Die Kinder flippen fast aus

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Die Kinder flippen fast aus
Sonntag, 30. Januar 2011 / Nr. 5
Seite
Zentralschweiz am Sonntag
«Die Kinder flippen fast aus»
WETTER HEUTE
0°
2
-3°
ALLGEMEIN Die Schweiz liegt am Rand
eines Hochdruckgebiets.
ZENTRALSCHWEIZ Nebel. Sonne gibts
ab 1200 Metern.
Alles weitere zum Tageswetter
lesen Sie auf Seite
12
Thomas Bornhauser,
Chefredaktor
«Stinktier!»
«Wie hältst du dieses Spannungsfeld
eigentlich aus?», fragte mich diese
Woche, recht direkt, ein guter Freund
beim Lunch. Der Mann ist in unserer
Region erstklassig vernetzt und hat in
seiner Arbeit mit vielen Entscheidungsträgern zu tun. Und die wiederum spielen in zahlreichen Fällen eine
Rolle in der öffentlichen Diskussion.
Was für die Betroffenen naturgemäss
nicht immer Spass macht.
Kein Wunder also, dass da schnell
auch von den Medien die Rede ist.
Nicht zuletzt dann, wenn Medien
Fehler machen – was leider ab und
zu geschieht. Häufig allerdings gibt
es Medienschelte auch dann, wenn
Journalisten nichts weiter verbre-
MEINE WOCHE
chen, als ihrer Aufgabe nachzukommen. In dieser Woche zum Beispiel
hat mich, als Reaktion auf eine Kolumne aus meiner Feder, ein anonym
übermitteltes Zeugnis mit dem Prädikat «übelriechendes Stinktier!» erreicht. Dies aufgrund eines Adjektivs,
das beim Leser auf Ablehnung stiess.
Bei heftigen Reaktionen versuche ich
mir die Sichtweise Betroffener jeweils
ganz speziell vor Augen zu führen.
Botschaften können ja auch dann
verletzend wirken, wenn Recherchen,
Reportagen, Kommentare und Blattgestaltungen den journalistischen
Grundregeln durchaus entsprechen.
Zudem führen wir uns immer wieder
die enorme regionale Ausstrahlung
der Zeitung vor Augen, was bei vielen
schnell einmal ein Gefühl von Ohnmacht auslösen kann.
Erstaunt bin ich deshalb nicht, wenn
in diesen Tagen auch der Luzerner
Stadtpräsident zum Funktionieren
der Medien den Mahnfinger erhoben
hat. Ihm liegt speziell die Auseinandersetzung um Abgangsentschädigungen für zwei Littauer Gemeinderäte auf dem Magen. Im Gespräch
mit uns hat Urs Studer zwar in Abrede gestellt, den Wunsch nach kontrollierten Medien formuliert zu haben. Aber er stand doch zur Aussage,
Medien kontrollierten sich weit gehend selbst, im Unterschied zu den
drei Ebenen staatlicher Gewalt.
Da, lieber Urs, muss ich dir bei allem
Respekt widersprechen. Du wie ich,
Politiker wie Journalisten, wir alle
stehen täglich im Glashaus der Öffentlichkeit. In deinem Metier aber
ist Wahltag alle vier Jahre. Wir Medienschaffende hingegen müssen uns
laufend auf dem Markt behaupten.
Markus Anderhub im Paraplegikerzentrum in Nottwil.
Bild Boris Bürgisser
HELD Markus Anderhub
ist ein Vorbild. Durch den
Rollstuhl-Basketballsport
motiviert er Verletzte, den
Umgang mit dem Rollstuhl
zu lernen.
Das Konzept
red. Unbekannte Heldinnen
und Helden aus der Zentralschweiz zeichnen sich durch
aussergewöhnliche, freiwillige
Aufgaben aus: Unsere Zeitung
sucht sie zusammen mit Tele 1
(sehen Sie dazu «Regiotalk»
heute um 18.30 Uhr) und stellt
sie monatlich vor (siehe Box
unten).
BARBARA INGLIN
[email protected]
Markus Anderhub (46) ist Aussendienstmitarbeiter, in seiner Freizeit trainiert er eine Basketballmannschaft, er wohnt in St. Niklausen und hat eine Partnerin – soweit
klingt das ziemlich durchschnittlich. Doch Markus Anderhub verkauft nicht Staubsauger, sondern
Rollstühle und Reha-Hilfsmittel für
Kinder. Er leitet eine Mannschaft im
Rollstuhlbasketball. Und sitzt seit
einem Töffunfall 1983 selber im
Rollstuhl.
Lebensfreude für kleine Kunden
Wir besuchen Anderhub im Geschäft Gelbart an der Tribschenstrasse, wo er seit 20 Jahren arbeitet.
«Ich habe diese Auszeichnung doch
noch gar nicht verdient», meint der
frisch gekürte «Unbekannte Held».
Dann führt er durch die Werkstätten
und Lagerräume, wo Rollstühle
nach Mass für seine kleinen Kunden
hergestellt werden.
Sitzschalen werden genau an die
Körper angepasst, die Materialien je
nach Bedürfnis weicher oder härter
gewählt. Speichenräder mit Bienensujet und Drachen stehen zur Auswahl. «Für die Lebensfreude.» Besonders stolz ist Anderhub auf eine
eigene Erfindung, eine Art Halskrause, welche Kindern, die den
Kopf nicht alleine halten können,
die Kommunikation erleichtert.
