Der Erste Weltkrieg: Öffentliche Erinnerung und kulturelles Gedächtnis

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Der Erste Weltkrieg: Öffentliche Erinnerung und kulturelles Gedächtnis
Der Erste Weltkrieg: Öffentliche Erinnerung und kulturelles Gedächtnis
(Tag des Offenen Denkmals, Tübingen 13. September 2014)
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Rust,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Palmer,
sehr geehrter Herr Prof. Wolf,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
welch ein schönes Leitmotiv hat die Deutsche Stiftung Denkmalschutz für ihren
diesjährigen Tag (wie auch für die Nacht) des offenen Denkmals gewählt: Farbe. Und
nun erwarten Sie einen Vortrag zum Ersten Weltkrieg, obwohl die Farben, die
gemeinhin mit diesem Krieg in Verbindung gebracht werden, doch eher Schwarz und
Weiß oder Schattierungen von Grau, vor allem Feldgrau, sind: Schwarz-Weiß, wie die
Aufnahmen auf den unzähligen soldatischen Amateur-Fotos respektive den nicht
wenigen Propaganda- und Unterhaltungsfilmen, welche die Menschen während und
auch nach dem Weltkrieg scharenweise in die Lichtspieltheater lockten. Oder eben die
Farbe der (seit 1907 schrittweise in den deutschen Armeen eingeführten) Felduniform
– das Feldgraue, das in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit geradezu zum
Symbol für das Handwerk des Soldaten wurde. Das Grau der Felduniform verband
sich in dieser Wahrnehmung mit dem Grau des Schlamms in den Schützengräben zum
prägenden Bild des Weltkriegs und wurde damit auch zum Sinnbild des Kriegstods.
Und doch müssen wir feststellen, dass der Weltkrieg auch andere Farben kannte:
beispielsweise die traditionellen roten Uniformhosen der Franzosen, mit denen sie
1914 noch ins Feld rückten und die ein leichtes Ziel für die deutschen Scharfschützen
abgaben, oder der entlang der Westfront intensiv rot blühende Klatschmohn, die
englische poppy flower, die für die Briten wie für die Angehörigen der ehemaligen
Dominions bis heute als Symbol des massenhaften Soldatensterbens auf den
„blutdurchtränkten“ Schlachtfeldern in Flandern und an der Somme gilt. Kein
britischer Politiker oder Fernsehmoderator würde es wagen, in den Tagen vor dem
offiziellen Gedenktag, dem 11. November, sich ohne eine papierene poppy am Revers
in der Öffentlichkeit zu zeigen. Der Dichter John McCrae hat den poppy flowers jene
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literarische Form gegeben, die auch jetzt noch jedes englische Schulkind kennt: „In
Flanders fields the poppies blow / between the crosses, row on row“, wobei das
Gedicht mit der emphatischen Zeile endet: „If ye break faith with us who die / we shall
not sleep though poppies grow / In Flanders fields“.
Dass wir heute den Ersten Weltkrieg zunehmend auch farbig sehen, verdanken wir
nicht den nachkolorierten Bildern der Fernsehanstalten (die gibt es leider inzwischen
zuhauf), sondern vor allem den in einigen Armeen eingerichteten FotografieAbteilungen, etwa dem im Mai 1915 etablierten Service Photografique des Armès
Francaises, auch wenn die wenigen erhaltenen farbigen Fotos überwiegend gestellte
Szenen oder posierende Soldaten zeigten. Immerhin wissen wir nun, dass auch im
Weltkrieg der Himmel gelegentlich blau war, das Gras grün sein konnte und die
Uniformen weniger düster wirkten als auf den üblichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen.
Und damit wären wir bei unserem Thema: Auf welche Weise wurde der „Große
Krieg“ erinnert und wie etablierte sich das so genannte kulturelle Gedächtnis des
Weltkriegs? Das Erinnern und Gedenken begann nicht erst nach dem Ende des
Weltkriegs 1918 – es setzte bereits zu Beginn des Kriegs ein, also zu einem Zeitpunkt,
als die Schlachten im Westen und Osten Europas, in den Alpen, auf dem Balkan und
im Nahen Osten noch keineswegs ausgefochten waren und der erste industrialisierte
Massen- und Maschinenkrieg mitnichten seinen Höhepunkt erreicht hatte. In allen
kriegführenden Nationen erschienen in rascher Folge Bildbände, Chroniken und
Dokumentationen eines Krieges, der von den Zeitgenossen von Anbeginn als
„groß“ angesehen wurde: The Great War, La Grande Guerre, De Groote Oorlog, Der
Große Krieg. Die Absicht der Herausgeber und Autoren war es, die “große und
erhebende Zeit“ sowohl für die Mitlebenden wie auch für die Nachwelt zu
dokumentieren, wobei sich Dokumentation und Propaganda weithin überlagerten. Das
starke öffentliche Interesse an Darstellungen des Krieges brachte neben zahllosen
“illustrierten Geschichten“ und anderen volkspatriotischen Abhandlungen aber auch
anspruchsvolle Dokumenten- und Berichtsammlungen hervor. Der Krieg von 1914
wurde auf eine neue Weise geradezu “medialisiert“. Die Entwicklung des
Rotationsdruckverfahrens, die erst kurz vor Kriegsbeginn standardisierte Einbeziehung
von Aktualitätenfotografie, die Möglichkeiten preiswerter Mehrfarbendrucke - all dies
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waren zusätzliche Anreize für das mit Kriegsbeginn einsetzende massenhafte Interesse
an derartigen Veröffentlichungen.
