Einführung in die finnische Literaturgeschichte I - Finno

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Einführung in die finnische Literaturgeschichte I - Finno
 evsl
skriptum
Institut
für
Europäische
Vergleichende
SprachLiteraturwissenschaft
Abteilung Finno-Ugristik
zur
Lehrveranstaltung
Literaturgeschichte
und
und
Finnische
DIE FINNISCHE LITERATUR: VON AGRICOLA BIS PORTH
AN
Lernziele: Die Anfangsphasen der finnischen Literatur und ihre historischen Hintergründe kennen lernen. Spezifika
der
Traditionen
finnischen
Literatur:
Drei
Verglichen mit vielen anderen europäischen Literaturtraditionen ist die finnische Literatur sehr jung. Vor dem 19. Jahrhundert gab es praktisch keine finnischsprachige Belletristik im modernen Sinne. Schriftlich wird die finnische Sprache erst seit der Reformation (im 16. Jh.) verwendet, und auch danach hauptsächlich zu kirchlichen Zwecken, weil die literarisch gebildete Oberschicht in Finnland entweder Schwedisch oder andere europäische Sprachen so wie Latein verwendete – finnischsprachige höhere Bildung oder Hochkultur gab es nicht. In den 16.–19. Jahrhunderten erschienen auf Finnisch Bibelübersetzungen, Kirchenlieder, Katechismen, Kirchenhandbücher und Andachtsliteratur, zumeist Übersetzungen und Adaptationen von fremdsprachigen Originalen. Eine weltliche Originalliteratur entstand erst im Laufe der nationalen Emanzipation im 19. Jahrhundert. Der erste finnischsprachige Roman nach modernen Maßstäben, Seitsemän veljestä (‘Sieben Brüder’) von Aleksis Kivi, erschien 1870. Dies bedeutet, dass die früheren Epochen der europäischen Kultur, Renaissance und Barock, für die finnische Literaturgeschichte kaum von Bedeutung sind. Die finnische Literatur ist ein Produkt der Romantik – noch spezifischer: der Nationalromantik. Der allgemeineuropäische Enthusiasmus für die Volksdichtung und die (oft halbmythische) Vergangenheit der eigenen Nation verbreitete sich im späten 18. und frühen 19. Jh. auch nach Finnland, wo es zwar keine mittelalterliche oder Renaissanceliteratur, dafür aber eine mündliche Tradition der Volksdichtung gab. Die ersten großen Adaptationen und Kompilationen der finnischen und karelischen Volksdichtung, das Nationalepos Kalevala (1835) und die Sammlung der Volkslyrik Kanteletar (1840), waren eine Art Startschuss für die Entwicklung der modernen finnischen Literatur. Sie inspirierten das nationale Kulturprojekt auf zahllose Weisen. 2 Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Von Agricola bis Porthan
Wir können also sagen, dass die finnische Literatur aus drei Traditionen besteht. Die finnischsprachige schriftliche Literatur im modernen Sinn ist jung, die Volksdichtung dagegen hat uralte Wurzeln. Die dritte Tradition ist die schwedischsprachige Literatur in Finnland. Schwedisch ist nicht nur offiziell die zweite Nationalsprache Finnlands und die Muttersprache einer ziemlich kleinen Minderheit (weniger als 6% der Bevölkerung); sechshundert Jahre lang war Finnland ein Teil des schwedischen Königreichs, und auch danach, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, war Schwedisch in Finnland die Sprache der Verwaltung und der Oberschicht. J. L. Runeberg (1804–1877), der Nationaldichter und Verfasser der Nationalhymne, der in seinen Gedichten die Grundlagen für den romantischen Patriotismus schuf, schrieb auf Schwedisch. Seitdem, bis zum heutigen Tag, sind viele bedeutende Kulturschaffende schwedischsprachig – auch Schriftsteller, so wie die Dichterin Edith Södergran (1892–1923), die Autorin der Mumin-­‐‑Kinderbücher Tove Jansson (1914–2001), oder unter den heute aktiven Autoren der preisgekrönte Schilderer des Stadtlebens Kjell Westö (geb. 1961). Die finnlandschwedische Literatur wird als Teil der finnischen Literatur rezipiert, und für das finnischsprachige Publikum scheint es keine besondere Rolle zu spielen, dass er diese Werke in Übersetzung liest. Die
Anfänge
Finnland
der
literarischen
Kultur
in
Die europäische Schriftlichkeit erreicht Finnland im Mittelalter: Im 12.-­‐‑13. Jh. wird das Land von Schweden her christianisiert und an das Königreich Schweden angeschlossen. Während des Mittelalters war die katholische Kirche mit ihren Schulen und Klöstern die wichtigste Trägerin der schriftlichen Kultur und Bildung. Die Sprache der Kirche war selbstverständlich Latein; auf Latein wurde auch das erste Buch gedruckt, das speziell für Finnland bestimmt war, das Messebuch Missale Aboense (1488). Die lateinischsprachige Vers-­‐‑ und Lieder-­‐‑
tradition der Kirche in Finnland ist in der 1582 erschienenen Sammlung Piae Cantiones dokumentiert worden; die meisten Lieder dürften zur allgemeineuro-­‐‑
päischen Tradition gehören, aber einige können auch in Finnland entstanden sein. In der katholischen Kirche wirkte auch “der erste Schriftsteller Finnlands” Jöns (Johannes) Budde (ca. 1437 – nach 1491), ein Ordensbruder im Birgittiner-­‐‑
kloster von Naantali/Nådendal in Südwestfinnland und eine der ersten namentlich bekannten Personen in der finnischen Literaturgeschichte. Von Buddes Leben ist nur wenig bekannt; möglicherweise stammte er aus schwedischsprachigem Ostbottnien, und jedenfalls schrieb er auf Schwedisch. Seine Werke sind größtenteils Übersetzungen und Adaptierungen von Teilen des Alten Testaments und anderer religiöser Texte (z.B. Heiligenlegenden). Die finnische Sprache wurde von der katholischen Kirche zumindest mündlich, in Predigten und in der Seelsorge verwendet, und finnische Versionen von den wichtigsten Texten (so wie z.B. das Vaterunsergebet) waren sicher vorhanden. Leider sind von dieser vorreformatorischen finnischsprachigen Tradition keine Texte erhalten geblieben. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Von Agricola bis Porthan
3 Die Reformation und Mikael Agricola
Die Reformation, die im schwedischen Reich im 16. Jahrhundert eingeführt wurde, schuf die Voraussetzungen für die Entstehung einer finnischen Schriftsprache. Das Volk sollte die heilige Schrift in seiner eigenen Sprache lesen und verstehen können, und deshalb sollten die Bibel und die liturgischen Texte in die Volkssprache übersetzt werden. Michael (finnisch: Mikael) Agricola (Michael Olai / Mikael Olofsson), der Reformator Finnlands und der Vater der finnischen Schriftsprache, wurde im Dorf Torsby in der Gemeinde Pernaja, im östlichen Teil der Provinz Uusimaa in Südfinnland geboren, wahrscheinlich um 1510. Seine Heimat war damals wie auch jetzt schwedischsprachig, und die Frage um seine Muttersprache hat Anlass zu Streiten unter Gelehrten gegeben: Zur Zeit der sprachpolitischen Konflikte hätten die finnischen Nationalisten nicht gerne gesehen, dass der Vater der finnischen Schriftlichkeit Schwedisch als Muttersprache sprach. Es gibt zwar keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Agricolas Elternhaus schwedischsprachig war, andererseits weist nichts an seinem Finnisch auf mangelhafte Sprachkennt-­‐‑
nisse hin – wahrscheinlich war Agricola von Kindheit an zweisprachig. Später kamen weitere Dialekte des Finnischen und andere Sprachen dazu: selbstverständlich Latein, aber auch Nieder-­‐‑ und Hochdeutsch, während des Studiums auch Griechisch und vielleicht sogar Hebräisch. Agricolas Vater war ein ziemlich wohlhabender Landwirt (deshalb legte sich der Sohn den lateinischen Namen Agricola, ‘Bauer’, zu); wahrscheinlich ließ er seinen Sohn beim dortigen Priester unterrichten, der die Begabung des Buben entdeckte, und so wurde der junge Michael 1520 nach Viipuri in die Schule geschickt. 1528 zog er zusammen mit seinen Lehrern nach Turku, wo er dann als Sekretär des Bischofs arbeitete. In den 1530er Jahren konnte der ambitiöse junge Priester an der Universität Wittenberg bei Martin Luther und seinen Schülern studieren. Als Magister kehrte er 1539 nach Turku zurück, wurde Rektor der Kathedralschule und später Bischof von Turku. Als Mitglied der schwedischen Delegation nahm Bischof Agricola an den Friedensverhandlungen in Moskau im Frühjahr von 1557 teil; auf der Rückfahrt, auf der Karelischen Landenge erlag er einem Krankheitsanfall und wurde wahrscheinlich in Viipuri beigesetzt. Agricola schrieb oder übersetzte (möglicherweise gemeinsam mit Assistenten und Schülern, deren Namen nicht überliefert worden sind) insgesamt neun finnischsprachige Werke: •
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Abckiria (ABC-­‐‑Buch und Katechismus) 1543 (?), das erste auf Finnisch gedruckte Buch Rucouskiria (‘Gebetsbuch’) 1544 Se Wsi Testamenti (‘Das Neue Testament’), 1548 Käsikiria Castesta ja muista Christikunnan menoista (‘Handbuch für Taufe und andere Handlungen der Christenheit’), 1549 Messu eli Herran Echtolinen (‘Die Messe oder der Abendmahl des Herrn’), 1549 Se meiden Herran Iesusen Christusen Pina (‘Das Leiden unseres Herrn Jesu Christi’), 1549 Dauidin Psaltari (‘Davids Psalmen’), 1551 Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Von Agricola bis Porthan
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4 Weisut ia Ennustoxet (‘Lieder und Prophetien’, Auszüge aus dem Alten Testament), 1551 Ne Prophetat. Haggaj. SacharIa. Maleachi (‘Die Propheten’, weitere Bücher des Alten Testaments) 1552. Agricola schuf also einen fast kompletten Satz Handbücher für die Kirche Finnlands und übersetzte ca. 37% der Bibel. Seine Sprache, auf südwestfinnischer Basis aber auch mit Wörtern und Elementen aus anderen Dialekten, wurde die Grundlage der alten finnischen Literatursprache. Er dürfte viele Wörter (Lehnwörter und möglicherweise auch eigene Bildungen) in die finnische Sprache eingeführt haben, und von seinen Wörtern sind laut Schätzungen ca. 60% immer noch im Gebrauch – dass Agricolas Texte für heutige Finnen schwierig zu lesen sind, erklärt sich vor allem durch die noch unentwickelte, auf fremden Vorbildern bauende und inkonsequente Schreibweise. Der größte Teil seiner Werke besteht aus Übersetzungen, aber zu vielen seiner Werke hat er selbst lange Vorreden verfasst, teilweise auch in Versform: seine Knittelverse markieren den Beginn der gereimten Dichtung in finnischer Sprache. In der Vorrede zu seiner Psalterübersetzung zählt Agricola in Versform die alten finnischen Götter in Häme (Westfinnland) und Karelien auf. Sein “alt-­‐‑
finnisches Pantheon” ist die umfangreichste alte Quelle über die vorchristliche Religion der Finnen. [...] EPeiumalat monet tesse / muinen palueltin caucan ia lesse . Neite cumarsit Hemelaiset / seke Miehet ette Naiset . Tapio / Metzest Pydhyxet soi / ia Achti / wedhest Caloia toi . Äinemöinen / wirdhet tacoi / Rachkoi / Cuun mustaxi iacoi . Lieckiö / Rohot / iwret ia puudh / hallitzi / ia sencaltaiset mwdh . Ilmarinen / Rauhan ia ilman tei / ia Matkamiehet edheswei . Turisas / annoi Woiton Sodhast / Cratti / murhen piti Tauarast . Tontu / Honen menon hallitzi / quin Piru monda willitzi . Capeet / mös heilde Cuun söit / Caleuanpoiat / Nijttut ia mwdh löit . Waan Carialaisten Nämet olit Epeiumalat / quin he rucolit . Rongoteus / Ruista annoi / Pellonpecko / Ohran casuon soi . Wirancannos / Cauran caitzi / mutoin oltin Caurast paitzi . Egres / hernet / Pawudh / Naurit loi / Caalit / Linat ia Hamput edestoi . Köndös / Huchtat ia Pellot teki / quin heiden Epeuskons näki . Ja quin Keuekyluö kyluettin / silloin vkon Malia iootijn . Sihen haetin vkon wacka / nin ioopui Pica ette Acka . ...Viele Abgötter wurden hier früher angebetet, ferne und nah. Vor diesen beugten sich die Hämeer, Männer so wie Frauen. Tapio gab Beute aus dem Wald, und Ahti brachte Fische aus dem Wasser. (V)äinämöinen schmiedete die Lieder, Rahkoi machte den Mond schwarz. Liekkiö herrschte über Kräutern, Wurzeln, Bäumen und dergleichen. Ilmarinen machte stilles Wetter und Sturm, und brachte die Reisenden fort. Turisas gab den Sieg im Krieg, Kratti sorgte um das Hab und Gut. Tonttu beherrschte das Leben im Haus, wie der Teufel besass er viele. Die Kapeet fraßen ihnen den Mond weg, die Kalevanpojat mähten die Wiesen. Aber für die Karelier waren diese die Abgötter, die er anbeteten. Rongoteus gab Roggen, Pellonpekko ließ die Gerste wachsen. Wirankannos schützte den Hafer, sonst blieb man ohne Hafer. Ägräs schuf die Erbsen, Bohnen, Rüben, brachte Kohl, Leinen und Hanf fort. Köndös machte die Schwenden und Äcker, so wie ihr Aberglaube es sah. Und als die Frühlingssaat gesät wurde, dann trank man auf Ukko. Da holte man den Korb des Ukko, so wurden betrunken Jungfrau und Weib. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Von Agricola bis Porthan
5 Sijtte palio Häpie sielle techtin / quin seke Dann wurde dort viel Schändliches getan, wie cwltin ette nechtin [...] man hörte und auch sah... Die altfinnische Literatur nach Agricola
Agricola hätte gerne die ganze Bibel ins Finnische übersetzt, aber die Pläne scheiterten an mangelnder Finanzierung. Im 17. Jahrhundert arbeiteten mehrere finnische Geistliche an der Bibelübersetzung, bis die ganze Bibel 1642 auf Finnisch erschien. Während dieser Zeit hatte sich schon die junge finnische Schriftsprache deutlich entwickelt: Die Schreibweise war viel konsequenter, und viele fremd klingende Konstruktionen, die in Agricolas Texten die fremden Vorbilder direkt widerspiegeln (z.B. die Verwendung von Zahlwort yksi ‘eins’ und Demonstrativpronomen se als Entsprechungen von unbestimmten und bestimmten Artikeln), waren jetzt durch “authentischere” Formen ersetzt. Diese Bibelübersetzung wurde dann im späten 18. Jahrhundert noch überarbeitet; diese “Alte Kirchenbibel” blieb im Gebrauch bis zum späten 19. Jahrhundert und hat viele Ausdrücke und Phraseologismen in die finnische Schriftsprache vermittelt. Neben der Bibel, den Katechismen und Kirchenhandbüchern entwickelte sich in der finnischen Kirche auch eine Art lyrische Dichtung: Die Kirchenlieder – die zumeist Übersetzungen und Adaptationen von schwedischen und deutschen Originalen darstellten – waren lange die fast alleinige Form der finnisch-­‐‑
sprachigen geschriebenen Dichtung. Das erste finnischsprachige Kirchenliedbuch, von Jacobus Finno (Jaakko Suomalainen), Rektor der Kathedralschule in Turku, erschien 1583. Ein weiterer wichtiger Autor war Hemminki (Hemming) von Masku (Hemminki Maskulainen, Maskun Hemminki; ca. 1550–1619), Pfarrer der südwestfinnischen Gemeinde Masku; sein Kirchenliedbuch (1605) bildete die Grundlage für das spätere sogenannte “Alte Kirchenliedbuch”, das bis zum späten 19. Jahrhundert verwendet wurde. Hemminki veröffentlichte auch eine Sammlung von finnischen Übersetzungen der Piae Cantiones. Hier ein Auszug aus Cedit hiems: Kylmän talven taucoman Päevän penseys soima, Vilun valjun vaipuman, Auttap auringon voima. Kevä käke kesän tuoman, Hengetöin hangidze vircoman Covan callon alda. Meri maa ja mandere, Orghod kedhod cans cangared, Toevovat Suven valda. [...] Den kalten Winter zwingt die Milde des Tages aufzuhören, dass die blasse Kälte nachlässt, bringt die Kraft der Sonne zustande. Der Frühling wird den Sommer bringen, das Leblose fängt an, aufzuwachen unter der harten Kruste. Das Meer und das feste Land, Täler, Wiesen und Heiden erwarten die Macht des Sommers ... Aus dem 17. Jahrhundert sind auch einige “weltliche” finnischsprachige Gelegenheitsgedichte bekannt, welche die gelehrten Herren im Kreis der Akademie von Turku aus Anlass von Familien-­‐‑ oder akademischen Festen verfassten, zumeist wohl als eine Art akademische Unterhaltung. So schreibt Erik Justander im Jahre 1654, aus Anlass der Hochzeit von König Karl X Gustav und Prinzessin Hedwig Eleonora von Holstein-­‐‑Gottorp ein Gedicht. Wie aus dem Titel Imitatio Antiquorum Tawast-­‐‑Finnonicorum Runorum ersichtlich, ist das Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Von Agricola bis Porthan
6 Gedicht, wenn auch etwas holprig, im alten trochäischen Versmaß der finnischen und karelischen Volksdichtung (“Kalevala-­‐‑Versmaß”) geschrieben, das offensichtlich schon angefangen hatte, die Gelehrten zu interessieren: Hywä Herra CARL Cuningas, Ruotzin röykiä Ruhtinas, Lähdätti Lawiat Laiwat, Pani Pyssyt päälle parhat, Huilut Harput Helisemän, Trumbut tuimat tömisemän, Liput laweet Liehumahan, Pyssyt paxut pauckumahan, Tuoman tänne Tyttyräistä, Halataxens Hyppyräistä. Edes käywäx Greifw Erikin, Vscoi ulos urhollisen, Hamast Holstenin Huonesta, Caimaman culd’ Cumpanista. Toipa tänne tullesansa, Caunijs cullas kijldäwäisen, Hopeess Halees Hochtawaisen, HEDWIGIN ELEONORAN, Trötingixi Neidzen nuoren [...] Der gute Herr König Carl, der stolze Fürst Schwedens, schickte große Schiffe, ließ sie mit den besten Waffen versehen, Flöten und Harfen klingen, strenge Trommeln schlagen, breite Fahnen fliegen, dicke Kanonen donnern, um das Mägdelein hierher zu bringen, damit er die Kleine umarmen kann. Als Brautführer sandte er den Grafen Erik, den Tapferen, aus dem Hause von Holstein die teure Gefährtin zu begleiten. Er brachte hier mit sich die in schönem Gold leuchtende, in hellem Silber schimmernde Hedwig Eleonora, zur Königin die junge Maid... Auch historische Lieder, Reimchroniken und (besonders ab dem 18. Jahr-­‐‑
hundert) Flugblattlieder (fi. arkkiviisu) über wichtige, oft tragische Ereignisse wurden auf Finnisch verfasst. Besonders traumatisch war “der große Hass” (isoviha): während des Großen Nordischen Krieges wurde Finnland zwischen 1713–1721 von russischen Truppen verwüstet. Über diese schrecklichen Ereig-­‐‑
nisse berichtet Gabriel Calamnius (1695–1754), Geistlicher aus dem ostbottni-­‐‑
schen Kalajoki, in seinen Suru-­‐‑runot suomalaiset (‘Finnische Trauergedichte’, 1734). Calamnius veröffentlichte auch eine Sammlung von finnischer lyrischer Dich-­‐‑
tung, Wähäinen Cocous Suomalaisista Runoista (‘Eine kleine Sammlung finnischer Gedichte’, 1755) – das einzige finnischsprachige Gedichtbuch vor der Zeit der Autonomie. Die bedeutendsten Errungenschaften der altfinnischen Literatur gehören jedoch zum Bereich der religiösen Dichtung. Das vielleicht berühmteste und be-­‐‑
liebteste finnischsprachige Werk der altfinnischen Epoche war Ilo-­‐‑Laulu Jesuxesta (‘Freudenslied über Jesus’, 1690) des Geistlichen Mattias Salamnius (ca. 1650–
1691), eine Geschichte des Lebens und Leidens Jesu in Versform. Das Buch, bestehend aus 29 Liedern und geschrieben im trochäischen Versmaß der alten finnischen Volksdichtung, erschien während 200 Jahren in 16 Auflagen. Herodes ihastui häijy, HErran nähtyä hywimmän, Toiwoi nähdänsä näkyjä, Tunnustähdet tietäxensä, Aiwan kylläldä kyseli, Waan ei saanu wastausta. Vlos wijmeissä wetäpi Pilka hambahat pahimmat; Sitte pilcaxi puetti Walkialla wattehella, Herodes, der Böse, freute sich, als er den liebsten Herrn sah. Er hoffte, Wunderwerke zu sehen, Zeichen zu erfahren, fragte zur Genüge, aber bekam keine Antwort. Am Ende ließ er die schlimmsten Spottsprüche heraus; dann ließ er zum Spott ihn weiß anziehen, Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Von Agricola bis Porthan
Käski culkia tacaisin, Poijes luoxi Pontiuxen. Tästä Ystäwys yleni Cahden keskellä wihaisen, Cahden wieckahan wälillä; Cosc’ on caiwattu Caritza, Lammas lyötynä wiatoin, Kettu coiralle sucua, Corppi haucan Heimolainen. 7 befahl ihm, zurückzugehen, weg zu Pontius. Daraus entstand eine Freundschaft zwischen zwei Bösen, zwischen zwei Listigen; als das Lamm angeklagt wird, das unschuldige Schaf geschlagen, dann ist der Fuchs mit dem Hund verwandt, dann gehört der Rabe zur Sippe des Habichts. (Auszug aus Ilo-­‐Laulu Jesuxesta) Aus heutiger Sicht vielleicht von größtem literarischen Wert ist das lange Poem von Juhana (Johan) Cajanus, Yxi hengellinen Weisu (‘Ein geistliches Lied’) aus 1683. Das Hauptthema ist die Vergänglichkeit alles Irdischen – im Geiste der europäischen “Totentanz-­‐‑” und Vanitas-­‐‑Traditionen wird die Allgegenwärtigkeit des Todes geschildert – und die Nichtigkeit aller irdischen Sorgen, im Vergleich mit der vom christlichen Glauben versprochenen Seligkeit. 1.
