Aufstieg und Krise des Sozialstaats
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Aufstieg und Krise des Sozialstaats
Werbeseite Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 5. Juli 1999 Betr.: Titel, Köpf, Dinos, SPIEGEL ONLINE G erade zwölf Jahre ist es her, da trieb die Volkszählung viele Bürger aus Angst vor totaler Kontrolle auf die Barrikaden. Heute ist es merkwürdig ruhig – dabei sind die Befürchtungen von damals längst Realität und weit übertroffen. Die Menschen werden von Kameras, Satelliten und Wanzen belauscht, beobachtet und registriert, besonders das Internet ist zum Guckloch in die Privatsphäre geworden. „Nicht der von George Orwell prophezeite ,Big Brother‘ wacht über die Menschheit, sondern eine Vielzahl kleiner Brüder“, so die Titel-Autoren Uwe Buse, 36, und Cordt Schnibben, 46. Viele stört das nicht einmal – im Gegenteil: Sie fühlen sich beobachtet sicherer. Das konnte Buse besonders gut im Londoner Stadtteil Newham feststellen, wo die Straßen mit einer dichten Reihe von Überwachungskameras bestückt sind: „Die Leute sind alle ganz happy“ (Seite 112). ls gelernte Journalistin wußte Doris Köpf, 35, was auf sie als Ehefrau des Kanzlers zukommen würde. Aber daß sich die Öffentlichkeit derart auf jede Verästelung ihres Lebens, jedes unsinnige Gerücht werfen sollte, habe sie dann doch „ein bißchen überrascht“, sagte sie SPIEGEL-Reporterin Barbara Supp, 40. Inzwischen spielt Frau Schröder-Köpf ihre Rolle perfekt, wobei sie auch von ihren Vorgängerin- Köpf, Supp nen gelernt hat. Gespräche mit Hannelore Kohl etwa seien hilfreich gewesen oder Berichte über Rut Brandt, die Frau des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers. Die war damals öffentlich getadelt worden, weil sie zu Terminen in Berlin ohne Hut erschien. „So etwas zu lesen beruhigt“, so Köpf zu Supp, „da weiß man, daß es das immer schon gab und daß man nicht als Mensch und Person in der Kritik steht, sondern als Teil des Systems“ (Seite 56). D F. HELLER / ARGUM er amerikanische Professor Paul Sereno, 41, sucht weltweit nach Knochen von Dinosauriern. Der Job hat ihm schon ungewöhnliche Ehre eingebracht: So sieht die US-Zeitschrift „Esquire“ in ihm eine der „100 herausragenden Persönlichkeiten“, und das Magazin „People“ kürte den Dino-Forscher zu „einem der 50 schönsten Menschen“. Letzteres erklärte Sereno den SPIEGEL-Redakteuren Marco Evers, 32, und Johann Grolle, 37, so: „Monatelange Arbeit in Hitze und Staub sind offenbar gut für den Teint.“ Im SPIEGEL-Gespräch zog der „Indiana Jones der Paläontologie“ eine nüchterne, für den Homo sapiens brutale Bilanz seiner Erkenntnisse über Saurier-Wesen und Evolution: „Wir Menschen sind nichts als eine kleine Franse in Evers, Grolle, Sereno der Geschichte des Lebens“ (Seite 198). A uch für politisch Interessierte wird das Internet zu einer wichtigen Informationsquelle: Hunderttausende riefen bei SPIEGEL ONLINE die aktuellen Seiten zur Europawahl ab. Die Berichte und interaktiven Elemente gefielen nicht nur den Usern, sondern auch der Jury des Internet-Anbieters „politikdigital“, der einen Wettbewerb für das beste deutschsprachige Netzangebot zum Thema Europawahl ausgeschrieben hatte. Gewonnen haben die Kollegen von SPIEGEL ONLINE – vor ORF, ZDF und der „Welt“. Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 3 M. ZUCHT / DER SPIEGEL A Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite In diesem Heft Grüne: Ausstieg oder Untergang Kommentar Rudolf Augstein: Rätselhaftes Deutschland..... 24 DPA Deutschland Panorama: Prodi gibt Schröder nach / Kompetenz-Wirrwarr auf dem Balkan ............ 17 Regierung: Schröders Kampf um das Bündnis für Arbeit .......................................... 22 Grüne: Rebellion der Nachwuchskräfte.......... 25 Interview mit Rezzo Schlauch über die Selbstzerfleischung der Partei ......................... 27 Verpackung: Der unaufhaltsame Vormarsch der Einwegdosen............................................. 28 Millionen Büchsen für die Expo...................... 29 Umzug: Abschied mit Wehmut vom netten, kleinen Bonn .................................................. 32 Schwangerschaftsabbruch: Die Tragödie von Zittau ....................................................... 34 Interview mit Justizministerin Herta Däubler-Gmelin über Spätabtreibungen ......... 35 Polizei: Skandalöser Tod eines harmlosen Wanderers ..................................... 37 Einzelhandel: Berlin will den Ladenschluß kippen........................................ 40 Zeitgeschichte: Deutsche in der Fremdenlegion ................................................ 48 Umwelt: Deponie Halle-Lochau – Deutschlands größte Ökozeitbombe? ............. 52 Ehefrauen: Kanzler-Gattin Doris Köpf und ihr Einfluß auf die Politik......................... 56 SPD: Interview mit Parteivize Wolfgang Thierse über seine Partei nach Lafontaines Abgang................................ 60 Umweltminister Trittin (in Gorleben) Seiten 25, 28 Selbst der Kanzler hat ein Einsehen: Wenn die Grünen beim Atomausstieg nicht wenigstens einen minimalen Erfolg vorweisen können, drohen sie in der Koalition unterzugehen. Mit Schröders Billigung soll deshalb nach einem für die Grünen akzeptablen Kompromiß mit den Energiekonzernen gesucht werden. Umweltminister Trittin hat allerdings auch bei den Parteilinken einen schweren Stand. Bei der Frage, ob auf Getränkedosen Pfand bezahlt werden soll, droht dem grünen Fundi neuer Krach mit der Industrie. „Stern“ sucht Chef Seite 100 Wieder einmal ist der Illustrierten „Stern“ der Chefredakteur abhanden gekommen: Nach nur sechs Monaten mußte in der vergangenen Woche Michael Maier gehen. Er hatte die Redaktion gegen sich aufgebracht und den Auflagenrückgang nicht verhindern können. Nun wird wieder ein Chefredakteur gesucht, der den langanhaltenden, scheinbar unaufhaltsamen Niedergang der größten Illustrierten Deutschlands stoppen kann. Gruner+Jahr-Verlagsgebäude W. KUNZ / BILDERBERG Titel Die Digitalisierung der Gesellschaft erleichtert das Leben – und bedroht die Privatsphäre..... 112 Wie man sich gegen Datenjäger im Alltag und im Internet wehren kann ........................ 116 Warum 250 Kameras im englischen Newham für Ordnung sorgen ....................................... 122 Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kapitalismus: Iring Fetscher über Aufstieg und Krise des Sozialstaats .................................. 65 Porträts: William Henry Beveridge, Bertha Krupp .............................................. 78 Wirtschaft Trends: Düstere Prognosen für die Bahn / Ärger über Lufthansa-Partner / Eichel stutzt Defizite....................................... 81 Geld: Wachstumsbörse Athen / Hohe Zinsen in Fremdwährungen ............................ 83 Reichtum: Amerika im Rekordrausch ............ 84 Recycling: Schrottautos auf Irrwegen ............ 87 T-Aktie: Attacke der Spekulanten................... 88 Automobilindustrie: Interview mit dem Ford-Erben William Clay Ford Jr. über seine Pläne für den Konzern.................................... 92 Wettbewerb: Milliardenbuße für WestLB? .... 94 Karriere: EU-Kommissar Martin Bangemann verkauft sich an Telefónica ............................. 95 Der Traum vom schnellen Reichtum Nie zuvor wurden in so kurzer Zeit so große Vermögen geschaffen wie derzeit in den USA. Ein jahrelanger Wirtschafts- und Börsenboom sowie das anbrechende InternetZeitalter haben vor allem junge Amerikaner in eine Art Goldrausch versetzt. Stanley Kubricks Sex-Odyssee 6 SIPA PRESS Medien Trends: Jauch übt Wintersport / Werber werden kreativer ................................ 97 Fernsehen: Quoten-Halbjahrssieger RTL / „Star Wars“-Kultnacht bei Vox ....................... 98 Vorschau ......................................................... 99 Zeitschriften: Der Niedergang des „Stern“ .. 100 Filmgeschäft: Sensationsrummel um Stanley Kubricks letztes Kinowerk................ 103 Seite 84 Kidman, Cruise in „Eyes Wide Shut“ d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Seite 103 Ein letzter Geniestreich war dem gefürchtet monomanen Filmemacher Stanley Kubrick noch kurz vor seinem Tod gelungen: Er hatte das glamouröseste Hollywood-Paar, Nicole Kidman und Tom Cruise, für einen Psychothriller geködert, der in die Abgründe erotischer Phantasie eintaucht. Der unter strenger Geheimhaltung in London gedrehte Film „Eyes Wide Shut“ wird nun, rechtzeitig zur US-Premiere, durch wilde Gerüchte, Indiskretionen und Dementis zum Sensationsereignis hochgejubelt. Gesellschaft Szene: Pornofilmer bei der Love Parade / Professionelle Beratung für Büro-Chaoten .... 111 Familie: Geschäft mit Musik für Babys ......... 125 T. PETERNEK / SYGMA Ausland Demonstration in ∏a‡ak Proteste gegen Milo∆eviƒ Seiten 130 bis 135 Die demokratische Opposition sieht ihre Chance und macht gegen Milo∆eviƒ mobil. Demonstranten rufen „Nie wieder Krieg“, „Wir wollen nach Europa“. Die im Kosovo verbliebenen Serben fühlen sich verraten. Ungerührt verschärft der jugoslawische Präsident die Machtprobe mit Montenegro. Panorama: Testfall Öcalan / Hongkongs Zukunftsangst............................. 127 Jugoslawien: Wachsender Zorn über Milo∆eviƒ............................................... 130 Interview mit dem Vorsitzenden der serbischen Bürgerallianz, Goran Svilanoviƒ, über die Protestaktionen ............................... 132 Kosovo: Kalter Krieg in der geteilten Stadt Mitrovica.............................................. 133 Balkan: Wiederaufbau mit Hilfe der Mark? .. 135 Kaschmir: Offensive im Himalaja................. 136 Israel: Ehud Baraks Neuanfang .................... 137 Katastrophen: Absturz einer Seilbahn-Gondel in Frankreich...................... 138 Nato: Drang nach Asien................................ 139 Kroatien: In Zagreb steht ein ehemaliger Kommandant des KZ Jasenovac vor Gericht 141 Vatikan: Die Finanzen des Papstes ............... 145 Rußland: Tod beim Baden ............................ 147 Sport Weltmeister aller Klassen Seite 150 M. SANDTEN / BONGARTS Witalij Klitschko ist der erste weiße Schwergewichtsweltmeister seit 39 Jahren: Am Sieg über Titelverteidiger Herbie Hide hatte der Ukrainer nie Zweifel: „Ich kann in den Augen meines Gegners lesen, wie hart der Kampf wird“, verrät der Profiboxer im SPIEGEL-Gespräch. Bei Hide habe er Nervosität und fehlendes Selbstbewußtsein erkannt. Jetzt will Klitschko auch die Titelhalter der anderen Verbände herausfordern: „Ich möchte der absolute Weltmeister sein.“ Boxweltmeister Klitschko, Gegner Hide Kubas Siege in der Biotechnik Seite 188 Über eine Milliarde Dollar hat Kuba in die Biotech- und Medizinforschung investiert. Der lange Marsch durch die Labors führte zum Erfolg: Castros Wissenschaftler haben neue Impfstoffe und Krebsmittel entwickelt. Auch der Medizin-Tourismus floriert. Tausende kranke Ausländer lassen sich jedes Jahr von Karibik-Ärzten behandeln. D. REINARTZ / VISUM Das Grass-Jahrhundert Seite 160 Von der Kritik wurde er oft gescholten, und doch ist er Deutschlands berühmtester Schriftsteller: Termingerecht zum Ende des Säkulums bereitet Günter Grass, 71, in 100 Kapiteln deutsche Geschichte auf. „Mein Jahrhundert“ nennt er kühn seinen mit autobiographischen Elementen angereicherten Gewaltakt, dessen Luxusausgabe mit Grass-Aquarellen geschmückt ist. Grass d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Boxen: SPIEGEL-Gespräch mit Weltmeister Witalij Klitschko über den Titelgewinn, die ukrainische Mafia und seine Zukunft ...... 150 Fußball: Ajax Amsterdams Filiale in Kapstadt ......................................... 152 Kultur Szene: Barbara Klemms meisterhafte Fotografien / Wie die Isländer für ihr Goethe-Institut kämpfen .................... 157 Autoren: Günter Grass schaut zurück auf „Mein Jahrhundert“................................ 160 Kunstmarkt: Christie’s versteigert die Schätze der österreichischen Rothschilds ...... 164 Hollywood: Washington drängt die Kino-Industrie zum Gewaltverzicht......... 168 Das US-Kino entdeckt die Lust am Ordinären ...................................................... 170 Pop: Der weltweite Erfolg der US-Girlband TLC .......................................... 174 Talkmaster: Pastor Fliege in Nöten .............. 178 Literatur: Die Irland-Romane der Schriftstellerin Maeve Binchy........................ 179 Bestseller..................................................... 180 Wissenschaft + Technik Prisma: Todesgefahr durch Aspirin? / Die Höhlenmalerei von Ulm ......................... 185 Prisma Computer: Schneller Billig-PC / Elektronische Sittenwächter für Börsianer .... 186 Medizin: Kubas Aufstieg zur Biotech-Nation.. 188 Tierschutz: Karlsruhe entscheidet über Legebatterien ........................................ 192 Seuchen: Mainzer Forscher auf der Spur des Hepatitis-C-Erregers ............................... 196 Evolution: SPIEGEL-Gespräch mit dem Dino-Forscher Paul Sereno über seine Jagd nach den Knochen der Urzeitriesen .............. 198 Briefe ............................................................... 8 Impressum .............................................. 14, 204 Leserservice ................................................ 204 Chronik......................................................... 205 Register ....................................................... 206 Personalien ...................................................208 Hohlspiegel/Rückspiegel ............................ 210 7 Briefe „Wären sie klüger, säßen sie und nicht die Männer an den Schalthebeln der Macht und auf dem großen Geld.“ Renate Smolorz aus Oberursel (Hessen) zum Titel „Sind Frauen klüger?