Buntes Dresden stoppt braune Einfalt

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Buntes Dresden stoppt braune Einfalt
65. Jahrgang/Nr. 38 ● Berlin-Ausgabe ● 1,40 €
Sozialistische Tageszeitung
Montag, 15. Februar 2010
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Berlinale: Stummfilm?Jubel!
Libanon gedenkt Hariri
Was? Das isst Kunst?
»Metropolis« wurde zum ersten Höhepunkt: Filmgeschichte grüßt Gegenwart!
Die ist derweil im Wettbewerbs-Fieber.
Kritiken und ein Interview mit Regisseur
Benjamin Heisenberg.
Seiten 2 und 8
Fünf Jahre nach dem Mord an Rafik Hariri
gedachten Zehntausende dem früheren
Ministerpräsidenten Libanons. Der Riss
durch die Gesellschaft beginnt sich langsam zu schließen.
Seite 7
Was sucht der Einkaufswagen in einer
Zuckerdüne? Wie sieht eine Küche aus,
die man auf den Kopf stellt? Was machen
Brote in einem Bett? Antworten in Düsseldorf: Kunst und Lebensmittel. Seite 9
Standpunkt
Denkanstoß
Von Markus Drescher
Zwei unterschiedliche Methoden,
aber dieselbe Botschaft – die Menschenkette in der Dresdner Altstadt und die Blockade des geschichtsrevisionistischen
Aufmarschs in der Neustadt haben am
Samstag deutlich gemacht: Dresden will keine Nazis in der Stadt.
Ungeachtet der Vorbehalte auf
beiden Seiten, sowohl der symbolische Protest als auch der zivile
Ungehorsam haben ihren Platz,
um die Nazis dauerhaft von Dresden fernzuhalten. Denn nachdem
es durch vielfältigen Widerstand
gelungen ist, den Nazis das brandenburgische Halbe (Ort einer der
letzten großen Niederlagen der
Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg)
und Wunsiedel in Bayern (Begräbnisort von Hitler-Stellvertreter
Rudolf Heß) als Raum für Aufmärsche mit mehreren Tausend Teilnehmern zu nehmen, werden diese
ihr letztes Großereignis zur NSMystifizierung nicht freiwillig aufgeben.
So war der Erfolg in diesem Jahr
womöglich der erste Schritt auf
dem langen Weg zum Ziel, Dresden am 13. Februar nazifrei zu
halten – und ein Denkanstoß: Die
Verantwortlichen der Stadt Dresden sollten überdenken, ob sie
nach den Erfahrungen am Samstag an der Kriminalisierung des
aktiven Widerstands, die es im
Vorfeld gab, festhalten wollen. Die
Menschenkette des
offiziellen
Dresdens in der Altstadt mag ein
deutliches Signal gesetzt haben.
Den Naziaufmarsch jedoch haben
die Tausenden verhindert, die
stundenlang frierend an den Blockadepunkten ausharrten.
Unten links
Berlin ist eine spannende Metropole.
Die Filmfestspiele und der Karneval
der Kulturen sind imposante Veranstaltungen. Nun soll nach Senatsplänen, in die bislang nur ND Einblick
hatte, ein Mega-Ereignis hinzukommen: zum dritten Mal in der Geschichte der Stadt die Ausrichtung
der Olympischen Spiele. Nein, nicht
der Sommerspiele 2020. Da musste
Berlin seinen Wunsch ja zurückziehen, weil der Deutsche Olympische
Sportbund die Bewerbung Münchens
für die Winterspiele 2018 unterstützt
und keine innerdeutsche Konkurrenz
wollte. Am Rande der gegenwärtigen
Spiele in Vancouver wurde jedoch
bekannt, dass die bayerische Landeshauptstadt nicht die geringste
Chance gegen das französische Annecy hat. Sobald die IOC-Entscheidung am 6. Juli 2011 gefallen ist,
will sich Berlin darum – ja! – für die
Winterspiele 2022 bewerben. Und
hat beste Aussichten: Keine andere
Region bietet schließlich auf mehreren tausend Kilometer Gehwegen so
anspruchsvolle Buckelpisten.
jrs
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ISSN 0323-4940
Buntes Dresden stoppt braune Einfalt
Mehr als 10 000 Blockierer verhindern rechten Aufmarsch / Menschenkette umringt Altstadt
Offensive in Helmand
soll Taliban stoppen
Von Hendrik Lasch und
Markus Drescher, Dresden
Am 65. Jahrestag der Bombardierung
Dresdens gelang es am Samstag erstmals, den alljährlichen Naziumzug in
der Stadt zu blockieren.
»No pasarán!« – sie kommen nicht
durch – und »Dresden nazifrei!«:
Zwei Bündnisse, die vor dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens im Jahr 1945 dazu mobilisiert hatten, den neonazistischen
»Trauermarsch« am 13. Februar
durch die Elbestadt zu verhindern
– mit Erfolg: An diesem Tag konnten die Nazis anders als in den
Jahren zuvor keinen Schritt durch
die Stadt tun.