Befördert wurde dieses Interesse aber auch durch das Entstehen von so genannten
Kriegssammlungen. Eine wichtige Rolle spielten hierbei öffentliche Bibliotheken und
Archive, die ihren Sammelauftrag entsprechend erweiterten. Überraschend war das
Engagement privater Sammler, mit dem diese die medialen Errungenschaften des
Krieges zu dokumentieren und - über den Krieg hinaus - zu bewahren suchten.
Manche dieser Kriegssammlungen bildeten den Grundstock für spezielle
Kriegsmuseen und –Bibliotheken; andere ergänzten bereits bestehende Stadt- und
Heimatmuseen oder fungierten als Sondersammlungen innerhalb der großen
Bibliotheken (wie die bereits im August 1914 begonnene Weltkriegssammlung der
Königlichen Bibliothek zu Berlin, der heutigen Berliner Staatsbibliothek im Haus
Unter den Linden, oder die ebenfalls mit Kriegsbeginn eingerichtete Kriegssammlung
der Kaiserlichen Universitäts- und Landes-Bibliothek in Straßburg). Allein im
Deutschen Reich existierten schließlich, nach einer Auflistung von 1917, weit über
200 Sammlungen, die sich sogar in einem eigenen Verband Deutscher
Kriegssammlungen zusammengeschlossen hatten. Mit welchem Engagement und auch
Ausdauer vor allem die privaten Betreiber derartiger Kriegssammlungen dabei zu
Werke gingen, ist erstaunlich und verlangt nach einer Erklärung.
Für Deutschland lässt sich ein derart ausgeprägtes archivarisches Interesse am Ersten
Weltkrieg vor allem im Bürgertum, nicht selten aber auch beim städtischen
Großbürgertum, nachweisen. Den in der Regel stark national empfindenden
Begründern und Förderern dieser Sammlungen ging es vor allem darum, der
Bedeutung des „Großen Krieges“ und den Leistungen der eigenen Nation Rechnung
zu tragen. Der Weltkrieg als ein Monument nationaler Größe sollte durch den
Nachweis seltener und kostbarer Objekte ebenso gewürdigt werden wie durch das
Sammeln der zahlreichen „Denkwürdigkeiten“ des Krieges – ein damals oft
gebrauchtes Wort. Daneben aber galt es das "Kriegserlebnis" der Menschen, zumal das
der Soldaten an den Fronten, zu dokumentieren. Der hier zugrunde liegende
Erlebnisbegriff, der die Einheit von Denken und Handeln postulierte und ein Bedürfnis
nach Totalität zum Ausdruck brachte, war bereits um die Jahrhundertwende von Georg
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Simmel und Wilhelm Dilthey popularisiert worden. Vor allem in bürgerlichen Kreisen
waren der Begriff „Erlebnis“ und der ihm innewohnende Wunsch nach „emotionaler
Stimulierung“ seinerzeit weit verbreitet. Nach Kriegsbeginn, den der in Straßburg
lehrende Soziologe Simmel als „absolute Situation“ freudig begrüßte, wurde dieses
Muster eines mystischen Erlebens gleichsam von der wilhelminischen Alltagswelt auf
die Schlachtfelder und in die Schützengräben des Weltkrieges transferiert und zur
kollektiven Erfahrung der Frontsoldaten stilisiert. Angesichts der ungeheuerlichen und
unerhörten, die Phantasie der Zeitgenossen weit überfordernden Realität dieses
Krieges maßen die Zeitgenossen der dargestellten Wirkung des Krieges eine große
Bedeutung zu. Da der Krieg nahezu alle Bereiche des Lebens – im wahrsten Sinn des
Wortes - in Mitleidenschaft zog, musste sich dieses eben auch durch eine erweiterte
Sammeltätigkeit ausdrücken.
Unter den privaten großbürgerlichen Sammlern war auch der schwäbische
Unternehmer Richard Franck, der Begründer der späteren Stuttgarter
Weltkriegsbücherei (heute: Bibliothek für Zeitgeschichte), Mitinhaber der in
Ludwigsburg beheimateten Kaffeemittelfirma Heinrich Franck Söhne, später Franck &
Kathreiner. Angeregt durch den unmittelbar nach Kriegsbeginn erlassenen Aufruf der
Königlichen Bibliothek in Berlin, die staatliche Kriegssammlung durch private
Zuwendungen interessanter Materialien zu bereichern, begann der damals ebenfalls in
Berlin ansässige Franck seit 1915 umfassend und gezielt zu sammeln, darunter –
neben Büchern und Zeitungen - sowohl offizielles Schriftgut (Maueranschläge,
Plakate, Feldzeitungen, Lebensmittelmarken, etc.) als auch private Überlieferungen
(Postkarten, Feldpostbriefe, Photographien, Zeichnungen, etc.). Bemerkenswert war
die nahezu schrankenlose Vielfalt dieser Dokumente und Memorabilien, mit denen
sich erst 70 Jahre später wieder eine moderne Weltkriegsforschung an der Nahtstelle
zwischen Krieg und Alltagskultur auf wissenschaftlicher Basis beschäftigen sollte.