ETkös ole Ihmis parca / aiwan arca, Coscas itket ylen öitä, Coscas suret suuttumata, / puuttumata, Coucon mustan Murha-­‐töitä. 2. Tap’ on wanha tappawalla / Wierahalla, Luojan laitoxen perähän, Hywät huonot Langoinensa, / Lapsinensa, Syöstä, sullo’ maan powehen. [...] 8. Kell’ on Ruumis raitihimbi, / rautaisembi, Cuin on Calalla Meresä? Surma toki surmelepi, / Turmelepi, Wetten Carjankin Wedesä. [...] Bist du nicht, du armer Mensch, ganz eingeschüchtert, dass du die Nächte durchweinst, dass du dich trauerst, ohne Verdruss, ohne Unterlass, wegen der mörderischen Taten des schwarzen Teufels. 2. So ist die Sitte des tödlichen Gastes, so wie der Schöpfer gestiftet hat, Gute und Böse, mit ihren Sippen, mit ihren Kindern, in den Busen der Erde zu stürzen, zu drängen. ... 8. Wer hat einen frischeren, stärkeren Körper als der Fisch im Meer? Doch tötet, verdirbt der Tod auch das Wasservieh im Wasser. ... Das Gedicht kulminiert in einer auch für heutige Leserschaft beeindruckenden, apokalyptischen Vision. Auch der Himmel und die Sterne sind vergänglich: 13. Jossa cannell’ caiken Ilman / heität Silmän, Hänen tiedustat tapansa: Käändy, culke, wäändy, wyöry, / poicke, pyöry, Taiwas kircas Tähtinensä. 14. Kerran käändy käändymästä, / wäändymästä, Käändy käändymättömäxi. Käändy käskyllä cowalla, / caickiwallan, Tyhjäxi tawattomaxi. 15. Täm on Tuoni tulisella / Taiwahalla, Tämä tähtein pesällä. Täm on ikä ihanalla / Auringolla: Tämä wahwuus wahwudella. [...] 13. Falls du auf das Himmelsgewölbe wirfst deinen Blick, willst seine Art erfahren: Es dreht sich, wandert, rollt, weicht, wälzt sich der klare Himmel mit seinen Sternen. 14. Einmal wird er aufhören zu drehen, sich zu wenden, wird sich so wenden, dass er nicht mehr dreht. Wendet sich nach dem strengen Befehl des Allmächtigen, wird leer und ohne Art. 15. Dies ist der Tod des feurigen Himmels, dies der Heimat der Sterne. So endet das Leben der wunderschönen Sonne, Dies ist die Stärke des Firmaments. [...] Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Von Agricola bis Porthan
8 Aufklärung und Fennophilie
Nach den Kriegen und Schrecken der Großmachtzeit verbreiteten sich auch im schwedischen Reich im 18. Jahrhundert europäische Kulturströmungen. In der Literatur war der erfolgreichste finnische (finnlandschwedische) Autor wahr-­‐‑
scheinlich Graf Gustaf Philip Creutz (1735–1781), ein in Finnland geborener Aristokrat, der nach seinen Universitätsstudien in Turku zumeist in Schweden oder als Diplomat im Ausland weilte. Er war persönlich befreundet mit dem aufgeklärten und kunstinteressierten König Gustav III, wurde Kanzleipräsident (Ministerpräsident) und Mitglied der Schwedischen Akademie – und verfasste die im idealisierten antiken Hirtenmilieu spielende Liebesgeschichte Atis och Camilla, einen Klassiker der schwedischen Literatur. Im Geiste der europäischen Aufklärungsphilosophie interessierten sich die Gelehrten auch in Finnland für die liberale wirtschaftliche Entwicklung, für Ideen der Gleichberechtigung aller freien Menschen, für Volksbildung, Freiheit des Wissens und der Naturwissenschaften. Anders (fi. Antti) Chydenius (1729–
1803), Geistlicher und Politiker (Landtagsabgeordneter) aus Ostbottnien, Vater der finnischen Wirtschaftswissenschaft, plädierte für größere Freiheiten des Ge-­‐‑
werbes und wirtschaftlichen Liberalismus; zu seinen Errungenschaften als Politiker gehören die Druckfreiheit (1766) und beschränkte Glaubensfreiheit für Ausländer im schwedischen Reich. Pehr (fi. Pietari) Kalm (1716–1779), Biologe und Botaniker, Schüler des Linné, später Professor für Wirtschaftswissenschaft in Turku, gehörte zu den berühmtesten Naturwissenschaftlern seiner Zeit. In den akademischen Kreisen in Turku entwickelten einige Gelehrte, die sogenannten Fennophilen, ein besonderes Interesse für die finnische Sprache und Kultur. Als der erste Fennophile wird oft Daniel Juslenius (1676–1752) erwähnt, Professor für Hebräisch, Griechisch und Theologie, in seinen letzten Lebensjahren Bischof von Skara in Schweden. (Sein Lebenslauf ist auch ein Bei-­‐‑
spiel für das typische brain drain in Finnland in der Großmachtzeit Schwedens; viele Gelehrte zogen nach Schweden oder flüchteten dorthin vor dem Krieg. Dies trug zu einer generellen Verarmung und “Proletarisierung” der finnischspra-­‐‑
chigen Kreise bei – spätestens im 17. Jahrhundert hörte die Oberschicht auf, Finnisch neben Schwedisch als Umgangssprache zu verwenden.) In seiner Dissertation Aboa vetus et nova (‘Das alte und neue Turku’, 1700) schafft Juslenius ein idealisiertes Bild über die finnische Kultur und ihre glorreiche Vergangenheit: so wie Olof Rudbeck in Schweden etwas früher die Schweden für das älteste Kulturvolk der Welt beweisen wollte, findet Juslenius Spuren der alten finnischen Hochkultur überall in Europa... Juslenius veröffentlichte auch das erste eigentliche finnische Wörterbuch, Suomalaisen Sana-­‐‑
Lugun Coetus (‘Versuch zu einem finnischen Wörterverzeichnis’, 1745). Der bedeutendste Fennophile war Henrik Gabriel Porthan (1739–1804), Bibliothekar und später Professor für Rhetorik an der Universität Turku. Sein Hauptwerk war eine umfangreiche Studie über die mittelalterlichen Chroniken der finnischen Bischöfe, und er gilt als Gründervater der finnischen Ge-­‐‑
schichtsschreibung. Als Geschichtsforscher führte er – nach den Fantasien über die glorreiche nationale Vergangenheit, die im 17. Jahrhundert beliebt waren – eine kritische, “skeptische” Methode ein. Außerdem beschäftigte er sich mit der Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Von Agricola bis Porthan
9 finnischen Sprache, mit der Volksdichtung (De poesi Fennica, 1766–1778) und dem alten Volksglauben der Finnen (De superstitione veterum Fennorum theoretica et practica, 1782). Zu dieser Zeit hatten sich die modernen Geisteswissenschaften noch nicht professionalisiert oder sich deutlich voneinander getrennt: Porthan war der letzte große Polyhistor der finnischen Wissenschaftsgeschichte. Mit einigen gleichgesinnten Kollegen gründete Porthan die Aurora-­‐‑Gesell-­‐‑
schaft, eine Geheimgesellschaft von gelehrten Herren (im Stil der Freimaurer und nach dem Vorbild des Vereins Utile dulci in Stockholm), die die Kultur – Rhetorik, Wissenschaften und freie Künste – in Finnland im Geiste der Aufklärung fördern wollte. Die Gesellschaft gab Finnlands erste Zeitung heraus: Tidningar utgifne af et Sällskap i Åbo erschien 1771–78 und 1782–85 – selbstverständlich auf Schwedisch. Für die finnische Sprache und besonders die alte finnische Mythologie interessierte sich Christfried Ganander (1741–1790), ein Geistlicher aus Ostbottnien, der in Turku bei Porthan studiert hatte. Sein Hauptwerk Mythologia Fennica (1789), eine Enzyklopädie des alten finnischen Volksglaubens, inspirierte später noch Elias Lönnrot bei der Zusammenstellung des Kalevala. Ganander verfasste auch ein großes Wörterbuch des Finnischen, das leider nicht veröffentlicht wurde aber heute wichtiges Material für die Sprachwissenschaft liefert. Außerdem sammelte Ganander finnische Rätsel und Volksmärchen, schrieb wahrscheinlich die erste wissenschaftliche Studie über die Roma in Finnland, und verfasste die zwei ersten finnischsprachigen Sachbücher über Medizin, Maan-­‐‑Miehen Huone-­‐‑ ja Koti-­‐‑Aptheeki (‘Hausapotheke des Bauern’) und Eläinden Tauti-­‐‑Kirja (‘Buch über Tierkrankheiten’; beide 1788). Das Publikum, das finnischsprachige Literatur hätte rezipieren können, war jedoch sehr klein. Obwohl die Kirche elementaren Leseunterricht für das Volk organisierte, hatten die meisten finnischsprachigen Bauern und Dienstboten kaum Zeit oder Lust zum Lesen – oder sie lasen nur die Bibel und pietistische Andachtsliteratur und hielten alle “weltliche” Lektüre für unnötige Zeitver-­‐‑
schwendung. Daran – an Mangel der Leserschaft – scheiterte auch die erste finnischsprachige Zeitung, Suomenkieliset Tieto-­‐‑Sanomat (etwa: ‘Finnischsprachige Auskunfts-­‐‑Nachrichten’), die Anders (fi. Antti) Lizelius, Pfarrer von Mynämäki in Südwestfinnland, 1775-­‐‑1776 herausgab. Wiederholungsfragen
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Was sind die drei Traditionen der finnischen Literatur? Beschreiben Sie kurz das Lebenswerk und die Bedeutung des Michael Agricola. Wer waren die Fennophilen? Warum sind Bibelübersetzungen und Kirchenlieder so wichtig für die finnische Literaturgeschichte? Warum konnte sich keine umfangreichere finnischsprachige Literatur im 18. Jahrhundert entwickeln? Begleitende Lektüre
Lassila: Geschichte der finnischen Literatur, S. 13-­‐‑32 Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Von Agricola bis Porthan
Weiterführende Lektüre
Laitinen: Suomen kirjallisuuden historia. S. 103-­‐‑140 10 evsl
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Vergleichende
SprachLiteraturwissenschaft
Abteilung Finno-Ugristik
zur
Lehrveranstaltung
Literaturgeschichte
und
und
Finnische
ROMANTIK UND NATIONALLITERATUR: Die Anfänge
Lernziele: Den Hintergrund sowie die wichtigsten Strömungen der finnischen Romantik zu kennen. Historischer Hintergrund: Zeit der Autonomie
Finnland stand im Jahr 1809 vor einer neuen Situation: Die lange gemeinsame Geschichte mit Schweden war vorbei, und nun waren die Finnen unter russischer Herrschaft. Der russische Zar Alexander I betonte, Finnland sei in den Status einer Nation, neben allen anderen Nationen, gehoben worden. Das Volk versprach Loyalität gegenüber dem Zaren, und bekam auch zahlreiche Privilegien: Finnland bekam einen eigenen Senat, durfte seine alten Gesetze aus der schwedischen Zeit behalten, und bekam eine autonome Stellung als Großfürstentum von Russland. Die Autonomiezeit brachte auch viele Erneuerungen mit sich. Während der Autonomie bekam Finnland eine eigene Währung und sogar eine Armee, die jedoch 100 Jahre später aufgelöst wurde. Finnland bekam auch eine neue Hauptstadt: 1812 wurde Helsinki die neue Hauptstadt Finnlands. Jahrhunderte lang war Turku an der Südwestküste das Zentrum der Verwaltung und auch der Kultur in Finnland gewesen, aber spätestens der Brand von Turku 1827 und die darauffolgende Umsiedlung der Turkuer Universität nach Helsinki machte Helsinki zum neuen Zentrum der Kultur und auch des literarischen Lebens in Finnland. Die neue gesellschaftliche Situation als autonome Großfürstentum Russlands eröffnete neue Möglichkeiten zur nationalen Entwicklung. Die finnische Bil-­‐‑
dungsschicht, die damals noch schwedischsprachig war, sah daran die Möglichkeit, die Finnen zu einem Kulturvolk zu entwickeln. Es entsprach auch die Idealen der Zeit: Ein Volk mit einer eigenen Sprache und Kultur, das sein eigenes Land bewohnt. (Aus heutiger Sicht, wo wir in relativ multikulturellen Gesellschaften leben, mag dies veraltet klingen. Begriffe wie ”Nation” oder ”nationale Kultur” haben seit dem zweiten Weltkrieg einen negativeren Klang als davor. Es wäre vielleicht aus heutiger Sicht besser, die Fennomanie als eine patriotische Bewegung zu definieren, die auch in ihrer radikalsten Auffassungen weit entfernt von der radikalen nationalistischen Strömungen der Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Romantik und Nationalliteratur
2 1930-­‐‑40er Jahre ist.) Die Finnen waren ja schon ein Volk, und ihr Land war mit der Autonomie in gewissem Sinne schon unabhängig. Es mangelte eigentlich nur an der finnischsprachigen Hochkultur. Diese müsse also geschaffen werden, sowie die Identität der Finnen gestärkt werden. Dies wurde die Mission des 19. Jahrhunderts. In vieler Hinsicht waren die 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in Finnland das Jahrzehnt des Aufschwungs in der Politik und Kultur. Am Anfang der 1860er Jahre kam Alexander II an die Macht, welches liberalere Zeiten für Finnen bedeutete. Er rief den Ständelandtag Finnlands im 1863 zusammen, und ab 1869 kamen sie regelmäßig zusammen, sodass mann sagen kann, dass Finnland seitdem ein eigenes Parlament hatte. Bei vielen politischen Erneuerungen wirkte der Senator Johan Vilhelm Snellman (1806-­‐‑81) im Hintergrund: Mit dem Sprachgesetz von 1863 wurde Finnisch eine mit dem Schwedischen gleichgestellte Amtssprache und dadurch auch die Sprache der Bildung und Verwaltung. Die Währungsreform von 1865 gab Finnland eine eigene Währung, die finnische Mark (markka), das Kirchen-­‐‑
gesetz von 1869 trennte die Kirche weitgehend vom Staat, und nach dem Schulgesetz von 1866 wurden zahlreiche finnischsprachige Volksschulen überall im Land gegründet. 20 Jahre danach konnte man schon über eine finnisch-­‐‑
sprachige Bildungsschicht reden; davor hatten auch die wenigen Finnischspra-­‐‑
chigen, die den sozialen Aufstieg in die gebildeten Kreise geschafft hatten, ihre Muttersprache aufgeben müssen, weil höhere Bildung nur auf Schwedisch vorhanden war. Auch die finnische Literatur erlebte ihren Aufschwung in den 1860er Jahren vor allem mit den Werken von Aleksis Kivi (1834-­‐‑1872). Besonders gegen Ende des Jahrhunderts entstanden aber auch Probleme. Schon in den 1850er Jahren wirkte die Zensur, die es unmöglich machte, auf Finnisch etwas zu publizieren. Die Zensur wurde später gelockert, was dann ermöglichte, dass unter anderem Aleksis Kivi sein Werk publizieren konnte. Das Problem war nur, dass es besonders am Anfang an finnischsprachigem Publikum fehlte: Das gemeine Volk hatte weder Zeit noch Interesse für weltliche Schönlite-­‐‑
ratur, und die gebildeten Kreise waren schwedisch erzogen und finnischsprachige Lektüre nicht gewohnt. Auch die Missernten der Jahre 1867-­‐‑68, und die darauffolgende Hungersnot (der etwa 100 000 Finnen zum Opfer fielen) waren nicht förderlich für die Entwicklung der finnischsprachigen Kultur. Auch die Verstädterung hinterließ ihre Spuren in der Gesellschaft. Politische Gegensätze
Mit dem Zusammenkommen des Ständelandtags ab den 1860er Jahren begann sich auch das politische Feld in Finnland zu formen. Zentral war anfangs die Sprachfrage: Basierend auf der Ideologie der Fennomanen und den nationalen Ideologien von Snellman entwickelte sich Suomalainen puolue, die ”Finnische Partei” (mit dem Historiker G. Z. Forsman, später mit finnisiertem Namen Yrjö-­‐‑
Koskinen, als Leitgestalt). Als Gegenpol zu der Finnischen Partei kam es zur Gründung der schwedischen Partei (um A. O. Freudenthal). Zwischen diesen politischen Fronten entstand die Liberale Partei (Leo Mechelin), die sich, wie der Name sagt, in der Sprachfrage liberal verhielt. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Romantik und Nationalliteratur
3 Später spaltete sich die Finnische Partei in zwei Gruppen auf: in die liberalen Jungfinnen (nuorsuomalaiset) und die konservativen Altfinnen (vanhasuomalaiset). Die Jungfinnische Partei spielte auch im literarischen Leben eine wichtige Rolle: In dieser Partei waren die zentralen Autoren des finnischen Realismus aktiv, und leisteten ihren Beitrag zur Verbesserung der Missstände der finnischen Gesellschaft nicht nur in ihren Werken, sondern auch in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem im jungfinnischen Päivälehti (‘Tagesblatt’, Vorgänger von Finnlands heute größter Zeitung Helsingin Sanomat). Der Kreisen von Päivälehti enstammten auch viele zentrale Autoren der Neuromantik zur Zeit der Jahrhundertwende. Wegen der Industrialisierung wuchs die Zahl der arbeitenden Bevölkerung, und die Probleme der Arbeiterbevölkerung wurden zu immer wichtigeren Themen im finnischen Alltag. 1903 wurde die Sozialdemokratische Partei Finnlands gegründet. Die Bauern gründeten eine eigene Partei, Maalaisliitto (’Bauernbündnis’, heutige Zentrumspartei Suomen Keskusta) 1906. Deren Ideologe war der Schriftsteller Santeri Alkio. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die politische Situation sowohl in Russland als auch in Finnland problematischer. Die politischen und wirt-­‐‑
schaftlichen Privilegien und Freiheit des autonomen Finnlands erweckten Verdacht und Kritik in russischen nationalistisch-­‐‑konservativen Kreisen. Mit dem sogenannten Februarmanifest (1899) wurde schließlich die Autonomie eingeschränkt: Die allgemeinrussischen Gesetze würden auch in Finnland in Kraft treten, wobei dem finnischen Landtag nur eine beratende Funktion zukäme. Das Februarmanifest war für finnische Nationalisten ein Schock, der die finnische Opposition und Unabhängigkeitsbewegung stark stimulierte. Die Zeit danach, bis zur Unabhängigkeit in 1917, nennt man in Finnland sortokausi oder sortovuodet (’Unterdrückungsjahre’). Während dieser Periode wurden verschiedene Russifizierungsmaßnahmen eingeführt. Unter anderem wurden finnische Beamte durch russische ersetzt, und die eigene Gesetzgebung wurde fast stillgelegt, als der russische Zar sich weigerte, finnische Gesetze zu billigen. Auch die finnischen Minister wurden durch russische Beamte ersetzt. Während dieser Unterdrückungsphasen schärften sich auch die gesell-­‐‑
schaftlichen Gegensätze, sowohl in Finnland als auch in Russland. Es wurde klar, dass die finnische Nation nicht so einheitlich war, wie die Ideologie der Fenno-­‐‑
manen, der Nationalphilosoph Snellman und der Nationaldichter Runeberg es dargestellt hatten. Die Nation hatte sich in zwei Teile gespalten: in sozialdemo-­‐‑
kratische Arbeiter und bürgerliche Kreise, die aber auch innerhalb der bürgerlichen Parteien verschiedene Meinungen darüber vertraten, wie Finnland sich zu den Russifizierungsmaßnahmen verhalten sollte. Diese Zweiteilung eskalierte in den Unruhen während des Generalstreiks 1905, sowie noch blutiger im finnischen Bürgerkrieg 1918. Romantik in Finnland
Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Romantik und Nationalliteratur
4 Die neue Stellung Finnlands als autonomes Großfürstentum Finnlands brachte auch das kulturelle Leben in Finnland vor einer neuen Situation: Die Bildungsschicht in Finnland war schwedischsprachig, aber 1809 war die mehrere hundert Jahre alte Verbindung zu Schweden gebrochen. Die internationalen romantischen Strömungen kamen etwas verzögert nach Finnland. Schon früher gab es Interesse für die finnische Volkskultur und Volksdichtung (Gelehrte der Turkuer Akademie im 18. Jh. so wie Daniel Juslenius und H. G. Porthan), aber erst in der Zeit der Romantik blüht dieses Interesse so richtig auf. Die Romantiker verstanden die Bedeutung und den Wert des Volkes, das jetzt auch einen autonomen “Nationalstaat” hatte. Die nationale Eigenart des finnischen Volkes sollte vor allem mit Hilfe der Volksdichtung verstanden und bewahrt werden. In Finnland ist es schwer über verschiedene ”Schulen” oder ”Gruppen” der Romantik zu reden, weil die literarische Kultur des Landes noch sehr jung und dünn war. Es gab nur wenig Schriftsteller und Werke. Gewöhnlich redet man jedoch über die Turkuer Romantik, die von kurzer Dauer war, und die darauffolgende Helsinkier Romantik, die umso mehr für die Entwicklung der finnischen Literatur gemacht hat. Die Turkuer Romantiker
Die frühe Phase der finnischen Romantik wird ”Turkuer Romantik” (Turun romantiikka) genannt. Es handelt sich etwa um die Jahre 1809-­‐‑1828, die ersten beiden Jahrzehnte der Autonomie bis zum Brand der Stadt Turku, infolge dessen die Universität von Turku nach Helsinki übersiedelte. Die neue politische Situation bot den Schriftstellern und Wissenschaftlern dreierlei Möglichkeiten. Manche zogen nach Schweden (u.a. der Dichter Frans Mikael Franzén, später auch der Politiker und Publizist A. I. Arwidsson) und studierten oder arbeiteten in der schwedischen Universitätsstadt Uppsala. Manche nutzten die neuen Möglichkeiten und zogen nach St. Petersburg, wie der Folklorist und Sprach-­‐‑
wissenschaftler Anders Johan Sjögren (1794–1855). Die dritte Möglichkeit war, in Finnland zu bleiben, vorerst in Turku, wo die bereits 1640 gegründete Universität Finnlands lag. Frans Mikael Franzén (1772–1847), einer der bedeutendsten frühromantischen Dichter der schwedischsprachigen Literatur, wurde in Oulu geboren und siedelte im 1811, nach einer kurzen akademischen Karriere in Turku nach Schweden um, wo er als Pfarrer, später Bischof der evangelischen Kirche Schwedens tätig war. Das schwedischsprachige Publikum kennt ihn als Verfasser von vielen Kirchenliedern (sowie einigen romantischen Trinkliedern). Aus seiner Feder stammt auch das Gedicht Spring min snälla ren (fi. Juokse porosein), das viele Schweden und Finnen als Kinderlied kennen – eigentlich eine Umdichtung des kemisaamischen Liebesgedichts von Olaus Sirma aus dem 17. Jh. Im Rahmen der Turkuer Romantik wirkten unter anderen A. I. Arwidsson (1791-­‐‑1858), J. J. Tengström, Gabriel Linsén, C. A. Gottlund (1796-­‐‑1875). Zuerst setzten die Turkuer Romantiker die Tradition Porthans und Franzéns fort. Diese Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Romantik und Nationalliteratur
5 Gruppe wurde auch von der deutschen romantischen Philosophie, vor allem von Herder, inspiriert, sowie von den Einflüssen der schwedischen Romantik. Sie publizierten das Album Aura (1817-­‐‑1818) und die Zeitschrift Mnemosyne (1819-­‐‑
1823). Als Arwidsson nach seinem Studium in Uppsala nach Turku zurückkehrte, fing er an die Zeitung Åbo Morgonblad (1821) herauszugeben. ”Schweden sind wir nicht, Russen wollen wir nicht werden, lasst uns also Finnen sein”, forderte er die finnischen Gebildeten auf, für Finnland und das Finnentum zu kämpfen. Dieses Slogan wurde zur Doktrin der späteren Fennomanen. Arwidssons politische Meinungen, die er in dieser Zeitung verbreitete, führten dazu, dass die Zeitung eingestellt wurde, und Arwidsson 1822 von der Universität Turku für immer entlassen wurde. Das Jahr darauf übersiedelte er nach Schweden und führte seine Kritik von dort aus weiter. Die anderen Turkuer Romantiker waren etwas vorsichtiger. Sie folgten den Prinzipien Arwidssons, aber wandelten seine politischen Ziele in eine Art ”Kulturprogramm” um. Der Philosoph J. J. Tengström (1787-­‐‑1858), der auch als Dichter bekannte Johan Gabriel Linsén (1785-­‐‑1848) und Carl Axel Gottlund (1796-­‐‑1875), der wie Arwidsson in Uppsala studiert hatte, forderten in verschie-­‐‑
denen Artikeln die Finnen auf, Volksdichtung zu sammeln und die finnische Sprache weiter zu entwickeln, und betonten die Wert des finnischen Volkes. Gottlund sammelte selbst Volksdichtung, die er in zwei Bänden herausgab (1818-­‐‑
21). In einem Schreiben, das er in Schweden 1817 veröffentlichte, fordert er die junge Generation auf, Volksdichtung zu sammeln: “Wenn also die jungen Schriftsteller Finnlands – mehr die Erzeugnisse ihres Heimatlandes pflegend, ihre heimische Literatur zu entwickeln und zu fördern versuchten, was für ein Arbeitsfeld würde sich vor ihnen eröffnen! Sie würden dort Sachen finden, nach denen sie vergebens in der ausländischen Schönliteratur suchen – ja, der Kritiker kann sogar behaupten, dass wenn man die alten Volkslieder sammelte und daraus ein systematisches Ganzes bildete, sei es Epos, Drama oder egal was, dann könnte daraus ein neuer Homer, Ossian oder Nibelungenlied entstehen; und die finnische Nation, verklärt durch den Glanz und Ruhm ihrer Eigenart, in Bewusstsein von sich selbst, verziert durch die Strahlung ihrer eigenen Entwicklung, würde die Bewunderung der Gegenwart und der Nachwelt erwecken.” (zit. laut Laitinen S. 158–159, Übersetzung anhand der finnischen Übersetzung von Ilmari Ahma) Für Gottlund spielte die Volksdichtung eine zentrale Rolle. Dadurch könnte man sogar beweisen, dass die Finnen eine staatsbildende Nation sind, auch wenn ihr Land kein Nationalstaat ist. Gottlund Laut Lassila (s. 45): “Denn so wie ein selbstständiges Volk nicht ohne Vaterland sein kann, so kann kein Vaterland ohne Dichtung sein. Denn was ist die Dichtung denn anderes als ein Kristall, in der sich das Volkstum widerspiegelt, der Quell, aus dem die ursprünglichen Gefühle des Volkes hervorsprudeln.” Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Romantik und Nationalliteratur
6 Die Turkuer Romantik war von kurzer Dauer, und aus ihren Kreisen kamen noch keine bemerkenswerte literarische Leistungen. Eher haben sich ihre Namen wegen ihrer kulturpolitischen Ansichten, die die Grundlage der kommenden Helsinkier Romantik bildete, in die Literaturgeschichte eingeschrieben. Das Ende der Turkuer Romantik stand der Brand von Turku und die Übersiedlung der Turkuer Universität nach Helsinki. Juteini und Kallio
Aus der Zeit vor Runebergs Dichtung und vor der Veröffentlichung Kalevalas werden gewöhnlich zwei finnischsprachige Dichter erwähnt: Juteini und Kallio. Jaakko Juteini (eigentlich Jakob Judén, 1781-­‐‑1855), war Zeitgenosse der Turkuer Romantiker, aber er lebte und arbeitete von deren Vertretern getrennt in Viipuri (Wiburg). Er ist auch etwas älter als die meisten Turkuer Romantiker und gehört deswegen eher zur Zeit Porthans und der Aufklärung. Oft hält man ihn für einen moralisierenden Volksaufklärer, aber als Schriftsteller war er produktiv und viel-­‐‑
seitig. Die ersten finnischsprachigen Versuche zum Schauspiel oder zu einer Novelle im modernen Sinne stammen aus seiner Feder: die Theaterstücke Perhe-­‐‑
Kunda (’Die Familie’) und Pila Pahoista Hengistä (Scherz über die bösen Geister), beide 1817, und die Erzählung Nimi-­‐‑Päivä eli Hyvä Elämä Hovissa (Namenstag, oder Gutes Leben im Gutshof, 1824). Einige von seinen Gedichten leben als Lieder weiter, zum Beispiel Arvon mekin ansaitsemme (Unsere Ehre haben wir verdient). So setzte er den Geist und die Traditionen des 18. Jahrhunderts und der Aufklärung fort. Denkmal für Jaakko Juteini in seinem Geburtsort Hattula. Auf dem Podest ein Zitat aus seinem berühmtesten Gedicht: Auch wir verdienen Ehre / im großen Land Finnland, / obwohl wir unser Brot nicht / durch Faulenzen gewinnen können. / Das Getreide wächst dem Pflüger, / die Ehre gebührt dem, der seine Arbeit verrichtet. Von dem Pseudonym Kallio (eigtl. Samuli Kustaa Bergh, 1803-­‐‑1852) sind nur etwa 6 Gedichte in die Literaturgeschichte verblieben. Laut Laitinen sieht man in seinen Gedichten Einflüsse von Ovid, Horaz und Goethe. Er hat sogar eine Elegie in Distichen veröffentlicht, zu Ehren der finnischen Natur. Diese Tradition der Naturverehrung setzt sich in der Lyrik von Runeberg fort. Die Helsinkier Romantik
Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Romantik und Nationalliteratur
7 Im nächsten Jahrzehnt zog das kulturelle Zentrum mit der Universität nach Helsinki um. In der Kreisen der Lauantaiseura (’Samstagsgesellschaft’) trafen sich junge Intellektuelle, oft ehemalige Turkuer Studenten. In der Samstags-­‐‑
gesellschaft wirkten unter anderen Johan Jakob Tengström (der eher zur älteren Generation aus Turku gehörte), sowie die später auf verschiedene Weisen berühmt gewordenen Johan Ludvig Runeberg, Johan Vilhelm Snellman, Zachris Topelius, Fredrik Cygnaeus und Emil Nervander. Auch Elias Lönnrot hatte Kontakte zu der Gesellschaft. Die Dichtung von Runeberg, die Volks-­‐‑
dichtungssammlungen von Lönnrot und die nationalphilosophischen Ideen von Snellman führen alle zurück zu den Diskussionen in diesem Freundeskreis. Auch andere wichtige Meilensteine der Finnischen Kultur und Gesellschaft verdanken sich der Samstagsgesellschaft. Eines der wichtigsten war die Gründung der Finnischen Literaturgesellschaft, Suomalaisen Kirjallisuuden Seura, 1831. Die Rolle der SKS, die immer noch existiert und publiziert, ist enorm wichtig. Vor der SKS gab es in Finnland keine Verlage, kaum Buchhandlungen und Belletristik, und vor allem keine Leserschaft und Publikum für finnischsprachige Werke. Suomalaisen Kirjallisuuden Seura war also der erste Verlag in Finnland, und hatte damals die wichtige Rolle, junge (nicht nur auf Finnisch schreibende) Autoren zu unterstützen und deren Werke zu publizieren. Die Samstags-­‐‑
