Die Seele im Dorf lassen

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Die Seele im Dorf lassen
64 reise
F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N TA G S Z E I T U N G , 2 . AU G U S T 2 0 1 5 , N R . 3 1
Wie aus dem Bilderbuch – oder wie von einem Touristikkonzern gekauft: Castelfalfi (links) wurde von Tui zum Ferienressort gemacht und liegt in der Toskana, Borgo Egnazia liegt in Apulien und Crillon le Brave (rechtes Bild) in Südfrankreich.
Fotos Agentur Focus, Joris Androver, Sandro Santioli
Die Seele im Dorf lassen
Touristen sehnen sich nach Geborgenheit – manche finden sie in wiederaufgebauten oder neu geplanten Dörfern. Mit allem Komfort
W
enn Sie es nicht kennen,
ist das höchst bedauerlich.
Schon von weitem erkennt
man die terrassierte Felsenspitze. Die Häuser, voneinander getrennt durch kleine Straßen und Treppen, machen den Eindruck, als seien sie
eines auf dem anderen erbaut.“ So beschreibt Germaine Barre das provençalische Dorf Crillon le Brave in dem Büchlein „Je les regarde passer“, was so viel
heißt wie: „Ich sehe sie an mir vorbeigehen“. Sie meint damit ihre Vorfahren
ebenso wie die Geschicke des bereits in
der Römerzeit gegründeten Orts unterhalb des Mont Ventoux, der erlebt hat,
was viele Dörfer kennen: Aufstieg und
Niedergang. In Crillon le Brave war es
der Zweite Weltkrieg, der die einst stolze Siedlung mit mehr als 800 Bewohnern, mit Schloss, Kirche, Kapelle und
den stattlichen Häusern des Anwalts,
des Bäckers, des Arztes und des Bürgermeisters zerstörte. Germaine Barre war
dabei, als die Jungen fortgingen, weil es
noch in den 1970er Jahren kein fließendes Wasser gab, geschweige denn Arbeit
und Zukunft. Doch unglücklicherweise
starb sie, bevor sie das Ende ihrer
charmanten Chronologie umschreiben
konnte. Denn heute leben wieder
400 Menschen in Crillon le Brave. Was
damit zu tun hat, dass sich ein Teil des
Dorfes in ein Fünf-Sterne-Hotel verwandelt hat.
Zu verdanken ist die Wiederbelebung
dem Kanadier Peter Chittick und seiner
späteren Frau Carolyn Fairbairn, die sich
in die Dorfruine verliebten und sie aus
dem Dornröschenschlaf erweckten. Ein
Kuss reichte dazu allerdings nicht aus:
Neben einem großen Vorstellungsvermö-
gen gehörte viel Energie und noch mehr
Kapital dazu, um aus dem alten, im
Schatten der Kirche gelegenen steinernen Pfarrhaus, dem „Maison Roche“, ein
nettes Hotel mit elf Zimmern zu machen. 1988 war das. Inzwischen sind aus
den elf Zimmern 36 geworden, acht weitere Häuser, ursprünglich aus dem 16.
und 17. Jahrhundert, wurden gekauft und
sensibel umgebaut, darunter das des Anwalts und des Historikers Noël Marmottan, der Germaine Barre beim Schreiben
ihres Büchleins half.
Inzwischen ist auch der Luxus eingezogen: Der Service ist, wie er sein muss, allerfeinst, das Essen schmeckt ausgezeichnet, antike Möbel sorgen in den unterschiedlichen Zimmern für authentische
Atmosphäre, der Außenpool für Wohlbefinden, das Auf und Ab zwischen den
Häusern, Höfen und Terrassen für Pri-
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vatsphäre und Ausblicke in die eindrucksvolle Landschaft bis hin zum Mont Ventoux. Vor allem aber steckt die Baulust
an: Proper sieht Crillon le Brave heute
aus, fast alle Häuser rund um das Hotel
sind renoviert und wieder bezogen. Die
Bar am Ortsrand öffnet zwar erst ab
April, der Bürgermeister allerdings ist an
vier Wochentagen in der „Mairie“ am
Ortseingang zu sprechen. Der Fahrradverleih ist ganzjährig geöffnet, und die
zahlreichen Radrennfahrer, die den Ventoux bezwingen wollen, finden außer der
in einem ehemaligen Pferdestall untergebrachten Restauration des Hotels noch
zwei weitere Gasthäuser.