Eine analoge Entwicklung wie die Francksche Kriegssammlung nahm in Frankreich
die Sammlung des Pariser Industriellenpaares Louise und Henri Leblanc, die diese
bereits 1914 begonnen hatten, und die zum Ausgangspunkt der Bibliothèque de
Documentation Internationale Contemporaine (BDIC) wurde (die Sammlung ist
heute in der Universität Nanterre/Sorbonne untergebracht).
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Eine ähnliche Bedeutung wie den Kriegssammlungen nach 1914 kam auch den
vielerorts gezeigten Kriegsausstellungen zu: sie spiegelten zum einen die öffentliche
Wahrnehmung des „Großen Krieges“ wider und waren zugleich deren
Gedächtnisspeicher. Die bei Beginn des Krieges noch ganz im Stil der alten Heeresund Militärmuseen präsentierten Kriegstrophäen (wie Beutegeschütze und gegnerische
Fahnen) kündeten von Siegeszuversicht und dem erhofften raschen Kriegsende,
nachgebaute Schützengräben, wie sie nach 1915 verstärkt gezeigt wurden, von einen
zum erbitterten Stellungskampf erstarrten Angriffskrieg und die an zahlreichen Orten
organisierten Ausstellungen über Verwundeten- und Krankenfürsorge von
massenhafter Verwundung und Tod im Gefolge der großen Materialschlachten nach
1916. Dennoch war die Absicht der Ausstellungsmacher eine ganz andere.
Ausstellungsformen und Gestaltungsmittel sollten in erster Linie der Beruhigung und
Selbstversicherung der Bevölkerung dienen. Sie suchten Ruhe und Sicherheit zu
vermitteln, wo eigentlich Unruhe und Unsicherheit angesagt waren. So propagierten
beispielsweise die vom Deutschen Roten Kreuz organisierten
Verwundetenausstellungen nachdrücklich das Können der Ärzteschaft und die
Beherrschbarkeit von Kriegsverletzungen. Neu entwickelte Gliedprothesen und
medizinische Gerätschaften täuschten nicht nur vor, dass beinahe jede
Kriegsverletzung zu behandeln war, sondern sie suggerierten, dass die Versehrten
später wieder zu vollwertigen Mitgliedern der nationalen Gemeinschaft werden
konnten.
Erst nachdem der Alltag des Krieges samt seinen negativen Begleiterscheinungen tief
in das Bewusstsein der Deutschen eingedrungen war, und auch der Wunsch nach
einem Verständigungsfrieden immer häufiger zu vernehmen war, ließ die Popularität
der Kriegsausstellungen merklich nach. Erfolgreich – im Sinne der staatlichen
Propaganda - war nach 1917 lediglich noch das neue Medium der
Luftkriegsausstellungen, die sowohl die Überlegenheit der deutschen Flieger-Asse
(Geburtsstunde des Richthofen-Mythos) wie die potentielle Bedrohung der
Heimatfront durch feindliche Bomber illustrieren konnte. Museumsfachleute und
Historiker haben darauf verwiesen, dass die Kriegsaustellungen des Ersten Weltkriegs
über das Jahr 1918 hinaus einen wichtigen Beitrag zur Popularisierung moderner
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Ausstellungstechniken geleistet haben, wie sie später u. a. beim Film und der
Fotografie verwandt worden sind. Darüber hinaus aber spielten Kriegsausstellungen
eine eminent politische Rolle: sie beeinflussten und formten das Nachkriegsgedächtnis
des Weltkriegs – nicht nur in Deutschland.
Hierbei gilt anzumerken, dass das deutsche Nachkriegsgedächtnis, die
Kriegserinnerung nach 1918, zutiefst uneinheitlich und gespalten war. Das betraf
besonders das Ende des Krieges und die Beantwortung der Frage: wer war
verantwortlich für die militärische Niederlage, für die Novemberrevolution und den
Zusammenbruch der Monarchie? Die daraus resultierenden politischen Gegensätze
und Kontroversen (vor allem die erbitterten, geradezu unbarmherzigen
Auseinandersetzungen über den sog. „Dolchstoß“, der gegen das angeblich siegreiche
Heer geführt worden sei) bestimmten auch das Bild des Weltkriegs und verhinderten
eine gemeinsame, verbindliche Kriegserinnerung. Hinzu kam eine höchst selektive
Wahrnehmung des Krieges und der Kriegsereignisse: Militärische Niederlagen wie
etwa die Marneschlacht 1914 wurden komplett ausgeblendet, doch auch die äußerst
verlustreichen (aber letztlich unentschiedenen) Schlachten in Verdun und an der
Somme blieben weitgehend unerwähnt. Dies sollte sich erst im Zuge der literarischen
Befassung mit diesen Schlachten nach 1928 ändern. Dagegen wurden militärische
Siege wie die Schlacht bei Tannenberg seit 1919 öffentlich, zumeist im
Jahresrhythmus, zelebriert.
