, S.297f. und S.17
Freitag 1997; die A uÜerungen Meyers stammen nach den Angaben im zitierten Text urspru nglich aus: Die
Zeit, 23.05.97.
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
11
In jedem Fall stellt sich die Frage, ´ob ‘die Kinder der Freiheit tatsachlich zukunftsfahig
35
sindä
, d.h. ob ohne Akzeptanz der demokratischen Instanzen die Demokratie bei der
Jugend Zukunft haben kann. Distanz zu politischen Institutionen bedeutet jedoch nicht
unbedingt Demokratieverdrossenheit. Die Umfrage ergab vielmehr ein prinzipielles B ekenntnis zur Demokratie und daÜ gerade die politisch Interessierten, Gebildeten und gesellschaftlich Engagierten den Institutionen gegenu ber die Skeptischsten sind. 36 Man
ko nnte auch, wie H. Klink (Bundeselternrat), argumentieren, ´daÜ auf diese Weise ‘die
Kinder der Freiheit eine bunte Rebellion gegen Stumpfsinn und fremde Pflichten betre iben, die letztlich die Voraussetzung fu r eine verlaÜliche und dauerhafte Demokratie der
37
‘zweiten Moderne ware.ä
Reinhard Kahl (taz) geht noch weiter, in dem er von einem
Umbruch zu einer zweiten Moderne spricht, einem Ubergang von politischen GroÜorganisationen hin zu einem feingliedrigen Engagement, ´einer erfindungsreiche[n], gewissermaÜen kapillare[n] Politik der eigenen Lebensfu hrung. Wichtiger als Ideologien werden
Personen. [...] Die Jugendlichen wollen Leben in den Stadtteil bringen. Sie wollen sich
exponieren. Indessen ist ‘politisch sein im Sinne der Politiker-Politik ein Schimpfwort
geworden wie ‘Streber oder ‘korrupt , es wird zur Signatur fu r Weltverbraucher und End38
verbraucher, jener letzten Menschen, die nichts mehr anfangen wollen. ä
Kahl sieht den
neuen Politikbegriff in der Jugend entstehen.
Um von einer ´unpolitischenäJugend sprechen zu ko nnen, mu Üte also zumindest gepru ft
werden, wo eigentlich die Grenzen zwischen ´politischäund ´unpolitischäoder zwischen
´engagiertäund ´nicht engagiertäverlaufen.39
2.6
Politische Aktivitaten, Motivation und Wertorientierungen
Prinzipiell lassen sich drei Dimensionen politischer Aktivitaten festhalten: nicht-konflikthafte, konflikthafte und institutionaliserte politische Aktivitaten. Mit dem Ergebnis der
Umfrage ist eine solche Abgrenzung jedoch schwierig; deutliche Unterschie de waren nur
zu erkennen zwischen denen, die sich u berhaupt engagieren und denjenigen, die keine
Engagement zeigen. Zwischen den theoretisch angenommenen Dimensionen wurden
35
36
37
38
39
Klink 1997
vgl. Fischer/Mu nchmeier 1997, S.296 und S.16, sowie Riehl-Heye 1997 [SZ, 17.05.98]
Klink 1997
Kahl 1997 [taz, 15.05.98]
vgl. Fischer/Mu nchmeier 1997, S.296 und S.16
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
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deutliche Korrelationen festgestellt, d.h. gerade Jugendliche, die sich z.B. nichtkonflikthaft engagieren, zeigen auch Bereitschaft zu konflikthaften oder institutionalise rten Aktivitaten. Wie auch die Untersuchung bzgl. des Institutionenvertrauens ergab, f allt
es vielen Jugendlichen schwer, ihre Interessen, Motivationen und W u nsche mit den erlebten Bedingungen und Mo glichkeiten des Politikfeldes zu vereinbaren. Insgesamt kann
40
man also von einer ´ungebundenen vagabundierende Engagementbereitschaftä
spre-
chen, wogegen das Etikett ´unpolitischäfu r die Beschreibung der Situation unangemessen scheint.41
Bei der Analyse der Wertorientierungen Jugendlicher ergab sich ein ahnliches Bild, da
auch zwischen ihnen starke Korrelationen festgestellt wurden. Um die Wertorientierungen Jugendlicher zu ermitteln, wurde ihnen eine Liste von Eigenschaften u nd Verhaltensweisen vorgelegt. Sie sollten ihre Wichtigkeit anhand einer Skala von 1 (unwichtig)
bis 7 (sehr wichtig) einstufen. Die ho chsten Bewertungen erhielten individuelle Werte
wie ´eigene Fahigkeiten entfaltenä(68,8%)42, ´das Leben genieÜenä(65,4%) oder ´unabhangig seinä(62,0%). Nicht weit dahinter wurden soziale Werte wie ´anderen Menschen helfenä(54,2%) oder ´Ru cksicht auf andere nehmenä(51,7%) genannt, dazwischen steht aber wiederum ein sehr materialistischer Wert: ´ein hohes Einkommen anstrebenä(52,1%). Hier zeigen sich die erwahnten Korrelationsbeziehungen. Trennlinien
zwischen grundlegenden Orientierungen (z.B. postmateriell ‚ materiell) schienen nicht
jeden Punkt zu treffen, an dem die Befragten ihre Werte festmachen. So ist z.B. der G egensatz materiell / postmateriell nur dann sinnvoll, wenn die gesellschaftlichen und bi ografischen Bedingungen stimmen, so setzen z.B. postmaterielle Werte stabile materiellen
Lebensbedingungen voraus. Die Unscharfe der Wertorientierungen und ihre verwirrende
Gleichzeitigkeit sind als Anpassung an die aktuelle Situation zu verstehen, sie zeigen die
Pluralisierung der Muster der Lebensfu hrung und Veranderungen der soziokulturellen
Muster.