gesellschaft gründete auch ein (schwedischsprachiges!) Gymnasium (Helsingin ruotsalainen lyseo) und gab eine schwedischsprachige Zeitung heraus (Helsingfors Morgonblad, 1832-­‐‑44), deren erster Redakteur Runeberg war. Die intensivste Phase der Samstagsgesellschaft blieb aber auch kurz. Lönnrot zog weit weg nach Kajaani, um als Arzt dort zu arbeiten und Gedichte zu sammeln, und Snellman unternahm seine Auslandsreisen. Runeberg, dessen Karriere an der Universität nicht so gut in Schwung kam, zog nach Porvoo und arbeitete dort als Lehrer. Alle drei hatten ein langes und produktives Leben und setzten ihre Arbeit fort, wenn auch nicht mehr von Helsinki aus. Die Turkuer und Helsinkier Romantiker kommunizierten und publizierten noch zumeist auf Schwedisch, die zu dieser Zeit die praktisch alleinige Sprache der Bildung und Kultur in Finnland war. Sogar Elias Lönnrot, Sohn einer finnischsprachigen Familie, hatte Schwedisch als Bildungssprache und empfand große Schwierigkeiten beim Verfassen des finnischsprachigen Gründungsproto-­‐‑
kolls der SKS (so dass die Protokolle danach jahrelang auf Schwedisch geführt wurden!). Erst in den 1860er Jahren kam die Zeit der finnischsprachigen Literatur. Von den Lyrikern sind vor allem die Pseudonymen A. Oksanen (August Ahlqvist, im Zivil Professor für Finnisch und einer der Gründerväter der finno-­‐‑
ugrischen Sprachwissenschaft in Finnland) sowie Suonio (Julius Krohn, 1835–
1888, auch Universitätsprofessor und Vater der finnischen Folkloristik) zu erwähnen. Die finnischsprachige Prosa startete mit den Werken von K. J. Gummerus und vor allem Aleksis Kivi. In 1872 gründete der Schriftsteller und Kritiker Kaarlo Bergbom (1843-­‐‑1906) das Finnische Theater (seit 1902 Suomen kansallisteatteri, Finnisches National-­‐‑
theater). Schwedischsprachiges Theaterleben gab es in Finnland schon lange davor, sie hatten bereits 1827 sogar ein Theaterhaus, das leider niederbrannte. Ein professionelles schwedisches Theaterhaus wurde 1894 gegründet (das jetzige Svenska Teatern, seit 1898). Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Romantik und Nationalliteratur
8 Herausforderungen für die Romantik
Die besondere Herausforderung für die finnische Romantik war, dass die ganze Bildungsschicht praktisch nur Schwedisch sprach und schrieb. Literatur und Bildung existierten nur auf Latein (oder in sonstigen großen Kultursprachen) oder auf Schwedisch, und nicht auf der Volkssprache Finnisch. In anderen Ländern konnten sich die Nationalromantiker auf die Geschichte und Ver-­‐‑
gangenheit der Nationalsprache konzentrieren, aber in Finnland sprach die Mehrheit der Bildungsschicht die Sprache des Volkes nicht, und der praktischen Sprachfrage – dem Schaffen einer Bildungsschicht, die der Sprache des Volkes mächtig ist und sie verwendet – kam eine zentrale Rolle zu. Die Sprachfrage war außerdem nicht nur kultureller Natur, sondern auch Standes-­‐‑ und Klassenfrage. Aus der Sicht der Elite war Finnisch eine unter-­‐‑
entwickelte, rohe Vulgärsprache, mit der es völlig unmöglich war, sich zu bilden oder gar Literatur oder sonstige Hochkultur zu produzieren. Die Mission der Fennomanen war, diese Meinung zu ändern. Zur Presse in Finnland des 19. Jahrhunderts
In Finnland erscheinen Zeitungen seit der Aufklärung, aber die Ersten waren wegen mangelnder Leserschaft nur von kurzer Dauer. Die Kirche organisierte zwar elementaren Leseunterricht für das Volk, aber in der Praxis hatten die meisten finnischsprachigen Bauern und Dienstboten nur wenig Zeit oder Interesse fürs Lesen, und auch diejenigen, die mehr lasen, lasen hauptsächlich nur religiöse oder Andachtsliteratur. Eine standardisierte Schriftsprache gab es nicht, nur ein inoffizieller Standard hatte sich auf Grundlage der südwest-­‐‑
finnischen Dialekten entwickelt (in denen die ersten Bibelübersetzungen und die Tradition der religiösen Literatur entstanden), und als Umgangssprache verwendeten die Finnen die traditionellen Lokaldialekte. Nach Meinung der Fennomanen sollte jetzt eine einheitliche Schriftsprache entwickelt werden, die jeder Finne, unabhängig davon, woher er stammt, verstehen kann. Die Sprachfrage wurde im 19. Jahrhundert wichtig. Erstens war es ein Kampf um die bessere Stellung der finnischen Sprache generell, in einem Land deren offizielle Sprache Schwedisch war. Um die Stellung der finnischen Sprache zu verbessern musste man die Schriftsprache also standardisieren, und das führte zu unterschiedlichen Ansichten innerhalb der Sprachpflege: Die frühere Schriftsprache basierte eher auf westlichen Dialekten, und die Rolle der Ostdialekten in der Schriftsprache musste gestärkt werden. Um das ganze Kulturprogramm der Fennomanen durchzuführen brauchte man die Presse. Viele Zeitungen waren damals schwedischsprachig, aber man wollte auch das finnischsprachige Publikum erreichen. Die wichtigste schwedischsprachige Zeitung in Helsinki war Helsingfors Tidningar (1829-­‐‑66). Für sehr lange war Topelius der Chefredakteur dieser Zeitung. Auch Snellman beteiligte sich an der Pressearbeit. In Kuopio hatte Snellman drei Zeitungen: die schwedischsprachige Saima (1844-­‐‑46), die Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Romantik und Nationalliteratur
9 finnischsprachige Maamiehen ystävä (‘Freund des Bauern’, 1844-­‐‑55), und auf Schwedisch noch eine Kulturzeitschrift Literaturblad (1847-­‐‑63), bei der Snellman zwar als Herausgeber aber nicht mehr ganzzeitig als Redakteur tätig war. In Viipuri gab es die Sanan Saattaja Viipurista (‘Kurier aus Wiburg’, 1833-­‐‑36, 1840-­‐‑41) und von Pietari Hannikainen herausgegeben die Kanava (‘Kanal’, 1845-­‐‑
47). Eine der Zeitungen, die etwas länger durchgehalten haben, war Oulun Viikko-­‐‑Sanomat (‘Ouluer Wochen-­‐‑Zeitung’, 1829-­‐‑79) im nordfinnischen Oulu. An die Spitze der finnischsprachigen Presse stieg jedoch Suometar (1847-­‐‑66, ab 1869 Uusi Suometar, ab 1918 Uusi Suomi ‘Neues Finnland’), trotz des Namens eine Zeitung der konservativen Altfinnen. Die jüngere Generation war liberaler und auch radikaler als deren Vorgänger. Sie gründeten Päivälehti (‘Tagesblatt’) und dessen Album Nuori Suomi (‘Junges Finnland’), die beide sich stark mit Literatur beschäftigten. Aus den Kreisen der Jungfinnen und Päivälehti kamen später die bedeutendsten finnischen Realisten und später Symbolisten. 1866 gründeten die Jungfennomanen auch eine literarische Zeitschrift, die bis 1880 erschien. Deren Nachfolger war die liberale Zeitschrift Valvoja (‘Der Wachsame’). Wiederholungsfragen
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Was war Turkuer Romantik? Was hielten die Turkuer Romantiker von der Volksdichtung? Wer hat die ersten finnischsprachigen Theaterstücke veröffentlicht? Wann (etwa)? Was war die Samstagsgesellschaft? Warum war sie wichtig für die finnische Literatur? Warum war es, nach Auffassung der Romantiker, wichtig, den Status der finnischen Sprache zu verbessern? Was ist Suomalaisen kirjallisuuden seura? Warum sind die 1860ern ein Wendepunkt in der finnischen Literatur? Warum war die Presse wichtig für die Fennomanen? Warum erschienen viele Zeitungen nur für eine kurze Zeit? Begleitende Lektüre
Pertti Lassila: Geschichte der finnischen Literatur, S. 39-­‐‑49 Weiterführende Lektüre
Kai Laitinen: Suomen kirjallisuuden historia, S. 149-­‐‑165 evsl
skriptum
Institut
für
Europäische
Vergleichende
SprachLiteraturwissenschaft
Abteilung Finno-Ugristik
zur
Lehrveranstaltung
Literaturgeschichte
und
und
Finnische
RUNEBERG, SNELLMAN, LÖNNROT, TOPELIUS
Lernziele: Die größten Namen der finnischen Nationalromantik und die Bedeutung ihrer Werke zu kennen. Johan Ludvig Runeberg (1804–1877)
Die Entlassung von Adolf Ivar Arwidsson von der Universität Turku 1822 markiert das Ende der Turkuer Romantik. Wenige Monate später ließ sich ein junger Student, Johan Ludvig Runeberg, zur Turkuer Akademie inskribieren. Ein paar Tage danach wurde Johan Vilhelm Snellman inskribiert, und eine Woche danach Elias Lönnrot. Diese drei wurden die drei zentralsten Persönlichkeiten in der nationalromantischen Bewegung Finnlands im 19. Jahrhundert, und ihr Werk wurde anschließend von Zachris Topelius weiterkultiviert. Runeberg, später auch ”Nationaldichter Finnlands” genannt, erneuerte die schwedischsprachige Dichtung in Finnland. Laut Laitinen (s. 166) war Runeberg der einzige Dichter seiner Zeit in Finnland, den man mit den anderen großen Romantikern vergleichen kann: Hugo, Lamartine, Shelley, Keats, Puschkin, Petőfi. Auch die Klassik hatte Wirkung an seiner Arbeit: Er war Dozent der römischen Literatur, unterrichtete Griechisch und Latein und beherrschte die antiken Versmaße. Mit seiner Arbeit setzte er auch die Tradition der Aufklärung und das geistige Erbe Franzéns fort. Neben den Einflüssen aus europäischer Romantik und Klassizismus sowie der schwedischen Aufklärung spielte auch die serbische Volksdichtung, die er durch deutschsprachige Übersetzungen von Peter Otto von Goetze in 1828 kennenlernte, in seinem Werk eine wichtige Rolle. Wie andere Nationalromantiker, war auch Runeberg der Meinung, die Volksdichtung sei generell die Gattung der Literatur, die der Natur und Gott am nächsten stehe. Wegen mangelnder Finnischkenntnisse hatte er aber keinen direkten Zugang zur finnischen Volksdichtung, die sein Zeitgenosse Elias Lönnrot schon fleißig sammelte. Runeberg schrieb sein Werk auf Schwedisch und gehörte zum schwedisch-­‐‑
sprachigen Bildungsbürgertum. Trotzdem kennt man Runeberg als Schilderer der finnischen Natur und des finnischen Volkes. Anders als viele seiner Zeitgenossen aus der schwedischsprachigen Bildungsschicht, hatte er während Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Runeberg, Snellman, Lönnrot, Topelius
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seines Studiums auch Kontakte mit dem finnischsprachigen Volk. So wie auch viele Studenten heute, musste Runeberg während seines Studiums arbeiten, und dies tat er als Privatlehrer im inneren Finnland, insgesamt fast drei Jahre lang in den Ortschaften Saarijärvi und Ruovesi. Seine Reiseberichte zeigen, wie die finnische Natur sowie das Volk, das in dieser Wildnis wohnt, ihn tiefst beeindruckt haben. Die Weltanschauung in seiner späteren Dichtung stammt wahrscheinlich aus diesen Erfahrungen: Die genaue Beschreibung der ländlichen Gegend sowie das Anerkennen des Wertes des normalen kleinen Menschen, und Respekt vor den beiden. Sein erstes Werk war die Sammlung Dikter (’Gedichte’, 1830), die später mit zwei weiteren Bänden fortsetzte: Dikter II (1833) und Dikter III (1843). Besonders in den Abschnitten ”Idyllen und Epigramme” dieser Werke schildert er meisterhaft die finnische Natur. Die Rhythmik der Gedichte erinnert an die finnische und serbische Volksdichtung. Im Dikter zeichnet er zum ersten Mal ein Porträt über des finnischen Volksmenschen, den er Saarijärven Paavo nennt. Dieser Paavo aus Saarijärvi, ein hart arbeitender und gottesfürchtiger Bauer, wächst zu einem Musterbeispiel des idealen Finnen heran. Größtenteils sind die Idylle und Epigramme jedoch Liebeslyrik. Högt bland Saarijärvis moar bodde bonden Paavo på ett frostigt hemman, skötande dess jord med trägna armar; men av Herren väntade han växten. Och han bodde där med barn och maka, åt i svett sitt knappa bröd med dessa, grävde diken, plöjde opp och sådde. Våren kom, och drivan smalt av tegen, och med den flöt hälften bort av brodden; sommarn kom, och fram bröt hagelskuren, och av den slogs hälften ned av axen; hösten kom, och kölden tog vad övrigt. Paavos maka slet sitt hår och sade: »Paavo, Paavo, olycksfödde gubbe, tagom staven! Gud har oss förskjutit; svårt är tigga, men att svälta värre.» Paavo tog sin hustrus hand och sade: »Herren prövar blott, han ej förskjuter. Blanda du till hälften bark i brödet, jag skall gräva dubbelt flera diken, men av Herren vill jag vänta växten.» Hoch auf Saarijärvis Heide wohnte der Bauer Paavo auf frostgeplagtem Hof, die Erde mit starken Armen pflegend, aber von Gott erwartete er die Ernte. Und er lebte dort mit Kinder und Weib, im Schweiße seines Angesichts ass er sein knappes Brot mit ihnen, grub Gräben, pflügte und säte. Der Frühling kam, und der Schnee schmolz, und damit floß die Hälfte des Getreides weg, der Sommer kam, ein Hagelschauer brach aus, und schlug die Hälfte der Ähren nieder, der Herbst kam, und die Kälte nahm den Rest. Paavos Frau riss ihre Haare und sagte: “Paavo, du unglücklicher Alter, lasst uns den Bettelstab nehmen! Gott hat uns verlassen; Betteln ist schwer, Verhungern noch schlimmer.” Paavo nahm ihre Hand und sagte: “Der Herr prüft nur, er verlässt uns nicht. Mische du zur Hälfte Borke ins Brot, ich werde doppelt so viele Gräben graben, doch von Gott will ich die Ernte erwarten.” Gleichzeitig mit seiner ersten Gedichtsammlung arbeitete Runeberg auch an einem epischen Werk, dem erzählenden Gedicht Elgskyttarne (’Elchjäger’, 1832). Dieses Bauernepos, in dem er das Volksleben detailliert und recht idealisierend beschreibt, ist in Hexametern geschrieben. Auch wenn die “Elchjäger” eine Art Bauernidylle ist, kann man auch daran zentrale Elemente der finnischen Volksdarstellung erkennen: den tapferen aber auch etwas einfachen Volksmenschen, dessen Leben ein Überlebenskampf in der wilden finnischen Natur ist. Die Volksdarstellung hat in der finnischen Literatur seitdem eine lange Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Runeberg, Snellman, Lönnrot, Topelius
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Tradition, die sich nach Runeberg in der finnischprachigen Prosa von Aleksis Kivi bis spätestens nach Väinö Linna fortsetzt. An den Werken von Runeberg sieht man, wie großen Wert man noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf epische Dichtung legte. Ein eigenes finnischsprachiges Epos wäre etwas ganz Großartiges gewesen, und an der Volksdichtung hatte man generell Interesse, aber Runeberg sowie viele andere Gebildeten der Zeit waren wegen mangelnder oder gar fehlender Finnisch-­‐‑
kenntnisse nicht in der Lage so etwas zu konzipieren. Statt dessen blieb Runeberg bei den antiken Versmaßen und schrieb noch zwei Hexameterepen: Das Poem Hanna (1836) lobt die junge Liebe in einer kleinbürgerlichen Biedermeieridylle in einem Pfarrhaus. Die dritte Hexameterdichtung Julkvällen (Weihnachtsabend, 1841) spielt in einem Gutshof. Auf diese Weise schaffen die Hexameter-­‐‑Epen von Runeberg ein Bild verschiedener gesellschaftlicher Schichten der damaligen finnischen Gesellschaft. Als Julkvällen erschien, war es Runeberg klar geworden, dass seine akademische Karriere an der Helsinkier Universität nicht weitergehen kann. Deswegen musste er die inspirierenden Kreise der Samstagsgesellschaft ver-­‐‑
lassen und sich etwas anderes einfallen lassen. Er zog bereits 1837 nach Porvoo/Borgå und arbeitete da als Lektor an einem Gymnasium. Auch wenn Runeberg ein meisterhafter Naturlyriker ist und ein Autor der idyllischen Kleinepen, kennt man ihn in Finnland eher als patriotischen Dichter, meistens von einem anderen, späteren Werk, das das Finnenbild ganz im Sinne der damaligen Fennomanie idealisierte. Daraus entwickelte sich fast ein Runeberg-­‐‑Kult schon zu seinen Lebzeiten. Es handelt sich um das Werk Fänrik Ståls sägner (Die Sagen des Fähnrich Stahl, 1848, zweiter Band 1860). Es ist eine Sammlung romantischer, erzählender Kriegsgedichte, die die heldenhaften Taten der Finnen im Schwedisch-­‐‑Russischen Krieg 1808-­‐‑09 schildern. Der erste Band dieser Gedichte kam im europäischen Revolutionsjahr 1848 heraus, und die Gedichte erhoben Runeberg zum Nationaldichter Finnlands, als welcher er schon zu seinen Lebzeiten gefeiert wurde. In den Gedichten kommen treue, mutige und anspruchslose Soldaten vor, die laut der damaligen Auffassung die grundlegenden Eigenschaften der Finnen repräsentieren: Tapferkeit, Zähigkeit, Bescheidenheit, Selbstlosigkeit und eine gewisse Religiosität. Runeberg gab der namenlosen, gesichtslosen, von den Bildungsbürgern geringgeschätzten Masse – dem einfachen finnischsprachigen Volk – Personalität, Individualität und Menschenwürde. Die idealisierten Helden wurden Vorbilder der späteren Generationen, zum Beispiel Sven Dufva, ein dummer und einfältiger, aber gütiger und tapferer Mensch. Sven verteidigt eine Brücke alleine gegen eine große Schar von Feinden, und nach seinem Heldentod meint der General: "Den kulan visste hur den tog, det måste erkänt bli", Så talte generalen blott, "den visste mer än vi; Det lät hans panna bli i fred, ty den var klen och arm, Och höll sig till vad bättre var, hans ädla, tappra barm." ‘Dieses Geschoss kannte sein Ziel, das muss man erkennen’, so sagte der General nur, ‘es wusste mehr als wir; es ließ seine Stirn in Frieden, denn die war schwach und armselig, Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Runeberg, Snellman, Lönnrot, Topelius
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und wählte das Bessere, sein edles, tapferes Herz.’ Das Eröffnungsgedicht Vårt land (Unser Land) wurde bereits 1848 von dem in Helsinki niedergelassenen deutschen Komponisten Friedrich (Fredrik) Pacius komponiert und von Studenten der Universität Helsinki uraufgeführt. Das Gedicht beschreibt das finnische Land und schafft eine patriotische Stimmung ohne kriegerische Gefühle, die sich vielleicht gegen einer anderen Nation richten würden. Der Begriff des Vaterlandes konkretisiert sich in der unberührten Natur. Das Gedicht wurde später zur finnischen Nationalhymne. Vårt land Vårt land, vårt land, vårt fosterland, Ljud högt, o dyra ord! Ej lyfts en höjd mot himlens rand, Ej sänks en dal, ej sköljs en strand, Mer älskad än vår bygd i nord, Än våra fäders jord. Din blomning, sluten än i knopp, Skall mogna ur sitt tvång; Se, ur vår kärlek skall gå opp Ditt ljus, din glans, din fröjd, ditt hopp. Och högre klinga skall en gång Vår fosterländska sång. O Heimat, Finnland, unser Land Kling laut, du teures Wort! Kein Land, so weit der Himmelsrand. Kein Land mit Berg und Tal und Strand Wird mehr geliebt als unser Nord, Hier unsrer Väter Hort. Einst ringt sich deine Blüte los Reif aus der Knospe Zwang. Ja, einst aus unsrer Liebe Schoß Geht auf dein Hoffen, licht und groß. Und unser Vaterlandsgesang Erschallt in höherm Klang. (dt.: Wolrad Eigenbrodt) Maamme gesungen: http://www.youtube.com/watch?v=KSlAuPOUew4 Maamme Oi maamme, Suomi, synnyinmaa, soi, sana kultainen! Ei laaksoa, ei kukkulaa, ei vettä, rantaa rakkaampaa kuin kotimaa tää pohjoinen, maa kallis isien. Sun kukoistukses kuorestaan viel kerran puhkeaa, viel lempemme saa hehkullaan sun toivos, riemus nousemaan, ja kerran laulus, synnyinmaa, korkeemman kaiun saa. (fi.: Paavo Cajander) Elias Lönnrot (1802-1884) und sein Kalevala
Heute kennt man Elias Lönnrot als Sammler der Volksdichtung und Herausgeber der Werke Kalevala und Kanteletar. Die zweite wichtige Arbeit, die Lönnrot leistete, war die Entwicklung der finnischen Schriftsprache. Seine Wirkung an der Schriftsprache war die größte seit Agricola. Finnisch musste nach den Idealen der Fennomanie zu einer Kultursprache entwickelt werden, aber auf welche Weise, darüber waren die Wissenschaftler nicht einig. Die bisherige Schriftsprache basierte auf westlichen Dialekten, und die Rolle der östlichen Dialekte sollte gestärkt werden. Lönnrots Vorgehensweise war ein Kompromiss: vor allem in der Morphologie und Syntax blieb Finnisch auf westlicher Basis, man nahm aber viel Wortschatz aus dem Osten. Als Ergebnis entstand eine Schriftsprache, die keinem ganz fremdartig oder unverständlich erschien. Lönnrot entwickelte auch Bildungs-­‐‑ und Kulturvokabular, das im Finnischen fehlte. Darüber hinaus arbeitete Lönnrot als Arzt und entwickelte den finnischen Wortschatz besonders im Bereich der Medizin und Naturwissen-­‐‑
schaften. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Runeberg, Snellman, Lönnrot, Topelius
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Zu der Zeit, als Lönnrot sein Werk begann, legte man große Wert auf Volksdichtung als etwas Ursprüngliches, von der Natur-­‐‑ und Volksgeist entstandenes. Kalevala und Kanteletar, selbst wenn sie auf Volksdichtung basieren, sind aber von Lönnrot zusammengestellte Werke, und die Rolle Lönnrots bei der Überarbeitung und Konzipierung der Kalevala-­‐‑Dichtung ist viel größer, als die Zeitgenossen es dachten. Dies hat die spätere Forschung gezeigt. Die ersten Inspirationen zur Sammlung der finnischen Volksdichtung hatte Lönnrot bereits zu seiner Studienzeiten in Turku bekommen, in Kreise der Turkuer Romantik. Lönnrots Lehrer Reinhold von Becker hatte schon in 1820 in der Zeitung Turun Viikko-­‐‑Sanomat eine auf Volksdichtung basierende Darstellung über den mythischen Kulturheros Väinämöinen veröffentlicht. Auch einige andere Gelehrte hatten bereits in den 1820ern Volksdichtung veröffentlicht, z.B. C. A. Gottlund, H. R. von Schröter, Z. Topelius der Ältere, der Vater von Z. Topelius (s. unten). Lönnrot setzte die Arbeit seiner Vorgänger fort und veröffentlichte auf Latein eine Studie über Väinämöinen (De Väinämöine, 1827). Als der Brand von Turku sein Studium abbrach, begann er seine erste Reise zu den Volkssängern; als deren Ergebnis veröffentlichte er vier Hefte Volksdichtung unter dem Titel Kantele (‘Die Zither’, 1829-­‐‑31). Auf Grund dieser und weiterer Volksgedichte gab er dann 1833 die erste Version von Kalevala aus (Runokokous Väinämöisestä, ’Eine Gedichtsammlung über Väinämöinen’). Diese erste Version von Kalevala (Alku-­‐‑
Kalevala, Ur-­‐‑Kalevala) beinhaltete 16 Lieder und insgesamt über 5000 Verse. Lönnrot unternahm weitere Sammelreisen in Ostfinnland und Karelien, und auf seiner fünften Reise traf er den berühmten und begabten Sänger Arhippa Perttunen, von dem er einen vollständigeren Sampo-­‐‑Zyklus aufschrieb. In 1835 gab er die bisher gesammelten Gedichte unter dem Titel Kalevala heraus. Heute ist diese Version bekannt als Vanha Kalevala (‘das Alte Kalevala’; 32 Lieder, 12000 Verse), welches sich im Laufe der Jahre zu einer fast doppelt so umfangreichen Neuen Kalevala (Uusi Kalevala) erweiterte (50 Lieder, 23000 Verse). Diese Version von Kalevala lesen wir noch heute. Zwischen den beiden Kalevala-­‐‑Versionen erschien noch die Sammlung der lyrischen Gedichte Kanteletar (1840-­‐‑41), deren Wirkung im Neuen Kalevala spürbar ist. Die Frage der Authentizität spielte am Anfang eine zentrale Rolle. Das heutige Kalevala ist ein ganzes Epos mit einer einheitlichen Handlung, aber gab es so etwas schon früher? Gab es irgendwann einmal in der Vergangenheit einen begabten Sänger, der das ganze Epos, so wie wir es jetzt kennen, hätte singen können? Und ist dieses Epos dann von Sänger zu Sänger überliefert worden, bis wir nur noch Fragmente davon hatten, die dann Lönnrot als ”letzter großer Sänger” rettete und in ihrer ursprünglichen Form wiederherstellte? Für die Ideologie der Fennomanen hätte diese Denkweise gepasst. Das hätte das Alter des finnischen Kulturvolkes beweisen können, und somit auch den Wert der Finnen als Kulturvolk. Leider ist die Wahrheit anders. Kalevala basiert auf echter Volksdichtung, aber laut Laitinen (s. 182) glaubte selbst Lönnrot wohl nicht lange an die Existenz eines ursprünglichen einheitlichen Epos. Doch verstand Lönnrot den epischen Charakter der Volksdichtung und sah ein, dass man daraus ein einheitliches Epos kompilieren kann. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Runeberg, Snellman, Lönnrot, Topelius
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Die Rolle Lönnrots bei der Zusammenstellung des Kalevala ist enorm. Die ursprünglichen Volksdichtungssammlungen befinden sich im Archiv der Finnischen Literaturgesellschaft (vieles ist auch veröffentlicht worden in der massiven Publikationsreihe Suomen kansan vanhat runot, ’Die alten Gedichte des finnischen Volkes’), und es ist genau dokumentiert worden, was von wem gesungen wurde, und von wem und wo das aufgeschrieben wurde. Wenn man diese Originallieder mit dem Kalevala vergleicht, sieht man zum Beispiel, dass in manchen Versionen die gleichen Heldentaten von verschiedenen Helden ausgeübt wurden: der Held heißt mal Väinämöinen, mal Joukahainen oder Lemminkäinen. Beim Vergleichen wird einem klar, wie Lönnrot arbeitete: Er wählte die besten Verse von verschiedenen Variationen, stellte sie in einer passenden Reihenfolge zusammen, tauschte Verse und schrieb auch selber neue. Auch das zentrale Thema des Kalevala, der Kampf zwischen den Völkern in Pohjola und Kalevala, dürfte von Lönnrot stammen. In den Originaltexten wird die Ortschaft Kalevala nur selten erwähnt, und der Gegensatz zwischen Kalevala und Pohjola ist nicht besonders stark dargestellt. Erst im Neuen Kalevala wird diese Gegensatz wichtiger und steigt mit den Gedichten, wo der Kampf um das Licht das zentrale Thema ist, auf eine symbolische Ebene: Der Kampf zwischen Kalevala und Pohjola wird auch ein Kampf gegen die dunklen Mächte, ein Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen. Auch wenn das Kalevala nicht authentisch “im Volksmund” sondern auf Lönnrots Schreibtisch entstand, war die nationale und kulturhistorische Bedeutung des Kalevala und der Kanteletar enorm: Es bestätigte sich, dass auch auf Finnisch großartige Dichtung geschaffen werden kann (und geschaffen worden ist). Auf im Ausland öffneten sich neue Perspektiven: Ziemlich bald nach der Erscheinung erfolgten die ersten Übersetzungen, die allen ein neues Sprachgebiet und eine neue Mythologie präsentierte. Selbst die schwedischsprachige Elite in Finnland begann seine Meinung über die finnische Sprache zu ändern. Bereits die erste Fassung, das Alte Kalevala, wurde 1841 ins Schwedische übersetzt, und das Neue Kalevala schon drei Jahre nach dem Erscheinen ins Deutsche (1852), später ins Französische (1867) und ins Englische (1888). Zu Entstehung und Inhalt von Kalevala lesen Sie bitte noch folgenden Artikel auf Deutsch: Kalevala – das Nationalepos der Finnen (die Seite stammt von der Herausgeber Kalevalas, Gesellschaft der Finnischen Literatur, und dient als seriöse und vertrauenswürdige Quelle in Sachen Kalevala und Volksdichtung. Den Artikel findet man an der rechten Spalte, wo auch der Inhalt des Kalevala kurz zusammengefasst ist): http://www.finlit.fi/kalevala/index.php?m=227&l=9 In dem Artikel finden Sie auch einige Antworten auf die Wiederholungsfragen am Ende dieses Kapitels. Johan Wilhelm Snellman (1806-1881)
Johan Vilhelm Snellman kennt man als den ”Nationalphilosophen Finnlands”. Er wurde zwar in Stockholm geboren, aber später kehrte seine Familie in ihre Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Runeberg, Snellman, Lönnrot, Topelius
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Heimat im schwedischsprachigen Ostbottnien zurück. Er ging zur Schule in Oulu, studierte gleichzeitig mit Lönnrot und Runeberg in Turku, und leistete seinen Beitrag zur Fennomanie eigentlich außerhalb der Literatur. Dennoch ist seine Rolle im Schaffen und Entwickeln der finnischen Hochkultur und Gesellschaft sehr wichtig. Sein philosophisches Vorbild war vor allem Hegel, nach dessen Gedanken er auch seine Prinzipien zur Entwicklung der finnischen Kultur und Staat entwickelte. Snellmans philosophische Werke erschienen zur gleichen Zeit wie Lönnrots Kalevala, was seine Rolle als Nationalphilosoph Finnlands stärkte. Vor seiner Zeit waren Finnland und das Finnentum nur in einigen, schon vergessenen Gedichten präsent, aber plötzlich bekam das finnische Volk solche Werke wie Kalevala und Fähnrich Stahl, die das wahre Finnentum widerspiegelten. Für Snellman lag die Rolle der Literatur gerade darin: Eine Nation soll sein eigenes Bild in der Literatur sehen, um ihre Identität damit weiter zu entwickeln. In dem literarischen Kreis, wo er die bereits erwähnten Runeberg und Lönnrot kennen lernte, wurde er davon überzeugt, dass die Literatur eine zentrale Rolle im geistigen Leben des Volkes spielt. Bald verließ Snellman jedoch die akademischen Kreise in Finnland und unternahm Auslandsreisen, während deren er seine wichtigsten Werke veröffentlichte: Die Idee der Persönlichkeit (1841 in Deutschland) und Läran om Staten (’Staatslehre’, 1842, in Schweden). Seine Meinungen über die Literatur hat er nie in einem einheitlichen Werk veröffentlicht, aber sie werden aus seinen anderen Schriften deutlich. Besonders nach seiner Rückkehr nach Finnland war er davon überzeugt, dass die finnische Nation im gewissen Sinne “gelähmt” war; diese Situation könnte man nur durch sukzessive Entwicklung der Identität und Literatur überwinden. Das Volk müsste seiner und seiner nationalen Eigenart bewusst werden. Er entwickelte den Begriff ”Nationalliteratur”, die (laut Laitinen zusammengefasst, s. 174): 1.