Symptomatisch für die Zerrissenheit der politischen Kultur der Weimarer Republik
erscheint vor allem die Tatsache, dass sich die Deutschen jener Zeit nicht auf einen
gemeinsamen Totenkult für die Gefallenen des Weltkrieges verständigen konnten.
Während die Sozialdemokraten und die Angehörigen des Reichsbanners Schwarz-RotGold – erinnerungspolitisch gesprochen - für ihre Republik gefallen waren,
Kommunisten für die bolschewistische Weltrevolution ihr Leben geopfert hatten,
starben die ehemaligen Soldaten des „Stahlhelms“ ebenso wie später die der
Nationalsozialisten für „Deutschland“ oder für die „Bewegung“. Anders als in
Frankreich und Großbritannien, wo der Kult des „Unbekannten Soldaten“ unter dem
Arc de Triomphe in Paris respektive eines „leeren Grabes“ (Cenotaph) in Whitehall
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für verbindliche, bis heute gültige nationale Erinnerungs- und Gedenkorte sorgte,
gelang es in Deutschland nicht, einen zentralen „Altar des Vaterlands“ (so der
französische General Maxime Weygand) zu finden. Der Versuch, das wegen seiner
ungeheuren Ausmaße geradezu anstößige Tannenberg-Denkmal, das an den Sieg über
die russischen Armeen 1914 in Ostpreußen erinnern sollte, in ein nationales
„Reichsehrenmal“ umzufunktionieren, scheiterte kläglich. Da half es auch nicht, dass
man in seinen Mauern die Gebeine von 20 (!) unbekannten deutschen Soldaten der
Ostfront beigesetzt hatte. Das pompöse Denkmal wurde im September 1927,
anlässlich des 80. Geburtstags des siegreichen Feldherrn Hindenburg - nunmehr
Reichspräsident der Weimarer Republik – und in dessen Anwesenheit, seiner
Bestimmung übergeben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, blieben die
Repräsentanten der demokratischen Weimarer Parteien und die republikanischen
Soldatenverbände der Zeremonie fern.
Ähnlich umstritten wie die vergebliche Suche nach einer nationalen Erinnerungsstätte
verliefen auch die Bemühungen örtlicher und regionaler Institutionen, eine
gemeinsame, verbindliche Form der Gefallenenehrung und des Totengedenkens zu
etablieren. Weder die Reichsregierung in Berlin noch die eigens eingerichteten
Landesberatungsstellen für Kriegerehrungen vermochten ihre wiederholten
Anregungen, verstärkt demokratische und pazifistische Formen und Motive zu
entwickeln, vor Ort umzusetzen. Stattdessen kam es bei der Gestaltung des
Gefallenengedenkens zwischen den örtlichen Kriegervereinen und den Behörden nicht
selten zu einem regelrechten „Stellungskrieg der Denkmäler“ (Christian Saehrendt).
Im Berlin der späten 1920er Jahre wurde jeder Versuch pazifistischer Gruppen, ein
Mahnmal gegen die Absurdität des Krieges aufzustellen, umgehend von SA-Trupps
oder dem nationalistischen „Stahlhelm“ unterbunden.
Eine ganz andere Sicht des Weltkriegs und der friedlosen Nachkriegszeit präsentierte
das weltweit einzige Anti-Kriegsmuseum, das 1925 in Berlin seine Tür öffnete.
Gründer war der engagierte Pazifist und anarchistische Schriftsteller Ernst Friedrich,
Autor des bekannten Fotobandes „Krieg dem Kriege“ (zuerst 1924). Das in einem
bescheidenen Wohnhaus unweit des Alexanderplatzes untergebrachte, höchst
ungewöhnliche Museum zeigte u. a. Fotos von Schwerkriegsverletzten aus der
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Berliner Charité, deren Gesichter durch Granatsplitter zerfetzt waren (les„gueules
cassées“, wie man diese in Frankreich nennt).
Friedrichs Anti-Kriegsmuseum wandte sich sowohl an die ehemaligen Soldaten als
auch an die Zivilisten, die er etwa mit den ausgestellten Lebensmittelmarken an den
Mangel und die Not der Kriegsjahre zu erinnern suchte. Auch für Kinder hatte
Friedrich eine Botschaft: das Museum zeigte Spielzeug, das ausschließlich der
Friedenserziehung dienen sollte. Dies alles war ebenso sympathisch wie naiv
angesichts des geringen Einflusses, den pazifistische Überzeugungen und Ideen
damals in der deutschen Öffentlichkeit fanden. 1933, unmittelbar nach dem
Reichstagsbrand, zerstörte ein SA-Trupp Friedrichs Anti-Kriegsmuseum und richtete
dort ein sog. „Sturmlokal“ ein. Friedrich wurde vorübergehend inhaftiert, bevor ihm
die Flucht nach Belgien und später nach Frankreich gelang. Sein Enkel Tommy Spree
eröffnete 1982 im Berliner Stadtteil Wedding erneut ein Anti-Kriegsmuseum, das bis
heute fortbesteht.