Es gibt diverse sogenannte Rote Listen, die Brutvögel Deutschlands werden
ebenso erfasst wie Großpilze der
Schweiz. Eine Liste gefährdeter Dörfer
gibt es nicht. Dabei spricht es für sich,
dass der 1961 erfundene Wettbewerb
„Unser Dorf soll schöner werden“ längst
„Unser Dorf hat Zukunft“ heißt. Denn
Schönheit ist nicht mehr das vordringliche Problem vieler Ortschaften überall
in Europa. Es geht vielmehr ums Überleben. Galya Trento streckt den Arm aus
und zeigt in die sanft gewellte Landschaft der Marken, die – so behaupten
einige Kunsthistoriker – Vorbild für den
Hintergrund der Mona Lisa gewesen
sein soll. „Dort wohnt keiner mehr,“ sagt
sie, „lange schon nicht mehr.“ Auch das
Dorf Petrella Guidi unterhalb des trutzigen Wehrturms aus dem späten 12. Jahrhundert war so gut wie ausgestorben. Bis
die gebürtige Russin Trento von einem
Freund dorthin eingeladen wurde. Ihren
Mann, einen italienischen Unternehmer,
heiratete sie unterhalb des Turms. Und
nach und nach kaufte das in Bologna ansässige Paar drei Häuser auf insgesamt
7000 Quadratmeter Grund und restaurierte sie. Vier Schlafräume gibt es inzwischen, einen großen Wohnraum und
eine gemütliche Küche. Eine Bibliothek
wurde eingebaut, um endlich einmal alle
Bücher unterzubringen, eine Sauna, ein
kleines Fitnessstudio, ein Schwimmbad.
Die alten Rosen wurden aufgepäppelt,
und inzwischen blühen in dem verwunschenen Garten rund um die mal mehr,
mal weniger verschwiegenen Plätze zum
Essen, zum Schlafen, zum Boulespielen
35 Rosengattungen und 62 Hortensiensorten. 2011 entschied die Familie dann, das
pittoreske Dorfviertel auch zu vermieten, an maximal acht Personen, die auf
Galyas Stühlen sitzen, von ihrem Geschirr essen, in ihrem Bett schlafen.
Und, da ist Trento sicher, sich bestimmt
auch in diesen Ort verlieben werden.
Ebenso wie in Crillon le Brave
herrscht auch in Petrella Guidi heute wieder Leben. Dank des Tourismus. Was sicher keine Lösung für sämtliche verlassenen Dörfer sein kann, aber zumindest
eine Möglichkeit für einige. Denn geht
es in den Ferien nicht genau darum,
Land und Leute kennenzulernen? In
eine andere Rolle zu schlüpfen, für drei,
vier, oder vierzehn Tage im Jahr? Sich zu
fühlen wie der Dorfanwalt oder der Burgherr? „In Zeiten zunehmender Beschleunigung und ökonomischer Unsicherheit“, weiß die Soziologin und Tourismusforscherin Felizitas Romeiß-Stracke,
„wird das Bedürfnis nach Aufgehobenheit stärker. Man besinnt sich auf den
Heimatbegriff. Und: Man bewohnt für
einige Zeit ein historisches Ambiente,
das tiefe Seelenschichten berührt und
fühlt sich wie in einem zweiten Zuhause.“
Das hat auch die Tui erkannt. Zwar
wurde das Projekt, aus der verlassenen
Altstadt von Altensteig im Nordschwarzwald ein Hoteldorf zu machen, Opfer
von Sparmaßnahmen. In der Toskana allerdings erwarb der Konzern 2007 das
Landgut Castelfalfi samt 800 Jahre altem
Touristen herumlaufen und keine Einheimischen, stört wohl die wenigsten“,
meint Romeiß-Stracke. „Das Verlangen
nach echtem Austausch zwischen Gästen
und lokaler Bevölkerung wird gern überschätzt.“
Was erklärt, warum man sich auch in
komplett erfundenen und neu geplanten
Feriendörfern wohlfühlen kann. Vor allem, wenn sie eins zu eins aus dem Handbuch des als Wiederbegründers der
Stadtbaukunst bekannten, 1903 verstorbenen österreichischen Architekten, Städteplaners und Malers Camillo Sitte entsprungen zu sein scheinen wie das Borgo
Egnazia in Apulien. Camillo Sittes berühmtestes Werk hieß „Der Städtebau
nach seinen künstlerischen Grundsätzen“. Statt gerasterter Stadtgrundrisse
propagierte er das Malerische im Außenraum: Plätze, Gärten, Höfe, Lauben, Erker, Säulenumgänge, Treppen, Tore, geschwungene Wege und verwinkelte Gassen. Weil nur so Atmosphäre entstehe.
Und dieser rurale Tagtraum liegt in der Provinz Rimini: Petrella Guidi.