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in der Sprache des Volkes fest verankert ist die für die Nation typische geistige Entwicklung ausdrückt das nationale Bewusstsein fördert als Vorbild für die Nation dient den Nationalgeist, woraus sie entstanden ist, aufrecht erhält und die Voraussetzung für die ganze Bildung darstellt. In Deutschland und in Schweden wurde die Philosophie von Snellman hoch geschätzt, aber die finnische Universität bot ihm keine Karrieremöglichkeiten. Trotzdem blieb er in Finnland, zog nach Kuopio und setzte seine Arbeit dort als Schulleiter fort. Während seiner Zeit in Kuopio veröffentlichte er die bereits erwähnten Zeitschriften, die schwedischsprachigen Saima und Litteraturblad sowie das finnischsprachige Maamiehen ystävä (‘Freund des Bauern’). In seinen Zeitschriften behandelt er neben wirtschaftlichen und politischen Fragen auch die Stellung der finnischen Sprache, Literatur und Bildung. Nach dem Tod des Zaren Nikolaus I wurde die gesellschaftliche Situation etwas liberaler, und auch Snellman kam auf solche Posten, wo er seine Gedanken umsetzen konnte. 1856 wurde er Professor für Philosophie, und 1863 sogar Senator. Als Senator erreichte er zum Beispiel das Sprachgesetz, das die finnische Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Runeberg, Snellman, Lönnrot, Topelius
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Sprache mit dem Schwedischen gleichstellte, und etwas später durch seinen Einfluss, bekam Finnland auch eine eigene Währung. Ab den 1860ern hat er dann endlich auch sehen können, wie seine Ideologie wahr wurde, und es entstand auch eine neue finnischsprachige Literatur. Snellmans Auffassungen über die gesellschaftliche Entwicklung waren zum Teil nicht im Einklang mit den Erwartungen der Fennomanen. Anders als die Romantiker, die die finnische Identität auf große historische Vorbilder wie im Fänrik Stål oder in der Volksdichtung aufbauen wollten, war Snellman eher zukunftsorientiert. Er meinte, die Literatur könne nicht alleine die Vorreiterrolle in der nationalen Entwicklung nehmen, vielmehr ist die Sprache die Trägerin der Kultur, und sollte deswegen gefördert werden. Snellman war auch eher ein rationalistischer Patriot: er hielt Finnlands Status als Untertan Russlands für dauerhaft und ideal und legte besondere Wert auf friedliche Entwicklung. Die Romantiker suchten die Legitimation der nationalen Identität in der Vergangenheit, und für sie hatte die Volksdichtung einen absoluten Wert als Ausdrucksform des Volksgeistes. Snellman hingegen sah die Volksdichtung als etwas, was die Vergangenheit repräsentiert und nicht die Anforderungen der Zeit erfüllt. Lesen Sie bitte mehr über Snellman und seinen Konflikt mit den Romantikern auf Seiten 61-­‐‑66 in der Geschichte der finnischen Literatur von Pertti Lassila. Da finden Sie auch einige Antworten auf die unten stehenden Wiederholungsfragen. Zacharias Topelius (1818-98)
Runeberg, Snellman und Lönnrot vervollständigten die Arbeit der Turkuer Romantiker. Ihre Ideen wurden dann wiederum von Zachris (Zacharias) Topelius weiter entwickelt und popularisiert, so dass sie die ideologische Grundlage für die Fennomanie bis weit in das 20. Jahrhundert bildeten. Zachris (Zacharias, in finnischsprachigen Quellen oft in der finnisierten Form Sakari) Topelius stammte, so wie Runeberg und Snellman, aus dem schwedischsprachigen Ostbottnien. Auch wenn er über 10 Jahre jünger als die eben genannten drei waren, hat er es noch geschafft, in den Einflussbereich der Samstagsgesellschaft zu kommen: Runeberg war nämlich sein Privatlehrer. Die Finnen kennen Topelius heute vor allem als ”Märchenonkel” (satusetä Topelius), obwohl diese Bezeichnung wohl etwas zu einseitig ist. Die Märchen, wovon er über 10 Bände herausgab und wodurch er unter Finnen berühmt wurde, gehören immer noch zu den Klassikern der finnischen Kinderliteratur. Eine warme und tolerante Religiosität sowie idealisierter Patriotismus bezeich-­‐‑
nen viele seiner Märchen, aber neben den üblichen erzieherischen Aspekten, ethischen, religiösen und Moralfragen bringt er auch sympathisch lebensfreudige, aktive und abenteuerlustige Kinderhelden in die Literatur. Topelius hat auch anderes für Kinder und vor allem Schulkinder geschrieben: Naturwissenschaften werden in Naturens Bok (‘Buch der Natur’, 1865, fi. Luonnon kirja) den Kindern näher gebracht, und das ganze Finnentum, Geographie, Geschichte und Volkskunde Finnlands in Boken om vårt land (‘Das Buch über unser Land’ 1875; fi. Maamme kirja). Vor allem das letzere wurde als Lesebuch in finnischen Schulen fast hundert Jahre lang benützt. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Runeberg, Snellman, Lönnrot, Topelius
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Die zweite Rolle, die Topelius gerne zugeteilt wird, ist die Rolle des Historikers. In seinen vielen historischen Romanen, davon der bekannteste wohl Fältskärns berättelser (Erzählungen des Feldschers, 1853-­‐‑67, fi. Välskärin kertomuk-­‐‑
sia), erzählt er im romantischen, von patriotisch-­‐‑moralistischer Religiosität geprägten Stil über die Vergangenheit Finnlands. Seine Begeisterung über Geschichte war so groß, dass er später sogar zum Professor der Geschichte wurde, und danach sogar zum Rektor der Universität. Literarisch gesehen hat Topelius praktisch die Gattung des historischen Romans in Finnland gegründet, aber er war auch einer der führenden Journalisten und Lyriker seiner Zeit. Viele seiner Gedichte leben als Lieder weiter. Sogar das erste finnische Opernlibretto stammt von ihm: Kung Karls jakt (‘Die Jagd des Königs Karl’, 1852), ebenfalls mit einem historischen Thema, wurde vom Fredrik Pacius komponiert. Wie wir bereits gelernt haben, waren Snellman und die romantisch-­‐‑
orientierten Fennomanen teilweise unterschiedlicher Meinung darüber, wie man die finnische Identität und Kultur am besten unterstützt. Pertti Lassila meint, Topelius hätte die gegensätzlichen Auffassungen Runebergs und Snellmanns zu einer organischen, leicht anzueignenden Vaterlandsidee zusammengeführt. Was meint er damit? Lesen sie mehr über Topelius und über seine ”Nationale Synthese” in Lassila: Geschichte der finnischen Literatur, s. 66-­‐‑71. Wiederholungsfragen
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Wer ist Saarijärven Paavo? Wie würden Sie ihn beschreiben? Welche Epen hat Runeberg geschrieben? Worüber erzählt Fänrik Ståls sägner? Wie ist das Finnenbild in den Werken Runebergs? Aus welchem Werk stammt die finnische Nationalhymne? Wie war das Verhalten Runebergs zur Volksdichtung? Man sagt, dass Lönnrot der „zweite Vater der finnischen Schriftsprache“ ist. Warum? Welche Versionen von Kalevala gibt es? Welches von denen lesen wir heute? Kann man sagen, dass Kalevala authentische Volksdichtung ist? Warum? Was ist das zentrale Thema von Kalevala? Wer oder was sind: Väinämöinen, Joukahainen, Ilmarinen, Lemminkäinen, Kullervo, Sampo, Tuonela und Louhi? Aus welcher Region stammen die Kalevala-­‐‑Gesänge größtenteils? Wer war J. V. Snellman? Inwiefern waren die Auffassungen von Snellman und den Romantikern unterschiedlich, wenn es um die nationale Entwicklung ging? Wie hat Topelius die Ideen der Fennomanen an den nächsten Generationen weitergeleitet? Was ist Fältskärns berättelser? Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Runeberg, Snellman, Lönnrot, Topelius
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Begleitende Lektüre
Lassila, Pertti 1996: Geschichte der finnischen Literatur. A. Francke Verlag Tübingen und Basel. s. 49-­‐‑71 Weiterführende Lektüre
Laitinen, Kai 1997: Suomen kirjallisuuden historia. 4. Auflage. Otava, Helsinki. Laitinen, Kai 1989: Finnische Literatur im Überblick. Otava, Helsinki. Die gesammelte finnische Volksdichtung, die in Suomen kansan vanhat runot (1908-­‐‑1947) veröffentlicht wurde, ist digitalisiert worden, und Sie können das Material auch online durchblättern, und Verse z.B. nach Sänger, Sammler oder Ort suchen: http://dbgw.finlit.fi/skvr/ evsl
skriptum
Institut
für
Europäische
Vergleichende
SprachLiteraturwissenschaft
Abteilung Finno-Ugristik
zur
Lehrveranstaltung
Literaturgeschichte
und
und
Finnische
DAS SCHAFFEN DER FINNISCHSPRACHIGEN LITERATUR
Lernziele: Die Ausgangspunkte und Pioniere der finnischsprachigen Belletristik zu kennen. Die Literatur vor Aleksis Kivi
Die Helsinkier Romantik, die sich aus der Turkuer Romantik weiterentwickelte, war überwiegend schwedischsprachig. Das gesamte Werk von Runeberg und Topelius war auf Schwedisch, auch wenn beide als Schriftsteller der ganzen Nation gesehen wurden. Snellman förderte die finnische Sprache in der Politik und in seinen philosophischen Schriften, aber alles erschien auf Schwedisch. Sogar Lönnrot, Sohn einer finnischsprachigen Familie, hatte – wie alle seine Zeitgenossen – Schwedisch als Bildungssprache; als Professor hielt er zwar die ersten finnischsprachigen Vorlesungen der Universität Helsinki 1856, aber auch er veröffentlichte teils auf Schwedisch. Das große Problem der finnischen Hochkultur war, dass es sie auf Finnisch kaum gab. Finnisch musste zu dem ihm angemessenen Status als Kultursprache gelangen, zur Sprache der Bildung, Forschung und Literatur. Das Interesse an der volkstümlichen Kultur und Volksdichtung der Finnen war groß, aber das reichte nicht mehr aus. Neue finnischsprachige Literatur musste geschaffen werden. Nach dem neuen Kalevala (1849) und vor Aleksis Kivi erschien nur ganz wenig finnischsprachige Literatur. Im Jahre 1850 wurde ein Zensurgesetz erlassen – eigentlich als Folge der Unruhen in Europa nach dem “verrückten Jahr” 1848: auch im russischen Reich, so wie in vielen anderen europäischen Staaten, hatten die Machthaber Angst vor antimonarchistischen und revolutionären Ideen. Dieses Gesetz verbot die Veröffentlichung finnischsprachiger Werke fast zur Gänze: nur wirtschaftliche und religiöse Literatur war erlaubt. Erst als die Zensur aufgelockert und in 1860 ganz aufgehoben wurde, gab es Platz für Literatur auf Finnisch. Besonders in den 1860er Jahren erlebte die finnische Literatur mit den Werken von Aleksis Kivi ihren ersten richtigen Aufschwung. Oft wird behauptet, dass Aleksis Kivi der Begründer des finnischsprachigen Dramas und des finnischsprachigen Romans sei, aber dies stimmt nicht ganz. Es gab ein paar Vorgänger. Vor dem Zensurgesetz hatte Pietari Hannikainen (1813-­‐‑
1899) seine Karriere angefangen. Hannikainen gab in Viipuri die Zeitung Kanava Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Finnischsprachige Literatur vor Aleksis
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2 (‘Kanal’) heraus und veröffentlichte darin seine ersten Werke. Die Farce Silmänkääntäjä (‘Der Gaukler’; veröffentlicht 1845, geschrieben bereits 1838) ist das erste bühnentaugliche Schauspiel auf Finnisch. Einige eher hilflose Versuche in diesem Bereich hat es schon früher gegeben, aber auf die Bühne kamen sie nie. Einige Jahre später haben die Dramen von Aleksis Kivi die finnische Bühnen-­‐‑
kunst auf eine ganz andere Ebene erhoben, sodass man die Pionierleistung Hannikainens oft vergisst. In Kanava veröffentlichte Hannikainen auch die Komödie Anttonius Plutonius, die eine finnischsprachige Adaptation der Komödie Erasmus Montanus von Ludvig Holberg ist. In 1859 war dieses Stück von Hannikainen ein Erfolg auf der studentischen Bühne in Helsinki. Neben einigen anderen Theaterstücken schrieb Hannikainen auch einige Gedichte, Kurzgeschichten sowie historische Erzählungen. Aus der Zeit vor Aleksis Kivi ist noch Karl Jakob Gummerus (1840-­‐‑1898) zu erwähnen. Seine Pionierleistung ist der überromantische Roman Ylhäiset ja alhaiset (‘Edle und niedere Leute’), die im selben Jahr wie Kivis Seitsemän veljestä erschien (1870), aber eigentlich schon 1864 in der Zeitung Suometar veröffentlicht wurde, unter dem Titel Johannes, töllin lapsi (‘Johannes, Kind einer Hütte’). Verglichen mit Kivis “Sieben Brüdern” ist der Roman von Gummerus eher eine bescheidene Leistung. Gummerus schrieb auch viele Kurzgeschichten, die er uutelo nannte; das Wort (geleitet aus uusi ‘neu’) sollte der neue finnische Terminus für “Novelle” sein, ist aber nicht im Sprachgebrauch geblieben. Oksanen und Suonio
Nach Juteini und Kallio traten nur wenige finnischsprachige Dichter vor, deren Texte man kaum noch kennt, es sei denn, sie sind als Lieder bekannt geblieben, wie zum Beispiel das Gedicht Koto-­‐‑maamme (‘Unser Heimatland’, 1863) von Johan (später Juhana) Fredrik Granlund (1809-­‐‑1874). Das Lied beginnt mit den Zeilen Täällä Pohjantähden alla on nyt kotomaamme / mutta tähtein tuolla puolen toisen kodon saamme (‘Hier unter dem Nordstern ist jetzt unsere Heimat / aber jenseits der Sterne werden wir einst ein anderes Heim bekommen’), und nach diesem Vers nannte fast hundert Jahre später Väinö Linna seine realistische Roman-­‐‑
trilogie Täällä Pohjantähden alla. In den 1860ern kamen aber aus den akademi-­‐‑
schen Kreisen zwei Dichter heraus, deren Werk der finnischen Dichtung Schwung verlieh. A. Oksanen (aus oksa ‘Zweig’, auf Schwedisch kvist) war ein Pseudonym, mit dem August Ahlqvist (1826-­‐‑89), Professor an der Universität Helsinki, seine Gedichtsammlungen veröffentlichte. Er wollte somit seine zwei Rollen, den des Dichters und den des Wissenschaftlers, getrennt halten. Als Wissenschaftler war er einer der Pioniere der finnisch-­‐‑ugrischen Sprachwissenschaft, wurde nach Lönnrot Professor für finnische Sprache und später auch Rektor der Universität Helsinki. Er war auch einer der Gründer der fennomanen Zeitung Suometar und der führende Literaturkritiker seiner Zeit. Als Dichter wollte Oksanen zeigen, dass man sowohl klassische als auch neuere Versmaße in der finnischen Dichtung benützen kann. Verstechnische Interessen sind in seiner Dichtung spürbar. Seine bekanntesten Gedichte sind vom Thema her oft patriotisch nach dem Vorbild von Runeberg. Unter anderem Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Finnischsprachige Literatur vor Aleksis
Kivi
3 in Savolaisten laulu (‘Lied der Savoer’, bis heute die Hymne der Provinz Savo in Ostfinnland) ist die Wirkung von Runeberg spürbar. Die Naturidylle steht im Mittelpunkt, sowie die heldenhaften Kämpfe im selben Geist wie bei “Fähnrich Stahl”. Savolaisten laulu (Auszüge) Mun muistuu mieleheni nyt suloinen Savonmaa. Sen kansa kaikki kärsinyt ja onnehensa tyytynyt, tää armas, kallis maa! Kuin korkeat sen kukkulat, kuin vaarat loistoisat! Ja laaksot kuinka rauhaisat, ja lehdot kuinka vilppahat, kuin tummat siimehet! Sen salot kuin siniset on, puut kuinka tuuheat, ja kuin humina hongikon syv' on ja jylhä, ponneton, ja tuulet lauhkeat! -­‐-­‐ Jos kielin voisi kertoa näkönsä vanhat puut, ja meidän vaarat virkkoa, ja meidän laaksot lausua, sanella salmensuut; Niin niistäpä useampi hyv' ois todistamaan: "Täss' Savon joukko tappeli, ja joka kynsi kylmeni edestä Suomenmaan!" Siis maat' en muuta tietää voi Savoa kalliimpaa, ja mulle ei mikään niin soi kaikesta, minkä Luoja loi, kuin: "armas Savonmaa!" Ich erinnere mich jetzt an das liebliche Savoland. Dessen Volk, das alles durchgelitten und sich mit seinem Los zufriedengegeben hat, das liebe, teure Land! Wie hoch sind seine Hügel, wie prächtig seine Berge! Und die Täler wie friedlich, und die Haine wie kühl, wie dunkel die Schatten! Wie blau schimmern seine Wälder, wie üppig sind seine Bäume, und das Rauschen des Kiefernwaldes wie tief ist es und stark, doch zart, und lieblich die Winde! -­‐-­‐ Wenn mit Worten erzählen könnten die alten Bäume, was sie gesehen, und unsere Berge, könnten sie sprechen, und unsere Täler, könnten sie sagen, unsere Wasserstraßen erzählen; So könnten viele von ihnen ihr Zeugnis ablegen: “Hier kämpfte das Heer von Savo, und jeder Mann fiel für Finnland!” So kann ich kein anderes Land kennen, das teurer wäre als Savo, und mir klingt nichts in allem, was der Schöpfer geschaffen hat, anders als: “Du liebes Savoland!” Im Gedicht Suomen valta (‘Die Macht des Finnischen/Finnlands’) sieht man schon die Gedanken über die Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit der finnougrischen Völker: Die Macht Finnlands reicht in der letzten Strophe weit über ihre Grenzen hinaus, bis zum Onegasee und zum Weißen Meer im russischen Karelien. Nouse, riennä Suomen kieli, korkealle kaikumaan! Suomen kieli, Suomen mieli, niiss' on suoja Suomenmaan; yksi mieli, yksi kieli, Väinön kansan soinnuttaa. Nouse, riennä, Suomen kieli, Stehe auf, eile, finnische Sprache, und klinge laut! Die finnische Sprache, der finnische Sinn, darin ist der Schutz Finnlands; Eintracht, eine Sprache, Einklang für das Volk des Väinämöinen. Stehe auf, eile, finnische Sprache, Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Finnischsprachige Literatur vor Aleksis
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korkealle kaikumaan! Suomalaisen kuokka, aura, kyntäneet on Suomenmaan; kasvoi vehnä taikka kaura, maa on meidän perkamaa. Kelläs täss' ois äänen vuoro meidän maata johdattaa? Nouse siis, sä Suomen kieli, korkealle kaikumaan! Suomalainen yksin kesti ruton, näljän aikana, yksin miekallansa esti vihoillisen maastansa; suomalain' siis yksin käyköön käsin ohjiin onnensa. Nouse, nouse, Suomen kieli, korkealle kaikumaan! Äänisjärvi, Pohjanlahti, Auranrannat, Vienansuu, siin' on, suomalainen, mahti, jok' ei oo kenenkään muun, sillä maalla sie oot vahti; älä ääntäs halveksu! Nouse, riennä, Suomen kieli, korkealle kaikumaan! 4 und klinge laut! Die Hacke und der Pflug des Finnen haben Finnland gepflügt; ob da Weizen oder Hafer wächst, wurde das Land von uns gerodet. Wer hat jetzt das Wort, wer soll unser Land führen? Stehe auf also, du finnische Sprache, und klinge laut! Der Finne alleine ist bestanden durch die Zeit der Pest, des Hungers, allein mit seinem Schwert hat er den Feind aus seinem Land abgewehrt; der Finne soll also alleine die Zügel seines Schicksals greifen. Stehe auf, stehe auf, du finnische Sprache, und klinge laut! Der Onegasee, der Bottnische Meerbusen, die Ufer des Auraflusses, die Mündung des Weißen Meeres, da ist, Finne, eine Macht, die sonst niemandem gehört, in diesem Land bist du der Wächter; verachte deine Stimme nicht! Stehe auf, eile, du finnische Sprache, und klinge laut! Während Oksanen Runeberg als sein Vorbild hatte und oft zu ähnlichem patriotischen Idealismus neigte, ähnelt die Dichtung von Suonio laut Laitinen mehr der von Topelius. Hinter dem Pseudonym Suonio steckt Julius Krohn (1835-­‐‑88), Sohn einer deutschstämmigen Kaufmannsfamilie aus Viipuri, auch Publizist, Übersetzer, Volksdichtungsforscher und extraord. Professor für Finnisch an der Universität Helsinki. (Sein Sohn Ilmari wurde der Gründervater der finnischen Musikwissenschaft, sein Sohn Kaarle ein weltberühmter Folklorist, seine Tochter Aino – später als Aino Kallas bekannt – eine bedeutende Schrift-­‐‑
stellerin, und bis zum heutigen Tag gibt es in Finnland prominente Kultur-­‐‑
schaffende aus der Familie Krohn.) Schon zu seiner Schulzeit zeigte er Interesse an der finnischen Bildung, sogar so sehr, dass er sich entschied, in seinem eigenen Heim nur Finnisch als Haussprache zu verwenden. (Damit musste sich auch seine schwedisch erzogene Jungvermählte zufrieden geben, die am Anfang ihrer Ehe kein Wort Finnisch verstand. Solch dramatischer Sprachtausch war damals nicht unüblich in den nationalistisch gesinnten, aber schwedisch erzogenen gebildeten Familien.) Auf Finnisch schrieb er auch seine Gedichte, die in verschiedenen Sammlungen unter dem Titel Runoelmia (‘Dichtung’, 1865, 1869, 1897) veröffentlicht wurden. Ähnlich wie Oksanen waren auch Suonio die Versmaße in seiner Dichtung wichtig. Er operiert viel mit der Silbenlänge, nicht so sehr mit der Wortbetonung, was seine Dichtung manchmal etwas belastet. Laut Laitinen haben erst spätere Dichter wirklich verstanden, dass die Wortbetonung in den finnischsprachigen Versmaßen eine wichtigere Rolle spielt als die Silbenstruktur. Die Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Finnischsprachige Literatur vor Aleksis
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5 Weltanschauung in Suonios Gedichten ist zutiefst christlich und human -­‐‑ und patriotisch im topelianischen Sinn: Varpunen Jos ruikutella voisin Ma kielin sataisin, Tai kiurusena oisin Kohoova pilvihin, Ma aina kiitteleisin Suloista Suomea, Ja Jumalalle veisin Ma huokauksensa. Hän silmäns' ehkä loisi Myös meihin raukkoihin, Ja päivän paistaa soisi Saloihin synkkihin. Vaan mull' ei ääni suotu Oo satakielisen, Heikoksi siipi luotu Ei kanna taivaasen. Vaan laulustani kuiten En huoli vaieta, Kun ääni lintuin muitten Ei kuulu talvella. Parempii laulajoita Keväällä ehtinee, Niin kuulellessaan noita Jo varpu vaikenee. Der Spatz Ach, könnte ich nur singen so wie die Nachtigall, wie auf der Lerche Schwingen hoch fliegen bis zum All Das schöne Land der Finnen würd’ ich dann loben laut dem lieben Gott schnell bringen all deren Sorgen auch. Es liegt in seinen Händen, dass in den düst’ren Wald die Sonne ihre Wärme auf arme Finnen strahlt. Doch auch wenn ich dann singe, Klingt es wohl nicht so fein, und kann nicht bis zum Himmel die Flüglein sind zu klein. Ich sing im Winter weiter, was soll das Schweigen dort wo keine guten Sänger -­‐ die Anderen sind fort. Die Meistersänger kommen im Frühling wieder heim, und muss dann wieder schweigen das kleine Vögelein. (M.K.) Bei Suonio findet man jedoch auch radikalere patriotische Töne, wie zum Beispiel im Suksimiehen laulu. Nachdem die Skiläufer-­‐‑Buben einen Bären umgebracht haben, steigt der Kampf gegen den Bären auf eine ganz andere, symbolische Ebene (Übersetzung: Otto Manninen):
Suksimiehen laulu. Ylös, Suomen pojat nuoret, Ulos sukset survaiskaa! Lumi peittää laaksot, vuoret, Hyv' on meidän luisuttaa. Jalka potkee, Suksi notkee Sujuilevi sukkelaan. Skiläuferlied Auf! Ihr, Suomis junge Söhne, flink, die Skier macht bereit! Über Berg und Tal uns schöne, weiße Bahnen winken weit. Reges Schreiten, leichtes Gleiten! Herrlich trägt der Schnee uns heut! Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Finnischsprachige Literatur vor Aleksis
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Heräs tuuli tuntureilla, Lehahtihe lentämään, -­‐ Sukkelat on sukset meillä, Lähtään, veikot, kiistämään! Saishan koittaa, Kumpi voittaa, Eikö tuulta saavuttais? -­‐-­‐ Vaan kun verivainolainen Suomehemme rynnättää, Silloin saalis toisellainen, Veikot, meitä hiihdättää. Käsi sauvan, Toinen raudan Teräväisen tempoaa, Verihinsä kohta nääntyy Kuka meitä vastustaa, Kenpä pakosalle kääntyy, Senkin suksi saavuttaa. Pelastettu Rakastettu Kohta onpi kotimaa! 6 Aufgeflogen aus dem Bette dort am Felsen ist der Wind. -­‐ Laßt uns rennen um die Wette unsre Skier sind geschwind! Prüft, wer siegen wird im Fliegen, ob der Wind uns wohl entrinnt! -­‐-­‐ Doch wenn je die Feinde blutig fallen ein ins Suomis Land andrem Wilden wird dann mutig auf den Skiern nachgerannt, scharfgeschliffen, Stahl gegriffen Schwert wie Schneestab gleich gewandt. Dem soll bald sein Herzblut rinnen, der zu widerstehn uns wagt; wer auch fliehen will von hinnen, wird auf Skiern schnell erjagt. So Errettung und Entkettung Teures Vaterland, dir tagt. Suonio -­‐‑ oder Krohn -­‐‑ war auch als Übersetzer tätig. Krohn leitete die fennomane Gruppe, die den Fähnrich Stahl von Runeberg ins Finnische übersetzte. Unter anderem basiert die jetzige finnische Übersetzung der finnischen Nationalhymne auf Krohns Übersetzung (1867), auch wenn als Übersetzer meistens Paavo Cajander angegeben wird. Das Jahr 1860 eröffnete ein neues literarisches Jahrzehnt in Finnland, mit vielen Werken: Suonio debütierte im Album Mansikoita ja mustikoita (‘Erdbeeren und Heidelbeeren’), Oksanen veröffentlichte seine Sammlung Säkeniä (‘Funken’), und Runeberg den zweiten Band des Fähnrich Stahl. Auch ein junger Student namens Aleksis Stenvall erregte Aufmerksamkeit: Sein Theaterstück Kullervo wurde mit einem Preis der Finnischen Literaturgesellschaft ausgezeichnet. Wiederholungsfragen
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Warum musste finnischsprachige Literatur „geschaffen“ werden? Was versteht man mit Svekomanie? (Siehe begleitende Lektüre!) Was für Literatur gab es in Finnland vor Aleksis Kivi? Warum ist es problematisch zu behaupten, Aleksis Kivi sei der Begründer von Drama, Lyrik und Roman in Finnland? Warum war das Veröffentlichen der finnischsprachigen Werke in den 1850ern besonders schwer? Beschreiben Sie August Ahlqvist als Dichter und als Wissenschaftler. Wie ist die Stimmung in Suonios Gedichten? Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Finnischsprachige Literatur vor Aleksis
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7 Begleitende Lektüre
Lassila: Geschichte der finnischen Literatur, S. 72-­‐‑75 Weiterführende Lektüre
Lassila, Pertti 1996: Geschichte der finnischen Literatur. A. Francke Verlag Tübingen und Basel. Laitinen, Kai 1997: Suomen kirjallisuuden historia. 4. Auflage. Otava, Helsinki. Laitinen, Kai 1989: Finnische Literatur im Überblick. Otava, Helsinki. evsl
skriptum
Institut
für
Europäische
Vergleichende
SprachLiteraturwissenschaft
Abteilung Finno-Ugristik
zur
Lehrveranstaltung
Literaturgeschichte
und
und
Finnische
ALEKSIS KIVI, DER NATIONALSCHRIFTSTELLER
Lernziele: Das Lebenswerk von Aleksis Kivi und seine Bedeutung für die finnische Literatur kennenlernen. Der Weg des
Literatur
jungen
Alexis
Stenvall
in
die
So wie den Nationalphilosophen Snellman und den Nationaldichter Runeberg, haben die Finnen auch einen Autor, den sie „Nationalschriftsteller“ nennen: Aleksis Kivi (1834-­‐‑72). Ihn kann man auch für den ersten finnischsprachigen professionellen Schriftsteller halten, da er sein ganzes Leben lang keinen anderen Beruf ausübte. Seine intensivste Schöpfungsphase dauerte nur wenige Jahre: seine Werke erschienen zwischen 1864 und 1871. In dieser Zeit schrieb er 12 Theaterstücke, einen Roman und eine Gedichtsammlung. Aleksis Kivi, so wie die Finnen ihn heute kennen – diese Zeichnung stammt wahrscheinlich vom Künstler Albert Edelfelt. Von Kivi entstand zu seinen Lebzeiten kein Porträt (außer einer Silhouette, die laut mündlicher Überlieferung Kivi darstellen soll), weder Gemälde noch Photo; alle Bilder von ihm sind nach einer Zeichnung entstanden, die ein Freund nach seinem Tod erstellte (und die später verloren gegangen ist), und niemand weiß genau, wie der junge Kivi in seinen aktiven Jahren aussah. (Quelle: Wikimedia Commons) Alexis Stenvall, wie er eigentlich hieß, studierte zwischen den Jahren 1859-­‐‑65 an der Kaiserlichen Universität Helsinki. Während seiner Studienzeit kam er in Kontakt mit den Fennomanen und wurde auch ein begeisterter Fennomane. Für ihn ging es nicht nur um die Stellung der finnische Sprache, sondern er wollte alle davon überzeugen, dass das finnischsprachige Volk nicht minderwertig ist. Die Sprachfrage war für ihn auch eine Standes-­‐‑ und Klassenfrage. Trotz fehlender Bildung sind die finnischsprachigen wertvolle Individuen mit inneren Reichtum, und nicht minderwertiger als die schwedischsprachige Elite. Die Fennomanen sahen in ihm endlich den Schriftsteller, der in der Lage wäre, finnische Hochkultur im Geiste der Fennomanie zu schaffen. Sowohl Snellman Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Aleksis Kivi
2 als auch Lönnrot unterstützten ihn, sowie Fredrik Cygnaeus. Auch der Vater von Julius Krohn unterstützte Stenvall, indem er sein Studium ein paar Jahre lang finanzierte, nachdem Julius Krohn seinen Vater darum gebeten hatte. Ab 1863 zog Stenvall von Helsinki nach Siuntio, einer kleineren schwedischsprachigen Ortschaft in der Nähe von Helsinki, wo er von einer etwas älteren Dame, Fräulein Charlotta Lönnqvist finanziell unterstützt wurde. (Die Art der Be-­‐‑
ziehung zwischen dem Dichter und seiner Mäzenin gehört zu den populären Rätseln der finnischen Kulturgeschichte; sonst hatte Kivi kein Glück in seinen Frauenbeziehungen und starb als Junggeselle.) Sein Studium brach er etwas später ab, und widmete sich ganz dem Schreiben. Kivi hatte nicht nur finanzielle Schwierigkeiten, sondern kämpfte mit dem großen Problem der fehlenden literarischen Tradition auf Finnisch. Bei den Gattungen Roman und Drama war er praktisch ganz ohne finnische Vorbilder, und auch als Dichter wählte er einen anderen Weg als Suonio und Oksanen. Finnland brauchte literarische Vorbilder, und es wurde die Aufgabe des jungen Stenvall, diese Lücke zu füllen. Die Hauptwerke von Aleksis Kivi