Den Wertorientierungen entsprechend ist auch bei den Parteiaffinit aten im Vergleich zu
1981 eine deutliche Zerfaserung der klaren Konturen festzustellen: CDU/CSU -Anhanger
sympathisieren zunehmend mit Umweltschutzgruppen, Sympathisanten der Gr u nen stehen kommerziellen Jugendstilen nicht mehr ablehnend gegen u ber, SPD-Anhanger stehen
40
41
42
Fischer/Mu nchmeier, S.20
vgl. Fischer/Mu nchmeier, S.19f.
In Klammern: Anteil der Befragten, die bzgl. der Eigenschaft die Zustimmungswerte 6 oder 7 gewahlt haben.
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dazwischen. Allen gemeinsam ist jedoch, daÜ sie den Parteien wenig Vertrauen entgegenbringen und sich daher als Nachwuchs fu r diese schlecht eignen. 43
Unter denen, die sich politisch oder gesellschaftlich engagieren, lassen sich zwei vom
Bildungsgrad unabhangige Motive voneinander abgrenzen: die nutzen- und die zielorientierte Motivation. Bei der meist bei ju ngeren Jugendlichen anzutreffenden nutzenorie ntierten Motivation steht ein perso nlicher Nutzen im Vordergrund. Damit ist nicht etwa
eine finanzielle Entschadigung, ein Freizeitausgleich oder eine Freistellung von der Sch ule gemeint, sondern, daÜ selbstandig und ohne Vorschriften anderer gearbeitet wird, daÜ
Freunde mitmachen und daÜ Abwechslung (z.B. zum Schulalltag) geboten wird. Bei der
zielorientierten Motivation vor allem alterer Jugendlicher (ab 15 Jahre) sind ´Aspekte des
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Inhalts, der Form und der Funktion der perso nlichen Beteiligungä
wichtiger. Im Vorder-
grund steht demnach, daÜ man mitbestimmt, was man tut, daÜ man seine Fahigkeiten
einbringen kann und daÜ letztlich das Ziel angemessen erreicht wird. Interesse an der
Mitarbeit in Vereinen und Institutionen besteht zwar bei beiden Motivationsfomen, die
Sozialisation durch deren Verhaltensnormen wird jedoch meist abgelehnt.45
3.
Fazit
3.1
Bewertung des methodischen Vorgehens
Die Intention, Jungsein aus der Perpektive der Jugend selbst zu beschrieben, ´vermittelt
der Studie phasenweise Farbigkeit, Lebendigkeit, Vielfalt und Unmittelbarkeit. [...] Dadurch gewinnt die Studie [...] Uberzeugungskraft auf der Basis einer unverf alschten Ehr46
lichkeit.ä
Ganz unverfalscht kann eine Studie sicherlich nicht sein. Zwar scheinen mir
die angewandten Methoden, insbesondere die offenen Fragestellungen ein sehr geei gnetes Mittel zu sein, um den EinfluÜ des Fragenden zu minimieren, dennoch stellt sich die
Frage, ob nicht schon die Formulierung der Fragestellung eine bestimmte Antworten
implizieren ko nnte; dies jedoch schrankt die Aussagekraft von Ergebnissen bei jeder Art
der empirischen Erhebung ein. Im Gegensatz zu vielen anderen Studien holt die Shell 43
44
45
46
vgl. Fischer/Mu nchmeier 1997, S.18
Fischer/Mu nchmeier 1997, S.19
vgl. Fischer/Mu nchmeier, S.18f.