“ SPIEGEL-Titel 25/1999 Haben Sie das erst jetzt gemerkt? Kaiserslautern Berlin Götz Strauch Plietsch mußt du sein, klug sind alle! Dr. Hannelore E. Priese Das Thema ist falsch! Richtig: Sind Frauen egoistischer? Frauen waren schon immer intelligent! Das einzige, was die heutigen Frauen sind – sie sind genauso egoistisch wie die Männer. Und das ist ja wohl das einzig Wahre dieser Gesellschaftsform und dieser jungen Generation – purer Egoismus! Braunschweig Ursula Kasten Das „Frauen sollen in der Gemeindeversammlung schweigen“ des Paulus von Tarsus hat seine verheerende Auswirkung aufs Weltliche gefunden.Welch eine Hybris, auf dieses Intelligenzpotential verzichtet zu haben. Es ist ein Grundverdienst unserer modernen Demokratien, der Frau den Platz eingeräumt zu haben, der ihr gebührt. Ich erlebe jeden Tag mit Frau und Tochter, wie klug und zielstrebig Frauen handeln können, und ich freue mich darüber. Nur: Sie müssen leider mehr Courage aufbringen, sich ins öffentliche Leben einzumischen – gerade auf dem Land. Stötten a. A. (Bayern) Manfred Müller Das war ja wohl der sexistischste Titel, den Sie je gebracht haben. Wie hätte man wohl reagiert, wenn es umgekehrt „Sind Männer klüger?“ geheißen hätte?! Schriesheim (Bad.-Württ.) Thomas Lehmann Sicher, Frauen sind klüger als Männer. In den letzten 100 Jahren haben sie es geschafft, die Männer dazu zu bringen, 70 Prozent des Bruttosozialprodukts zu erwirtschaften, während die Frauen 70 Prozent des Geldes ausgeben und 10 Prozent länger leben. Nambour (Australien ) 8 Prof. Dr. Uwe Hinrichs Peter Zimmer Klüger als was? Essen Berlin Berlin Gottfried Schenk Die Feststellung des „kleinen Unterschieds im Hirn“ von Mann und Frau ist verhältnismäßig steril. Wesentlicher ist doch, was dabei jeweils „oben“ herauskommt. Dem männlichen Hirn ist dermaßen viel entsprungen, daß mit Recht gilt: Mit seinen Hirnleistungen hat der Mann diese unsere Welt gestaltet in imponierender Dynamik – im Guten wie im Bösen. Hannover Ralf Exler Au weia! Wer wie die moderne Frau sich ständig selber einreden muß, wie überlegen und toll er (sie!) ist, muß es verdammt nötig Frauen haben durch ihr Management und die intelligente Führung des „Unternehmens Familienhaushalt“ längst ihr Organisationstalent und ihre Fähigkeiten auf breiter Basis bewiesen. Klug wäre es also, im Bewußtsein dieser Leistung endlich eine angemessene Bezahlung hierfür zu fordern. Kulpin (Schlesw.-Holst.) Bianca Mansfeld Schade eigentlich, daß unsere Müttergeneration die Stunde Null nicht als Chance zur Neu- Teilnehmerinnen eines Politikseminars (in Berlin) strukturierung der Machtver- Genauso egoistisch wie die Männer? hältnisse begriffen und genutzt hat. Schade auch, daß die sexuelle Befrei- haben – klingt irgendwie verzweifelt nach ung keine wirkliche Revolution nach sich Pfeifen im dunklen Wald! Mich würde inzog, sondern nur eine erweiterte Verfüg- teressieren, wie die klügeren Damen zu barkeit der Frau. Und auch die dritte Mög- der Tatsache stehen, daß – trotz massiver lichkeit, ans Bare und damit an die Macht Frauenförderung – immer noch 98 Prozent zu kommen, scheint vertan: Statt Informa- aller Erfindungen von Männern gemacht tionstechnologie studieren Frauen Germa- werden sowie weit mehr als drei Viertel alnistik oder andere brotlose Kunst: stricken ler hochbegabten Schüler männlichen Gestatt powern. Was nützt nachweisbare schlechts sind? Klugheit, die in den Köpfen steckenbleibt? Aachen Michael Schumacher Neckargemünd (Bad.-Württ.) Michaela Haffa Warum entscheiden sich junge Frauen lieber für Germanistik, Kunst oder Tiermedizin? Diese Powerfrauen, die sich alles zutrauen, die selbstbewußt sind und optimistisch in die Zukunft blicken, schätzen jedoch ihre Vor 50 Jahren der spiegel vom 7. Juli 1949 Der Westwall soll bis zum Jahresende verschwinden Schon 2000 Bunker in der Pfalz gesprengt. Wirtschaftliche Flaute in den USA Wird der Krisenbazillus auf Westeuropa übertragen? Otto Schmidt, 14facher Jockey-Champion, beim Deutschen Derby „Lysander“ gegen „Asterblüte“. Der Architekt Marcel Breuer baut ein modernes Musterhaus in New York Antwort auf dringende Wohnungsfrage. Norman Mailers Roman „Die Nackten und die Toten“ erregt Anstoß in England Er sei „unglaublich unanständig“. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Titel: Wunderdoktor Bruno Gröning Mark Lenz d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 M. WITT Programmiertes Desaster? Nr. 25/1999, Sind Frauen klüger? – Die Töchter der Emanzipation auf dem Sprung nach vorn Natürlich sind Frauen klüger – schon deshalb, weil sie sich mit der typisch männlichen Klugheit, bestehend hauptsächlich aus Daten, Fakten und Zahlen, gar nicht erst lange aufhalten. Ich vermute, daß ein emotionales Problem dahintersteckt. Denn im Berufsalltag eines Ingenieurs geht es nicht um Zusammenhänge, in die man sich einfühlen kann, und um Dinge, mit denen man sich menschlich identifizieren könnte. Es mangelt Frauen an der Bereitschaft, diesen ,,Entfremdungsakt“ zu ihrem Lebensinhalt zu machen. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite mathematisch/logischen sowie ihre räumlichen Fähigkeiten deutlich niedriger ein als Männer, wie ich in einer umfangreichen Studie belegen konnte. Dies zeigte sich nicht nur bei Studierenden und älteren Erwachsenen, sondern ließ sich auch schon bei Schülern im Alter von circa 13 Jahren nachweisen. In ähnlicher Weise schätzen schon Grundschülerinnen der 3. und 4. Klasse ihre Intelligenz in den genannten Bereichen niedriger ein als ihre männlichen Mitschüler. Dieses „Anything goes“Gefühl sollte somit besser als „Something goes“-Gefühl bezeichnet werden, da Frauen noch immer ihre Fähigkeiten in bestimmten Bereichen unterschätzen. NEETZ / EPD Briefe Schwangeren-Beratung bei der Caritas Es geht um Macht über Menschen Göttingen Beatrice Rammstedt Institut für Psychologie, Uni Göttingen Durch eine „Vermännlichung der Gesellschaft“ sind weder gesamtgesellschaftliche noch globale Probleme wie Beziehungslosigkeit, kaltschnäuziger Egoismus, Arbeitslosigkeit, strukturelle und physische Gewalt zu lösen. Weniger machtorientiert, mehr sachorientiert sollte die Gesellschaft der Zukunft aussehen, und es sollte dafür ein Problembewußtsein entstehen, daß Geschlechtermobbing keine sachdienlichen Lösungen herbeiführt. Kiel Maren Rehder Erstklassige Leistungen bei Frauen im akademischen Bereich sind beim Berufseintritt besonders in der Industrie unerwünscht. Dieser Sexismus gegen hochqualifizierte Frauen setzt sich innerhalb der Parteien bei weiblichen Mitgliedern, die Karriere machen wollen, fort und führt bis in die Rekrutierung für die Europäische Kommission, wo männerspezifische Anforderungsprofile (entgegen dem angeblichen Frauenförderprogramm) weibliche Bewerber ausgrenzen. Das einzige Refugium für Frauen wird die Beamtenschaft sein. Darmstadt Dr. Britta A. Möser Die uns Männern wohlbekannte und leider oft zu erduldende Ambivalenz der Frauen gipfelt mittlerweile in dem Anspruch „Ich will alles“. Das erinnert fatal an das Märchen von dem Fischer und sin Fru, in dem das Paar am Schluß nach dem Scheitern der maßlosen Ansprüche der Frau wieder im Pißpott sitzt. Mir graut’s vor diesen speziellen animusbesetzten Frauen, den Penthesileas dieser Welt, vor ihrer verzweifelten Egozentrik. Ihr Desaster ist programmiert, und es wird auch uns Männer treffen – vor allem in Beziehungen. Staufen im Breisgau Dr. Michael Harder Katholische Spitzfindigkeit Nr. 25/1999, Kirche: Papst düpiert deutsche Bischöfe Es gibt nur eine Lösung des Problems: das Schisma. Die deutschen Katholiken sagen sich von Rom los, und die Deutsche Bischofskonferenz wählt Eugen Drewermann zum deutschen Papst. Würzburg Prof. Dr. Theo Meyer Diese unübertroffene Heuchelei der Vatikanprälaten! Schrie auch nur einer der Würdenträger auf, als im Spanischen Bürgerkrieg und in Belgisch-Kongo vergewaltigte katholische Nonnen massenweise abgetrieben hatten? Und heute regt sich der Heilige Vater über den gleichen Tatbestand bei vergewaltigten Frauen im Kosovo auf. Zu gleicher Zeit wird der deutsche Episkopat an die Kandare gelegt. Causa finita? Langen (Hessen) Paul L. Voyt Die alten Männer in Rom mit ihrem Frauenbild, das Mütter, Jungfrauen und Sünderinnen, aber keine gleichwertigen und -berechtigten Partnerinnen kennt, haben gesprochen. Die Geschichte um Ausstieg oder Verbleib in der Schwangeren-Konfliktberatung ist auf jeden Fall eines: ein Lehrstück in katholischer Spitzfindigkeit! Regensburg Rosemarie Gunder Am Ende des 20. Jahrhunderts zeigt die Kirche erneut, daß ihr nicht an den Menschen gelegen ist, vielmehr geht es ihr um die Macht über Menschen. Sulzfeld (Bayern) Reinhard Schweser Der Beschluß der katholischen Bischöfe sollte ein Anlaß sein, das Subsidiaritätsprinzip zu überdenken. Die soziale Versorgung darf nicht in die Hände von Organisationen gelegt werden, die so unzuverlässig sind wie die katholische Kirche. Braunschweig Irene Nickel Das gedankenlose Hochjubeln von Schlagworten wie Machiavellismus oder Narzißmus ist symptomatisch für eine irritierende Entwicklung hin zu Rücksichtslosigkeit und Egoismus. Dies kann nicht der Weg zur ersehnten harmonischen Gesellschaft sein. Ich bin weder katholisch noch Moralist. Doch nervt die nicht enden wollende Diskussion innerhalb der Kirche über Beratung und Abtreibung. Der Papst ist einfach sehr konsequent, auch wenn’s vielen nicht paßt. Kleinbösingen (Schweiz) Peter Hayoz-Bürgy München 12 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Georg Metz Großes Glück für Hamburg? Nr. 25/1999, Justiz: Die drakonischen Urteile des Hamburger Amtsrichters Ronald Schill Es handelt sich bei diesem Richter um einen Fundamentalisten, ja sogar um einen Eiferer. Solche Leute dürfen in einer rechtsstaatlichen Justiz keinen Platz haben. Hier im südbayerischen Raum gibt es eine nicht unerhebliche Anzahl von Richtern, die dem Vergleich mit Herrn Schill standhalten. Senden (Bayern) Peter Parenica (Rechtsanwalt) Ein Aufschrei geht durchs Land, weil ein Richter in unserer ach so sensiblen, psychologisch orientierten Gesellschaft die Strafrahmen ausschöpft und den armen Tätern die Streicheleinheiten für ihre schreckliche Kindheit verwehrt. Dies läßt nur einen Schluß zu: „Wir leben in einem Irrenhaus.“ Lochen (Österreich) Otto Hanke Es ist ein großes Glück für Hamburg, solch einen Amtsrichter zu haben. Richter Schill verhängt Strafen, die wirksam und empfindlich sind. Wäre eine Strafe dies nicht, würde sie ihren Sinn und Zweck verfehlen. Hamburg Magdalene Eberhard R. JATSCH-KÖSLING Für mich als Strafverteidiger – und den meisten Kollegen geht es ähnlich – ist es unbegreiflich und eigentlich nicht nachzuvollziehen, daß viele deutsche Staatsanwälte und leider auch Richter anscheinend immer noch zutiefst davon überzeugt sind, dem Opfer einer Straftat „Genugtuung“ dadurch verschaffen zu können, daß sie die Täter in den Knast schicken. Dabei scheren sie sich Richter Schill nicht um die Erfahrung, daß insbesondere Ersttäter und vorzugsweise die jüngeren dort keineswegs „auf den richtigen Weg gebracht“ werden, sondern oft diese Anstalt als Schule der Kriminalität erfahren. Aber selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte: Der Arbeitsplatz ist weg, Vermögen ist meist nicht vorhanden, mit dem tollen Ergebnis, daß dem Opfer der Straftat weder der materielle Schaden ersetzt wird, noch ihm – etwa bei Körperverletzungen – ein hier ohnehin immer „billiges“ Schmerzensgeld zufließen kann. Die „Versorgung“ des Inhaftierten kostet den Staat so viel, als wenn er in einem Luxushotel untergebracht wäre. Ein wunderbares Ergebnis einer Strafjustiz, die leider oft den sogenannten Tunnelblick hat. Koblenz d e r Dr. Eric Leis s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Briefe Berlin Wolfgang Lutaske G. WESOLOWSKI / AGENTUR RHEINSTRÖM Wo sind sie denn geblieben, die Aufseher des sozialistischen Strafvollzuges, die Häftlinge bespuckten, die Stasi-Offiziere, die Gefangene drangsalierten, die 100 000 IM, die durch feigen Verrat des Freundes das ganze System erst ermöglichten? Heute beziehen sie höhere Renten als die von ihnen Denunzierten, oder sie sitzen in Kammern, Verbänden, Bildungseinrichtungen, SicherStasi-Dunkelzelle in Potsdam: Rente von 80 Mark heitsdiensten, Inkassounternehmen oder sind gar als Gerichtsvollzieher tätig! O ja, wir finden sie auch im BunWeiterhin im Job destag, in den Landtagen und in kommuNr. 25/1999, Psychiatrie: nalen Parlamenten, wo keiner mehr nach Therapeuten behandeln Stasi-Opfer ehemaliger Stasi-Zugehörigkeit fragt. Am1996 habe ich ein Psychologie-Praktikum in nestie wollen sie für sich, 213 Mark pro der Außenstelle Gera der Gauck-Behörde Monat billigen sie den Opfern zu – ist das absolviert mit der Intention, Stasi-Opfer, mein deutsches Vaterland? die zu dieser Zeit ihre Akten einsehen Poseritz (Meckl.-Vorp.) Helmut Zürn konnten, psychologisch zu begleiten. Von Kreistagsausschuß für Recht, Rehabilitieeinigen Mitarbeitern der Behörde sind wir rung und Stasi-Auflösung (1990 bis 1994) damals eher beargwöhnt als aktiv unterstützt worden. Ganze drei Personen nahmen das Angebot des psychologischen BeiWie Butter in der Mikrowelle standes an. Bereits 1991 hatte ich beim Nr. 25/1999, Verkehr: Motorräder mit Tempo 300 damaligen Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Georg Diederich, die Natürlich kann Otto-Normal-MotorradKonzeption für ein Beratungsbüro für Op- fahrer diese 175 PS Suzuki GSX 1300 R fer und Täter der SED- und Stasi-Willkür in Hayabusa nicht beherrschen, und natürSchwerin eingereicht. Sie wurde natürlich lich kann man die 300-Kilometer-pro-Stunabgelehnt. Ein wesentlicher Aspekt der de-Spitze auf Deutschlands Straßen so gut posttraumatischen Belastungsstörung ist wie nie fahren. Aber: Wieso erregt sich nieder Vertrauensverlust, wenn das Trauma mand über die seit Jahren serienmäßig zuvor von Menschen verursacht wurde. vom Band gehenden „Boliden“ von BMW Mißtrauen wird also die Stasi-Opfer ver- mit bis zu 400 PS starken Motoren? mutlich davon abhalten, professionelle psy- Heidelberg Ivonne Würtz chologische Hilfe im Osten aufzusuchen. Denn wahrscheinlich sind viele, die im Ge- Wer so ein schnelles Motorrad fährt, muß sundheitswesen der DDR als Ärzte, Thera- körperlich 100prozentig fit sein, da er sonst peuten und Psychologen staatserhaltend schon beim Rangieren aus der Garage umarbeiteten, im neuen Deutschland weiterhin in ihrem Job. Deshalb wäre es gerade angebracht, zu recherchieren und den OpVERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, fern vertrauenswürdige Anlaufstellen auch Verpackung, Schwangerschaftsabbruch, Polizei, Einzelhandel, Umwelt, außerhalb von Berlin zu nennen. SPD, Kroatien: Ulrich Schwarz; für Regierung, Grüne, Umzug, ZeitgeChemnitz Wilfried Linke Diplom-Psychologe Nach langjähriger Haft wurde ich 1967 von der DDR in den Westen verkauft. Als Haftschaden wurde vom Versorgungsamt Berlin eine „vegetative und psychische Labilität“ anerkannt. Dafür gab es eine Rente von 80 Mark monatlich. Acht Jahre später wurde diese Rente von Amts wegen wieder aberkannt, „da die Krankheit nunmehr ausschließlich persönlichkeitsgebun14 schichte: Dr. Gerhard Spörl; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter Wild; für Trends,Geld,Medien Trends,Reichtum,Recycling,T-Aktie,Automobilindustrie, Wettbewerb, Karriere, Zeitschriften, Balkan: Armin Mahler; für Titel: Cordt Schnibben; für Panorama Ausland, Jugoslawien, Kosovo, Kaschmir, Israel, Katastrophen, Nato,Vatikan, Rußland: Dr. Romain Leick; für Boxen, Fußball, Chronik: Alfred Weinzierl; für Fernsehen, Szene, Familie,Autoren, Kunstmarkt, Hollywood, Pop,Talkmaster, Literatur,Bestseller: Wolfgang Höbel,für Prisma,Prisma Computer,Medizin,Tierschutz,Seuchen,Evolution: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr.Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Wolfgang Busching; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 fallen und sich eventuell verletzen würde. Wer schnelle Motorräder fährt, ist am Lenker hoch konzentriert, weil er ständig mit der Unachtsamkeit anderer rechnen muß. Seine Dummheit oder die Dummheit anderer Verkehrsteilnehmer macht ihn zum Krüppel oder kostet ihn sogar sein Leben. Remscheid Gisela Feldhoff Der Artikel gibt nur vage die rabiaten, physischen Belastungen wieder, denen der Pilot ausgesetzt ist – vor allem beim Verzögern aus Geschwindigkeiten, die über Tempo 270 km/h herrschen. Die Distanzen schmelzen zusammen wie Butter in der Mikrowelle. Die Endgeschwindigkeit wird wirklich durch die Reifen limitiert. Wen bei diesem Tempo eine Böe trifft, der hat schlechte Karten – dann bleibt den Rettungssanitätern wirklich nichts mehr übrig. Oldenburg (Nieders.) Hilmar Kluß Ich schlage vor, allen Käufern dieser Geräte mit dem Kfz-Schein eine ausführliche Aufklärung über Organtransplantation – einschließlich eines auszufüllenden Organspenderausweises – auszuhändigen. Münster Dr. Stefan Fründ J. MAINX den ist“, wie die Neurologin des Versorgungsamtes mir mitteilte. Über die Haftverhältnisse wollte niemand etwas hören. Suzuki-Hayabusa-Fahrer Hoch konzentriert am Lenker Das von den Motorradherstellern erneut begonnene Wettrüsten um „das schnellste Serienmotorrad der Welt“ gehorcht doch nur denselben marktwirtschaftlichen Gesetzen, die auch für andere Industriezweige gelten: Angebot und Nachfrage in Verbindung mit perfekt durchdachter Werbung. Braunschweig Lutz Müller Es ist doch völlig egal, ob ein Motorrad 100 oder 175 PS hat. Statt in 11 bin ich dann eben in 7 Sekunden auf 200 Kilometer pro Stunde. Und mit 27 PS lege ich mich auch auf die Fresse, wenn ich auf regennasser Fahrbahn richtig Gas gebe. Schiffdorf (Nieders.) Axel Ruch Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine Postkarte des SPIEGEL-Verlages/Abo, Hamburg, und ein Prospekt der Firma Flötotto, Gütersloh, beigeklebt. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Beilagen von AOL Bertelsmann Online, Hamburg, sowie Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg, bei. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Panorama E U R O PA Gefährliche Klippe Schreyer F. OSSENBRINK SINTESI / DONATA omano Prodi, designierter Präsident der EU-Kommission, beugt sich den Wünschen von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Am vergangenen Donnerstag akzeptierte der Italiener bei einem Treffen in Bonn die Grüne Michaele Schreyer sowie den Sozialdemokraten Günter Verheugen als deutsche Kommissarsanwärter. Prodi machte lediglich den Vorbehalt, daß er mit beiden noch ein ausführliches Fachgespräch führen müsse. Schreyer ist nach bisherigen Plänen des Italieners für das Portfolio des EU-Haushalts, Verheugen für einen der außenpolitischen Zuständigkeitsbereiche der neuen Kommission vorgesehen. Als gefährliche Klippe könnte sich für Schreyer noch das Ausschuß-Hearing im Europaparlament erweisen. Zeigt sie da Schwächen, wollen die Konservativen geschlossen bei Prodi auf Austausch der Kandidatin drängen. Ist der Präsident aber von der Qualifikation der Deutschen überzeugt, will er sich nicht erpressen lassen. Das Europäische Parlament würde dann von ihm vor die Alternative gestellt, entweder die gesamte Kommission samt Schreyer zu wählen oder sich einen neuen Kommissionspräsidenten zu suchen. Prodi stünde dann nicht mehr zur Verfügung. ARIS R Prodi Verheugen ger. Die spanischen Konservativen möchten ihre Kommissarskandidatin Loyola de Palacio, die britischen Torys Chris Patten, den früheren Gouverneur von Hongkong, durchbringen. Auch die Österreichische Volkspartei will die Wiederkehr ihres Agrarkommissars Franz Fischler nicht gefährden. Die deutschen Unionsabgeordneten im Europaparlament haben kaum noch Chancen, Prodi dafür abzustrafen, daß er keinen CDU/CSU-Vertreter in sein „Top-Team“ aufnimmt. Gegen ihren Plan, Prodis Mannschaft im Parlament die Zustimmung zu verweigern, gibt es Widerstand selbst im konservativen La- ÖCALAN RÜSTUNG Warnung vor Gewalt Verschärfte Beobachtung D V AP eutsche Sicherheitsbehörden rechnen mit „schwerster, emotional gesteuerter Gewalt“, sollte der inhaftierte PKKFührer Abdullah Öcalan in der Türkei hingerichtet werden. In einer Lagebeurteilung der Staatsschutzabteilung des Bundeskriminalamts für die Bundesregierung warnen die Experten vor Brandanschlägen, Kamikaze-Attacken und Flugzeugentführungen. Auch Geiselnahmen, mit denen versucht werden könnte, Öcalan freizupressen, müßten einkalkuliert werden. Mit diesem Szenario müsse schon bei „herannahendem Vollstreckungstermin“ gerechnet werden. Gleiches gelte, wenn die PKK glauben müsse, daß sie „hinsichtlich der Lösung der Kurdenfrage auf keine weitere Unterstützung der Staatengemeinschaft“ bauen könne. Kurden-Demonstration (in Hamburg) d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 or Geschäften mit 14 russischen Firmen und Universitäten hat die Bundesregierung die deutsche Industrie gewarnt. Sie stünden nach Angaben der US-Regierung im Verdacht, Iran durch „umfangreiche technische Unterstützung“ bei der Entwicklung hochmoderner Langstreckenraketen zu helfen. Mißtrauisch beobachtet wird neben der kommerziellen Raumfahrt-Agentur Glawkosmos auch die Baltic State Technical University in St. Petersburg. „Deutsche Unternehmen, die einen Technologietransfer nach Rußland durchführen“, heißt es in der Warnung, müßten mit „verschärfter Beobachtung“ seitens der US-Administration rechnen. 17 FOTOS: K. MÜLLER (gr.); M. DARCHINGER (kl.) Panorama Zerstörte Häuser in Prizren, Hombach Viele Köche H ohe EU-Beamte in Brüssel rechnen damit, daß es bei der Arbeit des Stabilitätskoordinators auf dem Balkan, Gerhard Schröders bisherigem Kanzleramtschef Bodo Hombach, schon bald zu Rivalitäten zwischen verschiedenen, in der Region tätigen internationalen Institutionen kommen wird. Dabei werde es vor allem um Geld und um Mitarbeiter gehen. Hombach hat bislang weder einen eigenen Etat noch einen Stab vor Ort. Allein für das Kosovo wollen EU und Weltbank vom Jahr 2000 an jährlich jeweils eine halbe Milliarde Euro aufbringen.Während sich Hombachs Stabilisatorenjob auf die gesamte Balkanregion, insbesondere Albanien, Mazedonien, Bosnien, Kroatien und die Bundesrepublik Jugoslawien, erstrecken soll, ist nach der Reso- KO S OVO S TA S I Deutsche ermitteln Nachgezeichnet und belegt D eutschland schickt 50 Kriminalpolizisten zur Unterstützung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien ins Kosovo. Die Beamten sollen Beweise für das Den Haager Kriegsverbrechertribunal sammeln. Eine Hälfte der Fahndertruppe stellt das Bundeskriminalamt (BKA), die andere stammt aus den Ländern. Die Beamten sollen Beweise sichern, Tatorte untersuchen und Opfer von Kriegsverbrechen identifizieren. Der Aufenthalt der Deutschen ist zunächst auf 30 Tage begrenzt. Die Ermittler sollen, so ein BKA-Beamter, „schnellstmöglich, voraussichtlich noch diese Woche“, mit der Arbeit im Kosovo beginnen. Ein Vorauskommando von vier BKA-Fahndern kehrte am Sonntag aus der Krisenregion zurück, wo es Einsatzorte und erste Aufträge erkundete. Alle Beamten haben sich freiwillig zu dem Einsatz gemeldet. 18 lution 1244 des Weltsicherheitsrats die Uno für den Wiederaufbau im Kosovo zuständig. Generalsekretär Kofi Annan hat sich für den Franzosen Bernard Kouchner als Sonderbeauftragten für das Kosovo entschieden. Aber auch die Brüsseler Kommission will zur Steuerung der EU-Mittel auf dem Balkan eine eigene Wiederaufbauagentur in Pri∆tina einrichten, in der 12 EU-Beamte und rund 200 freie Mitarbeiter wirken sollen. Dort werden zudem zwei Beamte der internen Finanzkontrolle der Kommission arbeiten. Sie sollen Betrügereien mit Geldern aus der Europäischen Union rechtzeitig erkennen. Ein weiterer Spitzenmann neben Hombach wird schließlich in Bosnien sitzen: Wolfgang Petritsch (SPÖ), ein österreichischer Top-Diplomat, bekommt den Posten des EU-Beauftragten für Bosnien – als Ausgleich dafür, daß Bonn den Österreichern den Koordinatorenjob wegschnappte. Bislang ist noch nicht einmal klar, wie die Kompetenzen innerhalb der EU verteilt sind. E in neuer Recherchebericht der Berliner Gauck-Behörde über die StasiVerstrickung des PDS-Bundestagsabgeordneten Heinrich Fink erbrachte „eine hinreichende Anzahl Unterlagen“, mit denen die von Fink bestrittene inoffizielle Zusammenarbeit „nachgezeichnet und belegt werden kann“. Der Bericht traf vergangene Woche zusammen mit knapp 200 Seiten aus meist neu aufgefundenen Einsatz- und Treffberichten beim BundestagsImmunitätsausschuß ein. Peinlichstes Dokument für den Ex-Rektor der Berliner Humboldt-Universität ist ein Auszeichnungsvorschlag Fink des Chefs der Stasid e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Kirchenabteilung Joachim Wiegand: Wenige Tage vor dem Mauerfall 1989 sollte der IM „Heiner“, Registriernummer XV/1827/68, „mit einem Sachgeschenk in Höhe von 500 Mark“ belobigt werden. Wiegands Begründung: „Der IM unterstützt das MfS seit über 20 Jahren“, und im übrigen habe „Heiner“ auf Befehl des Stasi-Chefs Erich Mielke schon 1984 die „Verdienstmedaille der NVA in Gold“ erhalten. Der Bericht der Gauck-Behörde enthält eine Fülle bislang unbekannter Details: So berichtete „Heiner“ seinen Führungsoffizieren über republikmüde Theologiestudenten genauso wie über einen kircheninteressierten Amerikaner aus West-Berlin. Er benutzte dazu die gleiche konspirative Wohnung wie „IM Sekretär“, die laut Wiegand nur „IM in leitenden Positionen“ diente. ARIS BALKAN Deutschland D I P L O M AT I E Brief nach Helsinki G erhard Schröders Versuch, innerhalb der EU bei informellen Ministertreffen Deutsch als Konferenzsprache zu etablieren, ist vorerst gescheitert. Auch in der Vergangenheit seien Veranstaltungen üblicherweise ins Deutsche übersetzt worden, obwohl die offiziellen Sprachen Französisch und Englisch sind, so die Argumentation der Bundesregierung. Darauf zu verzichten sei deshalb, schreibt der Kanzler an den neuen finnischen EU-Ratspräsidenten Paavo Lipponen, „eine gravierende, für Deutschland nicht hinnehmbare Veränderung der gängigen Praxis“. Die Finnen hatten es abgelehnt, beim Treffen der Industrie- und Wirtschaftsminister am vergangenen Wochenende alle inoffiziellen Begegnungen ins Deutsche übersetzen zu lassen. Deutschlands Wirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) sagte seine Teilnahme daraufhin aus Protest ab. Die bereits angereiste österreichische Delegation wurde von ihrer Regierung zurückbeordert. Finnland verweist hingegen darauf, daß nur bei 4 von 14 Ministerratstreffen keine deutsche Übersetzung vorgesehen sei. Die Finnen fürchten vor allem eine Initiative Spaniens, Italiens und der Niederlande, die darauf beharren, daß ihre Sprachen auch in das sogenannte Sprachregime aufgenommen werden, falls Deutsch reguläre Arbeitssprache wird. In dieser Woche will die Bundesregierung Finnland doch noch zum Einlenken überreden. Bis zu einer Lösung soll kein deutscher Vertreter mehr an informellen Ministerratstreffen teilnehmen. Nächster Termin wäre das Treffen der Kulturminister am 19. Juli im finnischen Savonlinna, für das Staatsminister Michael Naumann bereits ein Ticket hat. OSTKREUZ gitte Seebacher-Brandt, Kulturchefin der Deutschen Bank und verantwortlich für Schlingensiefs Einladung, klagte in einem Brief an dessen Haustheater, die Berliner Volksbühne, daß „Vereinbarungen in wesentlichen Teilen“ gebrochen worden seien – und forderte einen bereits überwiesenen 40 000-Euro-Vorschuß (knapp 80 000 Mark) auf das insgesamt 120 000 Schlingensief, Mitstreiter (auf dem Dach der Volksbühne) Mark umfassende Budget der Theateraktion zurück. „Reingelegt“ fühlte sich SeebaS P E K TA K E L cher-Brandt vor allem durch den „nicht abgesprochenen“ Schlingensief-Plan, unter den Gästen für Einrichtungen in Ex-Jugoslawien zu sammeln und m Angesicht der Mächtigen wollten womöglich 100 000 Mark von der Brüsie die „Hofnarren“ spielen – das stung der Restaurantterrasse zu werfen. versprachen der Theater-Rabauke Chri„Ich war zu gutgläubig“, bedauert sie, stoph Schlingensief und seine Mitstreiund auch Schlingensief zeigte sich beter für eine Tagung der „Alfred Herrtrübt über das Aus „für den mutigen hausen Gesellschaft“ zum „KapitalisVersuch, Kunst und Börse zueinandermus im 21. Jahrhundert“. Im Rahmen zubringen“. An der Volksbühne beruft eines Abendessens, zu dem unter andeman sich nun darauf, Schlingensiefs ren Bundespolitiker und WirtschaftsAnkündigung sei ein zur Aktion gehörilenker wie Jürgen Schrempp erwartet ger Bluff gewesen: „Das einzige Geld, wurden, wollte Schlingensief vergangedas vom Reichstag geflogen wäre, ist die nen Freitag abend im Kuppel-RestauGage von Schlingensief selbst, 15 000 rant des Berliner Reichstags die Aktion Mark in kleinen Scheinen“, so Dramaunter dem Namen „Rettet den Kapitaturg Carl Hegemann – „schon um dem lismus – schmeißt das Geld weg!