Die wichtigsten Werke von Kivi sind •
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Kullervo (Tragödie: 1860 / 1864) Nummisuutarit (‘Die Heideschuster’, Komödie: 1864) Kihlaus (‘Die Verlobung’, Komödie: 1866) Olviretki Schleusingenissä (‘Der Bier-­‐‑Feldzug in Schleusingen’, Komödie; 1866) Kanervala (Gedichtsammlung, 1866) Lea (Schauspiel, 1869) Seitsemän veljestä (‘Sieben Brüder’, Roman, 1870). Sein erstes Werk, die Tragödie Kullervo (1860/64), hat Kivi lange vorbereitet. Der Stoff ist die tragische Geschichte des Kullervo im Nationalepos Kalevala (Gedichte 31-­‐‑36): Kullervo ist der archetypische tragische Held, dessen Unternehmen alle unglücklich enden, bis ihm nur der Selbstmord als Ausweg bleibt. Wahrscheinlich wurde Kivi von den Vorlesungen von Fredrik Cygnaeus inspiriert, in denen auch Kalevala behandelt wurde. Theatertechnisch wurde Kullervo (laut Laitinen) von Shakespeare beeinflusst, dessen Werke Kivi in Über-­‐‑
setzungen gelesen hatte und kannte. Kivi führt burleske Figuren und komische Szenen zwischen den tragischen Stoff ein, welches das sonst so schwere Thema und Stimmung etwas leichter macht. Kivi nahm 1860 mit der Tragödie an einem Schauspielwettbewerb der Finnischen Literaturgesellschaft teil, und gewann den ersten Preis. Ein Kalevala-­‐‑
Motiv war ein sicheres Thema in solchen Kreisen, und begeisterte die Fennomanen. Nach dem Wettbewerb schrieb Kivi das Stück noch ein paar Mal um, bis er es 1864 veröffentlichte. Gleichzeitig arbeitete er bereits an seinem nächsten Stück, der Komödie Nummisuutarit, die ebenfalls 1864 fertig wurde. Nummisuutarit (‘Die Heideschuster’) ist heute noch eines der beliebtesten Theaterstücke in Finnland, das gerne auch auf Sommertheaterbühnen, auf Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Aleksis Kivi
3 Amateurbühnen aufgeführt wird. Es zeigt auch, wie Kivi seinen eigenen Stil gefunden hat: Finnische Menschen aus dem Volk werden auf oft humoristische Weise in einem Bauern-­‐‑ oder Handwerkermilieu dargestellt, und im Hintergrund steht der Konflikt zwischen den alten gesellschaftlichen Strukturen und der neuen moderneren Gesellschaft. Ähnliche Charaktere und Themen kommen auch in den späteren Werken Kivis vor, wie zum Beispiel in Kihlaus oder Seitsemän veljestä. Bei Nummisuutarit hat Kivi laut Laitinen sich von dem dänischen Dramatiker Ludvig Holberg inspirieren lassen, dessen Werke Kivi sowohl gelesen als auch gesehen hatte. Die Hauptfigur in Nummisuutarit ist Esko, der junge Sohn eines Schusters, ein gutmütiger und einfältiger aber sehr zielstrebiger junger Mann. Esko träumt von Kreeta, der Tochter des Bauern Karri aus dem Nachbardorf, und sein Vater, der Schuster Topias, glaubt, dass die Heirat von Esko und Kreeta schon mit Karri abgemacht worden ist als die Väter sich in einer Kneipe getroffen haben. Außerdem ist es wichtig, dass Esko jetzt schnell heiratet, obwohl er noch offiziell minderjährig ist, denn sonst würde das Erbe eines alten Soldaten, der seinerzeit wie ein väterlicher Freund für die Kinder der Familie war, nicht an Esko gehen sondern an Jaana, die Pflegetochter der Familie, die auch heiraten möchte. Martta, die strenge Mutter, die ihren faulen sanftmütigen Mann und dummen Sohn gnadenlos dominiert, will Jaanas Pläne vereiteln und schickt Esko schnell ins Nachbardorf, die Braut zu holen. Aber als Esko ankommt, findet dort eben eine Hochzeit statt: Kreeta heiratet einen anderen Mann, ihr Vater hat es mit Topias nie ernst gemeint. Esko fühlt sich natürlich betrogen und verdirbt die Hochzeitsfeier. Auf dem Heimweg besäuft er sich zum ersten Mal in seinem Leben, was die Umstände noch komplizierter macht. Nach vielen über-­‐‑
raschenden Wendungen und komischen Situationen endet das Ganze in einer humanen Versöhnung. Das Geld wird gerecht geteilt, die Pflegetochter Jaana darf ihre große Liebe, den Schmied Kristo heiraten, und Esko schwört, dass er niemals heiraten will. Der enttäuschte Esko macht aus der Hochzeitsfeier einen Skandal. Bild aus der dritten (und vielleicht besten und beliebtesten) Verfilmung von Nummisuutarit (1957, Regie Valentin Vaala; in der Rolle des Esko der junge Helge Herala, seitdem ein Volksliebling in verschiedenen, v.a. komischen Rollen). Viele Sprüche und Ausdrücke aus Nummisuutarit leben bis zum heutigen Tag im Volksmund: z.B. Niin muuttuu maailma, Eskoseni (‘So verändert sich die Welt, mein lieber Esko’) oder Eskon puumerkki (‘Eskos Handzeichen’; Esko braucht für seine Heirat, weil er noch minderjährig ist, eine Vollmacht von seinem Vormund, und will unbedingt das wichtige Papier auch selbst unterzeichnen, auch wenn seine Unterschrift überhaupt nicht nötig wäre). Esko ist eine der Klassikerfiguren Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Aleksis Kivi
4 in der finnischen Dramenliteratur; die Rolle des Esko ist eine echte Her-­‐‑
ausforderung und damit eine Ehrenaufgabe für einen finnischen Schauspieler. Esko hat viele Seiten, Gutmütigkeit, Ehrlichkeit aber auch Sturheit und Dummheit, und die verschiedenen Seiten des tragikomischen Charakters muss man irgendwie ins Gleichgewicht bringen. Diese Seiten kann Kivi auf humoristische Weise ausgleichen. Kivi publizierte Nummisuutarit auf eigene Kosten, und gewann damit den erstmals gegebenen Staatspreis. Dies war ein Sieg für Fennomanen, die die neue finnische Literatur unterstützen wollten. Um den selben Preis konkurrierten die damals schon etablierten Autoren der älteren Generation, nämlich Runeberg mit seiner schwedischsprachigen Tragödie Kungarne på Salamis (‘Die Könige auf Salamis’), sowie auch der führende Literaturkritiker seiner Zeit, August Ahlqvist. Andererseits bekam Kivi auch Lob: Cygnaeus verglich Nummisuutarit sogar mit ‘Figaros Hochzeit’ von Beaumarchais. Die Gegensätze der Nummisuutarit schaffen mehr Spannung: Esko und seine Familie repräsentieren eher die Stagnation und Sicherheit der alten, konservativen Lebensform. Durch Menschen, die in Städten gelebt und fremde Länder bereist haben, werden sie mit der neuen moderneren Welt konfrontiert, die einen Ausweg aus den alten Strukturen bietet, aber gleichzeitig bricht sie die alten Gesellschaftsstrukturen und bringt Unsicherheit. Diese Thematik wieder-­‐‑
holt sich in der finnischen Literatur seitdem häufig, auch wenn nicht immer in humoristischer Weise. Kivis nächstes Stück, Kihlaus (‘Die Verlobung’, 1866) setzt die selbe Thematik wie die ‘Heideschuster’ fort, mit ähnlichen misslungenen Heiratsplänen im Handwerkermilieu. Im selben Jahr schrieb Kivi noch zwei weitere Dramen, Yö ja päivä (‘Nacht und Tag’) und eine Militärfarce Olviretki Schleusingenissa (‘Der Bier-­‐‑
Feldzug in Schleusingen’). Die Inspiration für diese absurde Farce bekam Kivi aus einer Zeitungsnachricht über komische Ereignisse während des Deutschen Krieges 1866 – in der kleinen Stadt Schleusingen im Thüringer Wald zeichnen sich bayrische Soldaten durch Biertrinken aus und vergessen den Kampf gegen die Preußen. Man kann sagen, dass Kivi wie ein Künstler arbeitete und sich auch künstlerische Freiheiten nahm: Er schrieb nicht nur über „fennomane“ Themen, und die einfachen und zum Teil auch dummen Charaktere in seinen Werken entsprachen auch nicht gerade dem Ideal der Fennomanen, die vielleicht eher ein idealisiertes Finnentum im Geiste Runebergs erwartet hätten. Langsam geriet Kivi deswegen in Konflikt mit der nationalen Elite, welches sich spätestens die Rezeption von Seitsemän veljestä einige Jahre später zeigte. Kivi hatte auch sonst Schwierigkeiten mit seiner Karriere. Vor allem fehlte das Publikum. Kivi schrieb 12 Theaterstücke, wovon 7 gleich veröffentlicht wurden, aber nur eines, Lea (1869), wurde zu seinen Lebenszeiten aufgeführt. Zudem kamen auch noch die Missernten der Jahre 1866-­‐‑68, die zur Hungersnot führten, und damit auch zu enormen Schwierigkeiten beim Publizieren und Verkauf seiner Werke. Im 1870 schwächte sich der gesundheitliche Zustand des Schriftstellers. Er litt an Depressionen, wurde eine Zeitlang in einer psychiatrischen Anstalt gepflegt, wovon er 1872 als „unheilbar“ entlassen wurde. Am Ende des Jahres 1872 starb Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Aleksis Kivi
5 er bei seinem Bruder in Tuusula; seine letzten Worte lauteten angeblich Minä elän (‘Ich lebe!’). Kivi als Lyriker
Im selben Jahr mit Kihlaus (1866) erschienen auch zwei Reihen von Gedichten von Kivi: eine als Buch (Kanervala, 1866; der Name Kanervala, aus kanerva ‘Heidekraut’ geleitet, dürfte wohl auf die finnische Heide oder lichte Föhrenwald hinweisen) und die andere auf den Seiten der Zeitschrift Kirjallinen kuukausilehti (‘Literarische Monatsschrift’). Die Gedichte von Kivi erheben ihn neben der Dichter Oksanen und Suonio zum führenden finnischsprachigen Lyriker der Zeit, obwohl der Wert von Kivis Dichtung erst viel später verstanden wurde. Die Lyrik von Kivi ist rhythmisch kompakt, aber oft reimlos, was die Zeitgenossen für etwas seltsam hielten. Auch verwendete er altertümlich klingende “abgekürzte” Wortformen (so wie in den Südwestdialekten, wo Endvokale oft wegfallen, und in der südwestlich basierten älteren finnischen Kirchensprache), und dadurch ähnelt sein Stil den alten Kirchenliedern. Bekannt waren die Versmaße der Volksdichtung sowie germanische Versmaße, die Oksanen und Suonio mit ihrer Dichtung ins Finnische eingeführt haben. Auch die späteren Lyriker folgten eher den Stil von Oksanen und Suonio, und somit blieb die Lyrik von Kivi ohne Nachfolger. Auch thematisch war Kivi anders als Suonio und Oksanen: die Lyrik von Kivi ist selten Liebeslyrik, und auch patriotische Töne findet man bei Kivi kaum. Die Ausnahme dabei ist das Gedicht Suomenmaa, das aus seinem Nachlass gefunden wurde. Es beginnt als eine finnische Adaptation des Gedichts Vårt land von J. L. Runeberg, aber geht dann seinen eigenen Weg weiter. Viele andere Gedichte von Kivi kommen in den Theaterstücken oder im Roman Seitsemän veljestä vor, wie zum Beispiel Sydämeni laulu, das herzzerreißende Wiegenlied einer andächtigen jungen Mutter, die sich vorstellt, wie gut es ihrem Kind wäre, im Land des Todes (Tuonela) die irdischen Sorgen für ewig zu vergessen. Aleksis Kivi: Suomenmaa Maa kunnasten ja laaksojen, mi on tuo kaunoinen? Tuo hohtees' kesäpäivien, tuo loistees' pohjan tulien, tää talven, suven ihana, mi ompi soma maa? Siell' tuhansissa järvissä yön tähdet kimmeltää ja kanteleitten pauhina siell' kaikuu ympär kallioi ja kultanummen hongat soi: se ompi Suomenmaa. En milloinkaan mä unohtas sun lempeet' taivastas', en tulta heljän aurinkos', Finnland Land der Hügel und der Täler, was ist das schöne Land? Im Glanz der Sommertage, im Schein des Nordlichts, im Winter, Sommer wunderschön, was ist das süße Land? Dort in den Tausenden von Seen glitzern die Sterne der Nacht, und der Klang der Zithern hallt um die Berge herum und es rauschen die Föhren auf der goldenen Heide: Das ist Finnland. Nie könnte ich deinen zärtlichen Himmel vergessen, noch das Feuer deiner hellen Sonne, Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Aleksis Kivi
en kirkast' kuuta kuusistos’ en kaskiesi sauvua päin pilviin nousevaa. Oil monta näissä laaksoissa tok' aikaa ankaraa, kun yöseen halla hyyrteinen vei vainiomme viljasen; mut toivon aamu, toivon työ taas poisti halla-­‐yön. Viel' monta näissä laaksoissa on käynyt kauhua, kun sota surman, kuolon toi ja tanner miesten verta joi; mut sankarien kunnian sai Suomi loistavan. Nyt ihanainen, kallis maa on meidän ainiaan; tuoss' aaltoileva peltomme, tuoss' viherjäinen niittumme, tuoss' metsiemme jylhä yö ja meriemme vyö! Tuon lehtimetsän kaikunaa mi autuus kuullella, kun valjetessa aamuisen siell' pauhaa torvi paimenen, tai koska laulain laaksossa käy impi iltana! Mi autuus helmaas' nukkua, sä uniemme maa, sä kehtomme, sä hautamme, sä aina uusi toivomme, oi Suomenniemi kaunoinen, sä iankaikkinen. noch den leuchtenden Mond auf dem Fichtenwald, noch den Rauch aus der Schwende, der gegen die Wolken steigt. Doch sah man in diesen Tälern gar viele strenge Zeiten, als die frostige Kälte der Nacht unser armes Getreide nahm; aber der Morgen, die Arbeit der Hoffnung entfernten die nächtliche Kälte. Noch viele Gräuel haben diese Täler heimsucht, als der Krieg den Tod mitbrachte und die Erde das Blut von Männern trank; aber die Ehre der Helden gebührt jetzt Finnland. Jetzt ist das schöne, teure Land für immer unser eigen; da unser wogender Acker, da unsere grüne Wiese, da die tiefe Nacht unserer Wälder umgurtet von unseren Meeren! Das Echo in jenem Laubwald, so glückselig zu hören, wenn, da der Morgen anbricht dort das Horn des Hirten klingt, oder wenn singend im Tal eine Maid am Abend geht! Was für eine Seligkeit, in deinem Schoss einzuschlafen, du Land unserer Träume, du unsere Wiege, unser Grab, du unsere immer neue Hoffnung, o Finnland, du schöne Halbinsel, du Ewiges! Sydämeni laulu Tuonen lehto, öinen lehto! Siell’ on hieno hietakehto, Sinnepä lapseni saatan. SieIl' on lapsen lysti olla, Tuonen herran vainiolla Kaitsea Tuonelan karjaa. Siell’ on lapsen lysti olla, Illan tullen tuuditella Helmassa Tuonelan immen. Onpa kullan lysti olla, Kultakehdoss’ kellahdella, KuuIlella kehräjälintuu. Lied meines Herzens Hain des Todes, nächtlicher Hain! Da ist eine feine Wiege aus Sand, dorthin schicke ich mein Kind. Da ist es dem Kind schön zu sein, auf dem Feld des Herrn vom Totenreich, das Vieh vom Totenreich zu hüten. Da ist es dem Kind schön zu sein, am Abend eingelullt werden auf dem Schoss der Maid vom Totenreich. So schön ist es meinem Liebling, in einer goldenen Wiege zu liegen, den Gesang des Ziegenmelkervogels zu hören. 6 Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Aleksis Kivi
Tuonen viita, rauhan viita! Kaukana on vaino, riita, Kaukana kavala maailma. 7 Wald des Todes, Wald des Friedens! Ferne sind Hass und Zwist, ferne die böse Welt. Das Hauptwerk: Seitsemän veljestä
Das Hauptwerk von Aleksis Kivi ist Seitsemän veljestä (‘Sieben Brüder’, 1870), an dem er bekanntlich seit den 1850ern arbeitete. Es war geplant, den Roman schon 1867 zu veröffentlichen, aber die Veröffentlichung hat sich verzögert, sodass er erst am Anfang des Jahres 1870 herauskam, in Form von vier Heften in der Novellenbibliothek der Finnischen Literaturgesellschaft. Die Reihe hatte nur 144 Abonnenten, also dauerte es noch lange, bis das große Publikum den Roman lesen konnte. Von der Handlung her ist Seitsemän veljestä ein etwas unkonventioneller Roman. Das Hauptthema ist auch hier der Epochenbruch, und die Krisen, die er unter dem einfachen Volk verursacht. Als Hauptfigur ist ein Kollektiv von sieben Brüdern, die zusammen auf dem Bauernhof Jukola leben, nachdem ihre Eltern gestorben sind. Sie geraten in Konflikt mit der Dorfgemeinschaft und der Kirchengemeinde, weil sie sich weigern, lesen zu lernen (und dadurch ordent-­‐‑
liche Gemeindemitglieder zu werden, die z.B. heiraten könnten). Sie verpachten ihren Bauernhof und ziehen voller Lust auf Abenteuer in den Wald. Dort bauen sie sich ein neues Haus und führen ihr Leben dort weiter, außerhalb der Gesellschaft. Die zehn Jahre im Wald beinhalten viele abenteuerliche Szenen und dramatische Wendungen, bis die Brüder endlich, geistig “aufgewachsen”, bereit sind, die Verantwortung über ihre Taten zu tragen, und kehren zurück in die Gemeinschaft als verantwortungsbewusste Bürger. Auch erzähltechnisch ist Sieben Brüder unkonventionell. Große Teile des Romans sind direkte Dialoge zwischen den Brüdern, geschrieben etwa wie die Dialoge in seinen Theaterstücken. Gelegentlich wird der Dialog mit novellen-­‐‑
artigen Kurzgeschichten oder Gedichten oder Liedern abgebrochen, die die Brüder einander vortragen. Durch diese dialogartige Erzählweise werden auch die verschiedenen Charaktereigenschaften der einzelnen Brüder indirekt klar. Oft entsteht auch Humor in diesem Werk an solchen Stellen, wo der Leser etwas merkt, was der Sprecher selber nicht merkt oder nicht versteht. Ungewöhnlich ist auch, dass im Roman kaum weibliche Charaktere vorkommen, zentral ist eigentlich nur die schöne Venla, um die der älteste Bruder am Anfang der Geschichte vergebens wirbt. Eine Voraussetzung für die Heirat wäre nämlich die Konfirmation, und dafür müsste man auch lesen lernen. Da das Lesenlernen allen anderen außer dem jüngsten Bruder Eero große Schwierigkeiten bereitet, fliehen die Brüder ins Wildnis, und ihr Abenteuer beginnt. Das Leben in der Wildnis zeigt den Brüdern ihre Grenzen aber auch ihr Potential. Zur Lieblingslektüre von Aleksis Kivi gehörten neben Shakespeare und Holberg auch Cervantes und sein Don Quijote. Laitinen meint, “Sieben Brüder” sollte man auch als eine Art Renaissanceroman lesen, der keinen Beispielen oder Vorbildern folgt. Und zugegeben, die Erzählung und Handlung ist recht phantasievoll und abenteuerlich, wie in Don Quijote. Die Brüder rebellieren Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Aleksis Kivi
8 gegen die Gesellschaft, aber gleichzeitig mischt Kivi in seine Erzählung Realismus, Romantik, Humor und lyrische Phantasie. Aus dem Abenteuerroman wächst ein Entwicklungsroman, nachdem es den Brüdern gelingt, Verantwor-­‐‑
tung über ihre Taten zu nehmen und sich in die organisierte Gesellschaft zu integrieren. Die Brüder fungieren als eine Art kollektive Hauptfigur, die zusammen denkt und handelt, aber verschiedene dramatische Ereignisse brechen manchmal die innere Zusammengehörigkeit der Gruppe, bis sie selbstständige Individuen werden. Juhani ist der älteste der Brüder, gerecht und gutmütig, oft dominant, aber nicht immer der gescheiteste. Tuomas ist von den Brüdern der Stärkste, der starke und schweigsame, immer vertrauenswürdige Held. Aapo, sein Zwillings-­‐‑
bruder, erzählt die meisten Geschichten des Romans. Er hat beide Füße am Boden, und die Geschichten haben oft überlegte Lebensweisheiten. Simeoni ist vielleicht der komplexeste der Brüder: einerseits oft religiös, aber er neigt auch zum Alkohol und zu düsteren Gedanken. Lauri liebt den Wald, die Natur und die Jagd. Er ist eher zurückhaltend, aber unter dem Einfluss von Alkohol redet er manchmal ein paar Worte zu viel, so wie in der Hiidenkivi-­‐‑Szene: Die Brüder haben sich vor einer wütenden halbwilden Stierherde auf einen Felsen retten müssen, und dort löst Lauri mit seinem Geplapper bei Juhani einen Wutanfall aus. Timo ist von den Brüdern der Dümmste, er nimmt alles für bare Münze. Der jüngste Bruder Eero zeigt am meisten Entwicklungspotential: Er lernt und denkt schnell, seine Worte sind treffend, und mit seiner Gescheitheit ärgert er oft seine älteren Brüder. In verschiedenen Szenen übernehmen verschiedene Brüder die aktive Rolle, und finden Lösungen für die Problemsituationen. Die Rezeption des Romans war für Kivi ein Schock. Der führende Literaturkritiker und Autorität der finnischen Sprache, Professor August Ahlqvist, fand an dem Buch nur Negatives, und beschrieb es als „Schandfleck der finnischen Literatur“. Wie die Brüder aussahen, was sie machten und wie sie redeten passte gar nicht zu der fennomanen Ideologie. Das Waldleben der Jukola-­‐‑Brüder war nur „unmäßige Völlerei und Sauferei“, der Sprachgebrauch voller Flüchen und selbst die äußere Erscheinung der Brüder war nicht das von der idealen Finnen. Auch Aleksis Kivi, ein „Hüttensohn“, der sein Studium abgebrochen hatte und auch selber zur Trinksucht neigte, entsprach nicht gerade dem, was man von einem „Nationalschriftsteller“ oder „Begründer der finnischen Literatur“ erwartet hätte. Die Kritik von Ahlqvist schüchterte auch die Finnische Literaturgesellschaft ein, und die Veröffentlichung des Romans wurde verzögert. Als Seitsemän veljestä endlich 1873 als Buch herauskam, war Kivi schon tot. Heute gehört Seitsemän veljestä aber zur Grundlektüre aller Finnen. Viele Zitate und Sprüche aus dem Roman sind allen bekannt, sogar denen, die den Roman nur aus Theater-­‐‑
versionen, Verfilmungen oder der Kinderbuchversion von Mauri Kunnas (Seitsemän koiraveljestä ‘Die sieben Hundebrüder’) kennen. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Aleksis Kivi
9 Wiederholungsfragen
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Welche Vorbilder hatte Kivi? Was ist das Hauptthema in den Heideschustern? Wo sonst verwendet Kivi ähnliche Themen? Wie war die Rezeption von Seitsemän veljestä? Warum? Was ist an Seitsemän veljestä unkonventionell? Wie war Kivi als Lyriker, im Vergleich mit den anderen finnischen Lyrikern der Zeit? Begleitende Lektüre
Lassila: Geschichte der finnischen Literatur, S. 76–85 Weiterführende Lektüre
Lassila, Pertti 1996: Geschichte der finnischen Literatur. A. Francke Verlag Tübingen und Basel. Laitinen, Kai 1997: Suomen kirjallisuuden historia. 4. Auflage. Otava, Helsinki. Laitinen, Kai 1989: Finnische Literatur im Überblick. Otava, Helsinki. evsl
skriptum
Institut
für
Europäische
Vergleichende
SprachLiteraturwissenschaft
Abteilung Finno-Ugristik
zur
Lehrveranstaltung
Literaturgeschichte
und
und
Finnische
NATIONALE NEUROMANTIK UND SYMBOLISMUS
Lernziele: Die führenden Kulturströmungen und wichtigsten Autoren des frühen 20. Jahrhunderts kennen. Trennung vom Realismus
Das Interesse an Karelien und an der finnischen Natur begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu wachsen. Jenseits der Grenze, in Ostkarelien, war die epische Volksdichtung erhalten geblieben, die dem Epos Kalevala zu Grunde lag; als russische Untertanen blieben die Karelier vor dem Volksbildungseifer der evangelischen Kirche und der finnischen Behörden, vor allem vor den schwedischen Einflüssen, die in der westfinnischen Volkskultur eindeutig erkennbar waren, “geschützt”. Deshalb war es finnischen Intellektuellen leicht, in Karelien, inmitten der malerisch schönen Landschaften und des “unverdorbenen” Volkes, die ursprünglichste, “reinste” und authentischste finnische Kultur zu sehen. In der “goldenen Zeit der finnischen Kunst” gegen Jahrhundertwende fanden viele Künstler, nicht nur Schriftsteller sondern auch Maler, Komponisten und sogar Architekten, die Natur und vor allem Karelien als große Inspirationsquelle in ihrem Werk. Der sogenannte Karelianismus kann als eine Art Gegenreaktion zum Realismus gesehen werden: Auch die Literatur fing an, sich relativ schnell von realistischen Themen zu trennen, sodass man sie etwa ab dem Jahr 1895 nur selten in der Literatur sieht. Eino Leino nannte diese Phase, die im ersten Jahrzent des 20 Jahrhunderts auch noch wirkte, die “nationale Neoromantik”. Man könnte auch vom nationalen Symbolismus reden. Die gesellschaftliche Entwicklung spielte eine Rolle bei diesem Richtungswechsel. Die Gesellschaft urbanisierte und modernisierte sich rasch, und auch die Arbeiterbewegung entfaltete sich. Die gesellschaftlichen Spannungen waren nicht mit dem Realismus verschwunden, aber zusätzlich zu diesen Spannungen kam noch der politische Druck aus Russland. Das Interesse der gebildeten Schichten richtete sich weg von den gesellschaftlichen Fragen und hin zur Problematik der nationalen Existenz. Den Realismus sahen viele nur als kurze Gegenreaktion zur Romantik, und jetzt war man wieder dort, wo die Nationalromantiker angefangen hatten. Dieses Mal waren die internationalen Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Nationale Neuromantik und Symbolismus
2 Einflüsse aber stärker präsent: Viele Künstler reisten nach Paris und ließen sich dort inspirieren. Aus Deutschland übernahm man die gedanken von Nietzsche und den Jugendstil zur finnischen Kunst. Aber die nationalen Fragen waren bei der finnischen Neuromantik (oder Symbolismus) viel zentraler als in anderen Ländern. Die nationale Neuromantik brachte in der finnischen Literatur keine neue Gruppierung zustande, stattdessen machten die alten Schriftsteller den Stilwechsel. Die wichtigsten Neuromantiker kamen aus den Kreisen von Päivälehti und Nuori Suomi und waren ehemalige Realisten. Am stärksten sah man die neuen Einflüsse bei Juhani Aho, aber eine ähnliche Veränderung ist auch in den Werken von anderen ehemaligen Realisten zu sehen. Zur zentralen Persönlichkeit der nationalen Neuromantik wurde jedoch ein neuer Schriftsteller: Eino Leino. Die Literatur im neuen Jahrhundert
Oft passiert eine Veränderung in der Literaturgeschichte gleichzeitig mit wichigen Ereignissen der Weltgeschichte. Das Jahr 1918 war für Finnland ein tragisches Jahr mit einem blutigen Bürgerkrieg, mit enormen Ausirkungen auf die Literatur. Kai Laitinen sieht jedoch bereits früher einen Wendepunkt, der für die Literatur von noch größerer Bedeutung war: den Generalstreik im Jahre 1905. Nach diesem Jahr, wo dieselben gesellschaftlichen Spannungen schon deutlich sichtbar waren, die 1918 im Bürgerkrieg eskalierten, orientiert sich die finnische Literatur bereits neu. Die Literaturtradition spaltet sich in drei Richtungen: die finnlandschwedische Literatur sowie die Arbeiterliteratur gehen ihren eigenen Weg. Die nationale Neuromantik orientiert sich nach diesem Jahr auch nicht mehr nach dem Karelianismus, sondern nach dem europäischen Symbolismus. Manche Schriftsteller kehren zurück zum Realismus, aber mit etwas anderen Betonungen als ihre Vorgänger. Spätestens also nach dem Generalstreik 1905 wird es deutlich, dass die Literaturszene nicht mehr homogen ist. Es formen sich verschiedene Teilkulturen, und es wird auch klar, das die Literatur nicht im snellmanschen Sinne die ganze Nation einheitlich widerspiegeln kann. Eine der Gattungen, die sich in dieser Zeit von den Hauptströmungen der Literatur trennt, ist die Arbeiterliteratur. Auch die schwedischsprachige Literatur trennt sich stärker von der finnischsprachigen. Der karelianistisch-­‐‑symbolistischen nationalen Neuromantik folgt der sogenannte Neorealismus etwa um das Jahr 1909. Auch wenn dieser Neurealismus vieles gemeinsam mit dem alten Realismus der 1880er Jahre hat, fehlt die programmatische Vorgangsweise und der Glaube an die Wissenschaft. Viele Schriftsteller verfassen realistische Volksdarstellungen, deren Wurzeln bis auf Kivi zurückgehen, und diese Tradition wirkt nach den 1910er Jahren noch über mehrere Jahrzehnte. Wichtige Schriftsteller dieser Tradition sind Maiju Lassila, Ilmari Kianto, Maria Jotuni und Joel Lehtonen, sowie etwas später F. E. Sillanpää und Volter Kilpi. Bei der Neuromantik liegt das Hauptaugenmerk auf der Lyrik. Von den Lyrikern werden hier Eino Leino, Otto Manninen und V. A. Koskenniemi Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Nationale Neuromantik und Symbolismus
3 behandelt. Diese drei Dichter sind vom Stil her so verschieden, dass man sie nicht leicht in eine Rubrik einordnen kann. In der schwedischsprachigen Lyrik entsteht die sogenannte Dagdrivare-­‐‑Generation und etwas später die finnlandschwedische Avantgarde, die die Lyrik stark modernisiert. Die alte Generation folgte diesen neuen Strömungen, aber auch neue Dichter kommen hervor. Im 1916 debütierte die Vorreiterin des finnlandschwedischen Modernismus Edith Södergran. Gleichzeitig veröffentlichte auch der finnischsprachige Aaro Hellaakoski seine ersten Gedichte. Von den Prosaisten hatte im selben Jahr Frans Emil Sillanpää sein Erstling veröffentlicht. Die produktiven Jahre von Sillanpää und Hellaakoski dauern bis nach dem zweiten Weltkrieg. Zur neuen Generation, die sich gezielt von der alten Tradition abtrennen wollte, gehören die finnlandschwedischen Modernisten und eine Gruppierung namens Tulenkantajat (’Feuerträger’). Die alte Generation verschwindet von der literarischen Szene relativ rasch: Maiju Lassila und Juhani Siljo fallen dem Bürgerkrieg zum Opfer, Juhani Aho stirbt bereits 1921. Einige Jahre danach stirbt auch Eino Leino, der nach dem Bürgerkrieg nur noch wenig publizierte. Die moderne Welt