Kleinschmidt 1997
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Studie aber ´eine groÜe Bandbreite von Informationen zur Lebensrealitat Jugendlicher
47
und ihrem Selbstverstandnis als Jugendlicheä
ein und laÜt ´farbige Lebens-Bilder von
gegenwartigen Jugendlichen entstehen, die nicht auf die nur in Kurven, Tabellen und
Korrelationen reduzierten statistischen Durchschnittjugendlichen beschr ankt sindä
. Als
potentiell Befragter kann ich auch sagen, daÜ ich mich selbst und meine Gedanken und
Einstellungen zu politischem Engagement in der Studie recht deutlich wiederfinden kann.
Dies wurde mir besonders klar, als ich in einem Zeitungsbericht folgendes, sehr treffendes anhand der wichtigsten Aussagen der Studie skizziertes Beispiel sah:
´Junge Leute engagieren sich [...] nicht weniger als fru her in der Politik, aber anders.
Politisch ist [z.B.], wenn einer [...] bei einem Bu rgerbegehren mitmacht gegen die
SchlieÜung eines Schwimmbades [...]. Eine ganz besondere Kunst wird in solchen Aktivitaten eingeu bt, eine Kunst, die man gut mit der versuchten Quadratur des Kreises
vergleichen ko nnte: zu wissen, daÜ man ‘im groÜen kaum etwas bewirken kann ‚ und
sich doch ‘im kleinen zu engagieren [...]. Und dabei [...] auch noch SpaÜ zu haben,
[...] weil es nun mal ein tolles Gefu hl ist, eine Schu lerdisco auf die Beine zu stellen
oder in einem Ferienlager Kinder zu betreuen [...]. Das alles ist gut f u r die Schu lerdiscos und Ferienlager ‚ es ist aber vor allem auch gut fu r diejenigen, die sich dafu r ein48
setzen und so herausfinden, wer sie sind oder sein wollen [...].ä
3.2
Bewertung der inhaltlichen Aussagen
Die These der Autoren war, daÜ die gesellschaftliche Krise die Jugend erreicht hat. In
Anbetracht der Ausfu hrungen u ber die eher du steren Zukunftsvisionen der Jugend (2.3)
und das Zusammenbrechen der Sinnstruktur von Jugend als Ubergangsphase (2.2) aufgrund des Hauptproblems Arbeitslosigkeit (2.1), ist diese These sicherlich schwer abz ustreiten. Auch die Politik hat dies erkannt. Bei der Vorstellung der Shell-Studie auÜerte
die damalige Bundesjugendministerin Claudia Nolte (CDU): ´Damit haben die Jugendli49
chen die Erwachsenenwelt eingeholtä
, und H. Wieczorek-Zeul (SPD) forderte mit der
Erkenntnis ´Wer schon zu Beginn seines Arbeitslebens keine Einst iegsmo glichkeiten hat,
50
kann zeitlebens Probleme bekommenä
ein Sofortprogramm fu r die Jugend. Ich teile
zwar die Ansicht, daÜ die gesellschaftliche Krise die Jugend erreicht hat, mo chte aber
doch anmerken, daÜ dies nicht mit einer allgemeinen Demokratieverdrossenheit (2.4)
einhergeht und die Jugend durchaus noch bereit zu politischem und gesellschaftlichen
47
48
49
50
dieses und das nachfolgende Zitat aus: Freitag 1997
Riehl-Heyse 1997 [SZ, 17.05.97]
N.N. 1997 [WZ, 14.05.98]
Wieczorek-Zeul 1997
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Engagement ist (2.5). Deshalb teile ich nicht den immer wieder angedeuteten Pessimi smus. So sagen die aufgrund der Schnelligkeit des Wechsels zwischen jugendkulturellen
Stilen entstehenden ´Patchwork-Identitatenäzwar ´eine Menge u ber das Selbstwertgefu hl und daru ber, wie verzweifelt schwierig es ist, irgendwo einen Halt zu finden, wenn
51
alles wegrutschtä
, sie bieten aber auch die Mo glichkeit, flexibel auf aktuelle Gegeben-
heiten reagieren, sich anpassen zu ko nnen. So hat die gesellschaftliche Krise die Jugend
mindestens genauso erreicht wie die u brige Gesellschaft, ihr aber auch gleichzeitig
Chancen ero ffnet, vielleicht besser als A ltere damit zurecht zu kommen.52
4.