“ naheliegenden Verdacht zu begegnen, inszenieren. er sei käuflich“. Den Vorschuß wolle die Zwei Tage vor dem Happening-Termin Volksbühne keinesfalls zurückzahlen. aber wurde das Spektakel abgesagt. Bri- Hofnarren gebremst I d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 19 Panorama Deutschland Am Rande 20 Bierkneipe „Desperado“ in Merseburg nach dem Anschlag K R I M I N A L I TÄT „Neue Qualität“ Günther Flossmann, 56, Spezialist für Organisierte Kriminalität beim Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt, zu den Hintergründen des Anschlags auf die Bierkneipe „Desperado“ in Merseburg SPIEGEL: Die Polizei sieht in dem Bombenanschlag einen Racheakt zwischen rivalisierenden Rotlichtbanden, obwohl unter den 20 teils Schwerverletzten fast nur unbeteiligte Kneipengäste waren – eine neue Dimension im Kiezkrieg Ost? Flossmann: Brutalität und Ausmaß der Organisierten Kriminalität in den neuen Nachgefragt Harter Brocken Wie ist Ihre Meinung zum Sparpaket der Bundesregierung? nach Parteianhängern B ’90 CDU/ SPD Grüne CSU Die Sparmaßnahmen sind... . .. zu hart 46 26 32 53 . . . insgesamt ausgewogen 30 55 32 27 Es könnte noch härter gespart werden 14 12 13 14 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 29. und 30. Juli; Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe; rund 1000 Befragte d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Ländern steigen seit Jahren an – auch wenn sie noch nicht das Westniveau erreicht haben. Nach der Wende haben sich die eher bodenständigen Kleinkriminellen im Osten zunächst neu orientiert, sich mit Westlern zusammengetan und ihre Claims abgesteckt. Zu Reibereien kam es dabei immer, aber die haben sich höchstens Flossmann gegenseitig den Kiefer gebrochen. Insofern hat der Anschlag eine neue Qualität. SPIEGEL: Bei der Bombe in Merseburg ging es um die Konkurrenz zweier Bordelle, eines wird von einem Ostler betrieben, das andere vom westdeutschen Chef eines Motorrad-Clubs, der als Bombenleger verdächtigt wird … Flossmann: … weil er womöglich zu habgierig wurde. Für zugewanderte Unterweltler aus dem Westen ist das nicht ungewöhnlich. In der Nähe von Halberstadt hat die Polizei Anfang des Jahres ein Bordell ausgehoben, dessen Besitzer, ein Geschäftsmann aus Frankfurt am Main, sich mit nahezu allen Partnern verkracht und deshalb für Unruhe und Überfälle in der Szene gesorgt hatte. SPIEGEL: Ließe sich das Milieu nicht auch dadurch beruhigen, daß im Osten – wie in westdeutschen Großstädte – mehr legale Rotlichtviertel zugelassen würden? Flossmann: Da wäre manches vielleicht besser unter Kontrolle, aber zeigen Sie mir den Bürgermeister, der sich die Unterwelt gern vom flachen Land in die Innenstadt holen will. TILL / APIX Zu den von keiner Verfassung garantierten, aber dennoch unantastbaren Grundrechten gehört das Recht auf ein öffentliches Amt für solche Politiker, die den Gipfelpunkt ihrer Karriere hierzulande überschritten haben – also eine Art Pflegeversicherung für Altfälle. Karsten Voigt mußte zum Koordinator für deutsch-amerikanische Beziehungen ernannt, Freimut Duve zum Medienbeauftragten der OSZE erklärt und Bodo Hombach vom Häuslebauer zum Wiederaufbaukommissar für den Balkan befördert werden. Doch während solche Fälle von Versorgungswirtschaft von der Öffentlichkeit übersehen oder hingenommen werden, regen sich alle über den umgekehrten Fall auf: Der EU-Kommissar für Industrieund Telekommunikation, Martin Bangemann, vor Jahren von der FDP nach Brüssel entsorgt, bat um seine vorzeitige Entlassung, um bei dem spanischen TelefonUnternehmen Telefónica sofort anzuheuern – für ein Vielfaches seines bisherigen Salärs. Dabei war die EU-Kommission längst zurückgetreten worden und er nur noch kommissarisch im Amt. Daß er nun zu einer privaten Firma wechselt, die zufällig in seinem bisherigen Geschäftsbereich tätig ist, mag kein feiner Stil sein, beweist aber, daß die europäische Integration voranschreitet: Ein Deutscher, daheim arbeitslos, bekommt einen Job in Brüssel, hat ein Haus in Frankreich und übernimmt, statt in Rente zu gehen, eine Aufgabe in Spanien. Und während es mit der FDP bergab geht, geht es mit Bangemann noch immer bergauf. Nicht schlecht für einen, der ein Nomen für kein Omen nimmt. AP Abgesahnt Werbeseite Werbeseite Deutschland REGIERUNG Nur nicht umfallen Gerhard Schröder will sich sein Reformpaket nicht zerreden lassen. Beim Treffen im Bündnis für Arbeit in dieser Woche kommt die Bewährungsprobe für seine Standfestigkeit. E twas zerknittert absolvierte der Bundeskanzler morgens um halb zehn das Folkloreprogramm: erst einen Schluck Milch, dann ein Stück saure Gurke und zum Schluß einen Schnaps. Leise grummelte er unterdessen vor sich hin: „Ich kann’s nicht mehr hören, dieses Geschimpfe.“ Dann bahnte sich Gerhard Schröder zwischen Transparenten und pfeifenden Landwirten hindurch den Weg ans Rednerpult. Der Ring der Sicherheitskräfte schloß sich um ihn, Regenschirme standen bereit, um den Regierungschef vor tieffliegenden Agrarprodukten zu schützen. Das war auch nötig. Denn was ein Grußwort für den Deutschen Bauerntag in Cottbus werden sollte, geriet zu einer imposanten Schweiß-und-Tränen-Fanfare – und erboste die 3000 Landwirte zutiefst. Nach drei Minuten wischte Schröder sein Redemanuskript fort und brüllte gegen die tutende Menge an, die wegen der geplanten Einschnitte bei der Altersversorgung, wegen höherer Versicherungsprämien und Dieselpreise tobte – und sich überhaupt wegen künftig sinkender EUSubventionen schlecht behandelt fühlt. Doch der Kanzler ließ sich von den erzürnten Bauern nicht schrecken. „Ich bin nicht gekommen, um eine einzige der Maßnahmen zurückzunehmen“, verkündete er. Die Halle wütete, doch Schröder verließ die Bühne in Jubelpose. Er hat die Tonlage Riesters Rente für die Sommerpause angegeben. Die Botschaft: Wer versucht, Brocken aus dem Sparpaket von Finanzminister Hans Eichel zu brechen, der wird scheitern. Den Ruf des eisernen Kanzlers muß sich Schröder erst noch erkämpfen. Bisher knickte er allzuleicht vor den Lamentos der Lobbyisten ein – etwa bei der ersten Streichliste für Steuervergünstigungen. Der Ansturm der Bauern ist nur der Anfang einer Mobilmachung der Sparopfer, die im Sommerloch droht: eine bunte Koalition aus Rentnern, Kassenärzten, Arbeitslosen, Ministerpräsidenten und Bürgermeistern. Wenn der Kanzler schon beim ersten Auftritt vor Eichel-Geschädigten klein beigegeben hätte, wären die übrigen Gruppenvertreter wohl sofort nach dem Gleichheitsgrundsatz ebenfalls angetreten. Gleich in dieser Woche könnte es kritisch für das Sparpaket werden, wenn Schröder am Dienstag abend um 19 Uhr die Führungskräfte des Verbändestaates zur nächsten Sitzung im Bündnis für Arbeit im Kanzlerbungalow empfängt. Das Bündnis, Herzstück der Schröderschen Reform- und Konsenspolitik, lahmt seit seinem Bestehen. Platzt das Bündnis an der Bräsigkeit seiner Mitglieder, gerät Schröders gesamtes Reformvorhaben ins Rutschen. Denn Konzessionen der Regie* Beim Bauerntag in Cottbus am vergangenen Freitag. Die Auswirkungen der Bonner Rentenpläne nach Berechnungen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte 1999 2000 2001 2002 2003 Beitragssätze* nach geltendem Recht ... 19,5 19,4 19,9 19,9 20,2 ... und nach dem jüngsten Kabinettsbeschluß 19,5 19,3 19,1 18,9 19,0 1999 2000 2001 2002 2003 Rentenniveau* nach geltendem Recht ... 70,1 69,5 70,1 68,9 69,5 ... und nach dem jüngsten Kabinettsbeschluß 70,1 68,6 67,7 66,4 67,3 *in Prozent des Nettodurchschnittslohns bei 45 Beitragsjahren DPA *in Prozent des Bruttolohns, Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil Kanzler Schröder, Bauernpräsident Sonnleitner*: 22 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 „Keine einzige Maßnahme zurücknehmen“ d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 23 J. GIRIBAS rung bei Steuern und Renten waren als „Wir wären bescheuert, wenn wir uns Vorleistung gedacht, um den Unterneh- jetzt so eine Debatte aufhalsen“, warnt mern Zugeständnisse abzuringen. Gernot Mittler, SPD-Finanzminister von Schon die Vorbereitungen für die aktuel- Rheinland-Pfalz. „Das ist völliger Kappes“, le Runde legten die Probleme offen.Als sich zürnt auch Grünen-Finanzexperte Klaus die Unterhändler im sogenannten Steering- Müller. Der Neuauflage der VermögensteuCommittee zur Feinabstimmung trafen, war er stehen Verfassungsgerichtsurteile im die Stimmung angespannt: Genervte Ar- Wege. beitgebervertreter, gereizte GewerkschafLeichter fällt der Griff zur Erbter und frustrierte Regierungsmitglieder schaftsteuer – nicht unbedingt durch höheprallten aufeinander. re Steuersätze, sondern durch eine KorrekDie Arbeitgeberseite mochte sich in der tur der meist viel zu niedrigen Schätzvorbereitenden Sitzung der Steuerungs- preise für vererbte Grundstücke und Häugruppe am Donnerstag vergangener Woche ser. Viel bringen würde dies alles nicht: nicht mehr an die Zusage 25 000 zusätzli- Selbst wenn die Erbschaftsteuer um 50 cher Ausbildungsplätze erinnern, die sie Prozent erhöht würde, kämen für die Lännoch Anfang des Jahres gegeben hatten. der nur rund drei Milliarden Mark zusamNeben dem Gezerre um die Ausbil- men – und, warnt Mittler, „verdammt viel dungsgarantie für Jugendliche stritt man Ärger“. sich vor allem über einen Entwurf des Arbeitsministeriums zu „Arbeitszeitflexiblisierung und Abbau von Überstunden“ – ein Thema, das den Gewerkschaften am Herzen liegt. Der Text, der unter anderem „einen beschäftigungswirksamen Abbau von Überstunden“ fordert, steht allerdings unter Vorbehalt der Arbeitgeber. Im Gegenzug möchten sie, daß über die gesamte Tarifpolitik, also auch über Löhne, gesprochen wird. Das Junktim akzeptieren die Gewerkschaften nicht. Eine gemeinsame Erklärung Minister Riester, Bauarbeiter*: Beschleunigtes Tempo für die Bündnisrunde, ohnehin mit vielen Formelkompromissen versehen, Der droht sowieso. Denn Eichels Sparwies vergangene Woche noch offene Stellen paket bietet eine prächtige Kulisse fürs auf. „Wenn wir an diesem Dienstag zu kei- Sommertheater. „Die alles entscheidende nem Resultat kommen“, sagt ein Teilneh- Frage wird sein: Stehen wir?“ sagt ein homer genervt, „dann soll Schröder alle zum her Regierungsmann. Teufel jagen.“ Der Finanzminister jedenfalls will sich Statt konkrete Zusagen einzuholen, wird nicht darauf einlassen, sein Paket wieder der Kanzler mit den Funktionären nun vor aufzudröseln: „Das würde ansonsten lauallem über die Spar- und Steuerpolitik re- fen wie mit Dominosteinen“, erklärte er in den müssen. Die Arbeitgeberfunktionäre kleiner Runde. „Sobald wir die erste Maßwerden den Kraftakt von Finanzminister nahme zurücknehmen, würde der erste Eichel begrüßen, aber zugleich mehr Ver- Stein umfallen und alle anderen nacheinbindlichkeit bei den Unternehmenssteu- ander umreißen.“ ern einfordern. Schröders spätberufener SparkommisDie Gewerkschaftsbosse dagegen, voran sar setzt alles daran, Querulanten aus den IG-Metall-Chef Klaus Zwickel, werden die eigenen Reihen abzuschrecken. Sein Trick: Sparbeschlüsse als ungerecht geißeln und, Haushalt und Steuern sollen zu einem Geentgegen den Plänen der Regierung, auf setzesbündel geschnürt werden, das auch eine aufkommensneutrale Unternehmens- im Bundesrat zustimmungspflichtig ist. steuerreform pochen. Doch der Kanzler hat Quertreiber, die einzelne Punkte heraussich eindeutig festgelegt: Er will sein Spar- brechen wollen, wären schuld am Scheitern paket ohne Steuererhöhung durchboxen. des gesamten Pakets. Das schert die eigenen Genossen und Damit nicht genug: Eichel will das ReGewerkschafter jedoch herzlich wenig. formtempo noch verschärfen. Er will mit Munter debattieren die SPD-Parlamenta- Arbeitsminister Walter Riester einen Renrier inzwischen darüber, ob sie wahlweise tengipfel einberufen. Das diffizile Thema die Erbschaftsteuer erhöhen oder aber die Altersversorgung sei im Bündnis für Arbeit Vermögensteuer wiedereinführen sollen – nicht gut aufgehoben, so Eichel. Weder die auch wenn dies dem Bonner Finanzminister wenig bringt: Das Aufkommen beider Ab- * Beim Richtfest für das Arbeitsministerium in Berlin am gaben stünde allein den Ländern zu. vergangenen Freitag. Kommentar Rätselhaftes Deutschland RUDOLF AUGSTEIN D er von vielen und auch von mir geschätzte Chefredakteur der „Zeit“, Roger de Weck, hat seinen Leitartikel mit einer jedenfalls von mir nicht erwarteten Überschrift versehen: „Das deutsche Rätsel“. Da wird man doch neugierig. Die Unterzeile dämpft die Erwartung beträchtlich. Sie lautet: „Warum hat dieses Land Probleme mit der Wirklichkeit?