Schon die Realisten hatten einen Umbruch in der Gesellschaft thematisiert: Industrialisierung und Urbanisierung der Gesellschaft brachten die Menschen in eine neue Situation. Die Entwicklung war aber viel schneller als man je geglaubt hätte, sodass man bereits zur Jahrhundertwende in einer modernen Welt lebte. Diese radikale Wende gab Anlass zu fast blindem Glauben an Technik und Fortschritt, aber brachte auch Angst und Frustration mit sich. Die Moderne in der Literatur beschäftigt sich gerne mit diesen Themen. (Es soll angemerkt werden, dass mit dem Begriff “Modern” nicht einfach die Gegenwart gemeint wird, so wie in der Alltagssprache, sondern eine gewisse Stilrichtung – oder eigentlich ein Bündel verschiedener Stilrichtungen, die ab dem Jahrhundertwende teilweise auch parallel wirkten.) Aber wie war die ”moderne” Gesellschaft am Beginn des neuen Jahrhunderts? Im Hintergrund wirkte die industrielle Entwicklung der Welt im 19. Jahrhundert, die die Struktur der Gesellschaft stark veränderte. Es entstanden neue Städte, und man lebte in einer Marktwirtschaft, die sich schnell liberalisierte. Der Kontrast zwischen den Städten und der agraren Welt war groß, aber gleichzeitig wurden diese beiden Welten mit neuen Verkehrsmitteln miteinander verbunden: Die Welt wurde kleiner. Es kam vor, als könnte man mit der neuen Technik alle Probleme überwinden, und aus dem starken Glauben an den technischen Fortschritt entstand eine neue Literaturgattung: Science fiction. Auch die Entwicklung der Fotografie und Kinofilme war wichtig. Da man mit diesen Mitteln die Wirklichkeit ganz wahrheitsgetreu zeigen konnte, war es nicht mehr die wichtigste Aufgabe der Literatur, das wahre Leben darzustellen. Auch bei anderen Wissenschaften hatte man viel Neues erreicht, das die Denkweise der Menschen radikal veränderte: Einsteins Relativitätstheorie sowie die neue Wissenschaft Psychologie, vor allem Freuds Psychoanalyse. Man lernte das Unbewusste kennen, sowie die symbolischen Bedeutungen der Träume. Bei Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Nationale Neuromantik und Symbolismus
4 der Philosophie waren die Gedanken von Nietzsche revolutionär. Ein neuer Individualismus stellte die christlichen Normen in Frage, und der Mensch, ”Übermensch”, stellte sich sogar über Gott. Der Symbolismus in der finnischen Literatur
Der Symbolismus, oder die nationale Neuromantik, ist die erste Phase des finnischen Modernismus – einer Richtung, die sich in mehreren Phasen entwickelte, die nicht immer einheitlich benannt werden können. Bei vielen Autoren findet man verschiedene Merkmale des Symbolismus. Als erstes haben die Realisten angefangen, sich auf das Innere des Menschen zu konzentrieren, anstatt nur die Äußerlichkeiten zu beschreiben. Psychologische Menschen-­‐‑
beschreibung findet man bereits in den späteren Dramen von Minna Canth, sowie bei Juhani Aho und Teuvo Pakkala. Anfangs waren im finnischen Symbolismus noch die nationalromantischen Themen wichtig – daher der Begriff Nationale Neuromantik. Zur Jahrhun-­‐‑
dertwende wurde es langsam klar, dass die snellmanschen und runebergschen Finnentumsideale schon längst zerbrochen waren. Es musste eine neue Identität geschaffen werden, aber die neue Identität muss nicht mehr Finnland-­‐‑
übergreifend sein, sondern kann individuell gestaltet werden. Der neue Individualismus konkretisiert sich in vielen Charakteren in Leinos Helkavirsiä und in seinen Prosawerken. Die neue Frauenidentität wird von L. Onerva, Aino Kallas und Maria Jotuni behandelt. Als Gegenreaktion zum Realismus beschreiben die Symbolisten die Wahrheit nicht mehr so wie sie ist, sondern die Beschreibung konzentriert sich auf das menschliche Innere und erreicht oft eine symbolische Ebene. Man kann auch denken, dass die Naturalisten, die den Realismus übertreiben, damit auch die Grenze der Beschreibung von Wirklichkeit überschritten haben. Das Elend und die übertrieben ekelhaften Beschreibungen stehen nicht mehr für die Wirklichkeit sondern für etwas anderes: sie symbolisieren etwas allgemein Wichtiges. Auch die psychologische Beschreibung kann als ein Schritt Richtung Symbolismus gesehen werden. Während die Realisten sich für die Wirklichkeit und für die äußeren Umstände der gegenwärtigen Gesellschaft interessierten, wurden die Symbolisten eher von universalen Themen begeistert, die unabhängig von Ort und Zeit eines Menschen relevant sind. Typisch für Symbolisten ist auch die Romantisierung der Schönheit und des Verfalls (Dekadenz). Symbolistisch sind zum Beispiel die frühen Werke von Volter Kilpi. Den Symbolismus kann man auf viele Weise als eine Gegenreaktion verstehen. Er wandte sich gegen die Bildungsmentalität des Klassizismus, sowie gegen die Objektivität des Realismus. In der symbolistischen Literatur werden die beobachtbaren Sachen der Außenwelt oft in Symbole des menschlichen Inneren verwandelt. Im Gegensatz zum Realismus und zum Naturalismus liebt der Symbolismus die Schönheit. Die Lyrik, die es bei den Realisten kaum gab, bekommt wieder eine zentrale Stellung in der Literatur. Formideale der Symbolisten findet man in der Lyrik von Otto Manninen und V. A. Koskenniemi. Beim Realismus war die gesellschaftliche Aufgabe der Literatur zentral, aber Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Nationale Neuromantik und Symbolismus
5 Symbolisten brauchen so eine Aufgabe nicht: Kunst kann auch ”nur” Kunst sein, ohne weitere Missionen. Der Symbolismus ist auch ein Ausweg aus dem grauen Alltag des Realismus: die Grenze zwischen der Realität und der Fiktion verschwindet fast ganz. Naturalismus und Positivismus, der die Wirklichkeit beschreiben und erklären will, werden durch innere Beobachtung ersetzt. Eino Leino (1878–1926)
Einer der zwichtigsten Dichter der finnischen Literatur ist ohne Zweifel Eino Leino. Heute ist er vor allem für viele Gedichte bekannt, die komponiert wurden. Diese Lieder scheinen irgendwie die finnische Seele zu berühren. Eino Leino war aber nicht nur Dichter, sondern auch ein vielseitiger Prosaist und Journalist, und behandelt die radikalen Entwicklungen seiner Zeit in seinen Werken. Leino begann seine Karriere sehr früh: Mit 17 hob er die finnische Dichtung mit der Sammlung Maaliskuun lauluja (‘Märzlieder’, 1896) auf eine ganz neue Ebene. Der Ausdruck der finnischen Gedichtsprache ist in seinen Händen viel-­‐‑
seitiger, feiner und reicher geworden. Vor Leino war die schwedischsprachige Dichtung der finnischsprachigen stilistisch weit voraus, aber Leino war in der Lage die finnischsprachige Lyrik auf das gleiche Niveau bringen. Die typisch karelianistischen Motive sieht man in Leinos früheren Werken. Das Stück Tuonelan joutsen (‘Der Schwan des Totenreichs’, 1898) verbindet den heimischen Karelianismus und seine Kalevala-­‐‑Motive mit dem europäischen Symbolismus. Dem Einfluss des Kalevala sieht man auch im Gedichtband Helkavirsiä (Helka-­‐‑
Lieder, 1903; der Titel ist fast unmöglich zu übersetzen aber spielt möglicherweise auf die finnische Volksballadentradition an, die in ritueller Form im westfinnischen Dorf Ritvala bis zum 19. Jh. erhalten geblieben war). In diesen balladenartigen Gedichten verwendet Leino die Versmaße der alten Volksdich-­‐‑
tung, aber er folgt nicht nur dem Kalevala-­‐‑Versmaß sondern entwickelt seine Techniken noch weiter; kein Anderer seit Lönnrot hat mit dem trochäischen Versmaß so geschickt umgehen können. Auch wenn die Stimmung an Kalevala erinnert und die Handlungen sich in einer mythischen, vorhistorisch-­‐‑
mittelalterlichen Fantasiewelt abspielen, zeigt der Inhalt moderne Einflüsse: Leino schreibt neue Mythen und schöpft damit neue Gestalten, die man nicht von der Volksdichtung kennt, die aber aus dem Kalevala stammen könnten. Viele dieser Charaktere ringen aber auf der symbolischen Ebene mit den selben Problemen wie der moderne Mensch. Zum Beispiel Kouta, ein Zauberer wie Väinämöinen, könnte man mit dem modernen Wissenschaftler vergleichen. Mit seinen Künsten hat er alles besiegen können, außer den Tod. Hochmütig geht er ins Totenreich um das Geheimnis des Todes zu klären. Die Glaube an die unendlichen Möglichkeiten der modernen Wissenschaft ist aber auch beängstigend. Die Entwicklung ist schneller denn je. Kann der Mensch da mithalten? Tumma (’der Dunkle’) ist ein Bub, der Angst vor allem hat. Alles, was er macht, misslingt und geht schief, und vielleicht hat er auch deswegen Angst sogar vor dem ganzen Leben. Verzweifelt sucht er Rat bei seinem toten Vater, der ihn dann tröstet. So wie die älteren Generationen vor ihm, muss Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Nationale Neuromantik und Symbolismus
6 Tumma sich einfach trauen zu leben, einen Tag nach dem anderen. So lebt Tumma dann auch weiter: er ist weder glücklich noch traurig, aber nimmt das Leben so wie es kommt. Helkavirsiä gehört zum hohen Symbolismus der finnischen Literatur. Nach dem Generalstreik bekommt Leinos Dichtung etwas dunklere Töne, was man an den Namen der Gedichtbände auch sieht: Talviyö (Winternacht, 1905), Halla (Nachtfrost, 1908). In 1916 erschien auch ein zweiter Band von Helkavirsiä, wo anstatt der hochmütigen Helden eher kosmische Visionen und Legenden vorkommen. Die Lyrik von Leino erweckte patriotische Gefühle, aber er konnte auch seine Zeitgenossen und das kulturelle Klima Finnlands kritisieren, wie man im Gedicht Lapin kesä sieht. Der Sommer im Lappland ist kurz, deswegen muss alles schnell aufblühen und dann welken. Dasselbe ist der Schicksal des Dichters in Finnland: bei uns hat man schon bei der Geburt die grauen Haare eines alten Mannes, und alles neue und schöne wird unterdrückt. Bemerkenswert ist auch, dass Leino selber erst 24 Jahre alt war, als er das Gedicht geschrieben hat. Lapin kesä Lapissa kaikki kukkii nopeasti, Maa, ruoho, ohra, vaivaiskoivutkin. Tuon usein tuntenut oon raskahasti, Kun katson kansan tämän vaiheisiin. Miks meillä kaikki kaunis tahtoo kuolta Ja suuri surkastua alhaiseen? Miks meillä niin on monta mielipuolta? Miks vähän käyttäjiä kanteleen? Miks miestä täällä kaikkialla kaatuu kuin heinää, -­‐ miestä toiveen tosiaan, miest’ aatteen, tunteen miestä, kaikki maatuu tai kesken toimiansa katkeaa? Muualla tulta säihkyy harmaahapset, Vanhoissa hehkuu hengen aurinko. Meill' ukkoina jo syntyy sylilapset Ja nuori mies on hautaan valmis jo. Ja minä itse? miksi näitä mietin? Se merkki varhaisen on vanhuuden. Miks seuraa käskyä en veren vietin, Vaan kansain kohtaloita huokailen? On vastaus vain yksi: Lapin suvi. Sit' aatellessa mieli apeutuu. On lyhyt Lapin linnunlaulu, huvi Ja kukkain kukoistus ja riemu muu. Mut pitkä vain on talven valta. Hetken tääll’ aatteet leväthää kuin lennostaan, Lapplands Sommer In Lappland alles blüht so pfeilgeschwinde Land, Gras und Gerste, auch der Birkenstrauch. Gar oftmals ich im Stillen dies empfinde, betracht’ ich meines Volkes Schiksalslauf. Warum will alles Schöne bei uns Sterben, das Große nur zu Niedrigem vergehn? Warum s oviele geistumnachtet derben? Warum das Kantele so wenige verstehn? Warum hier überall die Männer fallen, die Männer, die in ihren Kräften stehn, die Männer der Ideen, des Fühlens, alle fallen, sie mitten aus dem schönen Schaffen gehn? Wo anders tief Ergraute sprühen Funken, der Geist glüht in den Alten sonnenklar. Bei uns die Wickelkinder schon als Greise unken, der junge Mann ist reif schon für das Grab fürwahr. Und nun ich selbst? Warum ich meinen Sinn zerquäle? Nur allzu frühen Alterns Zeichen sind es ja. Warum ich nicht den Ruf des Blutes wähle, nur über Völkerschicksalsschläge stöhne da? Nur eine Antwort gibt es: Lapplands Sommer. Denk ich dran, wird traurig das Gemüt. Kurz Lapplands Volelsang ist, dieser fromme, kurz alle Blumenpracht, die Wonne, Freude blüht. Lang dauert nur des Winters Macht, kurz weilen hier die Ideen, sie nur vorübergehn, Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Nationale Neuromantik und Symbolismus
kun taas ne alkaa aurinkoisen retken, ja jättävät jo jäisen Lapinmaan. Oi, valkolinnut, vieraat Lapin kesän, Te suuret aatteet, teitä tervehdän! Oi, tänne jääkää, tänne tehden pesä, Jos muutattekin maihin etelän! Oi, oppi ottakaatte joutsenista! Ne lähtee syksyin, palaa keväisin. On meidän rannoillamme rauhallista Ja turvaisa on rinne tunturin. Havisten halki ilman lentäkäätte! Tekoja luokaa, maita valaiskaa! Mut talven poistuneen kun täältä näätte, Ma rukoilen, ma pyydän: palatkaa! 7 wenn wieder sie nach sonn’gen Landen eilen, und hinter sich das eis’ge Lappland sehn. O weiße Vögel, Lapplands Sommergäste, ich grüße euch, ihr leuchtenden Ideen! O bleibet hier, baut hier doch eure Nester! mögt dann zum fernen Süden ihr auch gehn! O nehmt zum Vorbild doch die weißen Schwäne! Om Herbst sie ziehn, zurück zu Lenzeszeit. An unsern Stränden wohnt des Friedens Sehnen und sichern Schutz der Tunturi verleiht. O flieget rauschend hin am Himmelsbogen! Vollführet Taten, schaffet Licht ringsum! Doch hört ihr, daß der Winter sich verzogen, ich fleh euch an, bich bitt’ euch: kehret um! (Übersetzung: Friedrich Ege) Nocturne (1905) Ruislinnun laulu korvissani, tähkäpäiden päällä täysi kuu; kesä-­‐yön on onni omanani, kaksisavuun laaksot verhouu. En ma iloitse, en sure, huokaa; mutta metsän tummuus mulle tuokaa, puunto pilven, johon päivä hukkuu. siinto vaaran tuulisen, mi nukkuu, tuoksut vanamon ja varjot veen; niistä sydämeni laulun teen. Sulle laulan neiti, kesäheinä, sydämeni suuri hiljaisuus, uskontoni, soipa säveleinä, tammenlehvä-­‐seppel vehryt, uus. En ma enää aja virvatulta, onpa kädessäni onnen kulta; pienentyy mun ympär' elon piiri; aika seisoo, nukkuu tuuliviiri; edessäni hämäräinen tie tuntemattomahan tupaan vie. Liegt des Wachtelkönigs Lied im Ohr, überm Ährenfeld der volle Mond; Sommernacht, sie trägt mein Glück mir vor, Schwendbrandschwaden überm Talgrund thront. Fernab Freude, Kummer, Seufzerhauch; Waldesdunkel tragt herzu und auch Wolkenröte, drin der Tag ertrinkt, windgen Berges Blau, das traumversinkt, Wasserschatten und Linnäenduft; meines Herzens Lied aus alldem ruft. Dir ich singe Feinslieb, Sommergras, meines Herzens tiefe Stille sei, meinen Glauben mir in Töne faß, grün den Kranz aus Eichenzweigen neu. Jag dem Irrlicht nicht mehr hinterdrein, Glücksgold bettet meiner Hand sich ein; enger zieht sich meines Lebens Kreis; still die Wetterfahne, ohne Zeit; auf dem Weg ins Unbekannte weiß Dämmrung mir zu geben das Geleit. (Übersetzung: Manfred Peter Hein) Leino als Prosaist
Auch wenn Leino als Lyriker bekannt ist, war er auch in allen anderen Gattungen zuhause. Außer Lyrik schrieb er Romane, Novellen, Essays usw. und übersetzte Klassiker der Weltliteratur, z.B. die Divina Commedia von Dante, sowie Werke von Runeberg. 1910 schrieb er auch eine kleine Geschichte der finnischen Literatur, wo natürlich noch relativ wenige Schriftsteller vorkommen, aber er analysiert die verschiedenen Tendenzen ziemlich treffend. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Nationale Neuromantik und Symbolismus
8 Bereits in jungen Jahren arbeitete er in Päivälehti als Literaturkritiker und Autor von Glossen. Als Prosaist ist weit weg von der lyrischen Stimmung seiner Gedichte, und er betrachtet die aktuellen Ereignisse der Zeit im fließenden und treffenden Stil wie ein Journalist. In der sogenannten Routavuositrilogia (“Trilogie der Bodenfrostjahre”, genannt nach den Hauptpersonen: Tuomas Vitikka, Jaana Rönty, Olli Suurpää, 1906-­‐‑08) schuf er einige Archetypen der Menschen seiner Zeit, und beschreibt das Schwanken eines Bürgerlichen zwischen verschiedenen aktuellen Ideologien in der sogenannten Sklaventetralogie (Työn orja ‘Sklave der Arbeit’, Rahan orja ‘Sklave des Geldes’, Naisen orja ‘Sklave der Frau’, Onnen orja ‘Sklave des Glücks’, 1911-­‐‑13). Der Protagonist ist von ganz unten an die Spitze des Wirtschaftslebens gestiegen, und möchte sich jetzt Schritt für Schritt von den Fesseln des modernen Menschen befreien: von seiner Arbeit, Geld und Liebe. Frei ist er jedoch erst in der Einsamkeit, nach dem er alle Ideologien und auch sein Glück aufgegeben hat. An sich ist die Sklaventetralogie eine starke Kritik an den kapitalistischen Machthabern. Otto Manninen (1872-1950)
Manninen sowie auch Koskenniemi sind Erben des europäischen Symbolismus. Manninen war in der Weltliteratur zu Hause und seine Übersetzungstätigkeit im Bereich der europäischen Klassiker ist bemerkenswert, unter anderem Homer (Ilias, Odyssee), Molière (Der Menschenfeind), Sophokles (Antigone, König Ödipus), Goethe (Faust 1-­‐‑2), Heine, Schiller, Nietzsche (Also sprach Zarathustra), Ibsen, Petőfi, Runeberg … Ein Beweis für seine sprachlichen Fähigkeiten ist auch, dass er in der Lage war, Gedichte auch auf Schwedisch und auf Latein zu schreiben. Nebenbei übersetzte er auch eine Sammlung finnischer Gedichte ins Deutsche (”Suomis Sang”). Otto Manninen gilt als der stilistisch reinste Symbolist der finnischen Literatur. Er hat zu seinen Lebenszeiten nur vier Gedichtbände herausgegeben (Säkeitä ‘Zeilen’ I und II (1905-­‐‑10), Virrantyven (‘Stromstille’, 1925), Matkamies (‘Der Reisende’, 1938)), und posthum erschien noch Muistojen tie (‘Der Weg der Erinnerungen’, 1951). Er blieb seinem Stil treu, sodass man zwischen den Werken eigentlich keine Unterschiede feststellen kann. In seiner Dichtung vertrat er vor allem reine, innere Werte wie Selbstlosigkeit, und war gegen Wichtigtuerei, Populismus und Machtgier. Egoismus dominiert oft auch in Freundschaften – dabei bleiben die wirklichen Gedanken und Gefühle unterdrückt. Manninen interessiert es, was hinter den Masken passiert: Modus vivendi Istun ja tuijotan hiljaa tummuu ympärillä yö. Sen siis vaivaista viljaa suo elon suottatyö. Tusina tuttuja osta, sanoihin sanoja myö, Ich sitze und starre schweigend, ringsum wird die Nacht dunkel. Soviel von ärmlichem Getreide ergibt also die Umsonst-­‐Arbeit des Lebens. Ein Dutzend von Bekannten sollst du kaufen, für Wörter Worte verkaufen, Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Nationale Neuromantik und Symbolismus
naamiotas älä nosta, -­‐ kauppa se leiville lyö. Tunnolle kapalo kaavan, tuskalle kapulavyö, -­‐ näyttämätöntä haavan ei susi sutta syö. 9 deine Maske sollst du nicht abheben – dieser Handel rentiert sich. Dem Gewissen die Windel der Regeln, dem Schmerz den Knebel – den Wolf, der seine Wunde nicht zeigt, wird der andere Wolf nicht fressen. Pedantisch hat er an seinen Gedichten gearbeitet und an den Details geschliffen. Das Ergebnis ist eine kompakte Ausdrucksform, die etwas schwer verständlich wirkt. Oft sind die Gedichte auch vom Wortschatz und der Grammatik her etwas unkonventionell, auf Kosten der Verständlichkeit. Sein knapper Stil ist beladen mit vielen möglichen Bedeutungen und Interpretationsmöglichkeiten. Der Leser muss viel mehr zwischen den Zeilen lesen als zum Beispiel bei Koskenniemi und Leino. V. A. Koskenniemi (1885-1962)
Nach Eino Leinos Tod nahm V. A. (Veikko Antero) Koskenniemi seine Stelle als ”Hofdichter” Finnlands ein. Seine Reden und Gedichte wurden für viele patriotische Ereignisse bestellt. Neben seiner literaren Tätigkeit war Koskenniemi auch ein scharfer Kritiker, Professor und Mitglied der finnischen Akademie. Auf viele Weisen war Koskenniemi aber das Gegenteil von Leino. Leino war ein europäischer Kulturliberaler und fast –radikal, Koskenniemi war eher der nationale Kulturkonservative. Politisch war Leino ein Jungfinne, Koskenniemis politische Richtung war das konservative Altfinnische. Leinos Inspirationsquellen waren die Mythologie des Kalevala und der Karelianismus. Koskenniemi ererbte seine künstlerischen Prinzipien von Runeberg und von europäischen Strömungen: Zum Teil benützte er auch Themen und Versmaße der Antike. In vielen Gedichten von Koskenniemi wiederholt sich der Gegensatz zwischen dem kleinen Menschen und dem großen Universum. Vom Form her sind seine Gedichte sehr traditionell, und auch als sich die Lyrik in Finnland modernisierte, blieb er bei der alten Form. Yli vaikenevain kattoin Sortuu heikko suku alle unelmainsa omain, nukkuu kamaralle kylmän, kovan maan. Kuu ja tähdet jatkaa ylhää kulkuaan, halki avaruutten, suurten sanattomain. ... Über schweigende Dächer Das schwache Geschlecht wird unter seinen eigenen Träumen gebrochen, schläft ein auf der kalten, harten Erde. Der Mond und die Sterne setzen ihren hehren Gang fort durch den großen, sprachlosen Weltraum. Koskenniemi war auch der erste Stadtdichter: Keskiyön kaupunki On autioina kadut keskiyön. Nyt lepää aika, päivän työt ja tavat, Stadt in der Mitternacht Menschenleer sind die Straßen in Mitternacht. Jetzt ruhen die Zeit, die Arbeit und die Bräuche Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Nationale Neuromantik und Symbolismus
niin oudot äänet yössä kumajavat, kun kengänkoroin katukiviin lyön. ... 10 des Tages, so seltsame Stimmen schallen in der Nacht, wie meine Schuhhacken gegen den Pflaster schlagen. ... Berühmt ist Koskenniemi jedoch für viele seiner patriotischen Gedichte, mit denen er der ”Hofdichter des weißen Finnlands” wurde. Unter anderem stammen von ihm der Text zur Finlandia-­‐‑Hymne von Sibelius, so auch Lippulaulu (‘Fahnenlied’) und Nuijamiesten marssi (‘Marsch der Keulenkrieger’; der Titel weist auf einen finnischen Bauernaufstand des späten 16. Jahrhunderts hin, der in der konservativ-­‐‑patriotischen Ideologie dieser Zeit oft als nationaler Unabhängigkeitskrieg gegen die fremde Herrschaft gedeutet wurde). Finlandia Oi Suomi, katso, sinun päiväs' koittaa, yön uhka karkoitettu on jo pois, ja aamun kiuru kirkkaudessa soittaa kuin itse taivahan kansi sois'. Yön vallat aamun valkeus jo voittaa, sun päiväs' koittaa, oi synnyinmaa. Oi nouse, Suomi, nosta korkealle pääs' seppelöimä suurten muistojen, oi nouse, Suomi, näytit maailmalle sa että karkoitit orjuuden ja ettet taipunut sa sorron alle, on aamus' alkanut, synnyinmaa. O Finnland, siehe, dein Tag bricht an, die Gefahr der Nacht ist weggetrieben, und die morgendliche Lerche singt im hellen Schein als klänge selbst das Firmament. Die Mächte der Nacht weichen vor dem Morgenlicht, dein Tag bricht an, o Vaterland. O erhebe dich, Finnland, hebe hoch dein Haupt, umkranzt von großen Erinnerungen, o erhebe dich, Finnland, du zeigtest der Welt, dass du das Sklaventum wegtriebst und dass du dich nicht unterdrücken ließest. Dein Morgen hat begonnen, Vaterland. Andere Lyriker der Zeit
Larin-­‐‑Kyösti (Kyösti Larsson, 1873-­‐‑1948) ist für seinen volksliedartigen Stil bekannt. Sein Werk umfasst etwa 50 Werke über ein halbes Jahrhundert: außer Lyrik auch Theaterstücke, Kurzgeschichten und Romane. L. Onerva (eigentlich Hilja Onerva Lehtinen, 1882-­‐‑1972) war wie Larin-­‐‑Kyösti eine produktive und vielseitige Autorin. Auch sie schrieb nicht nur Lyrik sondern auch Prosa, Drama und Essays. L. Onerva kannte sich gut mit der französischen Lyrik aus, die sie auch übersetzte (u.A. Baudelaire, Voltaire, Hippolyte Taine). Im Roman Mirdja (1908) kommt ein neuartiger Charakter in die finnische Literatur: eine selbstständige Frau die auf viele Art und Weise die christlichen Moralerwartungen bricht. Berühmt ist Onerva auch dafür, dass sie eine lange Beziehung mit Eino Leino hatte und später über ihn eine umfassende Biographie geschrieben hat. Juhani Siljo (1888-­‐‑1918) ist ein ernster Dichter, der durch innere ehrliche Empfindungen die Welt wahrnimmt. Siljo war auch ein Aforistiker, der unter anderem meinte, der Dichter soll entweder vor seiner Zeit sein, oder gegen den Strom schwimmen, nicht mit. Siljo starb im Bürgerkrieg auf der Seite der Weißen. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Nationale Neuromantik und Symbolismus
11 Wiederholungsfragen
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Was ist das „Goldene Zeitalter“ der finnischen Kunst? Was versteht man mit der Nationalen Neuromantik? Welche neuen Einflüsse brachte die Modernisierung der Gesellschaft zur Literatur? Wie ist Symbolismus anders als Realismus? Was ist modern und was ist traditionell in Helkavirsiä? Was für ein Bild gibt das Gedicht Lapin kesä vom kulturellen Klima Finnlands? Wie würden Sie den Stil von Otto Manninen beschreiben? Was macht Koskenniemi zum „Hofdichter des weißen Finnlands“? Begleitende Lektüre
Lassila: Geschichte der finnischen Literatur, S. 97–109 Weiterführende Lektüre
Bienek, Horst (Hrsg.) 1973. Finnische Lyrik aus hundert Jahren. Ins Deutsche übertragen von Friedrich Ege. Merlin Verlag, Hamburg. Lassila, Pertti 1996: Geschichte der finnischen Literatur. A. Francke Verlag Tübingen und Basel. Laitinen, Kai 1997: Suomen kirjallisuuden historia. 4. Auflage. Otava, Helsinki. Laitinen, Kai 1989: Finnische Literatur im Überblick. Otava, Helsinki. Manninen, Otto 1921: Suomis Sang. Eine Sammlung neuerer finnischer Gedichte. Heinrich Minden Verlag, Dresden und Leipzig. Weithin wie das Wolkenufer – Kuin on pitkät pilven rannat. Finnische Gedichte aus zwei Jahrhunderten – Suomalaisia runoja kahdelta vuosisadalta. Ausgewählt und übersetzt von Manfred Peter Hein. Wallstein Verlag. evsl
skriptum
Institut
für
Europäische
Vergleichende
SprachLiteraturwissenschaft
Abteilung Finno-Ugristik
zur
Lehrveranstaltung
Literaturgeschichte
und
und
Finnische
GESELLSCHAFTSKRITISCHER REALISMUS
Lernziele: Die wichtigsten Werke des Realismus und ihre Hintergründe in der finnischen Kulturgeschichte kennen. Hintergründe
Dem Tod von Aleksis Kivi folgte eine ziemlich stille Phase in der finnischen Literatur. In den 1870ern wurde hauptsächlich Kurzprosa geschrieben, die oft in der wachsenden Presse veröffentlicht wurde: Novellen, Erzählungen, kleine Theaterstücke und relativ wenig Dichtung. Einer Erwähnung wert ist Pietari Päivärinta (1827-­‐‑1913), ein Autodidakt, dessen Erzählungen das breite Publikum ansprachen; seine Erzählungen wurden auch ins Deutsche übersetzt. Hauptsächlich kommen seine Themen aus seinem eigenen Leben. Seinen Durchbruch schaffte er mit dem autobiographischen Roman Elämäni (Mein Leben, 1877) und mit der Erzählungsreihe Elämäni havainnoita (Beobachtungen aus meinem Leben, 1879-­‐‑1889). Er ist auch ein geschickter Beschreiber des armen Volkes, welches im nächsten Jahrzehnt auch bei den Realisten ein beliebtes Thema war. Von den internationalen Strömungen dieser Zeit (Realismus und Natura-­‐‑
lismus z.B. in Frankreich) war in der finnischen Literatur in den 1870ern nichts zu spüren. Die realistischen und naturalistischen Einflüsse der europäischen Literatur landeten im selben Jahrzehnt in der skandinavischen Literatur: in Norwegen Bjørnstjerne Bjørnson und Henrik Ibsen, in Schweden August Strind-­‐‑
berg führten den Realismus und Naturalismus in die skandinavische Literatur ein. Erst in den 1880er Jahren haben diese Strömungen Finnland erreicht. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Welt und auch die finnische Gesellschaft schnell. Lange war die agrare Gesellschaft relativ statisch geblieben, aber die Hungerjahre 1867-­‐‑68 brachten die alte Gesellschaftsstruktur in Bewegung. Die wachsende Industrie zog solche Leute in die Städte, die von der Landwirtschaft nicht leben konnten. Eine zunehmende Liberalisierung der Wirtschaft führte bald zum industriellen Kapitalismus und damit wurden auch die sozialen Missstände in der Gesellschaft langsam sichtbar. Die realistische Literatur interessierte sich für diese sozialen Probleme und wollte sie zur Diskussion bringen und lösen. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Gesellschaftskritischer Realismus
2 Im Hintergrund des Realismus steckt auch eine bildungshistorische Ver-­‐‑
änderung, eine Art Generationenwechsel. Ab den 1880ern hatte Finnland schon eine Generation, die finnischsprachige Schulbildung hatte genießen können. Jetzt war es möglich, Snellmans Ideologie in die Praxis umzusetzen. Andererseits hatte diese Generation jedoch den Patriotismus im fennomanen Sinne satt und richtete ihre Aufmerksamkeit und Energie auf die gesellschaftlichen Fragen anstatt auf die nationalen Fragen. Es wurde deutlich, dass die finnische Gesellschaft und die Finnen nicht so homogen und ideal waren, wie die Fennomanen sie beschrieben hatten. Viele der traditionellen Werte wurden in Frage gestellt, und dieser Traditionsnsbruch wurde auch von vielen Schriftstellern thematisiert. Die sprachpolitischen Fragen und die Sprachplanungsfragen waren auch nicht mehr so zentral, da die neue Schriftstellergeneration jetzt über eine standardisierte finnische Schriftsprache verfügte. Im Hintergrund des finnischen Realismus wirkten auch viele internationale Einflüsse: Darwin mit seiner Evolutionstheorie, John Stuart Mill und seine Gedanken über die Gleichstellung, der historische Darwinismus und Anti-­‐‑