Dorf, in dem zuletzt noch fünf Menschen wohnten. Das nötige Kleingeld für
eines der im historischen Dorfkern sanierten 48 Apartments, eines der 18 Bauernhäuser oder gar die exklusiven Golfvillen am Rande des 18-Loch-MountainCourse-Golfplatzes oder des 9-LochLake-Course rund um das Castello, das
heute als Restaurant, Veranstaltungsort
und Kochschule genutzt wird, haben die
ehemaligen Dorfbewohner vermutlich
nicht. Die internationale Immobilienkäuferschaft, die 2016 noch einen Heliport
sowie ein Fünf-Sterne-Wellnesshotel bekommen soll, bleibt hier unter sich.
„Dass in so einem Dorf dann nur noch
Foto Massimo Listri
Architekt Pino Brescia gibt Sitte recht.
Und setzte dessen Prinzipien beim Bau
des 2010 eröffneten eleganten Ensembles
aus glamourösem Hotel, um einen Platz
angeordneten Dorfhäusern sowie den etwas abseits gelegenen luxuriösen Villen
kongenial um. Zwar kämen die komplett
aus traditionellem weißbeigem Tuffstein
erbauten Häuser im apulisch-maurischen Stil auch ohne die zahllosen Glockentürme und Schornsteine aus, die die
flachen Dächer zieren wie Sahnebaisers
eine Torte. Doch sie machen es dem
Gast leicht, in seine liebste Rolle zu
schlüpfen: die des entspannten Urlaubers.
KATHARINA MATZIG
DER WEG IN DIE HISTORISCHEN FERIENHÄUSER
Crillon le Brave Anreise zum Beispiel
mit Air France (www.airfrance.de) von
Berlin ab 160 Euro oder von Frankfurt
mit Lufthansa (www.lufthansa.de) ab
170 Euro nach Marseille. Weiterreise
mit dem TGV (de.voyages-sncf.com)
nach Avignon ab 30 Euro. Ein DZ im
Hotel „Crillon le Brave“ (www.crillonlebrave.com) kostet circa 310 Euro für
zwei Personen mit Frühstück.
Petrella Guidi Anreise zum Beispiel
mit Germanwings (www.germanwings.de) ab 100 Euro von Berlin
nach Bologna. Weiterreise mit dem
Regionalzug (www.trenitalia.com)
nach Rimini ab 19 Euro. Mit dem Taxi
sind es vom Bahnhof Rimini aus 50 Kilometer (80–95 Euro) bis Petrella Guidi. Die Gäste des Luxusweilers werden
aber in der Regel von einem Wagen
abgeholt. Die Unterkunft „Petrella
Guidi Lodge & Historical Hideaway“
(www.petrella-guidi.it) wird als Ensemble vermietet. In den drei Häusern
kommen maximal sechs Personen in
vier Schlafzimmern unter (Preis ab
1300 Euro pro Nacht).
Castelfalfi Anreise zum Beispiel von
Frankfurt nach Florenz mit Lufthansa
(www.lufthansa.de) ab 214 Euro oder
von Berlin nach Pisa mit Easyjet
(www.easyjet.com) ab 160 Euro. Castelfalfi (www.castelfalfi.de) liegt 60 Autominuten vom Flughafen Florenz und
40 Autominuten vom Flughafen Pisa
entfernt. Preise ab 150 Euro pro Person im Standardzimmer.
Borgo Egnazia Anreise zum Beispiel
von Berlin nach Bari mit Alitalia
(www.alitalia.com) ab 250 Euro oder
von München nach Brindisi mit Air
Berlin (www.airberlin.com) ab
200 Euro. Das Resort „Borgo Egnazia“ (www.borgoegnazia.com) besteht
aus 63 Zimmern, Suiten und 28 Villen
und holt seine Gäste ebenfalls ab,
wenn das gewünscht wird. Eine Nacht
in einem Haus kostet ab 445 Euro.
Weiler Commeire Dieser Weiler im
Schweizer Wallis schrumpfte von
70 Bewohnern im Jahr 1950 auf weniger als 20. Seit 2008 wurden acht historische, im Dorf verteilte Scheunen umgebaut, die nun als Hotel dienen.
Sämtliche Services vom Frühstück bis
zur Wäscherei können auch von den
Gästen der Ferienhäuser genutzt werden. www.montagne-alternative.com
Weitere Feriendörfer zum Beispiel
das „Maison Bérard“ (www.montagnealternative.com), „Milia Mountain Retreat“ (www.milia.gr) und „Sextantio
Albergo Diffuso“ (www.sextantio.it)