“ Mir scheint, herausragende Kommentatoren – de Weck ist Schweizer – trauern unbewußt, aber gleichwohl frustriert einer Rätselwirklichkeit nach, die tatsächlich einmal gegeben war, inzwischen aber entschwunden ist wie der amerikanische General Douglas MacArthur mit seiner Scrambled-eggsMütze („Old soldiers never die, they just fade away“). So haben wir die merkwürdige Erscheinung, daß wir uns selber durchaus kein Rätsel mehr sind. Genau dies aber scheint bei unseren Nachbarn eine psychologische Lücke aufgetan zu haben. Sie waren an ein rätselhaftes Deutschland gewöhnt. Der Kommentator begnügt sich mit Stichworten. Die Hochschulreform, die Große Koalition in Bremen: Realitätsverlust. Der Ladenschluß, immer so offen wie nachts die Tankstelle. Einwanderungsland, als Wort verpönt: Realitätsverlust. Widerspruch gegen die Altauto-Richtlinie der EU, natürlich auf Befehl von Volkswagen-Piëch: Realitätsverlust. Daß im Kosovo in Wahrheit eine Berufsarmee Dienst tut, weiß so recht kein Deutscher (weil es so auch nicht stimmt): Realitätsverlust. Millionen von Billigjobs, sie waren ganz unbemerkt geblieben, bis die Regierung sich ihrer annahm: Realitätsverlust oben wie unten. Katholische Bischöfe stellen verlogene Beratungsscheine aus, und der Papst schließt sich dieser Verlogenheit an. Das kann nur der Höhepunkt an Realitätsverlust sein. Man sieht, hier werden wie überall innenpolitische Streitigkeiten ausgetragen. Realitätsverlust gab es unter den Deutschen, als die aus dem Osten Vertriebenen Land und Besitz zurückhaben wollten. Nun muß man anerkennen, daß der von Berlin aus zu regierende Gesamtstaat nicht restlos dem katholisch be- stimmten Kernstaat Bundesrepublik entsprechen kann. Er wird etwas selbstbewußter auftreten, gewiß nicht bescheidener, aber immer noch bescheiden. Die ersten Besuche Schröders im Ausland ermangelten noch diplomatischer Gepflogenheit. Man muß nicht alles sagen, was man denkt. Wenn er jeden Tag wie der von ihm durchgeboxte „Chefschaumschläger“ Bodo Hombach (so de Weck) eine Einzelstunde Englisch nimmt, wird sich das bald bessern. Das Rätsel Deutschland kann doch im Ernst nicht darin bestehen, daß dieses Land „Probleme mit der Wirklichkeit“ hat. Welches Land unseres Standards hat denn keine Probleme mit der Wirklichkeit? Die Schweiz, nun gut, aber das ist natürlich unfair, sie hier zu nennen. Frankreich? Da muß man nicht viele Worte machen. England? Keine Probleme? Da kann man ein Kichern nur mühsam unterdrücken. Ich will sie nicht alle aufzählen, nicht Griechenland, nicht Italien, das prächtig davon lebt, kein Verhältnis zur Wirklichkeit haben zu wollen. In einem Rundumschlag wirft uns Roger de Weck sogar vor, wir seien doch früher gegen jeden Krieg gewesen und hätten jetzt doch Jugoslawien mit bombardiert. Ich würde derlei Realitätssinn nennen. Unterschwellig spürt man bei ihm eine fast zwanghafte Angst vor der imaginären „Berliner Republik“. Ich weiß nicht, weil ich ihn ja immer lese, was den Chefredakteur der „Zeit“ diesmal geritten hat. Er sieht Kanzler Schröder auf dem Weg von Bonn nach Berlin durch „ein Niemandsland in einer Niemandszeit“ gehen. Da er nun alle inneren deutschen Probleme aufgezählt hat, widersetzt er sich gleichwohl, „an den Deutschen irre zu werden“ – wäre auch schade drum. Den Kanzler, unterwegs im Niemandsland nach Berlin, lockt er mit einer unerhörten Versuchung: „gleichsam ex nihilo, verlockend aus dem Nichts steigend wie Aphrodite, die Schaumgeborene“. PS: Wir alle haben schon einmal Artikel geschrieben, deren wir uns nicht gern erinnern. Alten noch die Jungen seien vertreten. Deswegen müsse ein Runder Renten-Tisch her. Auf keinen Fall will Riester eine Rentendiskussion im Sommerloch. Doch das wird kaum zu verhindern sein. Vergangene Woche startete die CDU im Saarland eine Straßenkampagne, die, wie die Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, den Unmut gegen die Regierungspläne schüren soll. Mit dem Zahlenkuddelmuddel der Renten läßt sich trefflich Interessenpolitik treiben. Statistik und Realität im Rentensystem klaffen oft weit auseinander – wie etwa in Ostdeutschland: Zwar liegt die ostdeutsche Standardrente, die von 45 Versicherungsjahren mit Durchschnittsverdienst ausgeht, rein rechnerisch noch immer nur bei 86 Prozent des Westniveaus. Weil aber Werden die Gewerkschaften wieder fruchtlose Abwehrstellungen beziehen? viele Westrentner wegen längerer Ausbildung oder Arbeitslosigkeit diese Jahre immer seltener zusammenbekommen, erhalten viele Ostpensionäre faktisch genausoviel Rente – oder sogar deutlich mehr. Nach Berechnungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages liegen die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und die Altersrente für Männer im Osten im Schnitt drei Prozent über dem Westsatz. Die Ostrentnerinnen haben die im Westen längst überholt: Sie erhalten rund 35 Prozent mehr. Damit verfügen Rentnerehepaare im Osten über erheblich höhere Einkommen aus der Altersversorgung als westdeutsche Seniorenfamilien. Doch diese neiderweckende Entwicklung steht noch gar nicht zur Debatte. Vergangenen Mittwoch lud Riester zum erstenmal die Arbeitsgruppe Rente im Bündnis für Arbeit ins Ministerium und präsentierte erneut sein Drei-Säulen-Konzept aus Staats-, Betriebs- und Privatrente. Die Gewerkschaften lassen keinen Zweifel daran, daß sie weiter auf bei den Lohnverhandlungen abgezweigte Extra-Rentenbeiträge setzen, die sogenannten Tariffonds. Sie sollen den Rentenabschlag bei einem vorzeitigen Ruhestand mit 60 Jahren ausgleichen. Erst mal aber muß Kanzler Schröder die Runde am kommenden Dienstag retten. Sollte nur ein Konsens in der Ausbildung zustande kommen, geht das Bündnis schweren Zeiten entgegen. Dann werden die Gewerkschaften wie zu Zeiten Kohls wieder fruchtlose Abwehrstellungen beziehen. Falls die Gewerkschafter frustriert aus der nächtlichen Runde gehen, droht die Mobilisierung in den Betrieben. „Wir wollen keine andere Regierung“, sagt der ZwickelVertraute Klaus Lang: „Aber wir fordern von dieser Regierung eine andere Politik.“ Markus Dettmer, Christian Reiermann, Ulrich Schäfer, Hajo Schumacher 24 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Deutschland GRÜNE „Gefährlicher als der Krieg“ Werden die Grünen unberechenbar? Beim Ausstieg aus der Kernkraft drängen die Realos die SPD zu einem Kompromiß, um die nervöse Partei ruhigzustellen. N. MASKUS D ie Bonner Abschiedsfeierlichkeiten lagen gerade hinter ihnen, da machten sich zwei besorgte Grüne auf den Weg zu Gerhard Schröder. Sonderlich erstaunt dürfte der Kanzler über die von Joschka Fischer und Rezzo Schlauch überbrachte Botschaft nicht gewesen sein. Es war ja nicht zu übersehen, daß die Grünen sich so lange mit sich selbst beschäftigt hatten, bis die Regierung vor einer neuen Krise stand. Der Vizekanzler und der Fraktionschef versuchten Schröder am vergangenen Donnerstag mit ihren Sorgen und Wünschen vertraut zu machen: Aus Angst vor dem völligen Verlust des Profils könnten die Grünen unberechenbar werden und am Ende nicht vor dem Bruch der Koalition zurückschrecken, falls der Ausstieg aus der Atomenergie nicht Grünen-gemäß mit der Industrie vereinbart werde. Umweltminister Jürgen Trittin drohte im Hintergrund schon mit der Einberufung eines Sonderparteitags. Auf keinen Fall, so der dramatische Appell der abendlichen Besucher, dürften die Konsensgespräche, die Wirtschaftsminister Werner Müller bis zum 15. Juli beendet wissen will, „in dieser fürchterlichen Hektik“ (Schlauch) durchgezogen werden. Schröder – derzeit nicht sonderlich auf Nachgiebigkeit gestimmt – zeigte sich überraschend einsichtig: Er versprach nicht nur Vertagung der Verhandlungen bis zum Spätsommer, sondern auch den Versuch, „einen Konsens zu finden, mit dem die Grünen leben können“. Umweltminister Trittin Politik im Kamikaze-Stil An seinem Einfühlungsvermögen läßt sich ablesen, wie ernst der Kanzler die Grünen-Selbstfindungskrise nimmt. Bisher hatte er wenig Sinn für die Nöte des kleinen Koalitionspartners bewiesen. Der trug vom Kosovo-Krieg, über Sparpaket und Rentenkonzept zwar alle Grausamkeiten artig mit, Schröder aber stand bei allen Ökothemen verläßlich auf der Bremse. Die Benzinsteuer begrenzte er auf sechs Pfennig, der Ukraine wollte er die Kredite für zwei Atommeiler bewilligen, bei der Altautoverordnung brachte er ganz Europa gegen die Deutschen auf. Ökonomie vor Ökologie – danach verhält sich der Kanzler zielsicher. Beim grünen Mitkoalitionär waren Zorn und Unverständnis langsam, aber stetig gewachsen. „Der Kanzler muß sich krumm machen in der Atomfrage“, verlangte Fraktionschef Schlauch. Am Ausstieg aus der Atomenergie entscheidet sich die Zukunft der Grünen – so schätzen sie selbst die Lage ein. Im Herbst stehen ihnen fünf Landtagswahlen bevor, die alle verheerend auszugehen drohen. Vorstandssprecherin Antje Radcke meint klagend: „Unsere Identität ist flötengegangen.“ Das klang so, als ob sie selbst nicht auf die Frage zu antworten wüßte, die die Wähler stellen: Was kaufe ich ein, wenn ich die Grünen wähle? Reste aus dem Ramschladen der FDP? Oder aus der Altkleidersammlung der SPD-Linken? Oder von den Wühltischen der neuen Mitte? Einigen können sich alle Grünen, die Jungen wie die Alten, Realos und Linke, auf ein Ziel: den Ausstieg aus der Kernenergie – und zwar nicht erst nach 35 Jahren. Das ist für sie jetzt der Maßstab, daran soll sich der Sinn des Mitregierens beweisen. Das Ausstiegsprogramm, das Wirtschaftsminister Müller mit der Industrie ausgehandelt hatte, empfinden die Grünen durch die Bank als Zumutung. Wenn das Ende nicht „unumkehrbar“ festgeschrieben werde, sagt Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer voraus, „wird das für die Grünen gefährlicher als der Kosovo-Krieg“. Verglichen mit den heil- und ratlos zerstrittenen Grünen sieht Kanzler und Parteichef Schröder seine ebenfalls nervenden Sozialdemokraten geradezu als „geschlossenen Heerhaufen“, wie es ein Mitarbeiter ausdrückt. Denn nach dem Kraftakt des Spar- und Reformpakets konnten die Genossen wenigstens mit ein bißchen Stolz in die „Ferien“ verschwinden. Dabei hatten die Grünen kräftig „mitgehoben und mitgeschoben“ (Schlauch). Aber Die grünen Alternativen LINKE STRÖMUNG Konzeptpapier „Raus aus der neuen Mitte“ RECHTE STRÖMUNG Konzeptpapier „Bündnis 90/Die Grünen haben eine zweite Chance verdient“ Zukunft der Grünen als pragmatische Linkspartei, keine grüne FDP Christian Simmert Absage an die Moralisten der Gründergeneration Gezieltes Programm zur Rückgewinnung junger Wähler: Ausbildungsplätze, gebührenfreies Studium, Erneuerung von Bafög Abkehr von den Formelkompromissen zwischen den verschiedenen Strömungen Matthias Berninger Sofortiger Atomausstieg Ilka Schröder Ausnutzen der Glaubwürdigkeitslücke der SPD: soziale Gerechtigkeit, faire Bildungschancen, zukunftsfähige Arbeitsmarktpolitik, Stärkung der BürgerInnenrechte, ökologisches Wirtschaften d e r Eintreten für Minderheitenrechte, direkte Demokratie und Gewaltfreiheit, aber keine Tatenlosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen Neudefinition der sozialen Marktwirtschaft: neues Verhältnis von individueller Freiheit und sozialer Sicherheit Cem Özdemir s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Ökologische Steuerung mit marktkonformen Mitteln 25 anstatt ihren Anteil am Erfolg zu feiern, zettelten sie einen Papierkrieg mit sich selbst an: Yuppies gegen Oldies, Modernisierer gegen Traditionshüter, jung gegen jung. Wieder einmal zelebrierten sie ihren Frust und ihre Streitlust, noch einmal trugen sie ihre Träumereien und ihre Abneigungen auf den offenen Markt. Als erste meldeten sich die jungen Realos um die Abgeordneten Matthias Berninger und Cem Özdemir. Die „Lebenslügen“ aus Oppositionszeiten wollten sie hinter sich lassen, eine Partei werden „wie andere auch“ – irgendwie in der Mitte, mit Verantwortung für künftige Generationen. Ansonsten halten sie den Rücktritt Trittins für überfällig. Die Gegenposition ließ nicht lange auf sich warten: „Raus aus der neuen Mitte“ ist das Papier der Gegner überschrieben, die sich um den 26jährigen Christian Simmert, jüngstes Mitglied der Grünen-Fraktion, versammeln. Sie beharren auf einem „Politikwechsel“, rücken die „soziale Frage in den Mittelpunkt“. Einigkeit besteht – außer in der Atomfrage – nur noch darüber, wer die Bad guys sind: vornweg Jürgen Trittin, der als Umweltminister „mit seiner Kanonenbootpolitik“, wie seine Gegner höhnen, „ein Projekt nach dem anderen in den Sand setzt“. Dann aber auch gleich der Kanzler, dem die Grünen eine gehörige Mitschuld anlasten: Unbegreiflich sei es, wie we* Am Montag vergangener Woche mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac auf dem LateinamerikaGipfel in Rio de Janeiro. 26 nig Verständnis er für die vitalen ökologischen Interessen des kleinen Partners aufbringe. Unbeirrbar hatte Wirtschaftsminister Müller am vergangenen Mittwoch beim Treffen mit Trittin die Forderungen der Atombosse vertreten: Maximal 35 Jahre darf jedes Kraftwerk am Netz bleiben. Schröder zeigte sich da noch ebenso unversöhnlich. Der Umweltminister hielt dagegen: Gesamtlaufzeit unter 30 Jahre; noch in dieser Legislaturperiode müsse mindestens einer der Atommeiler abgeschaltet werden. Unglücklicherweise ist Trittin keine große Hilfe bei solchen Gesprächen, in denen es eigentlich um Konsens geht. Der Bürgersohn aus Bremen hat den urgrünen Habitus, daß einzig die Opferrolle politisch korrekt sein kann, zum Regierungsstil erHorand Knaup, Paul Lersch, Hajo Schumacher hoben: Nur wer vom Autokanzler und Wirtschaftsminister, von Springer-Presse und Industrie verdammt wird, so offenbar sein Dogma, wahrt seine Glaubwürdigkeit. Ähnlich wie Oskar Lafontaine bei der SPD scheint Trittin mit geradezu selbstquälerischer Lust alle Pfeile auf sich zu ziehen. Der Unterschied: Weder mag er freiwillig gehen, noch läßt er sich weglocken. Eine Lösung nach Hombach-Vorbild hat Trittin schon abgelehnt. Für Atommeiler Biblis: 35 Jahre Laufzeit oder weniger? d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 G. FISCHER / BILDERBERG DPA Grünen-Politiker Fischer*: Dem Kanzler Paroli bieten? monatlich 46 000 Mark hätte er Nachfolger des Spaniers Carlos Westendorp als Bosnien-Beauftragter der EU werden können. So müssen die Grünen – und damit auch die Regierung – weiter die Folgen seines Kamikaze-Politikstils tragen. „Mit dem Müller“, so ein Vertrauter von Joschka Fischer, „hätten wir beim Atomausstieg doch wunderbar Doppelpaß spielen können.