klerikalismus von Henry Thomas Buckle und die Milieutheorien von Hippolyte Taine. Einen großen Einfluss hatte auch der dänische Realist Georg Brandes, der betonte, es sei die Aufgabe der Literatur die gesellschaftlichen Probleme zu thematisieren. Die aktuellen internationalen Einflüsse erreichten Finnland, dank der wachsenden und aktiven Presse, schneller denn je. Die finnischen Schriftsteller hatten auch viele ausländische Vorbilder, vor allem in Skandinavien: die Norweger Henrik Ibsen und Bjørnstjerne Bjørnson, sowie der Schwede August Strindberg wurden in Finnland schnell rezipiert (auch weil alle gebildeten Finnen Schwedisch und dadurch auch andere skandinavische Sprachen verstanden). Die Theaterstücke von Ibsen wurden in Finnland fast umgehend übersetzt und aufgeführt. Viele finnische Künstler bekamen Französische Einflüsse aus Paris, da sie zu dieser Zeit gerne dorthin reisten. Auch der russische Realismus hatte Zugang zur finnischen Literatur, vor allem durch die berühmte Kulturfamilie Järnefelt. Elisabeth Järnefelt (geborene von Clodt, 1839-­‐‑1929), Tochter einer russisch-­‐‑
baltendeutschen Familie aus St. Petersburg und Gattin eines nationalistisch gesinnten finnischen Generals, sammelte junge, kultur-­‐‑ und literaturinteressierte Leute um sich herum. Dieser Literaturkreis, der in Helsinki und später in Kuopio zusammenkam, brachte Einflüsse von Tolstoi und die Kunsttheorien von Belinski in die finnische Literatur. Zum Einflussbereich dieser „Järnefelt-­‐‑
Schule“ gehörten die Kinder der Familie (der Schriftsteller Arvid Järnefelt, der Komponist und Dirigent Armas Järnefelt, der Maler Eero Järnefelt und die Tochter Aino Järnefelt, die Frau des Komponisten Jean Sibelius), sowie die Schriftsteller Juhani Aho und Kauppis-­‐‑Heikki, und für einige Zeit auch Minna Canth. Kai Laitinen (S. 218) sieht bereits frührealistische Züge in der Literatur, angefangen von den Epen von Runeberg sowie in Kalevala. Diese realistischen Züge werden bei Kivi stärker, und bei Pietari Päivärinta sieht man zum Teil auch Gesellschaftskritik. Laitinen listet folgende Punkte auf, die typisch für den finnischen Realismus sind: Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Gesellschaftskritischer Realismus
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Fehlen des Patriotismus Milieutheorie kalte, emotionlose Einstellung “eines Außenstehenden” Sympathie für das Proletariat Sympathie für Frauen Hass auf Leute von Stand, besonders Geistliche das Hässliche soll hervorgebracht werden, “weil es wahr ist” Vermeidung von historischen Themen Bevorzugung von “geringen”, “minderwertigen” Themen Realismus als Stil Verwendung von “Typen”, Hochschätzung des “Typischen” die Lyrik spielt eine geringe Rolle und wird sogar geringgeschätzt. 3 Traditionell spricht man in Finnland über Realismus der 1880er Jahre, aber Merkmale des Realismus sieht man in der Literatur schon früher. Die realistische Tradition reicht bei manchen Autoren bis weit in das 20. Jahrhundert. Weil die Einflüsse der europäischen Realismus und Naturalismus relativ spät und gleichzeitig Finnland erreichten, kann man schwer den Realismus und Naturalismus in der finnischen Literatur trennen. Die ersten Zeichen des programmatischen Realismus sieht man etwa ab 1884-­‐‑85 bei Minna Canth und Juhani Aho, und auf der schwedischsprachigen Seite bei Hjalmar Neiglick sowie bei Karl August Tavaststjerna. Typisch für die realistischen Autoren war, dass sie die gesellschaftlichen Fragen nicht nur in ihrer Literatur behandelten, sondern auch sonst in der Gesellschaft aktiv waren, vor allem in der Presse, wo sie auch selber ihre Ziele definierten. So definiert Juhani Aho den Realismus (“Realistisesta kirjallisuudesta sananen”, ‘Ein Wörtchen über die realistische Literatur’, in Kaiku 1885): ‘Die realistische Literatur, so wie auch der Name zeigt, basiert auf wirklichen Umständen. Sie will sich bei den Schilderungen auf der Grundlage des natürlichen Lebens positionieren, und sowohl die guten als auch die schlechten Seiten des Lebens zum Stoff nehmen.’ Nach Minna Canth (1890) soll ein realistischer Autor “aus äußeren Ausdrücken und Handlungen Schlussfolgerungen zum Charakter der Seele und zum inneren Zustand des Menschen ziehen, und dabei versuchen, wissen-­‐‑
schaftlich zu erklären, warum der Erforschte eben so und nicht anders ist. Zu diesem Zweck wird die Aufmerksamkeit auf geerbte Eigenschaften, gesund-­‐‑
heitlichen Zustand, Erziehung, äußere Umstände usw. gerichtet, die alle auf die Entwicklung des Individuums wirken.” In einem Brief aus 1886 schreibt Canth: “Ein Autor soll ehrlich sein und alles so beschreiben, wie es ist, nichts schöner machen. Die Literatur soll ein Spiegel sein, der den Menschen zeigt, wie sie sind. -­‐‑-­‐‑ Ein Autor soll Fotos schaffen. Und wenn das Foto einem nicht gefällt, dann ändern wir das Leben.” Anhand dieser Definitionen wird ersichtlich, wie wichtig die Darstellung der guten und schlechten Seiten des Lebens den Realisten war. Es war wichtig, die ungeschminkte Wahrheit zu zeigen. Canth vergleicht die Literatur mit einem Spiegel oder mit einem Fotoapparat, die die Wahrheit so zeigen wie sie ist. Wenn einem das Bild nicht gefällt, soll man die Lebensumstände ändern – dadurch wird auch das Bild besser. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Gesellschaftskritischer Realismus
4 Interessant sind auch ihre Überlegungen über die erblichen Eigenschaften, die wohl auf Gedanken Darwins zurück gehen. Für Canth scheinen die geerbten Eigenschaften, nicht nur die äußeren Umstände, die Entwicklung eines Menschen zu beeinflussen. Heute wissen wir, dass auch Fotos manipuliert werden können, und dass zum Beispiel die soziale Stellung eines Menschen (zumindest nicht genetisch) erbbar ist, aber Canths Schreiben zeigen auf interessante Weise, wie sie sich für die sozialen Probleme einsetzte und sich für die internationalen Entwicklungen der Wissenschaft interessierte. Der finnische Realismus beinhaltet also jede Menge ethischen und gesellschaftlichen Idealismus. Gleichzeitig ist er aber auch eine Gegenreaktion zum nationalen Idealismus der Fennomanen wie zum Beispiel Runeberg und Topelius. Minna Canth (1844–1897)
Minna Canth war auf viele Weisen eine Bahnbrecherin für die finnischen Frauen. Sie wollte nach ihrer Schulzeit selbständig werden und einen eigenen Beruf haben. Dazu war eine Lehrerkarriere für Frauen die beste Möglichkeit. Sie zog nach Jyväskylä und durfte da als eine der Ersten das neugegründete finnischsprachige Lehrerseminar besuchen. Während ihres Studiums lernte sie aber Johan Ferdinand Canth kennen, der Lektor für Naturwissenschaften im selben Seminar war; sie heirateten, und danach, als die ersten Kinder zur Welt kamen, musste Minna Canth ihr Studium abbrechen. Bereits in Jyväskylä wurde sie jedoch gesellschaftlich aktiv: sie schrieb ihre ersten Kurzgeschichten und auch kritische Meinungen – über die Gesellschaft und Stellung der Frau – in Zeitungen. Damit wurde sie die erste finnischsprachige Publizistin in Finnland. Ein Wendepunkt in ihrem Leben war das Jahr 1879. Sie war Mutter von sechs Kindern und hochschwanger mit dem Siebten, als ihr Mann starb. Die Alleinerzieherin von sieben Kindern zog daher nach Kuopio, wo sie das Geschäft ihres Vaters übernahm und ihren Lebensunterhalt damit verdiente. Als Geschäftsfrau wurde sie nach ein paar Jahren so erfolgreich, dass sie mehr Zeit dem Schreiben widmen konnte. Ihr erstes Werk nach den bereits veröffentlichten Kurzgeschichten war das volkstümliche Theaterstück Murtovarkaus (‘Der Einbruchdiebstahl’, 1882). Im Finnischen Theater, geleitet von Kaarlo Bergbom, mangelte es an finnisch-­‐‑
sprachigen Stücken. Daher schickte Canth ihr Manuskript an Bergbom, der es mit Begeisterung auf den Spielplan nahm. Mit Murtovarkaus und den späteren Theaterstücken wurde Canth die bedeutendste Dramatikerin in Finnland seit Aleksis Kivi. Nach Murtovarkaus widmete Canth sich gesellschaftlichen Themen. Työmiehen vaimo (Die Frau eines Arbeiters, 1885) kritisiert die Gesellschaft und vor allem das patriarchale Familiensystem. Die Männer in diesem Stück sind egoistische Trinker, und auch die kleinbürgerlichen Damen der Stadt werden nicht gerade positiv dargestellt. Die Hauptfigur Johanna muss unter diesen Umständen leiden. Ihr Mann Risto gibt die gemeinsamen Ersparnisse fürs Trinken aus und betrügt Johanna mit der Zigeunerin Homsantuu, die zum Schluss in ihrer Erbitterung Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Gesellschaftskritischer Realismus
5 Risto erschießen will. Auch wenn Homsantuu ihr Ziel nicht trifft, trifft Canth in dem Stück ein paar wichtige Punkte: Alkohol und die Oberherrschaft der Männer in Familien geraten unter Kritik. In den nächsten Werken wiederholen sich ähnliche Themen. Hanna (1886) erzählt über die Entwicklung einer jungen Frau, und Köyhää kansaa (‘Arme Leute’, 1886) beschreibt die Ärmeren und Kranken der Gesellschaft. In Kovan onnen lapsia (Kinder eines harten Schicksals, 1888) geht die Ge-­‐‑
sellschaftskritik noch weiter – sogar etwas zu weit, meinten die Zeitgenossen. Das Stück fand man übertrieben und es wurde sehr stark kritisiert. Nach einer einzigen Aufführung wurde es vom Spielplan des Finnischen Theaters gestrichen. Canth hat die Kritik aber nicht zum Schweigen bringen können: Die Geschichte der Kauppa-­‐‑Lopo (Trödel-­‐‑Lopo, 1889) zeigt weitere Schattenseiten der Gesellschaft. Auch wenn die Hausiererin Kauppa-­‐‑Lopo äußerlich widerlich ist, klaut und trinkt, ist sie trotz allem viel menschlicher als die bürgerlichen Damen, die sie verurteilen. Im Schauspiel Papin perhe (Pfarrerfamilie, 1891) bewegt sich Canth wiederum in besseren Kreisen der Gesellschaft. Es geht um den Gegensatz der alten und neuen Generation. Der Pfarrer Valtari versucht seine Familie als Patriarch unter seiner Kontrolle zu halten, aber die Kinder sind von den neuen Strömungen der Zeit begeistert, und rebellieren. Die Gesellschaftskritik ist in diesem Stück nicht mehr so stark; es gibt auch mehr Humor, und am Ende eine Versöhnung. Nach der gesellschaftskritischen Phase wendet sich Canth mehr und mehr an individuelle Probleme des Menschen, und auch wenn die psychologische Beschreibung der weiblichen Hauptfiguren in Sylvi (1893) und Anna Liisa (1895) das Wichtigste ist, sieht man auch die Wirkung der Gesellschaft im Hintergrund. Sylvi ist eine naive junge Ehefrau, die noch starke Gefühle für ihre Jugendliebe empfindet und in ihrer Verzweiflung ihren Ehemann vergiftet. Auch Anna Liisa hat ein dunkles Geheimnis: als junges Mädel hat sie ein uneheliches Kind zur Welt gebracht und es dann anschließend getötet. Einige Jahre später kommt das Geheimnis ins Tageslicht, als sie bereits einen anderen Mann kennengelernt hat und ihn heiraten will. Anstatt einer Verzweiflungstat wählt Anna Liisa einen anderen Weg, zeigt innere Reife und übernimmt die Verantwortung für den Kindesmord, auch wenn sie deswegen ihre Heiratspläne aufgeben und ins Gefängnis gehen muss. Minna Canth war die führende Dramatikerin ihrer Zeit. Ihr gelang, was die Realisten als ihr Ziel definierten: Canth hat die zentralen Probleme der damaligen Gesellschaft in ihren Werken angesprochen und sie in die gesellschaftliche Diskussion gebracht. Sie setzte sich auch gegen die idealisierte Haltung, die die Romantiker gegenüber dem Volk und dem Vaterland hatten. Sie zeigte die Umstände so wie sie waren, manchmal auch etwas übertreibend, sodass man gezwungen war, Stellung zu ihren Werken und damit auch zu den gesellschaftlichen Problemen zu nehmen. Sie war auch die Vorreiterin in Frauenfragen, sowie auch Kritikerin der von Männern dominierten Gesellschaft. Im finnischen Realismus war sie die leitende Persönlichkeit, auch wenn der Realismus mit seinen ernsten Themen sonst eher als für etwas “Männliches” gehalten wurde. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Gesellschaftskritischer Realismus
6 Juhani Aho (1861–1921)
So wie Minna Canth, gehört auch Juhani Aho zu den führenden Realisten in der finnischen Literatur. Auch Ahos Prosa entwickelte sich im Laufe der Zeit, sodass man nicht alle seine Werke zum Realismus zählen kann. Aho beschreibt lebendig das ländliche Leben. In den frühen Werken ist der Gegensatz der neuen und alten Gesellschaft wichtig. Die ersten Kurzgeschichten (z.B. Silloin kun isä lampun osti, ‘Als der Vater eine Lampe gekauft hat’) wurden 1883 veröffentlicht, und im folgenden Jahr gelang ihm der Durchbruch mit dem Roman Rautatie (‘Die Eisenbahn’, 1884). Dieser Roman beschreibt das Leben eines alten Ehepaars, Matti und Liisa, in ländlicher Gegend ferne von der “Zivilisation”. Sie hören, dass die Eisenbahn jetzt bis zum Nachbarsdorf gebaut worden ist, und versuchen sich vorzustellen, wie so eine “eiserne Straße”, die sie noch nie gesehen haben, ausschauen mag. Aber da sie sich kein Bild vom modernen Transportmittel machen können entscheiden sie sich die Bahn anzuschauen. Sie machen sogar eine Bahnfahrt, die dann nicht so endet wie sie sich das vorgestellt hatten. Gedemütigt müssen sie nach Hause zurückkehren. In diesem Roman ist die Beschreibung des alten Ehepaars, wie sie sich unterhalten und streiten, dem jungen Schriftsteller gut gelungen. Weiters sind im Roman viele Motive vorhanden, die sich in den Werken vieler anderen Autoren der Zeit wiederholen: Der Gegensatz zwischen der modernen und der alten Gesellschaft, die sozialen Unterschiede zwischen einfachen Bauern und wohlhabenden Beamten, phantasievolle Vorstellungen der volkstümlichen Menschen, sowie der Alkohol als Verursacher von tragikomischen Ereignissen. Diese Motive, die teilweise schon bei Kivi zu sehen waren, werden in späteren Volksdarstellungen in der finnischen Literatur weiterentwickelt. Aho blieb aber nicht bei der Darstellung des finnischen Volkes, sondern behandelte – wie Canth – als nächstes die oberen Schichten der Gesellschaft und näherte sich dabei den Themen des gesellschaftskritischen Realismus. In den Romanen Papin tytär (‘Pfarrerstochter’, 1885; dt. Ellis Jugend) und Papin rouva (‘Pfarrersfrau’, 1893; dt. Ellis Ehe) beschreibt er das Erwachsenwerden einer jungen Pfarrerstochter, die später eine unglückliche Ehe mit dem falschen Mann schließt. Dramatik in die Geschichte bringt dann ihre Jugendliebe, der sie, als sie bereits unglücklich verheiratet ist, wieder begegnet. Diese Geschichte hat man auch „Madame Bovary der finnischen Literatur“ genannt. Naturschilderungen sind bei Aho sehr wichtig, und oft spiegelt die Natur auch das innere Leben der Charaktere wider. Besonders Papin rouva hat sich aber damit schon in vieler Hinsicht vom Realismus getrennt. Eher dem Realismus entsprechen die zwei Erzählungen Helsinkiin (‘Nach Helsinki’, 1889) und Yksin (‘Allein’, 1890). In der 1890er Jahren wird auch in seinen Werken die nationale Neuromantik mit karelianistisch-­‐‑nationalromantischen und geschichtlichen Themen sichtbar, wie zum Beispiel im Roman Panu (1897; ein historischer Roman, wo die Hauptfigur, der Schamane Panu den letzten Vertreter der vorchristlichen finnischen Kultur darstellt) und Kevät ja takatalvi (‘Frühling und Nachwinter’, 1906; eine Darstellung des Kulturkonflikts zwischen Fennomanen und Vertretern der evangelisch-­‐‑pietistischen Erweckungsbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts). Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Gesellschaftskritischer Realismus
7 Sein ganzes Leben lang schrieb Aho auch Kurzprosa, die er Lastuja (‚Späne’) nannte. Die erste Sammlung dieser Späne erschien 1891, und insgesamt kamen innerhalb von 30 Jahren bis zur seinem Tode acht Sammlungen heraus. In den Spänen gibt es viele verschiedene Textarten: Novellen, Skizzen, Erinnerungen, politische Allegorien, Prosagedichte... Die Natur spielt auch in vielen Spänen eine wichtige Rolle – viele von denen sind wie Liebesgeständnisse an die finnische Natur. Er skizziert in den Spänen auch verschiedene Menschentypen, die in der späteren Literatur oft vorkommen. Mit zunehmendem Alter wendet Aho sich mehr und mehr der Vergangenheit und seinen eigenen sentimentalen Erinnerungen zu. Eines der wichtigsten Werke seiner späteren Karriere ist Juha (1911; dt. Schweres Blut). Auch hier wie in Papin rouva geht es um eine Dreiecksbeziehung; die Handlungen spielen sich in der “nationalromantischen” schönen Landschaft Ostfinnlands und Kareliens ab, in einer nicht genauer bestimmten historischen Vergangenheit (wo auch die alten Feindschaften zwischen Finnen und Kareliern, schwedischen und russischen Untertanen, ein Thema sind), aber die Hauptrolle spielt die komplexe, realistisch dargestellte Psychologie der Hauptpersonen, die ihre wilden Gefühle selbst nicht verstehen oder gar wahrnehmen können – bevor es zu spät ist. Der alte Bauer Juha und seine junge Frau Marja, die eigentlich fast wie eine Ziehtochter für Juha ist, leben in einer abgelegenen Ortschaft in aller Ruhe, bis der karelische Händler Shemeikka, ein selbstbewusster Frauenheld, auf seiner Reise bei ihnen übernachtet und in Marja ganz neue Gefühle erweckt. Marja ver-­‐‑
schwindet mit Shemeikka – ob sie aus freiem Willen gegangen ist oder ob Shemeikka sie entführt hat, wird für Juha nicht klar und auch Marja selbst versteht nicht ganz, was mit ihr geschehen ist. Jedenfalls erlebt Marja mit Shemeikka ein kurzes leidenschaftliches Glück, das mit einer dramatischen Enttäuschung endet: Marja erfährt, dass sie nur eines der “Sommermädchen” ist, von denen Shemeikka schon einen ganzen Harem hat. Da Marja aber schon Shemeikkas Kind erwartet, kann sie nicht mehr einfach zurück zu Juha fliehen. Nach einem Chaos von Gefühlen, Notlügen und Selbstbetrug endet der Roman dramatisch bei einer Stromschnelle – ein Topos, der in der finnischen Literatur und Filmkunst seitdem tödliche Leidenschaften repräsentiert. Juha gehört zu den beliebtesten Romanen seiner Zeit; anhand des Romans sind zwei Opern und vier Verfilmungen (zuletzt von Aki Kaurismäki 1999) entstanden. Von den finnischen Schriftstellern seiner Zeit war Aho im Ausland der Bekannteste. Er versuchte, aktiv seine Bücher auch außerhalb Finnlands zu vermarkten, und viele davon wurden relativ schnell auch übersetzt. Man kann sagen, dass er der erste finnische Schriftsteller war, der seinen Lebensunterhalt mit Schreiben verdiente. Teuvo Pakkala (1862-1925)
Ein weiterer finnischer Realist war Teuvo Pakkala, der im nordfinnischen Oulu wirkte. Auch seine Werke erzählen von der selben Gegend, deren Menschen und Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Gesellschaftskritischer Realismus
8 Milieu. Viele seiner Hauptfiguren sind Kinder, Jugendliche und Frauen aus dem Proletariat. Vaaralla (‘Auf dem Berg’, 1891) ist ein Kollektivroman, dessen Handlungen sich im Arbeiterstadtteil Vaara (‘Berg’) von Oulu abspielen. Der Roman hat keinen Protagonisten, sondern Pekkala beschreibt das Leben mehrerer Menschen, hauptsächlich von Frauen und Kindern. Zentral ist die Beziehung zwischen dem Proletariat, den Bürgerlichen und der Oberklasse. Der Roman Elsa (1894), die Fortsetzung zu Vaaralla, erzählt zum Teil über die gleichen Personen in derselben Gegend. Elsa ist das Bravste von den Kindern im ersten Roman und wird von allen bewundert, aber im Folgeroman wird sie von einem harten Schicksal getroffen. Sie wird von einem Sohn einer reichen Familie verführt und geschwängert; während Elsa von allen verachtet wird, muss sich der Mann nicht schämen, geschweige denn seine Verantwortung übernehmen, sondern er verlässt Elsa und heiratet standesgemäß eine andere Frau aus besseren Kreisen. Pakkala kritisiert die Stellung der Frau aber auch ihre romantischen Tagesträume. Pakkala beschreibt treffend die Klassengegensätze, und viele Probleme scheinen ihren Ursprung in den gesellschaftlichen Strukturen zu haben. Die Bewohner von Vaara sind natürlich arm, aber zeigen Solidarität und Hilfsbereitschaft, ganz im Gegenteil zum Verhalten der reichen Frauen der Stadt. Dasselbe Motiv kennen wir schon von den Werken von Minna Canth. Auch Pakkala ist gesellschaftskritisch, aber vielleicht nicht so direkt wie Canth. Seine Kritik funktioniert oft durch Ironie. Durch Pakkala bekamen in der finnischen Literatur aber nicht nur Frauen sondern erstmals auch Kinder ihre Stimme zu hören, vor allem in seinen Romanen Lapsia (‘Kinder’, 1895) und Pikku ihmisiä (‘Kleine Menschen’, 1913). Auch in diesen Romanen finden wir dasselbe Ouluer Arbeitermilieu, aber auch psychologische Intensität und Humor. Zu seiner Zeit wurde die psychologische Beschreibung von Kindern von Wenigen verstanden, unter anderem Juhani Aho lobte sein Stil. Pakkala schrieb auch einige Theaterstücke, das berühmteste davon ist wohl Tukkijoella (frei übersetzt etwa: ‘Am Fluss der Flößer’, 1899), ein harmloses Musiktheaterstück, das nichts mit der Gesellschaftskritik zu tun hat und schon vom Anfang an sehr beliebt wurde. Andere Realisten
Viele Realisten bewegten sich in den Kreisen der Zeitung Päivälehti und des Albums Nuori Suomi, aber auch außerhalb von Helsinki waren literarische Kreise aktiv. In Kuopio hatte Minna Canth ihren literarischen Salon, so auch die später dorthin gezogene Elisabeth Järnefelt mit ihrer Familie. Viele Schriftsteller der Zeit hatten Kontakt entweder mit Canth oder Aho, oder mit beiden. Ein interessantes Beispiel ist Kauppis-­‐‑Heikki (Heikki Kauppinen, 1862-­‐‑1920), der zuerst als Knecht beim Pfarrhof von Juhani Ahos Vater arbeitete und dort natürlich auch Juhani Aho und über ihn auch neuere Literatur kennen lernte. Später arbeitete er im Geschäft von Minna Canth in Kuopio. Sein Streben nach Bildung war so groß, dass er später sogar Lehrer wurde. Er war als Schriftsteller Autodidakt, und beschreibt in seinen Werken vor allem die ländliche Gegend Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Gesellschaftskritischer Realismus
9 aber auch Frauenschicksale. Sein Gesamtwerk beinhaltet beinahe 20 Romane und Kurzgeschichten. Direkt aus der Familie Järnefelt kam auch ein Schriftsteller, Arvid Järnefelt (1861-­‐‑1932), der als Realist anfing, sich danach aber zur tolstojschen Selbstbetrachtung wandte. Sein Roman Isänmaa (Vaterland, 1893) ist eine gut gelungene Beschreibung des studentischen Lebens und der herrschenden patriotischen Ideologien der Jahrhundertwende. In der Entwicklung des Protagonisten, des Studenten Heikki Vuorela, kristallisiert sich der Gegensatz der alten und neuen Generation, die patriarchalische Gesellschaft und seine alten Werte im Gegensatz zum städtischen Leben und neuen Ideologien der jungen Leute heraus. Zur selben Zeit stieg Karl August Tavaststjerna (1860-­‐‑98) an die Spitze der finnlandschwedischen realistischen Literatur mit den Romanen Barndomsvänner (Freunde aus der Kindheit, 1886) und Hårda tider (Harte Zeiten, 1891). Im ersten beschreibt auch er das studentische Leben, und Hårda tider erzählt sehr realistisch von der Hungersnot in den 1860er Jahren und bietet Einblicke in verschiedene gesellschaftliche Schichten in der Zeit. Die Kritik richtet sich vor allem auf die Oberklasse und die Religion. Im Roman zeigt sich, wie die runebergischen idealisierten Vorstellungen über das finnische Volk im krassen Gegensatz zu der Wirklichkeit stehen. Die finnlandschwedische Identität und das Verhältnis zwischen der finnisch-­‐‑ und schwedischsprachigen Bevölkerung war für Tavaststjerna ein wichtiges Thema, auch wenn er sich selber am ehesten als Kosmopolit definierte. Der Roman En patriot utan fosterland (Ein Patriot ohne Vaterland, 1886) behandelt diese Thematik durch den Protagonisten, der seinen Platz und seine nationale Identität sucht. Anders als die meisten anderen Realisten, war Tavaststjerna auch als Dichter bekannt (unter anderem mit seiner Debütsammlung För morgonbris, 1883.) Zusammenfassung: Realismus und Naturalismus
Der Realismus in der Literatur erfolgte aus der modernen Weltanschauung, die die Aufmerksamkeit auf die ungeschminkte Wahrheit – anstatt der Ideale – richtete. Die Schriftsteller verstanden sich als “Wissenschaftler”, die die Wirklichkeit mit “wissenschaftlicher” Präzision und Objektivität erforschen. Dass der Fokus auf der “hässlichen Wahrheit” lag, bedeutete einen gewissen Pessimismus: oft wurden Verfall, Ruinen, Tod, Krankheiten, persönliches Scheitern und Missglück geschildert. Anstatt der romantischen Helden, die etwas Exzeptionelles verkörperlichten und über den “normalen Sterblichen” standen, wollten die Realisten den alltäglichen, mittelmäßigen Menschen darstellen. Im besonderen Fokus stand oft die Frau: als geringgeschätzte, unterdrückte Person, als Trägerin von Alltags-­‐‑
sorgen und besonders als Opfer der ungerechten patriarchalen Gesellschaft (die Tragödie der “gefallenen Frau”). Die Realisten wollten bei ihren Lesern eine Schockreaktion hervorrufen, die Leserschaft über Missstände der Gesellschaft aufklären. Weil sie die Leser zur Verbesserung der Gesellschaft bewegen wollten, weisen ihre Werke oft auch einen gewissen Optimismus auf: eine glückliche Lösung ist möglich. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Gesellschaftskritischer Realismus
10 Die Wirkungen des Realismus auf die finnische Literatur fasst Lassila (S. 95–
96) so zusammen: •
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Durch den Realismus finden die verschiedenen Geschlechter, Altersgruppen und sozialen Schichten als gleichwertige Handelnde Eingang in die Literatur. Der Mensch und die Gesellschaft werden in der Literatur komplizierter, unberechenbarer und widersprüchlicher als zuvor. Die Sprache näherte sich der normalen Umgangssprache. Die Literatur wurde selbstständiger und aktueller; sie war mehr als nur ein Werkzeug des nationalen Entwicklungsprozesses. Der Realismus kommentiert, kritisiert und hinterfragt die gesellschaftlichen Werte und Ziele, schuf auch selbst neue Interpretationen. Die Literatur erlebte eben zu dieser Zeit eine Modernisierung: Die Produktion und Verbreitung der Literatur wuchsen schnell, viele neue Schriftsteller kamen in die Literatur. Die wichtigsten kommerziellen Verlage entstanden, und finnische Literatur wurde mehr denn je übersetzt, vor allem ins Schwedische. Der Patriotismus wurde langsam von einer zunehmend internationalen Orientierung abgelöst. Gleichzeitig wurde die Sprachfrage in Finnland weniger zentral: anstatt der Spannungen zwischen der finnisch-­‐‑ und schwedischsprachigen Volksgruppe wurden Spannungen zwischen sozialen Klassen, Geschlechtern usw. thematisiert. Wiederholungsfragen
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Welche Faktoren wirkten im Hintergrund des Realismus? Nach welchen Prinzipien sollte ein realistischer Autor handeln? Welche Themen waren wichtig bei den Realisten? Nennen Sie auch einige Schriftsteller und Werke, die diese Themen behandeln. Welche Wirkung hatte der Realismus auf die Literatur? Begleitende Lektüre
Lassila: Geschichte der finnischen Literatur, S. 85–96 Weiterführende Lektüre
Lassila, Pertti 1996: Geschichte der finnischen Literatur. A. Francke Verlag Tübingen und Basel. Laitinen, Kai 1997: Suomen kirjallisuuden historia. 4. Auflage. Otava, Helsinki. Laitinen, Kai 1989: Finnische Literatur im Überblick. Otava, Helsinki. evsl
skriptum
Institut
für
Europäische
Vergleichende
SprachLiteraturwissenschaft
Abteilung Finno-Ugristik
zur
Lehrveranstaltung
Literaturgeschichte
und
und
Finnische
VOLKSDARSTELLUNG IN DER FINNISCHEN LITERATUR
Lernziele: Die typischen Merkmale der finnischen Volksdarstellung zu lernen. Einige Werke, die das finnische Volk nach diesen Prinzipien beschreiben, kennen zu lernen. Anfang 20. Jh.: “Die Zeit der großen Prosa”
Nach dem Generalstreik begann eine neue Phase in der finnischen Literatur, die man ”Zeit der großen Prosa” nennen könnte. In dieser Zeit debütierten mehrere Prosaisten, die in ihren Werken das finnische Volk und einfache Volkscharaktere auf verschiedene Weisen beschreiben. Es entsteht die Volksdarstellung, deren Wurzeln schon bei Runeberg und Kivi sichtbar waren. Juhani Aho und Teuvo Pakkala setzten diese Tradition fort, und am Anfang des neuen Jahrhunderts kommt noch eine neue Generation hinzu, unter anderen Maiju Lassila, Ilmari Kianto und Maria Jotuni, etwas später auch F. E. Sillanpää. Kai Laitinen (S. 310) listet einige typische Merkmale der finnischen Volksdarstellung auf: 1.