Friedrichs Anti-Kriegsmuseum war nicht die einzige politisch-künstlerische
Artikulation einer pazifistischen oder linken Ablehnung des Weltkriegs. Daneben
existierten, allerdings von sehr unterschiedlicher Intention und Dauer, zahlreiche
politische und künstlerische Initiativen wie die vier Agitprop-Ausstellungen des Rote
Frontkämpferbundes unter dem Slogan „Krieg dem imperialistischen Krieg“ (19261928) oder die kommunistische Künstlervereinigung „Rote Gruppe“ (1924-1926), in
der u. a. so bedeutende Künstler wie George Grosz und John Heartfield organisiert
waren. Die meisten dieser künstlerischen Unternehmungen und ihre Protagonisten
zählen heute zu den als „Außenseitern“ der 1920er Jahre (so Peter Gay)
charakterisierten Künstlerinitiativen, deren eigenwilliger Schaffensstil erst Jahrzehnte
später seine verdiente Anerkennung als fester Bestandteil der Weimarer Moderne fand.
Das öffentliche Interesse am Weltkrieg in der Zeit der Weimarer Republik beschränkte
sich natürlich nicht nur auf Museen und Ausstellungen. Zu den Medien, die vor allem
die deutsche Weltkriegserinnerung entscheidend mitgeprägt haben, gehörten ebenso
mehr oder weniger offizielle Kriegs- und Schlachtengeschichten, Bildbände und
Chroniken, Memoiren und Rechtfertigungen, sowie die, insbesondere nach 1928
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einsetzende Flut belletristischer Werke – und zwar sowohl die kriegsbejahende als
auch die kriegskritische Literatur. Allerding kann von einer Gleichmacherei oder
Uniformierung der Weltkriegsliteratur, wie gelegentlich zu lesen ist, keine Rede sein.
Die Vertreter des „Soldatischen Nationalismus“, die politisch in scharfer Ablehnung
zur demokratischen Weimarer Republik standen, sprachen ohnehin nur für eine
Minderheit der ehemaligen Kriegsteilnehmer. Der Roman „Krieg“ des
kommunistischen Schriftstellers Ludwig Renn galt allgemein als authentischer
Erlebnisbericht und wurde selbst von der deutsch-nationalen Kritik als „wahre
Schilderung des Krieges“ begrüßt. Und auch Ernst Jüngers Weltkriegswerk, vor allem
sein mehr gepriesenes als gelesenes (die erste Auflage 1920 belief sich gerade einmal
auf 4000 Exemplare) auf seinem Kriegstagebuch basierendes Epos „In Stahlgewittern“,
ist insgesamt komplexer und widersprüchlicher als lange Zeit angenommen. Jüngers
kaum zu ertragende Schilderungen der brutalen Realität des Grabenkrieges (sein
berühmter „teleskopischer Blick“) wechseln mit apokalyptisch-romantischen
Zuschreibungen und expressionistischen Elementen. Die Weltkriegsliteratur der späten
1920er Jahre entzieht sich - ungeachtet ihrer politischen Verortung - weithin jeder
literarischen Eindeutigkeit.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang aber auch die Darstellung des
Weltkriegs im Dokumentar- sowie im Kompilations- und Spielfilm der
Zwischenkriegszeit. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich Lewis Milestones
Oskargekrönter Spielfilm „All quiet on the Western Front“ von 1930, der auf Erich
Maria Remarques (dank zahlreicher Übersetzungen) Weltbestseller „Im Westen nichts
Neues“ von 1929 basierte. Allein die politische und publizistische Auseinandersetzung
über diesen Film, den die Rechte verbieten lassen wollte und die Linke kaum noch
verteidigen wagte, ist ein eindrucksvolles Beispiel für die stark umkämpfte
Kriegserinnerung. Und in der Tat schafften es Goebbels und seine SA-Rabauken,
zahlreiche Berliner Aufführungen des „jüdischen Schandfilms“ (O-Ton Goebbels) zu
verhindern, worauf die Filmoberprüfstelle weitere Aufführungen mit der Begründung
untersagte, dass der Film „dem deutschen Ansehen im Ausland schade“. Ein knappes
Jahr später konnte der Film in einer von 139 Minuten (bei der New Yorker Premiere)
auf 85 Minuten gekürzten und nur noch für geschlossene Veranstaltungen
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freigegebenen Version gezeigt werden – bis zum endgültigen Verbot im Februar 1933.
Dass die „Antikriegs-Ikone“ (Thomas F. Schneider) auch in anderen Ländern mit
teilweise abenteuerlichen Begründungen verboten oder zensuriert wurde (in
Frankreich wurde das offizielle Verbot von 1938 erst 1963 wieder aufgehoben), kann
nicht eigentlich überraschen. Dem phänomenalen internationalen Erfolg von Film und
Buch hat die gängige Verbots- und Zensurpraxis jedoch keinen Einhalt gebieten
können – im Gegenteil.