“ Tatsächlich hatte ein Teil der Strombosse im vergangenen Dezember eine in der Rückschau akzeptable Offerte unterbreitet: 20 Jahre Restlaufzeit und mindestens zwei stillzulegende Atommeiler bis zum Jahr 2002. Trittin jedoch lehnte ab. Daß er sich binnen kurzem zum verträglichen, kooperativen Mitspieler wandelt, glaubt kein Grüner mehr. Deshalb sollen künftig die Fraktionschefs Peter Struck und Schlauch helfen, mit den Strombossen einen erträglichen Kompromiß für den Ausstieg zu finden. Und Trittin? Er gibt tapfer Durchhalteparolen aus, doch hinter den Kulissen werden schon Alternativen erörtert. Soll es wieder ein Linker sein, um den Proporz zu sichern? Ludger Volmer etwa? Oder eine Frau um den Quoten-Anspruch zu erfüllen? Von der Düsseldorfer Umweltministerin Bärbel Höhn über die Magdeburger Ex-Ministerin Heidrun Heidecke bis hin zum Umweltexperten der Bundestagsfraktion Reinhard Loske reicht das Tableau. Viele Augen richten sich indes mehr oder weniger vorwurfsvoll auf den grünen Außenminister. Entweder, so argwöhnen die Linken, habe er Trittin immer wieder ins Messer laufen lassen. Oder er habe die Partei geradezu sträflich vernachlässigt. Selbst Realos erinnern den Außenminister daran, daß er „auch Vizekanzler“ sei und daher „mehr Verantwortung übernehmen“ müsse. Fischer allein besitzt die Autorität, dem Kanzler Paroli zu bieten und Trittin zu neutralisieren. Fraktionschef Schlauch ist sicher, daß er sie nutzen wird. Deutschland „Wir wollen den Konsens“ Der grüne Fraktionssprecher Rezzo Schlauch über den Papier-Krieg in seiner Partei und die Knackpunkte des Atomausstiegs M.-S. UNGER SPIEGEL: Herr Schlauch, die jungen Grü- cherheitsstandards reduziert werden, was nen haben einen neuen Richtungsstreit ent- wir befürchten. Im anderen Streitfall, der Restlaufzeit, wird man sich einigen könfesselt. Wo ist der Platz Ihrer Partei? Schlauch: Alle alten Positionierungen ver- nen. Wir wollen beim Ausstieg einen Konschieben sich. Daran ändern auch die sens. Dazu gehört aber auch, daß in dieser Papiere nichts, die jetzt auf den Markt Legislaturperiode nachvollziehbar mit dem geworfen werden. Wir befinden uns der- Ausstieg begonnen wird. zeit in einem Orientierungsprozeß. Da- SPIEGEL: Der Kanzler bietet 35 Jahre Laufbei müssen wir unsere Rolle in der Regie- zeit und die Abschaltung eines Meilers. rung und als Regierungspartei finden. Schlauch: In dieser Legislaturperiode müsDas heißt auch: Wir müssen realitätstaug- sen noch Anlagen abgeschaltet werden, 35 lich werden. Jahre Laufzeit wäre eher ein Auslauf- als ein SPIEGEL: Und sich damit dem größeren Ausstiegskonzept. Wenn die Entscheidung gefallen ist, wird es eine dynamische EntPartner fügen? wicklung geben, die zuminSchlauch: Nein. Das heißt dest bei Reaktoren der älteKompromisse schließen, das ren und mittleren Generation Mögliche zu realisieren verden Ausstieg aus wirtschaftlisuchen. Wir alle haben es chen Gründen beschleunigt. versäumt, das Thema Ökologie in den letzten Jahren SPIEGEL: Und wenn Sie sich neu zu definieren. Ökologie nicht einigen, gibt es ein Auswird in unserer Programstiegsgesetz? matik in großen Teilen nach Schlauch: Völlig klar ist, daß wie vor fundamentalistisch die Atomindustrie eine geverstanden. Wir setzen zu setzliche Regelung anfechten häufig auf Konfrontation, wird – mit der Folge jahrelananstatt die Chancen zu betoger Rechtsstreitigkeiten und nen. Damit tut man sich in unabsehbarer Ergebnisse. Deseiner Regierung natürlich Grünen-Politiker Schlauch halb hat für uns als Fraktion schwer. ein Konsens absolute Priorität. SPIEGEL: Auch Jürgen Trittin hat es ver- SPIEGEL: Wann soll das letzte Atomkraftsäumt, das grüne Thema realitätstauglich werk abgeschaltet werden? zu machen? Schlauch: Die Gesamtlaufzeit muß deutSchlauch: Nein, er hat dieses Versäumnis lich unter 30 Jahren liegen. Aber ich bin der gesamten Partei jetzt mit auszubaden. vorsichtig, weil ich als Jurist weiß, daß man SPIEGEL: Um so mehr Unterstützung bei laufenden Verhandlungen durch frühzeitige Festlegungen seine Spielräume eher braucht er. Die wird ihm versagt. Schlauch: Das sehe ich nicht so. Die Frak- einengt als ausweitet. tion hat sich bei der Ökosteuer entschei- SPIEGEL: Hat der Umweltminister akzepdend eingemischt, und wir ziehen auch an tiert, daß die Grünen-Fraktion auch beim einem Strang in der Frage des Ausstiegs- Scheitern der Konsensgespräche kein Auskonzepts aus der Atomkraft. stiegsgesetz will? SPIEGEL: Mit ihren Plänen sind die Grünen Schlauch: Wir sind übereinstimmend der bei der Atomindustrie und beim Kanzler Meinung, daß wir es dann beim Status quo aufgelaufen. belassen sollten – mit unbequemen KonSchlauch: Nachdem der erste Durchgang sequenzen für die Atomwirtschaft. Dann gescheitert ist, haben wir uns als Fraktion müssen wir nämlich über die Castor-Transjetzt rechtzeitig eingemischt. Wir haben porte, die Sicherheitsauflagen und die uns vier- oder fünfmal mit Jürgen Trittin Nachrüstung älterer Reaktoren neu entgetroffen, um eine Strategie zu entwickeln. scheiden. Das ist gelungen. SPIEGEL: Trittin wird von manchen als eine SPIEGEL: Was sind die unverzichtbaren Be- Art Lafontaine der Grünen angesehen. dingungen beim Atomausstieg? Schlauch: Dann hätte er sich ja schon in die Schlauch: Das Wichtigste ist, daß die Poli- Büsche geschlagen. tik das Ende dieser Energieart festschreibt, SPIEGEL: Ist der Umweltminister nicht doch die der Staat jahrzehntelang massiv geför- ein lästiger Traditionsballast, den die Grüdert hat. Es gibt zwei Streitpunkte mit der nen ganz gern loswerden würden? Industrie und auch mit unserem Koali- Schlauch: Nein. Jürgen Trittin ist nach wie tionspartner: Der erste ist, ob mit einem öf- vor Umweltminister und wird unser Umfentlich-rechtlichen Vertrag nicht die Si- weltminister bleiben. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 27 Deutschland V E R PA C K U N G Siegeszug der Knitterbüchse ACTION PRESS Weil immer mehr Deutsche Getränkedosen trendy finden, droht erstmals seit Einführung der Verpackungsverordnung ein Zwangspfand – die nächste Kraftprobe für Jürgen Trittin. Bundesverkehrsministeriums haben sich Deutschlands Autobahnen in die längsten Müllkippen der Welt verwandelt – auch dank Dosen und Getränkekartons, die achtlos aus dem Fenster fliegen. Zwar hat die Industrie viele Millionen Mark investiert, um Aluminium und Weißblech zu recyceln. Aber die Büchsen müssen erst einmal soweit kommen. Die Kommunen klagen unisono, daß Bürger aus schierer Bequemlichkeit ihre Büchsen in der freien Natur entsorgen, statt sie ökologisch korrekt in die gelben Säcke des Dualen Müllsystems zu werfen. „Am Verschmutzungsgrad der Landschaft“, behauptet zwar die Bonner „Arbeitsgemeinschaft Verpackung und Umwelt“, seien Getränkeverpackungen mit nur drei Prozent beteiligt. Der Eindruck der Bürger aber ist offenbar ein anderer: Die meisten Beschwerden bei Behörden, haben Mitarbeiter des Bundesumweltministeriums festgestellt, beziehen sich auf das Dosenunwesen (neudeutsch: Littering). Alle Umweltminister sind bisÖko-Ärgernis Dosenmüll*: Milliardenmal „zisch“ lang an der Eindämmung der ede Dose ist ein Meisterwerk modern- Dosenflut gescheitert. Und auch für Jürgen ster Verpackungskunst. Bei hauchdün- Trittin steht ein neuer Konflikt mit der Vernen Wandstärken von 0,12 Millimeter packungsbranche (geschätzter Jahresumbeschichtetem Metall faßt sie zuverlässig satz rund 40 Milliarden Mark) bevor. Schon im vergangenen Herbst verkün0,33 oder 0,5 Liter Flüssigkeit. Das Behältnis gilt als stabil, leicht transportierbar, la- dete Trittin, die in der Verpackungsvergerfähig. Mit einem Griff ist der raffinier- ordnung von 1991 festgeschriebene Mehrte Aluminiumverschluß geöffnet; sechs- wegquote von 72 Prozent sei 1997 erstmals milliardenmal macht es jährlich bundes- knapp unterschritten worden. Die vom Geweit „zisch“, bevor Brause oder Bier aus setz geregelte Folge: Setzt sich der Run auf die Dose ungebremst fort, muß der Handel der Dose gekippt wird. Weltweit kommen jedes Jahr 220 Milli- voraussichtlich ab Mitte 2001 ein Zwangsarden Büchsen für Softdrinks, Bier oder pfand erheben: je nach Füllmenge 50 PfenWasser auf den Markt. Nach Branchen- nig bis eine Mark. Zahlen muß der Verprognosen soll der Blechberg der Knitter- braucher. Steigende Importe von Plastikflaschen büchsen bis zum Jahr 2006 auf 300 Milsowie neue Modegetränke wie Eistees oder liarden Stück wachsen. Ob auf der Zugspitze oder im Watten- Powerdrinks fördern den Wegwerftrend. meer, ob im Stadtpark oder am Strand, ob Othmar von Diemar, Vorstand beim zweitim Wald oder am Wanderweg – die ble- größten europäischen Verpackungskonzern chernen Überreste des Konsums sind schon Schmalbach-Lubeca im nordrhein-westfäda. Nach einer Bestandsaufnahme des lischen Ratingen, schwärmt, die Blechbüchse treffe exakt „das Lebensgefühl der Mobilitätsgesellschaft“. Die „Volksabstim* Nach der Love Parade 1997 in Berlin. J 28 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 mung an der Ladenkasse“ habe gerade erst begonnen und könne nicht länger ignoriert werden. Bislang gehören die Deutschen im internationalen Vergleich eher zu den Dosenmuffeln. Der durchschnittliche USAmerikaner greift 377mal im Jahr zur Büchse, ein Deutscher nur 77mal. Inzwischen ziehen Getränke- und Verpackungsindustrie auch mit ökologischen Argumenten gegen den „Mehrweg-Protektionismus“ zu Felde: Der Umweltvorteil der Dauerflasche sei in den letzten Jahren wegen material- und energiesparender Produktionstechniken bei den Einwegpackungen geschrumpft, habe sich teilweise sogar umgekehrt. Doch die Belege sind rar. Die Ökobilanz des Berliner Umweltbundesamtes weist nach wie vor Vorzüge der wiederverwendbaren Flasche gegenüber allen Einwegverpackungen aus. Einzige Ausnahme: Als Verpackung für Milch schnitten Flaschen etwas schlechter ab als leichte Schlabberbeutel aus Polyethylen (Pet). Ansonsten verbraucht die Mehrwegflasche selbst bei – ökologisch fragwürdigen – Ferntransporten weniger Energie, belastet das Klima und die Böden mithin weniger als Blech- und Alu-Dosen. Auch die vieldiskutierten Pet-Flaschen, die wegen ihres geringen Gewichts bei langen Transportwegen ökologische Vorteile gegenüber Glas bieten können, liegen in der Ökobilanz nur vorn, wenn sie sehr häufig eingesetzt werden. Abhilfe indes ist nicht in Sicht. Selbst das drohende Zwangspfand ist bei Umweltschützern umstritten. Zwar schrecke Getränkeindustrie und Handel die Aussicht, den Dosenmüll künftig in bis zu 150000 Rücknahmeautomaten einsammeln zu müssen. Doch habe die Branche die auf Trend zum Ex und Hopp Anteil von Dosenbier am gesamten Bierkonsum* in Prozent 21,3 18,4 20 14,5 10 9,2 7,3 Quelle: GfK, Nürnberg; gesamtdeutsche Zahlen ab 1992; *nur LebensmittelEinzelhandel und Abholmärkte 1987 0 1991 1995 1998 1,5 Milliarden Mark geschätzte Investition erst einmal getätigt, müßten die Maschinen möglichst ausgiebig genutzt werden, um sich zu amortisieren. Der Hang zur Einwegverpackung werde sich daher noch verstärken. Das Zwangspfand, fürchtet Walter Hans Jungbauer vom Bund für Umwelt Einwegdosen überschwemmen die Weltausstellung 2000. und Naturschutz Deutschland (BUND), könnte sich so rasch „zum Bumerang entNach Berechnungen des Bundes für wickeln“. Nach dessen Einführung wäre er Brief an das Kanzleramt ist die Industrie an keinerlei Mehrwegquoten deutlich. Die Expo 2000 in Han- Umwelt und Naturschutz werden die mehr gebunden. nover, heißt es in dem Schrei- Expo-Gäste rund acht Millionen Stück Als Alternative verlangen Ökokritiker ben, setze „neue negative Umwelt- Blechmüll hinterlassen – eine Unratdie Einführung einer Steuer auf alle Einstandards“. Die Weltaustellung unter schlange von Flensburg bis Friedrichswegverpackungen; sie erhoffen sich davon dem Thema „Mensch – Natur – Tech- hafen. Lediglich an vier sogenannten einen „echten Lenkungseffekt zugunsten nik“ leite die „Renaissance der Weg- Soft-drink-fountains und in den gastronomischen Einrichtungen sollen Liökologisch sinnvoller Verpackungssystewerfwirtschaft“ ein. me“, so der BUND. Absender der harschen Epistel von monaden und andere nichtalkoholische Das Umweltministerium debattiert derMitte Juni ist Wolfgang Engelhardt, Prä- Getränke in Becher gezapft werden. zeit sowohl mit der Industrie als auch mit sident des Deutschen Naturschutzrings. „Damit fielen wir weit hinter die Standen Umweltschützern über deren KonIm Auftrag seiner Organisation pro- dards anderer Großveranstaltungen zepte. Man sei entschlossen, verkündet testiert Engelhardt dagegen, daß die zurück“, klagt Jürgen Resch von der Thomas Rummler, Trittins zuständiger ReVeranstaltung in der Niedersachsen- Deutschen Umwelthilfe, Ökobeaufferatsleiter, „umzusetzen, was Rechtslage Metropole, zu der 40 Millionen Besu- tragter im Kuratorium der Expo. Tatsächlich haben die Veranstalter ist – es sei denn, es gibt im Konsens eine gecher aus aller Welt erwartet werden, eignetere Lösung“. Bisher allerdings sei von Millionen Blechbüchsen über- andernorts wie etwa auf der Münchner Messe oder bei Olympischen Spiedie nicht erkennbar. schwemmt zu werden droht. Handel und Getränkeindustrie haben Empfänger Bodo Hombach hat noch len längst die Mehrwegverpackung für eine „kombinierte Rücklaufquote“ vorgekeine Zeit gefunden zu antworten. Getränke durchgesetzt. Selbst in USschlagen, in die Mehrwegbehälter und „Wir prüfen noch“, sagt ein Kanzler- amerikanischen Vergnügungsparks wie Disneyworld oder den Universal Sturecycelte Verpackungen einbezogen weramtsmitarbeiter. den sollen, um sie damit künstlich zu erDabei gibt es nicht mehr viel zu prü- dios Hollywood sind Einwegbehälter höhen – nach Ansicht von Wirtschaftsmifen. Die Wegwerfdose für Softdrinks verpönt. Die Brause muß offen ausgenister Werner Müller „ein interessanter wird auf der Expo 2000 eine schenkt werden. Was inzwischen auch auf fast jedem Ansatz“. Sein Kollege Trittin indes sieht Hauptrolle spielen. Während sie sich darin bloß eine „Aufweichung des Mehrim Themenpark über „den Einklang deutschen Stadtteilfest klappt, hat sich wegschutzes“. von Ökonomie und Ökologie“ infor- das Expo-Management selbst vermasUm die ganze ungeliebte Ökoverordmieren, können die Besucher der Welt- selt. Nach mehrjährigen Verhandlunnung zu entschärfen, machte der Deutschausstellung sich an Coca-Cola aus der gen schloß der Coca-Cola-Konzern im land-Geschäftsführer Patrick C. Smyth Büchse oder Plastikflasche delektieren. vergangenen Dezember einen Vertrag vom Getränkemulti Coca-Cola schon im Nach einem Vertrag mit dem Soft- mit der Expo-Geschäftsführung: Der vorvergangenen Jahr ein lukratives Angedrink-Multi ist die Aufstellung von 150 Global Player aus Atlanta wird mit zehn Millionen Mark „Produktbot: Sollten die „bürokratischen Hemmpartner“ der Weltausstellung. Im nisse und Überregulierungen aufgehoben“ Gegenzug darf rund ein Fünftel werden, sei Coca-Cola bereit, in Deutschder geschätzten insgesamt zehn land ein Investitionsprogramm von „500 Millionen Liter ErfrischungsgeMillionen Mark“ aufzulegen. Gerichtet war tränke in „Einweg-Verpackundas Schreiben an den niedersächsischen gen“ verkauft werden. Ministerpräsidenten Gerhard Schröder mit Alarmiert von den Umweltder Bitte um „ein persönliches Gespräch“. schützern, beschlossen ExpoDie Lage für Jürgen Trittin ist prekär: Geschäftsführung und AufsichtsEine neue Konfrontation mit der Industrie rat kurze Zeit später das Gegenwürde sein Image als notorischer Querteil: Auf Einwegdosen ist „volltreiber stärken, der Verzicht auf die Androständig zu verzichten und mit hung des Zwangspfands das des gewohnCoca-Cola eine dosenfreie Variheitsmäßigen Umfallers. ante zu finden“ – Expo ohne Ex Die Idee einer Einwegsteuer hat derzeit Expo-Chefin Breuel: Vertrag mit Coca-Cola und Hopp. erst recht keine Chance. Allein der GeAm Freitag vergangener Woche danke an eine neue SteuererhöhungsdeGetränkeautomaten für 0,33-Liter-Dobatte zum gegenwärtigen Zeitpunkt löst sen und 0,5-Liter-Pet-Flaschen geplant. beriet der Expo-Aufsichtsrat zusambei beiden Regierungsparteien Panik aus. „Es geht um eine zuverlässige Versor- men mit Wirtschaftsminister Werner Am Ende droht Trittin einmal mehr die gung der Besucher“, sagt Coca-Cola Müller Auswege aus dem drohenden Rolle des düpierten Zuschauers. In der Manager Bernd Conrad, zuständig für Ökodesaster. Coca-Cola stellt sich stur. Der Essener Firmensprecher Klaus HilIndustrie mehren sich die Stimmen, die das Expo-Geschäft. dafür plädieren, notfalls das Kanzleramt Den Müll soll das Duale System lebrand: „Wir haben einen rechtsgültieinzuschalten. Eine Ankündigung, die im dann zur Wiederverwertung einsam- gen Vertrag, da wird nichts nachverhandelt.