»Dank an alle, die mitgemacht
13. Februar: Gedenken, Menschenkette und Blockaden
Seite 3
und sich nicht einschüchtern lassen haben«, erklärte Lena Roth,
Sprecherin von »Dresden nazifrei!«. »Es war nicht einfach, es
gab Verletzte durch Nazi-Angriffe
und es war saukalt – aber es hat
sich gelohnt.« Mehr als 10 000
Menschen beteiligten sich an den
friedlichen Straßenblockaden rund
um den Neustädter Bahnhof, wo
sich nach Polizeiangaben rund
6400 Nazis versammelt hatten. Um
17 Uhr wurde ihre Kundgebung
aufgelöst und die Rechten mussten
die Stadt mit Zügen verlassen.
Angesichts der großen Teilnehmerzahl an den Blockaden hatte
die Polizei, die mit rund 7000
Beamten aus den gesamten Bundesgebiet im Einsatz war, den geplanten Naziaufmarsch aus Sicherheitsgründen abgesagt. Der
Widerstand gegen den rechtsextremen Aufmarsch blieb jedoch
weitgehend friedlich, nur sehr vereinzelt kam es zu Auseinandersetzungen. Insgesamt wurden laut Polizei 29 Personen unter anderem
Vor Beginn der Menschenkette am Dresdner Rathaus
wegen Sachbeschädigung und
Körperverletzung festgenommen.
Großen Zulauf gab es auch bei
einer Menschenkette in der Innenstadt, die ursprünglich die Synagoge und den Altmarkt verbinden
und so die historische Altstadt
symbolisch gegen Rechtsextreme
hatte schützen sollen. Weil jedoch
mit 15 000 deutlich mehr Bürger
als erwartet zu dem Protest kamen, umspannte die Menschenkette schließlich die komplette Innenstadt. Dresden sei so zu einer »Festung gegen Intoleranz und Dummheit« geworden, sagte CDU-Oberbürgermeisterin Helma Orosz.
Foto: dpa
Auch Vertreter von Parteien und
Gewerkschaften lobten die Aktion.
Allerdings brauche es momentan
»mehr als Symbolik«, um die Nazis
in die Schranken zu weisen, betonte Katja Kipping, Bundesvize der
LINKEN aus Dresden. Sie lobte die
»Kreativität und Entschlossenheit«
von Antifaschisten aus der gesamten Bundesrepublik bei den Blockaden. Zu deren Gelingen habe
indes auch die Deeskalationsstrategie der Polizei beigetragen. Es sei
gelungen deutlich zu machen,
»dass diese Stadt Nazis jetzt wirklich satt hat«, sagte DGB-Landeschefin Iris Kloppich. Der Verein
»Bürger.Courage« forderte die politisch Verantwortlichen auf, »über
ihren Schatten zu springen und
den friedlichen Protestierern für
ihr Engagement für Dresden und
die Demokratie zu danken«.
Der Frust über den gescheiterten
Marsch schlug bei den Rechten in
Gewalt um. In Gera verhinderte
die Polizei einen spontanen Aufmarsch und nahm 183 Neonazis
wegen Landfriedensbruchs vorläufig fest. Im sächsischen Pirna versammelten sich nach dpa-Angaben
etwa 400 Rechtsextreme. Dabei sei
es ebenfalls zu Sachbeschädigungen gekommen.
Erstes Olympiagold geht an die Schweiz
Skispringer Simon Ammann gewinnt auf der Normalschanze / Deutsche Biathletin Neuner holt Silber
Vancouver
(ND/dpa). Als
erste jubelten
bei den XXI.
Olympischen
Winterspielen
die Schweizer:
Spezialspringer
Simon
Ammann holte sich
auf der Normalschanze im Whistler Olympic Park mit Sprüngen von
105 und 108 Metern die erste
Goldmedaille dieser Spiele.
Und auch die Deutschen feierten: Im benachbarten Biathlonzentrum brachte Magdalena Neuner
die deutsche Olympiamannschaft
als Sprint-Zweite in die Medaillenspur. »Silber bei Olympischen
Spielen – das ist absolute Spitze«,
freute sich die Debütantin.
Insgesamt jedoch fiel der Jubel
am Wochenende verhalten aus.
Der Unfalltod des georgischen Rodlers Nodar Kumaritaschwili warf
einen langen Schatten. Es gab am
ersten Wettkampftag gewalttätige
Randale von Olympiagegnern, und
auch das Wetter spielt noch immer
nicht mit: Nach der Absage der
Afghanistan:
Wieder Tod
von Zivilisten
Zum dritten Mal Olympiasieger: Simon Ammann (Schweiz)
Super-Kombination der Frauen
musste auch die Abfahrt der Männer abgeblasen werden.