Es scheint mehr als ein Job, eine
Mission. «Ein Traumjob», sagt er
selber. «Es gibt nichts Besseres als
Mobilität. Wer sich fortbewegen
kann, nimmt am Leben teil. Ich habe
mich ganz der Aufgabe verschrieben,
diesen Kindern ein Maximum an
Mobilität zu ermöglichen.»
Die Kinder seien unglaublich
dankbar, wenn sie mit einem neuen
Hilfsmittel wieder ein Stück Autonomie zurückerhalten. «Die flippen
fast aus. Wenn ich dieses Strahlen
sehe, weiss ich, dass ich mein Ziel
erreicht habe.» Mit den Eltern der
Kinder sei es hingegen nicht immer
einfach. «Ein Hilfsmittel wie ein
Rollstuhl bedeutet ein Eingeständnis: Mein Kind ist behindert. Damit
müssen sich einige erst abfinden.»
Auch Markus Anderhub musste
sich vor 28 Jahren, als er nach
einem Töffunfall im Spital lag, erst
einmal mit seiner Paraplegie abfinden. «Ich hatte damals diese Vorstellung, dass ich mich den Rest
meines Lebens in einem riesigen,
ungelenken Rollstuhl herumschieben lassen muss», erinnert er sich
und lacht. «Dann kam eines Tages
ein Rollifahrer in einem sportlichen
«Es gibt nichts
Besseres als
Mobilität.»
MARKUS ANDERHUB
Rollstuhl in mein Zimmer in der
Reha in Basel gerollt und drehte
eine Pirouette. Da hatte ich nur
noch einen Gedanken: Das will ich
auch können.»
14 Jahre Einsatz in der Nati
Anderhub schaffte mehr als das.
Während 14 Jahren spielte er in der
Nationalmannschaft im Rollstuhlbasketball und bereiste mit seinem
Team ganz Europa. Daneben arbeitete er erst als Instrumentenreparateur in Luzern, vor 20 Jahren wechselte er ins Rollstuhlbusiness.
Heute ist Anderhub Spielertrainer
der zweiten Mannschaft der RCZS
Hurricanes. Trainiert wird zweimal
die Woche im Paraplegikerzentrum
Uhrenübergabe
durch Susanne
Schmidli,
Verlag Neue
LZ.
Bild Boris Bürgisser
in Nottwil. Viele der Spieler sind
durch ihn zum Sport gekommen.
«Markus war während seiner NatiZeit einer der Besten im Stuhl. Er
konnte schnelle Drehungen auf
zwei Rädern machen, die sonst
niemand hingekriegt hat», sagt
Maurice Amacher. «Er war unser
grosses Vorbild als wir angefangen
haben», ergänzt sein Kollege Nicolas Hausammann. Heute spielen sie
beide in der Nationalmannschaft.
Auch in Anderhubs eigenem Team
sind sich die Spieler einig: Ihr Trainer hat die Auszeichnung verdient.
«Er steckt viel Herzblut in die Mannschaft. Gerade für Neuverletzte ist
der Sport eine wichtige Motivation,
den Umgang mit dem Rollstuhl zu
lernen», sagt Spieler Thomas Hager.
Sport als Training für den Alltag
In der Turnhalle flitzen derweil die
Spieler in ihren Sportrollstühlen in
Irrsinnstempo von Korb zu Korb,
reissen engste Kurven, müssen
gleichzeitig ihr Gefährt steuern und
Bälle werfen. «Wer Rollstuhlbasketball spielt hat keine Angst mehr vor
Treppen oder Trottoirrändern», sagt
Anderhub. «Auch die öffentliche
Anerkennung durch den Sport ist
für uns wichtig.»
Ab und zu überschlägt es einen
Rollstuhl wenn die Kurve zu eng
war, der Zweikampf zu heftig. Dann
hievt sich der Spieler zurück in den
Rollstuhl. Es geht weiter.
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AUSSCHREIBUNG red. Zwölf
Monatshelden und am Ende
ein unbekannter Held des Jahres 2010/11: Unsere Zeitung
porträtiert zusammen mit
dem Zentralschweizer Fernsehen Tele 1 jeweils am letzten
Sonntag des Monats eine Person, die Grosses leistet.
● Monatshelden:
Aus den
eingereichten
Vorschlägen
wird bis September 2011 jeweils pro Monat eine Heldin
oder ein Held von einem Redaktionsausschuss gewählt.
Der Monatsheld erhält als Geschenk jeweils eine exklusive
Uhr der Firma Gübelin AG im
Wert von 1800 Franken. Auch
die Raiffeisen-Bank unterstützt
das Projekt. Für die Ausschreibung Januar/Februar gilt:
Schicken Sie uns eine kurze
Beschreibung – Kriterien: siehe
www.luzernerzeitung.ch/
helden – der heldenhaften
Person; dies unter Angabe von
Name, Adresse, Alter, Telefonnummer sowie Ihren eigenen
Koordinaten. Senden Sie die
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Montag, 14. Februar, an:
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«Unbekannte Helden»
Maihofstrasse 76
6002 Luzern
oder an:
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● Führt Ihr Vorschlag zur
Wahl eines Monatshelden,
winkt als Dankeschön eine
Übernachtung für zwei Personen im neuen Hotel PilatusKulm inklusive Bahnfahrt,
Nachtessen (mit Mineralwasser), Frühstück – offeriert von
der Pilatus Bahnen AG. Den
Helden dieses Monats hat uns
René Plaschko (Stansstad)
vorgeschlagen.