“ Umweltressort als handfeste Drohung gemeln. deutet wird. Sebastian Knauer, Blech für die Expo N. MICHALKE / IMAGES.DE D Gerd Rosenkranz d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 29 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite UNITED PRESS Deutschland Erste Bundestagssitzung in Bonn 1949, letzte Sitzung am vergangenen Donnerstag (mit der Vereidigung des neuen Bundespräsidenten Rau): UMZUG Schwermütig und erleichtert Bei der letzten Bundestagssitzung am Rhein erhob Helmut Kohl Bonn endgültig zum Mythos. Die Amtierenden betreiben indes den möglichst reibungslosen Übergang nach Berlin. D er alte Herr auf der Tribüne mochte seinen Augen nicht trauen: Da hatte Richard Stücklen, der als Abgeordneter vor 50 Jahren bei der ersten Bundestagssitzung in Bonn dabei war, extra seinen Mallorca-Urlaub unterbrochen, um dem feierlichen Abschied beizuwohnen. Und nun blickte er am Donnerstag vergangener Woche entrüstet auf eine fast leere Regierungsbank, auf der Staatsminister Günter Verheugen nur unzulänglich die Vakanz füllte, die von den Ministern hinterlassen wurde. So hatte sich der ehemalige Bundestagsabgeordnete Stücklen, 82, das nicht vorgestellt. Ein bißchen mehr Disziplin hätte schon sein können, fand der lebensfrohe Franke, der vergeblich nach jenem Mann Ausschau hielt, der ihm, dem amtierenden Bundestagspräsidenten, im Jahr 1984 zugerufen hatte: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.“ Verziehen, längst verziehen. Aber daß Joschka Fischer, der grüne Lümmel von einst, jetzt als Außenminister durch Abwesenheit glänzte, enttäuschte Stücklen. Fischer flog aus Rio de Janeiro ein und erschien erst zur Vereidigung des neuen Bundespräsidenten Johannes Rau. Wohlgefällig blickte Stücklen dagegen auf Helmut Kohl, den Altbundeskanzler, der die historischen Würden des Hohen Hauses nahezu im Alleingang symbolisier32 te: erst als Redner, dann drei Stunden lang als Zuhörer – ganz „Verkörperung“ der an diesem Tage beerdigten „Bonner Republik“, wie die grüne Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer ihm bescheinigte, obwohl Kohl selbst die Rede von der neuen Berliner und einer alten Bonner Republik „dümmlich“ nennt. Als damals jüngster Abgeordneter der CSU, 33 Jahre alt, hatte Richard Stücklen zwischen den Überlebenden der Weimarer Republik gesessen, als der sozialdemokratische Alterspräsident Paul Löbe am 7. September 1949 das Bonner Parlament eröffnete. Der Berliner Löbe drückte den „einhelligen Wunsch“ und die Hoffnung seiner Mitbürger aus, „in dieses neue Deutschland einbezogen zu sein“. Und zwar „bald“. Es dauerte dann knapp 50 Jahre und 2985 weitere Sitzungen, bis Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), ebenfalls ein Berliner, um 14.30 Uhr am Donnerstag vergangener Woche die Ära Bonn mit den Worten schloß: „Wir sehen uns wieder in Berlin.“ Es war schwül in der Regierungsstadt am Rhein, eine seltsam flackernde Stimmung, schwermütig und erleichtert zugleich, hing über dem Regierungsviertel, mal wehleidig absackend bis auf den Tränenspiegel, mal schrill auflachend: Endlich ist es soweit. Nichts wie weg. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Helmut Kohl traf voll den Nostalgienerv. Bonn sei „die Wiege der zweiten deutschen Demokratie, des freiheitlichsten, humansten und sozialsten Staatswesens, das es je auf deutschem Boden gegeben hat“, lobte der Ex-Kanzler in seiner ersten großen Rede seit dem Regierungswechsel mit mächtiger Inbrunst. Und Thierse wie HansUlrich Klose (SPD), Wolfgang Gerhardt (FDP) und Vollmer – alle fügten ihr kuscheliges Wörtlein hinzu, um der Bundesrepublik zum Abschluß der Arbeit in der provisorischen Nachkriegshauptstadt den „Mythos Bonn“ zu bescheren. Natürlich ist die Etablierung eines soliden demokratischen Rechtsstaates und die Abkehr vom nationalistischen Schwulst preisenswert. Daß Bonn, wie NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement anmerkte, „für nichts und niemanden“ eine Bedrohung gewesen sei, bleibt wahr und ist achtbar. Daß diese Zurückhaltung eher der unheilvollen Vergangenheit als der rheinischen Bescheidenheit geschuldet war – geschenkt. Im Grunde, so hat einst Heinrich Böll über „die gute alte Tante Bonn“ mit ihren „schläfrigen Reizen“ geschrieben, vertrage diese Stadt gar keine Übertreibungen – „eine ganze Stadt zu dopen, das gelingt nicht“. Doch das mochte fünf Jahrzehnte lang für das Hauptstadtprovisorium gestimmt haben. Für die historische Version gilt es längst nicht mehr. Die Verklärung begann ja nicht erst am letzten Tag vor dem Umzug nach Berlin. 16 Jahre lang – je länger, desto unverblümter – hatte Helmut Kohl, der geschichtsbesessene Enkel des listigen Bonn-Erfinders Konrad Adenauer, das Bild seiner Bonner Republik zum nostalgischen Abklatsch der „Wirtschaftswunderzeit“ des Alten aus Rhöndorf versimpelt. Bonn – das wurde in der verklärenden Erinnerung zum Symbol einer Garten- ACTION PRESS SPD, weckte Rengers Widerspruch. Und sie staunte über diese wundersame Friedfertigkeit, die angeblich geherrscht haben soll in einem Parlament, in dem sich die Abgeordneten als Wühlratten und Kläffer, NaziFlegel, Petersiliengurus, Dröhnbüdel und Gruselkomiker beschimpften. Auch der frühere Bildungsminister Helmut Rohde (SPD), der 1957 ins Parlament am Rhein einzog, erinnert sich, daß damals die weltanschaulichen Trennungslinien der Fraktionen scharf gezogen waren. Der Ton war oft verletzend, aufgeladen mit historischen Schuldzuweisungen aus der Weimarer Republik, aus der Nazi-Zeit, aus Kriegs- und Hungerjahren. Immer aber, so Rohde, hätte jung und alt das Bewußtsein gemeinsamer Wurzeln geeint. Heute beobachtet er, daß sich innerhalb der Parteien die Generationen scheiden und fraktionsübergreifende Erinnerungs- und Erfahrungseinheiten bilden. Die Kluft zwischen Alt und Jung ist tiefer als zwischen Rot und Grün, Schwarz und Gelb. „Jung“ und „Alt“ sind dabei Merkmale, die auch Mentalitäten und nicht nur Jahrgänge beschreiben. Tatsächlich erklären sich wohl auch die leeren Plenumsplätze – vor allem auf der Regierungsbank – weniger aus dem Hochmut der Amtsinhaber denn aus der nüchternen Gleichgültigkeit einer mobilen Generation gegenüber pseudo-sakralen Orten und Veranstaltungen. Für die Nachkriegsgeneration ist der Umzug weniger historischer Einschnitt als organisatorisches Problem. „Der Stand- „Wir sehen uns wieder in Berlin“ * Mit Johannes Rau, Bonns Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann mit Ehemann Jochen, dem nordrhein-westfälischen Justizminister, Wolfgang Thierse, Gerhard Schröder, Verfassungsgerichtspräsidentin Jutta Limbach mit Ehemann Peter, Ministerialdirigent im Bundesinnenministerium, am vergangenen Donnerstag. N. MASKUS zwerg-Welt hinter den sieben Bergen, „ohne Pomp und Protz“, wie der gelernte DDR-Berliner Thierse artig bestätigte. Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft, demokratische Gemeinsamkeit und freiheitlichen Patriotismus zählt Helmut Kohl zum „kostbaren Erbe, das Bonn an Berlin weitergibt“. Wie die fünfziger Jahre in den Achtzigern unter Adenauers Enkel zum Markenartikel gestylt worden waren, geriet in der vergangenen Woche die Bonner Republik zur Ikone der Demokratie. Und die Jüngeren ließen es zu oder trugen dazu bei. Im Grunde war es ihnen egal. Im glashellen weiten Plenum wunderten sich vor allem die Alten ein bißchen über dieses schnulzige Abziehbild ihrer Vergangenheit. Als Zeugen ihrer allmählichen Denkmalwerdung saßen Hans-Jochen Vogel, Walter Scheel, Hildegard HammBrücher, Horst Ehmke, Annemarie Renger und Richard von Weizsäcker auf den Zuhörerrängen. Aber nur die frühere Bundestagspräsidentin Renger wehrte sich offen dagegen, „plötzlich alles gutzuheißen, was mir früher nicht gut genug war“. Daß so viel von Adenauers Westintegration die Rede war – „sie war wohl nötig“ –, aber zu wenig von der Ostpolitik der ortwechsel soll nicht zum Bruch in unserer Arbeit führen, trotz der neuen Eindrücke und Einflüsse“, sagt SPD-Fraktionsgeschäftsführer Wilhelm Schmidt. Demokratie ist Business, egal, wo das abläuft, läßt die geschäftsführende Generation ihre Altvorderen wissen. Er sei in Bonn „gleichsam auf Montage“ gewesen, versuchte Kanzler Gerhard Schröder am selben Tag auf dem Marktplatz ein paar tausend Bonner Bürgern zu erklären, die ihn auspfiffen und niederbuhten, weil er jüngst zu sagen gewagt hatte: „Ich werde Bonn nicht vermissen.“ Gemeint habe er, so Schröder, lediglich die sprichwörtlichen „Straßen und Plätze“, über die Politiker angeblich immer ziehen, „die bedeuten mir nichts, wohl aber die Menschen, die ich treffe“. Nun war das gewiß ein durchsichtiger Versuch, rüden Unfreundlichkeiten nachträglich die Schärfe zu nehmen – die gleichwohl eine partei- und generationsübergreifende Grundstimmung trafen. Kohl dagegen habe „wie ein guter Opa für alle“ geredet, fand – dankbar anerkennend – Angela Merkel, die CDU-Generalsekretärin aus dem Osten. Nett eben. Wie die grüne Ministerin Andrea Fischer sah auch die Unionsfrau gleichwohl „verschärften Umzugsbedarf“ (Fischer), und sei es nur, weil beide in Berlin von der eigenen Wohnung zur Arbeit gehen können. Für diese Generation ist Politik mehr Management der Realität als Streiten für irgendeine Herzenssache. Doch so unterschiedlich sie den Abschied erlebten und zwischen Bierzelten und Möbelwagen bis zum Wochenende begingen – am Ende einte die Generationen die typisch bundesdeutsche Versessenheit auf Normalität. Ob melancholisch oder betont gelassen, auf ihre Art taten alle so, als gehe in Berlin einfach alles irgendwie so weiter. Bundestagspräsident Thierse brachte den generationenübergreifenden Beharrungswillen auf den Punkt, als er auf dem Bonner Marktplatz das vom Bundestag den Bonnern geschenkte Orchesterwerk des Komponisten York Höller mit dem Namen „Aufbruch“ ankündigte. Darin werde auch die bekannte Melodie zitiert: „Ach du lieber Augustin, alles ist hin“. Das, sagte Thierse, erscheine ihm als das angemessenste Stück: „Der Text ist niederschmetternd, die Melodie setzt sich aber einfach darüber hinweg und behauptet das Gegenteil.