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Die Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur ist wichtig. Die Natur ist freundlich oder feindlich – oder beides. Demokratische Auffassung vom Menschen. Die Protagonisten sind gewöhnliche “kleine” Menschen, oft auch arm. Der Held ist oft ein Antiheld. Jede Person hat ihre eigene Menschenwürde. Manchmal ist sie biologisch (wie bei Sillanpää), manchmal sozialethisch motiviert (bei Kianto, später auch Väinö Linna). Die Menschenwürde hängt nicht von der sozialen Stellung der Menschen ab, und auch nicht davon, wie reich oder gebildet sie sind. Die Forderung nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Die Autoren beschreiben oft den Konftlikt zwischen der Gesellschaft oder den Institutionen und dem Menschen, und sind da auf der Seite des Schwächeren. Unabhängig von der sozialen Stellung sind die Protagonisten stark individua-­‐‑
listisch, sogar asozial und unsympatisch, oder zumindest werden sie kritisch betrachtet. Auch in dieser Hinsicht sind sie Antihelden. Humor und Realismus wirken zusammen. (Schon bei Kivi sichtbar). Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Volksdarstellungen
2 Johannes Linnankoski (1869-1913)
Johannes Linnankoski (eigentlich Vihtori Peltonen) gehört zur Tradition der Volksdarstellung nur teilweise. Seine frühen Werke gehören zur nationalen Neuromantik, und sein Stil ändert sich schnell in den nächsten Werken. Wichtige Themen bei Linnankoski sind der innere Kampf des Menschen zwischen Gut und Böse. Auch Themen wie Schuld, Strafe und Versöhnung und die damit verbundenen moralischen Probleme beschäftigen Linnankoski. Am Anfang des Jahrhunderts bekam er Aufmerksamkeit mit dem Drama Ikuinen taistelu (‘Der ewige Kampf’, 1903), der auf der biblischen Geschichte von Kain und Abel basiert. Ihren Konflikt sieht Linnankoski als einen ewigen Kampf zwischen Gut und Böse. Für dieses Erstlingswerk bekam Linnankoski den Preis der Finnischen Literaturgesellschaft. Ein Paar Jahre danach folgte ein Roman, der sich stark von Ikuinen taistelu unterscheidet: Laulu tulipunaisesta kukasta (‘Das Lied von der feuerroten Blume’, 1905; dt. Don Juan in Suomi / Die glutrote Blume). Es ist eine Geschichte des jungen Flößers Olavi, der ein Mädchen nach dem anderen erobert, wenn er von Ort zu Ort zieht. (Die Flößer, oft junge, starke Männer, die auf ihrer Fahrt die Flüsse entlang in jedem Dorf Mädchen betören, waren seitdem fast stereotypische romantische Helden in finnischen Volksstücken.) Die Geschichte hat jedoch einen Wendepunkt, als Olavi der stolzen Kyllikki begegnet. Sie ist übrigens die erste Frau, die einen Namen hat – die anderen Frauen treten im Roman mit beschreibenden Kosenamen auf, so wie Tuomenkukka ‘Traubenkirschblume’, Gaselli ‘Gazelle’, Annansilmä ‘Begonie’... Kyllikki, die ”glutrote Blume”, ist da eine Ausnahme. Kyllikki ist eine starke Frau, die auch Olavi bändigen kann, und Olavi muss lernen, die moralische Verantwortung für seine Taten zu tragen. Diese Don Juan -­‐‑Geschichte gehörte zu den größten Bestsellern seiner Zeit, und die Vornamen Olavi und Kyllikki wurden sehr beliebt. In 15 Jahren wurden 10 Auflagen dieses Romans ausverkauft, und er wurde in 19 Sprachen übersetzt. Viele hat die Flößerromantik in dieser Geschichte bezaubert, und man bewunderte auch die lyrische Sprache des Romans. Die Moral der Geschichte blieb für viele Leser im Hintergrund: aus Don Juan wird ein ordentlicher Familienvater und Bauer. Im nächsten Werk, Taistelu Heikkilän talosta (‘Der Kampf um den Bauernhof Heikkilä’, 1905), trennte sich Linnankoski vom lyrisch-­‐‑romantischen Stil der “Glutroten Blume” und erzählt eine tragische, fast thrillerartige Geschichte von einem unglücklichen Frauenschicksal. Ganz anders als diese beiden ist der Roman Pakolaiset (‘Die Flüchtlinge’, 1908): vom Umfang her ist der Roman äußerst kompakt, aber in den knappen Raum passt trotzem eine recht kompli-­‐‑
zierte psychologische Handlung: Schuld, Scham, Gerechtigkeit und Rache. Die psychologische Darstellung der Protagonisten ist meisterhaft: im Inneren der Menschen passiert viel mehr als was sie nach außen zeigen. Die Hauptperson von Pakolaiset ist Juha Uutela, ein alter Bauer, der aus einfachen Verhältnissen stammt aber durch harte Arbeit selbständig, sogar wohlhabend geworden ist. Uutelas Frau ist schon vor Jahren gestorben, als ihn sein Nachbar Keskitalo überredet, seine junge Tochter Manta zu heiraten. Eigentlich hätte der fast 70jährige Uutela kaum Interesse für Frauen mehr, aber Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Volksdarstellungen
3 Mantas Eltern haben Hintergedanken – sie trachten nach dem Erbe des kinderlosen Uutela. Bald nach der Hochzeit muss aber die unglückliche Manta ihren Eltern gestehen, dass sie schwanger ist und Uutela unmöglich der Vater sein kann. In der kleinen Dorfgemeinschaft wäre so ein Skandal zu beschämend für die ganze Familie, aber der schlaue Keskitalo findet einen Ausweg: Er überredet Uutela, gemeinsam mit der Familie Keskitalo nach Ostfinnland, weit von der Heimat, zu ziehen, wo jetzt große Güter günstig zu kaufen sind – und wo niemand die Familie kennt oder nach dem Kind fragen wird, sollte es sogar verschwinden. Erst in der neuen Heimat erfährt Uutela von Mantas Schwangerschaft und versteht, dass er betrogen worden ist. Uutela wird zuerst wütend aber lernt dann allmählich, sich mit der Situation abzufinden und hinter dem Ganzen eine größere Gerechtigkeit zu sehen: Das Kind ist unschuldig, die junge Manta hat schon für ihre Leichtfertigkeit leiden müssen, er ist selbst auch schuld, weil er Manta nicht aus Liebe sondern aus Eitelkeit geheiratet hat, um den Nachbarn zu zeigen, wie weit es ein ehemaliger Knecht geschafft hat – und auch Keskitalo, der Hauptschuldige, der Uutela belogen und seine eigene Tochter in eine lieblose Ehe gezwungen hat, wird vom Leben seine Strafe bekommen. Auf seinem Sterbebett verzeiht Uutela noch Keskitalo und zerreißt sein Testament, mit welchem er Keskitalo demütigen wollte – die göttliche Gerechtigkeit soll walten. Maiju Lassila (1868-1918)
Maiju Lassila ist ein Autor mit vielen Gesichtern und vielen Namen. Eigentlich hieß er Algoth Tietäväinen, später verwendete er den Familiennamen Untola, und seine Werke veröffentlichte er unter verschiedenen Pseudonymen, sogar weiblichen (Maiju ist ein Frauenname!). Mit dem Namen Irmari Rantamala veröffentlichte er seine ersten Romane Harhama und Martva (1909), die vom Stil her noch eher neuromantisch sind. Die Werke beinhalten jedoch auch Gesellschaftskritik, und man sieht, dass die Sympathien des Autors auf der Seite des arbeitenden Volkes sind. Die Handlung der monumentalen Romane spielt zum Teil im vorrevolutionären St. Petersburg. Die Stimmung in den Werken, die unter dem Pseudonymen Maiju Lassila erschienen, ist ganz anders. Tulitikkuja lainaamassa (‘Streichhölzer ausborgen’ 1910, dt. Streichhölzer) ist vielleicht sein gelungenstes Werk, das mit seinem Humor und mit seinen Charakteren – naiven aber bauernschlauen Ostfinnen – auch noch nach Jahrzehnten den Leser bezaubern kann. Die Geschichte beginnt damit, dass der Bauer Vatanen beim Nachbarn Streichhölzer ausborgen will. Auf dem Weg zum Nachbarn begegnet er aber seinem Freund Ihalainen, und abgelenkt von ihm und vom gemeinsam getrunkenen Schnaps vergisst er die Streichhölzer und fährt mit Ihalainen in die Stadt. Die spontan handelnden Helden geraten in viele komische Situationen, und werden sogar zweimal verhaftet, aber der Witwer Ihalainen findet überraschenderweise seine Jugend-­‐‑
liebe wieder. Zu Hause werden inzwischen wilde Gerüchte verbreitet – “denn in Liperi glaubt ein jeder daran, was er selbst gesagt hat”: Vatanen soll nach Amerika gezogen oder umgekommen sein. Vatanens Frau plant schon eine Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Volksdarstellungen
4 Hochzeit mit einem anderen Mann, als alles sich wieder ordnet; Vatanen kehrt nach Hause zurück – doch ohne Streichhölzer. Der Humor des Romans entsteht aus der lustigen Handlung mit vielen überraschenden Wendungen, aus dem Dialog sowie aus dem “Kulturkonflikt” zwischen naiven Bauern und Stadtleuten. Die Personen sind einfach und “flach” stilisiert, fast wie die Gestalten der commedia dell’arte. Zwischen den Zeilen kann man aber auch versteckte Kritik der konservativen Agrargesellschaft entdecken: Diesen Menschen scheinen geistige Werte gänzlich zu fehlen, ihre Handlungen, auch Liebe und Heirat, werden einfach durch materielle Bedürfnisse gesteuert. Untola war ein sehr produktiver Autor: zwischen 1909-­‐‑1918 veröffentlichte er 25 Einzelwerke, große Anzahl an Zeitungsartikeln und Kolumnen. In seinem Nachlass fand man noch über 30 unveröffentlichte Manuskripte und Fragmente. Die Auffassung von Algot Untola über den Schriftstellerberuf war anders, als man sie bisher kannte: die Aufgabe eines Schriftstellers ist zu schreiben, und nicht unbedingt große Kunst zu schaffen. Die Literatur muss auch nicht unbedingt eine ”Aufgabe” haben, wie bei den Realisten die Veränderung der Gesellschaft. Jedoch versuchte Untola mit seiner journalistischen Tätigkeit auf die Gesellschaft zu wirken, und stellte sich in seinen Texten auf die Seite der sozialistischen Revolutionäre. Dafür musste er nach dem Bürgerkrieg mit seinem Leben bezahlen – nach der Eroberung von Helsinki wurde er verhaftet und unter unklaren Umständen wahrscheinlich erschossen. Selbstkritische
Volksdarstellung:
Kianto und Jotuni
Lehtonen,
In den Werken von Joel Lehtonen, Ilmari Kianto und Maria Jotuni sieht man am deutlichsten den Wendepunkt in der finnischen Literatur nach dem Generalstreik. Die Stimmung sowie das Menschenbild in deren Werken unterscheidet sich sehr von ihren Vorgängern Aho und Pakkala. Auch die idealistischen Töne, die man bei den Werken von Linnankoski und Järnefelt sieht, fehlen. Sowohl bei Lehtonen als auch bei Kianto sieht man Merkmale der neuromantischen Literatur in ihren frühen Werken. Joel Lehtonen (1881-­‐‑1934) Joel Lehtonen debütierte 1904, und innerhalb von zwei Jahren veröffentlichte er vier Werke, die stark neuromantisch sind. Eine neue Phase beginnt in den 1910er Jahren, wo er Gedichtsammlungen veröffentlichte. Am bekanntesten ist Lehtonen jedoch durch seinen sogenannten Putkinotko-­‐‑
Zyklus. Dieser Zyklus enthält drei miteinander verbundene Werke: den Roman Kerran kesällä (‘Einmal im Sommer’, 1917), die Novellensammlung Kuolleet omenapuut (‘Verdorrte Apfelbäume’, 1918) sowie letzlich den Roman Putkinotko (1919-­‐‑20). Kerran kesällä enthält malerische und frische Naturbeschreibung, und auch sehr detaillierte Menschenbeschreibung, wobei die Charaktere ihre sympathische Wirkung nicht verlieren. Drei fröhliche Kumpel – der gescheiterte romantische Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Volksdarstellungen
5 Künstler Lauri Falk, der gutmütige Buchhändler Aapeli Muttinen, ein wahrer Skeptiker und Pessimist, und der schlaue Geschäftsmann und Kapitalist Konstantin Könölin – verbringen ihre Sommertage in einer kleinen finnischen Stadt, aber im Laufe der Handlung entdeckt der Leser bei diesen Charakteren auch Seiten, die alles andere als lustig sind. Der ganze parodisch-­‐‑barocke Titel des Romans stellt eigentlich eine ironische Synopse dar: ‘Homo novus, oder nichts Neues unter der Sonne, d.h. Einmal im Sommer Erdbeeren mit Honig und Obers auf dem Tisch der Familie Könölin; denen, die sich vor der Süße ekeln, gibt Muttinen – der nicht heiraten will, weil er davor Angst hat, dass sein Sohn, den es nicht gibt, in den Krieg geschickt wird – Rindfleisch mit Kren, samt der Erzählung über Signor Falco und Bongmans Kämpfen mit Holofernes, verfasst von Joel Lehtonen, sowie auch über verschiedene andere Narren unter gewöhnlichen Bürgern und Bauerntölpeln, in einer Kleinstadt Anno mcmxiii’. Viele der Charaktere dieses Romans findet man in den “Verdorrten Apfelbäumen” (1918) wieder, sowie später auch im Roman Putkinotko. In den Novellen von Kuolleet omenapuut sieht man die ganze Skala der Erzählkünste von Lehtonen: lyrisch-­‐‑melancholische Naturbilder (‘Das Glück des Muttinen’), schreckliche Kriegsszenen (‘Der Muttinen-­‐‑Aapeli im Krieg’) und groteske Karikaturen (‘Bongmans Tod’). Die Szene von dem späteren Roman Putkinotko wird bereits in zwei dieser Kurzgeschichten vorgestellt (Herra ja moukka ‘Herr und Bauerntölpel’, sowie in der Titelgeschichte Kuolleet omenapuut). Putkinotko ist ein Eintagesroman: Die Handlungen spielen sich während eines Tages im Sommerhaus des Buchhändlers Muttinen ab, in Putkinotko (“Kerbel-­‐‑
senke”) inmitten einer finnischen Seenlandschaft, deren Schönheit in grellem Kontrast mit der Dreckigkeit und Hässlichkeit der Protagonisten steht. Neben der Villa des Buchhändlers wohnt Juutas Käkriäinen, eine Karikatur des finni-­‐‑
schen Volksmenschen, mit seiner abgezehrten Frau und seiner faulen, zer-­‐‑
lumpten Kinderschar. Wie ein echter Menschenfreund hat Muttinen den armen Käkriäinen als “Hausmeister” angestellt – aber Juutas ist einfach ein fauler Sack, der es nicht einmal fertigbringt, seine zusammenfallende Hütte zu reparieren, sondern lieber mit seiner Familie in die Sauna einzieht. Das Einzige, was er an dem im Roman beschriebenen Tag schafft, ist illegal Schnaps zu brennen. Juutas Käkriäinen verkörpert die Schattenseiten der finnischen Seele: Sturheit und Faulheit, sowie Misstrauen gegenüber allem Neuen. Aber in der Figur von Aapeli Muttinen kritisiert Lehtonen auch die Naivität der Wohlhabenden. Insofern ist Putkinotko eine Studie über die geistigen und gesellschaftlichen Hintergründe, die zum Bürgerkrieg 1918 führten. Durch herzhaften Humor und impressionistische Beschreibungen der sommerlichen finnischen Natur wird die Stimmung leichter, auch wenn der Roman mit Schüssen endet. Ilmari Kianto (1874-­‐‑1970) Das Gesamtwerk von Ilmari Kianto umfasst über 50 Titel aus verschiedenen Gattungen. In seiner produktivsten Phase veröffentlichte er manchmal sogar vier Titel im selben Jahr. Am berühmtesten ist Kianto jedoch durch zwei Romane geworden: Punainen viiva (‘Der rote Strich’, 1909) und Ryysyrannan Jooseppi (‘Josef aus Ryysyranta’, 1924), die zu der Tradition der finnischen Volksdarstellung gut passen. Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Volksdarstellungen
6 Der Titel Punainen viiva weist auf die erste Parlamentswahl Finnlands 1907 hin: den roten Strich sollen die Wähler auf den Wahlzettel ziehen. Der Roman beschreibt die Zeit vor und nach dieser Wahl, die vielen Versprechen der politischen Agitatoren und die Erwartungen der einfachen armen Leute: Jetzt dürfen sie zum ersten Mal wählen, und das Elend hat ein Ende. Er, der Agitator, begann sich aufzuregen. Mit blinkenden Augen, seine kleinen Hände krampfhaft zur Faust ballend, schrie er: – Wer in dieser Gemeinde pflügt die Äcker und gräbt die Graben? Wer wühlt in Lehmgruben und wälzt sich im Schlamm? Wer schläft im Freien im Regen? Wer zieht das Netz am Eisloch mit frierenden Händen? Wer läuft Schi im Schneesturm und Dunkeln? Wer zieht die teerigen Wurzeln aus der Erde, wer schleppt die Teerfäße und rudert sie, sein Leben einsetzend, gegen Hungerlohn, bis Hunderten von Meilen – für die großen Herren? Wer unterhält die Beamten, die Spießbürger, die Taugenichtse, wer sorgt dafür, dass die Fettbäuche und die rotnasigen Trinker Brot und Schnaps haben, und muss selbst entbehren? Ist es nicht das Proletariat, das arbeitende Volk? Wer auch in den entfernten Ecken dieser Gemeinde bringt das Geldrad der Welt zum Rollen, wer arbeitet für die Kapitalisten der ganzen Welt, damit Andere genießen und in schönen Kleidern kokettieren und in Wollust leben können? Wer auch in dieser Gemeinde wäscht die Spitzblusen der stolzen Damen? Wer schaufelt Mist? Wer spannt die Pferde ein für die Spazierfahrten der Herren? Wer spült die Wäsche von den Fräuleins der Konstitutionellen Partei am Eisloch im eiskalten Wasser, wer putzt den Herren der Suometar-­‐Partei die Hintern in der höllenheißen Sauna? Ist es nicht das Proletariat, die Schar der Armen? Auch Topi und Riikka Romppanen, ein armes Ehepaar, gehen wählen. Mit ihrem roten Strich wählen sie Sozialdemokraten, und sind sich sicher, dass alles jetzt besser wird. Bisher war ihr Leben ein schwerer Überlebenskampf mit der Natur, und der Sozialismus scheint der letzte Hoffnungsschimmer in diesem fast verlorenen Kampf zu sein. Aber die Armut in den Hinterwäldern ist nicht mit einem Strich weggestrichen, und am Ende zeigt auch die Natur ihre Macht. Topi muss mit einem Bären kämpfen, der ihn umbringt; sein Blut fließt wie ein roter Strich und gibt dem Titel eine weitere Symbolik. Ryysyrannan Jooseppi (1924), der oft mit Putkinotko von Joel Lehtonen verglichen wird, ist ebenfalls eine klassische Schilderung der Armut in den Hinterwäldern. Vom Thema und Charakteren her sind die Romane sehr ähnlich, aber als Schriftsteller war Kianto völlig anders als Lehtonen. Wie Juutas Käkriäinen, wohnt auch Jooseppi Kenkkunen (alias Ryysyranta-­‐‑
Jooseppi) in einem völlig verkommenen Haus mit seiner Frau und zahlreichen Kindern, faulenzt und brennt Schnaps. Auch dieser Roman zeigt, wie die Lebensumstände der Armen fast unmöglich sind, und wie sie nie in der Lage sein werden, den Lebensstandard und Bildungsstand der ”Herren” zu erreichen, aber gleichzeitig sind sie sogar stolz darauf, dass sie nicht ”Herren” sind. Das zentrale Problem ist das Verhältnis zwischen diesen zwei Volksschichten. Auch die Alkoholprohibition wird in dem Werk kritisiert. Sowohl Putkinotko als auch Ryysyrannan Jooseppi sind gesellschaftskritische Werke. Diese Kritik unterscheidet sie von der Volksdarstellung Aleksis Kivis. Auch wenn zum Beispiel in Seitsemän veljestä viele ähnliche Themen vorkommen (Leben in der Wildnis, Alkohol, das einfache Volk vs. die Gebildeten), ist die Gesellschaft bei Kivi eine idyllische Ständegesellschaft, in die sich auch die Brüder am Ende integrieren. Bei Lehtonen und Kianto werden dagegen sowohl die Gesellschaft als auch die Volksmenschen kritisiert: Die Gesellschaft hilft Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Volksdarstellungen
7 Armen und Ungebildeten nicht – aber auch im Volk sind Misstrauen und alte Vorurteile fest verankert, sie wollen keine Hilfe annehmen sondern trennen sich bewusst von den höheren Schichten. Dieser Kritik fehlt aber der soziale Pathos, der bei den Realisten der 1880er Jahre so deutlich war. Jooseppi Kenkkunen ist eine traurige Clownfigur, ein ironischer Kommentar zu den Idealen des Volkes: Im selbständigen “weißen” Finnland wollte man die weniger gebildeten Volksmenschen als starke, aufgeklärte Bauern sehen, die christliche Moral, Gesetzestreue und Patriotismus ausstrahlen. Die Familie von Jooseppi Kenkkunen ist genau das Gegenteil. Auch wenn die Gesellschaft sich danach stark geändert hat, haben Jooseppi Kenkkunen und Juutas Käkriäinen Nachfolger bekommen: Faule, dreckige und trinksüchtige Männergestalten kehren in der Unterhaltung der letzten Jahrzehnte wieder, etwa in Form von Uuno Turhapuro (eine Karikatur des faulen finnischen Mannes in zahlreichen, von Kritikern weniger geschätzten aber vom großen Publikum geliebten Filmen von Spede Pasanen zwischen 1973 und 2004). Auch das Schwein Wagner in den Viivi ja Wagner -­‐‑Comics von Juba Tuomola gehört zu dieser Tradition. Maria Jotuni (1880-­‐‑1843) Um die Jahrhundertwende begann die Diskussion um das neue Frauenidentität. Immer mehr Frauen bekamen Schulbildung und wurden jetzt auch zum Studium zugelassen. Maria Jotuni gehörte neben L. Onerva zu den ersten finnischen Schriftstellerinnen, die studiert hatten. Beide behandelten auch die Identität der Frau in ihren Werken. Wie Kianto und Lehtonen, konnte auch Maria Jotuni die kritische Schilderung des finnischen Volkes mit Humor verbinden: hinter der oft lustigen und scheinbar harmlosen Oberfläche findet man scharfe Kritik und ernste Themen. Anders als Kianto und Lehtonen, fordert Jotuni keine Veränderung der Gesellschaft, zumindest nicht direkt. Sie beobachtet die Gesellschaft oft durch einzelne Menschen und ihren Egoismus. Die gesellschaftlichen Gegensätze sind für Maria Jotunis Personen etwas Natürliches, eine grausame aber selbst-­‐‑
verständliche Lebensordnung. Das Leben stellt den Menschen Hindernisse, die die Schlaueren überwinden können, während die Einfältigen daran scheitern. Die gesellschaftliche Problematik wandelt sich in moralische Problematik des einzelnen Menschen. Jotuni hat die finnische Prosa auf viele Weise erneuert. Von ihr stammt der erste finnische Eintagesroman (Arkielämää ‘Alltagsleben’, 1909), und auch in ihrer Kurzprosa finden wir erzähltechnische Erneuerungen. Jotuni benützt viel Dialog, und manchmal bestehen die Kurzgeschichten nur aus Dialog, oder einem Telefongespräch oder Brief. Der Leser muss viel zwischen den Zeilen lesen, da manchmal nur einer der Gesprächspartner zu Wort kommt. Auch sowas wie Handlung fehlt bei diesen Kurzgeschichten oft. Oft sind die Geschichten einfach Gespräche unter Frauen, und bieten somit kurze Einblicke in ihren Leben. Hinter dem harmlosen alltäglichen Gerede entdeckt man oft etwas Tragisches und Ernstes. Auch thematisch ist Jotuni mutiger als ihre Vorgänger. Gewalt in der Familie, sexueller Missbrauch, Inzest und Misshandlung der Dienstleute sind Themen, die sie in die finnische Literatur bringt. Jotuni behandelt oft die Beziehung Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Volksdarstellungen
8 zwischen Mann und Frau. Sie zeigt, wie Liebe durch Geld ersetzt wird, dass das Leben ein ständiger Kompromiss ist, und Träume nichts wert sind. In ihrer Welt ist das Leben ein Kampf der Geschlechter, in der eine Frau, wenn sie geschickt handelt, vielleicht im Leben auch weiterkommt, aber mit Liebe haben die Beziehungen wenig zu tun. Ironisch nennt sie auch ihre Novellensammlungen nach dem selben Motto: in den Sammlungen Suhteita (Beziehungen, 1905), Rakkautta (Liebe, 1907) und Kun on tunteet (Wenn man Gefühle hat, 1913) findet man kaum Liebe oder glückliche Beziehungen. Eher erzählen sie davon, wie die Liebe fehlt und die Gefühle, falls es sie überhaupt gab, gestorben sind. Impressionistisch lässt sie ihre Frauen reden, und erklärt nicht ihre Gedanken oder Absichten, oder das Milieu. Jotuni beschreibt Frauen eher als Individuen als generell. Ihre Frauen sind oft Dienstmädchen oder ungebildete Frauen aus der unteren Schicht. In ihren Schauspielen kommen aber auch bürgerliche Frauen vor. Jotunis Frauen sind oft Opfer von falschen Entscheidungen. Ein “falscher” Ehemann oder falsche Umstände zwingen die Frauen dazu, auf Liebe zu verzichten und ihre Unterdrückung einfach in Kauf zu nehmen. Das beschreibt auch das Weltbild in Jotunis Werken: Das Leben ist wie Marktwirtschaft, Egoismus und Gier dominieren, und Beziehungen sind auch wie Geschäfte: mit Gefühlen kann man handeln. Jotuni schockierte mit ihren Themen die Leserschaft sehr, aber sie bekam auch Lob für ihre literarischen Leistungen. Der bereits erwähnte Roman Arkielämää (1909) war als erster Eintagesroman ein Meilenstein in der finnischen Literatur. Ein Wanderer, den man ”Pfarrer Nyman” nennt, kommt zu einem Haus und trifft da Leute aus verschiedenen Schichten und redet mit ihnen. Die Gespräche enthüllen einige Schicksale der Menschen, aber andererseits bleiben die Hintergründe des ”Pfarrers” ungewiss. Er ist nämlich kein richtiger Pfarrer, sondern wird nur mit dem Namen angesprochen, weil er angeblich aus besseren Kreisen stammt und sogar etwas studiert hat. Irgendwie hat er aber seine gesellschaftliche Stellung verloren, und wandert jetzt von Haus zu Haus – ist aber immer ein erwarteter Gast. “Außer hinsichtlich der Typen, ist Ihr neues Buch meines Erachtens ein Meisterwerk, was die Technik betrifft. Es ist dabei ganz neu und kühn. Kein eigentliches Sujet, keine gekünstelte Komposition, und jedoch ist es ein Ganzes. Viele Menschenleben, die ganze Gesellschaft in nur einigen Szenen, innerhalb eines einzigen Tages, so wie es ein scharfes Auge in so kurzer Zeit erblicken kann. Sie ist ganz Ihr eigen, diese Technik! ...” (Juhani Aho in seinem Brief an Jotuni, 13.12.1909) Maria Jotuni schrieb auch Literaturkritik in Päivälehti ab 1902, und war auch schon zu ihrer Zeit eine erfolgreiche Dramatikerin, auch wenn ihre Werke wegen der oft schockierenden Themen nicht immer nur positive Kritik bekamen. Die Komödie Miehen kylkiluu (‘Die Rippe des Mannes’, 1913) war gleich beliebt und lief bis in die 1930er Jahre im Nationaltheater. Kultainen vasikka (‘Das goldene Kalb’, 1918) analysiert auch satirisch die Beziehung von Mann und Frau. Das Geld bekommt im Leben der Protagonisten eine wichtigere Rolle als Liebe, es wird ein Abgott, das goldene Kalb: die Frau verlässt ihren Mann wegen Geld, aber kehrt dann zurück, als der Mann reich geworden ist. Der Mann plant seiner Frau eine Lektion zu erteilen, indem er seinen Besitz vernichten möchte. Auch in Skriptum Finnische Literaturgeschichte: Volksdarstellungen
9 Tohvelisankarin rouva (‘Die Frau des Pantoffelhelden’, 1924) regiert Geld die Beziehungen und Seitensprünge der Charaktere, aber die Geschlechterrollen sind jetzt umgekehrt: schwache Männer werden von den aktiven Frauen dominiert. Das Stück hielten viele für unmoralisch, und es führte zu polemischen Diskussionen und Kritik am Nationaltheater. Der bereits in den 1930ern geschriebene Roman Huojuva talo (‘Das wackelige Haus’, 1963) wurde auf Wunsch der Schriftstellerin erst posthum veröffentlicht, 20 Jahre nach dem Tod Jotunis. Huojuva talo beschreibt eine Familienhölle, wo die Protagonistin Lea von ihrem Mann Eero Markku auf alle mögliche Weisen dominiert wird. Er hat die totale Kontrolle über seine Frau, aber Lea vergibt ihm sowohl seine Seitensprünge als auch die geistige und körperliche Gewalt. Wiederholungsfragen
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Was ist laut Laitinen typisch für die finnische Volksdarstellung? Vergleichen Sie kurz Don Juan in Suomi (Die glutrote Blume) und Flüchtlinge von Johannes Linnankoski. Nennen sie einige erfolgreiche Werke vom Anfang des 20 Jahrhunderts von verschiedenen Autoren. Was könnte sie so populär gemacht haben? Was ist der sogenannte Putkinotko-­‐‑Zyklus? Welche Werke gehören dazu, und was verbindet sie? Welche Charaktere in der finnischen Literatur verkörpern die negativen Eigenschaften des finnischen Volks? Wie sind diese Charaktere im Vergleich zu dem damaligen Volksideal? In wie fern ist der Titel Punainen viiva (‘Der rote Strich’) mehrdeutig? Wie erneuerte Maria Jotuni die finnische Prosa? Begleitende Lektüre
Lassila, Geschichte der finnischen Literatur: S. 115–128. Quellen und weiterführende Lektüre
Lassila, Pertti 1996: Geschichte der finnischen Literatur. A. Francke Verlag Tübingen und Basel. Laitinen, Kai 1997: Suomen kirjallisuuden historia. 4. Auflage. Otava, Helsinki. Laitinen, Kai 1989: Finnische Literatur im Überblick. Otava, Helsinki. Kirstinä, Leena: Kirjallisuutemme lyhyt historia. Hänninen, Seija: Sydän kompassina – Maria Jotuni http://tuhannettunteet.kuopio.fi/main.asp?sid=16&sivu=32&o=32 22.8.2011 

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