Da passte es ins triste Bild, dass
Kanada am Samstag das ersehnte
erste Gold bei olympischen Heimspielen einmal mehr verpasste. Als
Jennifer Heil im Ziel schon als Sie-
Foto: dpa
gerin des Buckelpisten-Wettbewerbs gefeiert wurde, raste USKonkurrentin Hannah Kearney als
letzte Starterin noch an ihr vorbei.
Die Veranstalter verheißen unterdessen bessere Zeiten und sprechen sich damit wohl auch selbst
etwas Mut zu. »Es werden jetzt er-
folgreiche Spiele werden«, sagt
Renee Smith-Valade vom Organisationskomitee VANOC, aber zumindest die Wetteraussichten sind
weiter eher düster. Eine Mischung
aus Schneefall, Regen und milden
Temperaturen an den verschiedenen Wettkampfstätten macht den
Organisatoren Sorgen.
Zudem zogen am ersten Wettkampftag mehr als 200 Demonstranten durch die Innenstadt, rissen Zeitungskästen aus ihren Verankerungen und schlugen damit
Schaufensterscheiben ein. Die
maskierten jungen Leute bewarfen
auch Polizisten mit Gegenständen
und demolierten Autos und Busse.
Es gab sieben Festnahmen.
»Mit schweren Herzen musste
die Show weitergehen«, beschrieb
die »Vancouver Sun« den Zwiespalt, den viele Kanadier derzeit in
Sachen Olympia empfinden. So
hielt sich auch der olympische
Überschwang der einheimischen
Medien in Grenzen, bei allem Stolz
auf eine gelungene Eröffnungsfeier
trotz eines Patzers beim Entzünden des Olympischen Feuers.
Seiten 17 bis 20
Kabul (Agenturen/ND). Soldaten
haben bei der Großoffensive gegen
die Taliban in der südafghanischen
Provinz Helmand zahlreiche Zivilisten getötet. Am Sonntagabend
war von »mindestens zwölf« die
Rede. Die Invasions- und Besatzungstruppe ISAF teilte mit, zwei
Raketen hätten ihr Ziel verfehlt
und zwölf Unbeteiligte getötet.
ISAF-Kommandeur
Stanley
McChrystal habe sich dafür beim
afghanischen Präsidenten Hamid
Karsai entschuldigt. »Es ist bedauerlich, dass im Laufe unserer gemeinsamen Anstrengungen Unschuldige ihr Leben verloren«, sagte der US-General. Man werde alles unternehmen, dass solche Vorfälle nicht mehr vorkämen.
Der Präsidentenpalast hatte zuvor mitgeteilt, eine Rakete habe
das Haus einer Familie im Distrikt
Mardscha getroffen, wobei zehn
Zivilisten getötet und mehrere verletzt worden seien.
Die ISAF teilte dagegen mit, zu
dem Vorfall sei es im benachbarten Distrikt Nad Ali gekommen.
Karsai hatte die Soldaten zu Beginn der Operation »Muschtarak«
(Gemeinsam) am Sonnabend dazu
aufgerufen, vorsichtig vorzugehen
und keine Zivilisten zu gefährden.
Auch die Vereinten Nationen hatten an die Konfliktparteien appelliert, Unbeteiligte zu schützen. Mit
der bislang größten Offensive gegen die Taliban sollen die Aufständischen aus Mardscha und Nad Ali
vertrieben werden.
Seite 6
Kurz
Tote bei Anschlag
Pune (AFP). Im einstigen Aussteiger-Mekka Pune (Poona) in Indien
starben bei einem Anschlag auf
das Lokal »German Bakery« neun
Menschen, rund 60 wurden verletzt, darunter eine Deutsche.
Bus verunglückt
Hamburg (dpa). Auf der A 9 bei
Dessau-Roßlau verunglückte in der
Nacht zum Samstag ein Reisebus
aus Kopenhagen, der nach Österreich unterwegs war. Die Fahrt in
den Skiurlaub endete für drei Dänen tödlich, 19 Kinder und neun
Erwachsene wurden verletzt.
Obama erhöht Dispo
Washington (AFP). US-Präsident
Barack Obama hat ein Gesetz zur
Anhebung der Schuldenobergrenze um 1,9 Billionen Dollar (1,4 Billionen Euro) in Kraft gesetzt.
Demo für Öcalan
Straßburg (AFP). Tausende Kurden haben in Straßburg für die
Freilassung des Kurdenführers
Abdullah Öcalan demonstriert.
Krawalle in Mailand
Rom (AFP). Nach dem Tod eines
jungen Ägypters, der von einer
Gruppe junger Südamerikaner erstochen worden war, ist es in Mailand zu schweren Ausschreitungen
nordafrikanischer
Einwanderer
gekommen.