Die nationalsozialistische Machtergreifung von 1933 führte zu einer wahren
Hochkonjunktur der nationalistischen Weltkriegserinnerung. Auf der Basis
historischer Stereotypien sowie mystischer Beschwörungen von Schlachtenorten wie
Tannenberg, Langemarck und Verdun vollzog sich die politische Instrumentalisierung
des „Großen Krieges“. Bezeichnenderweise blieb die Schlacht an der Somme, die mit
mehr als 1,1 Millionen toter und verwundeter Soldaten die mit Abstand verlustreichste
Schlacht des Weltkriegs war, hierbei weitgehend ausgespart. Hingegen erwies sich der
Langemarck-Mythos, die Heroisierung der Opfer unter der deutschen Kriegsjugend,
als ideale Plattform, ein eigentlich unbedeutendes militärisches Ereignis in einen
nationalen Mythos zu verwandeln (Bekanntlich hatte der deutsche Vorstoß im
November 1914 nicht einmal bei dem kleinen Dorf Langemark, sondern bei dem
allerdings für deutsche Zungen schwer auszusprechenden Örtchen Dixmuide
stattgefunden). Zu Recht hat der Kulturhistoriker Bernd Hüppauf darauf verwiesen,
dass die Entstehung des Langemarck-Mythos der erste erfolgreiche Versuch der
Nationalsozialisten war, die militärischen Niederlagen des Weltkriegs in moralische
Siege zu verwandeln. In der Folgezeit diente Langemarck als willkommener
Namensgeber für allerlei Aktivitäten, die von Schulen und Universitäten, der HitlerJugend, dem Erziehungsministerium (etwa durch die Langemarck-Stipendien) und
schließlich von der Wehrmacht getragen wurden. Die ursprüngliche romantische
Vorstellung von den jugendlichen Helden, die ihr Leben bereitwillig für das Vaterland
opfern, wurde dabei ersetzt durch einen volkspädagogischen Auftrag mit klaren
rassisch-ideologischen Zielsetzungen.
Die militärischen Siege über Belgien und Frankreich im Frühsommer 1940 wurden
vom NS-Regime als das wahre Ende des Ersten Weltkriegs gefeiert, wobei sich die
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Führung der Zustimmung der meisten Deutschen sicher sein konnte. Im Herbst 1940
fanden in Verdun und auf dem Soldatenfriedhof von Langemarck militärische
Gedenkfeiern statt, die das Ende des Ersten Weltkriegs symbolisieren sollten. Bereits
am 12. Juni 1940, also noch vor der französischen Kapitulation, war auf der ersten
Seite des Völkischen Beobachter ein Bild platziert, auf dem ein Wehrmachtsoldat zu
sehen war, der die Reichskriegsflagge (nun mit Hakenkreuz) in französischen Boden
pflanzte. Darunter stand der Satz, den der Wehrmachtsoldat den drei imaginierten
Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs zurief: “Und Ihr habt doch gesiegt“.
Nicht nur in den Reden und Verlautbarungen Hitlers und die anderer führender Nazis
fand der Erste Weltkrieg stets einen starken Widerhall. Auch in der Politik und vor
allem in der Kriegführung des Dritten Reiches nach 1939 wurden Erfahrungen des
Weltkriegs funktionalisiert und entsprechend instrumentalisiert. Das gilt für die
ungeheure Intensivierung der Propaganda, deren Versagen im Ersten Weltkrieg Hitler
stets beklagt hatte, ebenso wie für die kriegswirtschaftlichen Anstrengungen des
Regimes, die Versorgung der deutschen Bevölkerung unter allen Umständen
sicherzustellen, um einen Zusammenbruch der Heimatfront wie 1918 zu vermeiden.
Dieses gelang auch weitgehend bis zum vorletzten Kriegsjahr (1944), allerdings nur
aufgrund der wirtschaftlichen Ausbeutung der besetzten Länder sowie mit Hilfe des
Millionenheers von Zwangsarbeitern, vor allem aus Osteuropa. Diese und weitere
politische und militärische Entscheidungen Hitlers korrespondierten wiederum eng mit
dem Weltkriegsgedächtnis der meisten Deutschen, also mit der kollektiven Erinnerung
an die Jahre 1914 bis 1918.
Gleichwohl hatte innerhalb der deutschen Gesellschaft bereits seit Mitte der 1930er
Jahre eine alters- und generationenbedingte Abwendung vom Ersten Weltkrieg
begonnen. Diese Entwicklung sollte sich durch die weitaus schrecklicheren
Erfahrungen des nachfolgenden Zweiten Weltkrieges noch verstärken. Die
Gewalterfahrungen des einen wurden durch das Ausmaß an praktizierter und erlebter
Gewalt des anderen Weltkriegs zunächst relativiert und schließlich nahezu völlig
überlagert. Die weitaus größere Zahl der Opfer, vor allem unter den
Zivilbevölkerungen, die radikale Entgrenzung der Gewalt im Ostkrieg und schließlich
die Shoah, der millionenfache Mord an den europäischen Juden, ließen die Schrecken
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und Katastrophen des Ersten Weltkriegs nur mehr als Auftakt oder Vorstufe zu einer
Ära weitaus extremerer Gewaltausübung erscheinen. Dies hatte Folgen selbst für das
so genannte familiäre Gedächtnis und die private Befassung mit dem „Großen
Krieg“ in den deutschen Familien auch nach 1945. Eine ähnliche Distanzierung von
der historischen Erfahrung des Ersten Weltkrieg lässt sich im Übrigen auch in
Russland und anderen mittelost- und osteuropäischen Ländern feststellen, wo der
„Große Vaterländische Krieg“ die kollektive Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wie
auch an den aus diesem hervorgegangen Bürgerkrieg der Jahre 1918 bis 1921 weithin
überdeckt hat.
Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg reduzierte sich im westlichen
Nachkriegsdeutschland fortan überwiegend auf öffentliche Rituale, etwa auf das
Gedenken am Volkstrauertag, das den gefallenen Soldaten beider Weltkriege sowie
den zivilen Opfern „von Krieg und Verfolgung“ (wie es auf vielen Gedenktafeln heißt)
vorbehalten blieb – auch dies ein Indiz für die zunehmende historische Distanz. Nur
einmal wurden die Gefallenen des Ersten Weltkriegs im Rahmen der seit 1950 jährlich
stattfindenden Gedenkfeier zum Volkstrauertag im Deutschen Bundestag von einem
Redner besonders hervorgehoben: Das war 1972, als der Bürgermeister der kleinen
Gemeinde Bray-sur-Somme, Pierre Devilder, im Bonner Bundestag sprach. Ansonsten,
wie gesagt, verschwand dieser Krieg weitgehend in der ritualisierten Formel der
Totenehrung am Volkstrauertag.
Allein für die deutschen Historiker einer älteren (Zeitzeugen-)Generation schien der
Erste Weltkrieg zunächst nichts von seiner Bedeutung eingebüßt zu haben (auch wenn
von ihnen kaum neue Forschungen vorgelegt wurden - diese wurden weder als
wissenschaftlich notwendig noch als politisch sinnvoll angesehen). Das zeigte sich
exemplarisch im ersten großen Historikerstreit in der Geschichte der Bundesrepublik,
der sog. Fischer-Debatte. Mit seinen Thesen zur überwiegenden Verantwortung des
Deutschen Reiches beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte der Hamburger
Historiker Fritz Fischer Anfang der 1960er Jahre bekanntlich eine heftige Kontroverse
ausgelöst, die weit über die „Zunft“ der Historiker hinausging. Der Doyen dieser
„Zunft“, der Freiburger Professor Gerhard Ritter, sprach nicht nur den meisten seiner
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schockierten Historiker-Kollegen aus dem Herzen, als er in einer Rezension Fischer
der “wissenschaftlichen und politischen Verantwortungslosigkeit“ beschuldigte.
Aber es war zu spät: Fritz Fischer hatte mit seinem bahnbrechenden Werk von 1961
und den nachfolgenden Studien den Anstoß zu einer neuen und nun überaus intensiven
Debatte über den Ersten Weltkrieg gegeben. Seine Thesen und Schlussfolgerungen
stellen inzwischen keine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft mehr dar –
sie sind heute (und dies gilt auch für die jüngste Debatte über das Buch von
Christopher Clark) nur mehr historiographisch zu gewichten. Zu ihrer Zeit jedoch
trugen Fischers Arbeiten und ebenso die seiner Hamburger Schüler mit dazu bei, die
überkommene Nationalgeschichtsschreibung älterer Prägung zu überwinden und die
Voraussetzungen für einen neuen Blick auf das Kaiserreich wie die Geschichte des
Ersten Weltkriegs zu schaffen.
Abgesehen von der Fischer-Kontroverse der 1960er Jahre blieb das öffentliche, aber
auch das publizistische Interesse am Ersten Weltkrieg, insgesamt gesehen, doch relativ
gering. Eine Ausnahme waren gelegentliche Themenhefte des SPIEGEL, die wohl vor
allem auf das ausgeprägte historische Interesse des Herausgebers Rudolf Augstein
zurückgingen, oder des STERN, in denen Sebastian Haffner den Deutschen die
„Sieben Todsünden des Deutschen Reiches“ (die meisten hingen irgendwie mit dem
Ersten Weltkrieg zusammen) erläuterte. Eine löbliche Ausnahme – sozusagen der
einsame Rufer in der Wüste - war die von Detlef Hoffmann verantwortete Ausstellung
des Historischen Museums der Stadt Frankfurt „Ein Krieg wird ausgestellt“ von 1976.