Literaturverzeichnis
Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.):
Jugend „ 97.
Zukunftsperspektiven, Gesellschaftliches Engagement, Politische Orienterungen.
Opladen 1997, S. 11-23 und S. 177-301.
Deutsche Shell (Hrsg.):
Das Jugendw erk der Deutschen Shell.
http://www.deutsche-shell.de/uebers/jugend_f.htm, 21.11.1998.
Farin, Klaus:
“ W ir liegen im m er k onsequent danebenß.
die tageszeitung, 27.06.1997, S.12-13,
auf: Homepage von ´die tageszeitungä
,
http://www.taz.de/~taz/spezial/jugend/sp_T970627.131.htm, 21.11.1998.
Feddersen, Jan:
Die Last m it der Zuk unft.
die tageszeitung, 14.05.1997,
auf: Homepage des Instituts fu r Sozial- und Kleinkindpadagogik der FU Berlin,
http://sozpaed.erwiss.fu-berlin.de/Pressespiegel/TAZ_97_05_14.2.html, 21.11.1998.
Freitag, Michael:
12. Shell-Jugendstudie “ Jugend „ 97ß.
Homepage der Evangelischen Jugend,
http://www.evangelische-jugend.de/shellstudie.html, 21.11.1998.
51
52
Riehl-Heyse 1997 [SZ, 17.05.98]
vgl. hierzu auch Riehl-Hyse 1997 [SZ, 17.05.98]
Ingo Ostwald: Die gesellschaftliche K rise hat die Jugend erreicht .
16
KSK Tu bingen (Hrsg.):
Jugend 97: Ohne Spaä lauft nichts.
Homepage der Kreissparkasse Tu bingen,
http://www.ksk-tuebingen.de/wir/wa/jugshe.html, 21.11.1998.
N.N.:
12 Jahre ü und Angst vor Arbeitslosigk eit.
Die Chancen der Jugendlichen, ihre Zukunft zu gestalten, sind schlechter geworden.
Doch sie sind bereit, sich zu engangieren.
Westdeutsche Zeitung, 14.05.1997,
auf: Homepage des Instituts fu r Sozial- und Kleinkindpadagogik der FU Berlin,
http://soz.paed.erwiss.fu-berlin.de/Pressespiegel/WZ_97_05_14.html, 21.11.1998.
Kahl, Reinhard:
Eine zw eite P olitisierung?
Shell-Studie: Die Jugend entfernt sich von der offiziellen Politiker-Politik und entwickelt
zugleich neues Engagement.
die tageszeitung, 15.05.1997,
auf: Homepage des Instituts fu r Sozial- und Kleinkindpadagogik der FU Berlin,
http://sozpaed.erwiss.fu-berlin.de/Pressespiegel/TAZ_97_05_15.2.html, 21.11.1998.
Kleinschmidt, Gottfried:
Jugend heute ü 12. Shell-Jugenstudie.
Homepage der Stiftung Bundeselternrat BER,
http://www.bundeselternrat.de/aktuell.htm, 21.11.1998.
Link, Harry:
Jugendforschung und gesellschaftlicher W andel.
Homepage der Stiftung Bundeselternrat BER,
http://www.bundeselternrat.de/aktuell.htm, 21.11.1998.
Riehl-Heyse, Herbert:
Viel Spaä vor versperrten Tu ren.
Su ddeutsche Zeitung, 17.05.1997,
auf: Homepage des Instituts fu r Sozial- und Kleinkindpadagogik der FU Berlin,
http://soz.paed.erwiss.fu-berlin.de/Pressespiegel/SZ_97_05_17.html, 21.11.1998.
Schulte, Gabriele:
Sogar Disk o und K neipe w erden zur Borse.
Shell-Jugendstudie: Arbeit bestimmt den Alltag der Jugend / Keine Lust auf Laberei.
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 14.05.1997,
auf: Homepage des Instituts fu r Sozial- und Kleinkindpadagogik der FU Berlin,
http://soz.paed.erwiss.fu-berlin.de/Pressespiegel/HAZ_97_05_14.html, 21.11.1998.
Wieczorek-Zeul, Heidemarie:
Sofortprogram m fu r die Jugend.
Homepage der SPD Wiesbaden,
http://www.spd-wiesbaden.com/kommentar.htm, 21.11.1998.