Nicht zuletzt als Folge des viel diskutierten Paradigmenwechsels der internationalen
Weltkriegshistoriographie seit Beginn der 1990er Jahre änderten sich seither auch in
Deutschland die Betrachtungsweisen und damit der publizistische wie der öffentliche
Stellenwert des Ersten Weltkriegs. Gefragt wurde jetzt nicht mehr allein danach, wer
diesen Krieg politisch verantwortete und wie er militärisch geführt wurde, sondern wie
die Menschen – Soldaten wie Zivilisten - ihn erlebten und welche sozialen und
kulturellen Folgen und Verwerfungen er zeitigte. Es geht also hierbei um eine
Geschichte der unterschiedlichen Kriegskulturen, des Kriegsalltags, der Mentalitäten
und Erinnerungen der Menschen. Von diesem, im übrigen sehr angelsächsisch
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geprägten, Wechsel der Perspektiven und Narrative künden mittlerweile in
Deutschland zahlreiche Romane, Sachbücher, Sonderhefte von Wochenzeitungen und
Magazinen, Spielfilme, TV-Dokumentationen sowie zahlreiche historische
Ausstellungen, die nun auch ein größeres und interessiertes Publikum erreichten.
Besonders an anspruchsvollen Ausstellungen, die sich speziell mit dem besonderen
Charakter des Ersten Weltkriegs als einem industriellen Massen- und Maschinenkrieg
befassen, der nicht zuletzt die Kultur der kriegführenden Staaten und Gesellschaften in
erheblichem Maße geprägt, besteht derzeit wahrlich kein Mangel.
Zwar gibt es in Deutschland nach wie vor kein eigenes Museum zum Ersten Weltkrieg
- anders als dies beispielsweise in Frankreich der Fall ist (wo es mittlerweile zwei,
allerdings sehr unterschiedlich konzipierte nationale Museen gibt: das kulturhistorisch
bedeutsame Historial de la Grande Guerre in Péronne an der Somme und das
besonders waffentechnisch interessante Museum in Meaux, östlich von Paris), oder
auch in Ypern/Belgien („In Flanders Fields“), und selbst in Slowenien (wo seit 1990 in
Kobarid/Caporetto ein kleines, aber eindrucksvolles Museum zur Geschichte der
Isonzo-Front existiert). Doch in diesem Defizit scheint mir heute kein Nachteil mehr
zu liegen – ganz im Gegenteil. Wechselnde thematische Sonderausstellungen zum
Weltkrieg und seiner Bedeutung für das 20. Jahrhundert, wie sie hierzulande in den
beiden letzten Jahrzehnten erfolgreich realisiert worden sind, sind für neue, sich
zwangsläufig ändernde Interpretationen und Sichtweisen in der Regel offener als auf
Dauer, zumindest aber auf einen längeren Zeitraum, angelegte museale Konzeptionen.
Die 100. Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkriegs bietet aus meiner Sicht eine
große Chance, die inzwischen erprobten kriegskulturellen Betrachtungsweisen der
Historiker und das Interesse auch der jüngeren Generationen an diesem Krieg in
fruchtbare und nachhaltige Beziehung zu bringen. Zugleich bietet sich vor allem den
jüngeren Deutschen hier eine vorzügliche Gelegenheit, den „Großen Krieg“ und seine
historische Bedeutung für das 20. Jahrhundert in einem vergleichbaren
Erinnerungsmodus zu sehen, wie dies für ihre Altersgenossen in Frankreich, Belgien,
Großbritannien und vielen anderen Ländern selbstverständlich ist. Wer einmal
englische Schüler, französische Studenten oder junge Belgier auf den ehemaligen
Schlachtfeldern oder in den Museen an der Somme, vor Verdun oder in Flandern bei
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ihrer Spurensuche nach den „Relikten“ des Ersten Weltkriegs begleitet hat, der weiß
über den kognitiven und humanen Erkenntnisgewinn, der aus der Beschäftigung mit
diesem Krieg erwachsen kann.
Ich denke, es ist an der Zeit, unseren erinnerungs- und gedächtnispolitischen Diskurs
zum Ersten Weltkrieg hier abzuschließen. Die kollektive Erinnerung an Kriege und
Katastrophen, meine Damen und Herren, folgt im wesentlichen jenem Muster, das
auch für andere, weniger gewalttätige Phasen der Geschichte gilt. Nach der
mittlerweile bekannten theoretischen Unterscheidung, wie sie von den
Erinnerungsforschern Jan und Aleida Assmann vorgeschlagen wurde, zwischen einem
kulturellen (als Langzeitspeicher von Wissen und Traditionen) und einen
kommunikativen Gedächtnis (das etwa drei nachfolgende Generationen umfasst)
gehört der Erste Weltkrieg zweifellos heute zu der ersten Kategorie, also dem
kulturellen Gedächtnis. Selbst die wenigen Kriegskinder, die den „Großen Krieg“ und
die unmittelbare Nachkriegszeit noch bewusst miterlebt haben, werden bald nicht
mehr mit uns sein. Was bleibt, sind die Überreste in der Landschaft (wie sie immer
noch an manchen der ehemaligen Schlachtenorte vorhanden sind und entdeckt werden
können) sowie die historischen Artefakte - die Briefe und Tagebücher, die Fotos und
Filme, die Friedhöfe und Denkmäler -, die allesamt das kulturelle Gedächtnis des
Ersten Weltkriegs formen und prägen. Diese gilt es zu erkennen, zu erschließen und zu
bewahren – dabei wünsche ich Ihnen bzw. uns viel Erfolg.
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