“ Festakt auf dem Bonner Marktplatz*: „Ohne Pomp und Protz“ d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Tina Hildebrandt, Jürgen Leinemann 33 Deutschland Manche Mißbildungen jedoch sind erst erkennbar, wenn die Schwangerschaft S C H WA N G E R S C H A F T S A B B R U C H schon fortgeschritten ist. Was sollten Ärzte mit Patientinnen tun, die sich verzweifelt dagegen wehren, das Kind auszutragen? Patientinnen, die von ihrer Umgebung unter Druck gesetzt werden. Die mit der Aussicht nicht fertig werden, Ein Chefarzt soll ein abgetriebenes Kind, ein unheilbar beschädigtes Kind zur das noch lebte, umgebracht haben. Welt bringen zu müssen – um jeden Preis. Die ihrem Kind ein Leben als Staatsanwälte ermitteln wegen Totschlags. behinderter Mensch nicht antun wollen. igentlich war der Junge im Bauch der stand der vorsätzlichen TöWas Ende April auf Pfeiffer 29jährigen Frau aus einem kleinen tung erfüllt. Daß der Chefarzt für ein zukam, sei ein „scheußliches Ort bei Dresden ein Wunschkind. Problem“ gewesen, sagt Das änderte sich schlagartig an jenem Tag, solches Drama im Kreißsaal Hans-Ludwig Schreiber von als ein Frauenarzt feststellte, daß der Nach- verantwortlich sein soll, hätte der Universität Göttingen, wuchs vermutlich behindert zur Welt kom- sich bis vor einigen Tagen nieprofunder Kenner des Medimen werde. Diagnose: Chondrodystrophie, mand in Zittau vorstellen zinrechts und Anwalt des ZitZwergwuchs. Da war der Fötus schon in können. Gerade erst war das Hospital renoviert worden. tauer Arztes. Spätabtreibunder 25. Woche. gen wie im Kreiskrankenhaus Mit der Aussicht auf ein krankes Kind Damit, schwärmte Pfeiffer Zittau sind strenggenommen fühlte sich das Ehepaar aus Sachsen über- Ende des vergangenen Jahres, nicht erlaubt, kein Mediziner fordert. Es entschied sich für Abtrei- könne „eine sorgsame Ob- Gynäkologe Pfeiffer darf abtreiben, nur weil der Fötus behindert ist. Doch in einem ebensolchen psychosozialen Labilzustand habe sich Pfeiffers Patientin befunden. Rund 1500 Abtreibungen werden jährlich in Deutschland nach der 22. Schwangerschaftswoche vorgenommen. Hebammen, Mediziner und Ärztefunktionäre beklagen, daß selbst bei vergleichsweise geringen Behinderungen wie einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte die Bereitschaft von Eltern zunehme, das Kind abtreiben zu lassen. Auch Zwergwuchs ist primär ein ästhetisches Problem, die Kinder sind durchaus lebensfähig und geistig nicht beeinträchtigt. In Frankreich werden bei schweren Fehlbildungen Abtreibungen noch bis zum Einsetzen der Wehen vorgenommen. In den USA gibt es spezielle Abtreibungsklinken, die den Eingriff gleichsam als DienstleiKreiskrankenhaus Zittau: Dramen im Kreißsaal stung anbieten, egal wie weit die Schwanbung, suchte Rat in Krankenhäusern der hut für Mutter und Kind gewährleistet“ gerschaft fortgeschritten ist. Preis: rund 5000 Dollar. Umgebung und sprach in Berliner Klini- werden. Doch seit dem 23. April darf der GynäPfeiffer erklärte vor dem Eingriff, er ken vor. Doch die Schwangerschaft war schon zu weit fortgeschritten, kein Me- kologe zur Versorgung der Patienten nichts könne keine Herztöne mehr hören, das diziner wollte den Eingriff mehr vor- mehr beitragen. An jenem Freitag morgen Kind sei wohl tot. Kollegen warfen ihm war die Frau aus Sachsen, die sich mittler- später vor, daß er sich nicht mit ihnen benehmen. Erst im Kreiskrankenhaus von Zittau, weile in der 29. Schwangerschaftswoche raten habe, er habe ihnen sogar die Einsicht einer 30 000-Einwohner-Stadt im Dreilän- befand, in den OP der Gynäkologischen- in die Krankenakten untersagt. Auch auf einen sogenannten Fetozid dereck von Deutschland, Polen und Tsche- Geburtshilflichen Abteilung gerollt worchien, traf das Ehepaar schließlich auf den. Er habe doch nur helfen wollen, sagt verzichtete der Chefarzt. In vielen Kliniken Verständnis. Rolf Pfeiffer, 61, Chefarzt der Pfeiffer heute, das Ehepaar habe „ihm leid werden die ungeborenen Kinder vor dem Abteilung Frauenheilkunde und Geburts- getan“, weil es wegen des behinderten Un- Eingriff mittels einer Kaliumchlorid-Injektion ins Herz getötet, um zu verhindern, hilfe, erklärte sich bereit, den Fötus opera- geborenen so verzweifelt gewesen sei. Derzeit ist bei medizinischer Indikation daß spätabgetriebene Föten noch leben. tiv zu entfernen. Wegen starker Blutungen der Frau ordEine für den Mediziner fatale Entschei- – wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist dung. Inzwischen ermittelt die Staatsan- – eine Abtreibung bis zum Tag vor der nete Pfeiffer wenig später einen Noteingriff waltschaft in Zittau gegen den Arzt. Das Geburt zulässig. In eine juristisch und an, einen Kaiserschnitt unter Vollnarkose. Kind soll nach der Entbindung für einen ethisch anfechtbare Grauzone geraten Ärz- Der Junge kam zur Welt und wurde in ein kurzen Augenblick noch gelebt haben. Kol- te immer dann, wenn sie ein Kind, das vor- Nebenzimmer gebracht, wo der Chefarzt legen beschuldigen Pfeiffer, er habe die aussichtlich behindert zur Welt kommen der Abteilung für Anästhesie und IntensivVersorgung des Kindes unterbunden, er würde, noch nach der 22. Schwanger- therapie den Zustand des Kindes dokumensoll sogar eigenhändig Mund und Nase zu- schaftswoche abtreiben, in einem Stadium tieren sollte. Nach einigen Minuten stellte gedrückt haben, um die Atmung zu unter- also, in dem es in der Regel schon lebens- der Arzt fest, daß das Kind zu atmen begann. Zusammen mit einer Oberärztin, so die Ausbrechen. Die Ermittler sehen den Tatbe- fähig ist. „Scheußliches Problem“ 34 FOTOS: S. DÖRING / PLUS 49 / VISUM E d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 „Leben gegen Leben“ Ministerin Däubler-Gmelin „Wir wissen zuwenig, was sich tut“ SPIEGEL: Was werden Sie tun, um Spätabtreibungen wie jetzt in Zittau zu verhindern? Däubler-Gmelin: Mein Ziel ist es, die Spätabtreibungen auf das Minimum zu beschränken. Sie sind auf jeden Fall immer tragisch, weil die Eltern sich ja für das Kind entschieden hatten und jetzt, nach pränataler Diagnostik und medizinischer Indikation, in einer schrecklichen Lage sind. Im Zittauer Fall muß geprüft werden, welche Indikation vorlag und warum sie so spät kam. Behinderung des Kindes allein ist dafür kein Grund. SPIEGEL: Wenn Gefahr für das Leben der Mutter besteht, darf in Deutschland bis zum Tag vor der Geburt abgetrieben werden. Holland und Schweden, zwei Länder mit liberaler Abtreibungsgesetzgebung, schränken Spätabtreibungen drastisch ein. Sobald der Fötus lebensfähig ist, etwa ab der 24. Schwangerschaftswoche, wird nicht mehr abgetrieben. Eine solche Frist wird auch von Hebammen in Deutschland gefordert. Däubler-Gmelin: Mir sagen Experten, daß Schwangerschaftsabbrüche, wenn Leben gegen Leben steht, immer zuläs- sig sind. Da hilft auch eine Frist nicht. Die führe eher zu mehr Panikabbrüchen. SPIEGEL: Ein Kind mit Hasenscharte bedroht das Leben seiner Mutter nicht. Dennoch mußte in der Bonner Uniklinik ein derart mißgebildeter Fötus in der 32.Woche abgetrieben werden, weil die Mutter angeblich suizidgefährdet war. Wieviel Mißbildung ist zumutbar? Däubler-Gmelin: Ärzte müssen Selbstmordgefahr immer ernst nehmen. Ich weiß, daß sich die meisten Frauen furchtbar quälen. Sollte es zutreffen, daß sich ein „Markt“ für Spätabtreibungen aus geringfügigen Gründen entwickelt, dann wäre das rechtswidrig. Dagegen müßten wir einschreiten. SPIEGEL: Und wie? Däubler-Gmelin: Wir kennen die schrecklichen Einzelfälle nur aus den Medien. Wir wissen zuwenig, was sich wirklich tut und warum. Das müssen wir zuerst ändern. Wichtig ist, daß die Eltern vor und nach der pränatalen Diagnose beraten und besser betreut werden. Außerdem halte ich viel von dem Vorschlag, bei der Indikationsstellung eine zweite Meinung, möglichst die eines Kinderarztes, einzuholen und Spätabtreibungen nur in Schwerpunktzentren vorzunehmen, wo Fachwissen und gute Betreuung garantiert sind. SPIEGEL: Wenn aufgrund einer besseren Betreuung mehr behinderte Kin- L. NILSSON M. WOLTMANN Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) über Spätabtreibungen Fötus im Mutterleib „Da hilft auch eine Frist nicht“ d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 der geboren werden, kostet das die Krankenkassen mehr Geld. Kann es sein, daß die Kassen eine vergleichsweise preiswerte Abtreibung der Versorgung eines behinderten Kindes vorziehen? Däubler-Gmelin: So eine Vermutung habe ich auch schon gehört. Ich halte sie für falsch und fände es furchtbar, wenn sie stimmte. SPIEGEL: Gegner von Spätabtreibungen fordern eine Begrenzung der pränatalen Diagnostik auf den Zeitraum, in dem die Föten außerhalb des Mutterleibs noch nicht lebensfähig sind. Könnten die Untersuchungen nicht generell früher gemacht werden? Däubler-Gmelin: Das habe ich auch gefragt. Fachleute befürchten jedoch, das würde zu mehr Abbrüchen führen, weil die Bindung zwischen Mutter und Kind dann weniger eng sei. Im übrigen nützt pränatale Diagnostik, weil sie in vielen Fällen zusätzliche frühe Hilfe und Therapie ermöglicht, im Mutterleib und unmittelbar nach der Geburt. SPIEGEL: Die pränatale Diagnostik hilft aber auch bei dem Wunsch nach einem möglichst perfekten Kind. Däubler-Gmelin: Der größte Wunsch jeder Mutter ist ein gesundes Kind. Ich sehe jedoch mit Sorge, daß junge Paare mit dem Satz, behinderte Kinder seien „heute nicht mehr nötig“, unter Druck gesetzt werden. SPIEGEL: Wann darf ein Arzt eine Spätabtreibung ablehnen? Däubler-Gmelin: Wenn keine Gefahr für Leben oder Gesundheit besteht. Er muß immer eingreifen, wenn der Mutter akute Gefahr droht, etwa Selbstmord. Das sind schreckliche Entscheidungen, die auch strafrechtliche Folgen nach sich ziehen können. SPIEGEL: Bei Spätabtreibungen werden Föten mitunter durch Kaliumchloridspritzen ins Herz getötet und zerstückelt aus dem Mutterleib geholt. Verschwimmen bei diesem Fetozid nicht die Grenzen zwischen Schwangerschaftsabbruch und Tötung? Däubler-Gmelin: Was Sie schildern, ist schrecklich. Es kann so sein, aber das Dilemma ist, daß Leben gegen Leben steht. Hier muß sich jeder seiner besonderen Verantwortung bewußt sein. Interview: Barbara Schmid 35 sagen vor der Staatsanwaltschaft, habe er sofort unterstützende Maßnahmen eingeleitet – offensichtlich mit Erfolg, der Kreislauf des Kindes sei in Gang gekommen. Doch dann sei Pfeiffer, der den Operationssaal zwischenzeitlich verlassen hatte, zurückgekehrt mit der Bemerkung: „Was machen Sie denn da?“ Das habe keinen Zweck mehr, habe er noch gesagt und dann das Kind an sich gedrückt, ihm mehrere Minuten lang Nase und Mund zugehalten, bis es tatsächlich tot war. Einer der Ärzte informierte sofort die Klinikleitung. Tilmann Verbeek, ein Kinderheilkundler und Ärztlicher Direktor des Krankenhauses, fiel „aus allen Wolken“, weil zu keinem Zeitpunkt „im Interesse des Kindes gehandelt worden ist“. Noch am gleichen Tag wurde Pfeiffer vom Dienst suspendiert, später beurlaubt und im Mai fristlos entlassen. Die Krankenhausleitung zeigte ihn bei der Staatsanwaltschaft an. An einen Kunstfehler des äußerst erfahrenen Gynäkologen glaubt in Zittau niemand. Schon eher, daß Pfeiffer den Eltern einen Gefallen habe tun wollen. Pfeiffer bestreitet alle Vorwürfe. Das Kind sei schwer geschädigt und nicht lebensfähig gewesen. Nach der Abtreibung sei es tot gewesen, habe allenfalls noch einen kurzen „Schnappzug“ gemacht. Doch Gutachter halten dagegen. Am vergangenen Donnerstag bestätigte ein Rechtsmediziner, daß das Kind zwar Verkürzungen an Armen und Beinen aufgewiesen habe, Zwergwuchs oder andere genetische Defekte seien nicht entdeckt worden. Das Kind sei „lebens- und überlebensfähig gewesen“. Und es habe nach der Abtreibung definitiv gelebt. Gegen die Mutter hat die Staatsanwaltschaft ebenfalls ein Verfahren wegen „unerlaubten Schwangerschaftsabbruchs“ eingeleitet. Bisher habe sie nicht nachweisen können, daß ihre Gesundheit durch die vermutliche Behinderung gefährdet gewesen wäre. Werdende Eltern werden durch die immer perfektere Kette der vorgeburtlichen Diagnostik oft leichtfertig geängstigt. Nicht immer werden sie umfassend genug aufgeklärt, ob tatsächlich eine bedrohliche Schädigung zu erwarten ist. Nicht immer werden ihnen Ängste genommen, sondern oft auch neue zugefügt. Einer Familie mag das Leben mit einem kranken, behinderten Kind gelingen. Eine andere bricht über einer möglicherweise bevorstehenden Beanspruchung zusammen. Der Umstand, daß der beschuldigte Chefarzt von Professor Schreiber verteidigt wird, läßt darauf hoffen, daß nicht nur die rechtliche und medizinische Seite mit großer Sachkunde erörtert werden wird. Auch die seelische Not der Eltern und die bedrängte Lage des Arztes in solchen Fällen wird er zur Sprache bringen. Gisela Friedrichsen, Udo Ludwig d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Deutschland Todesschützen mit Hauruckkarriere Heldrungen halte sich ein Gast auf, auf den die Beschreibung zutreffen könne. Die Dessauer informierten die Kollegen in Nordhausen. Von dort schickte der diensthabende Polizeiführer vier Beamte in Zivil nach Heldrungen. Gegen 23 Uhr trafen diese im Hotel ein.Von der nahe gelegenen Polizeiinspektion Artern rückte ein Streifenwagen zur Außensicherung an. Der Mann in Zimmer 11, einem Raum am Ende des engen, nur spärlich beleuchteten Flurs im zweiten Stock, ahnte nichts von den Vorgängen an der Rezeption. Daß kein Dieter Zurwehme, sondern ein Friedhelm Beate als Gast angemeldet war, erfuhren die Thüringer Ermittler vom Hotelier. Die Angaben aus dem Meldeschein wurden in Köln überprüft – und bestätigt. Trotz der entlastenden Auskunft aus Köln wollten die Beamten den Gast persönlich überprüfen. Das wäre überflüssig gewesen, hätten sie sich nur auf die simpelsten handwerklichen Dinge besonnen. Jede Polizeidienststelle erhält Fotos von Personen, die zur Fahndung ausgeschrieben sind. Hätten die Polizisten das Bild von Zurwehme, der mit dem Kölner Rentner auch nicht die geringste Ähnlichkeit hat, dem Hotelier Claus Unger vorgelegt, der Einsatz wäre sofort zu Ende gewesen. So aber nutzten die Zivilfahnder – wie in schlechten Krimis – den Wirt auch noch als Lockvogel für den vermeintlichen Mörder. Während Unger an die Tür klopfte und vorgab, etwas im Zimmer vergessen zu haben, schlichen sich zwei Beamte mit gezogener Waffe bis zur Zimmertür. Die beiden anderen versteckten sich im Treppenhaus. Dann ging alles blitzschnell. Unger verschwand in seinem schräg gegenüberliegenden Büro. Als der Rentner öffnete und durch einen Spalt lugte, sah er anstelle des erwarteten Hoteliers „zwei Gestalten mit gezogener Kanone“ vor sich, wie später ein Ermittler rekonstruierte. Panisch versuchte Beate, die Tür zuzudrücken. Die Beamten feuerten sofort – einer durch den Türspalt, der andere durch das dünne Türblatt. Eine Kugel blieb im Brustkorb Beates stecken, die andere traf direkt ins Herz. Die Ex-Vopos wurden suspendiert, sie müssen mit einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung rechnen. „Die beiden Polizeiobermeister haben eindeutig ihre Kompetenzen überschritten“, versichert ein Staatsanwalt. „Wenn die Beamten davon ausgegangen sind, daß es sich bei der Person im Hotel um einen gesuchten Mörder handelt, dann hätten sie das Spezialeinsatzkommando (SEK) rufen müssen“, sagt Thüringens Polizeiinspekteur Wolfgang Göbel. Das sieht auch ein wenig nach vorbeugender Sündenbocksuche aus. Wann nämlich eine SEK-Lage vorliegt, ist in Thüringen nicht ausdrücklich geregelt. Der entsprechende Richtlinienvorschlag liegt seit Jahren in den Schubladen des Innenministeriums. Felix Kurz 2 7 / 1 9 9 9 37 POLIZEI Schlechter Krimi Ein unbescholtener Tourist mußte sterben, weil viele Ex-Vopos in der Polizei Thüringens miserabel ausgebildet sind. SOMMARIVA D Zimmertür mit Einschußloch (Kreis) „Zwei Gestalten mit gezogener Kanone“ Der als „Mörder von Remagen“ gesuchte Dieter Zurwehme, 56, werde bei Dessau vermutet, berichtete am vorvergangenen Sonntag der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) in seiner Sendung „Kripo live“. Die ostdeutschen Hobby-Fahnder wurden gebeten, auf einen Mann mit einem „großen Wanderrucksack, einer sogenannten Kraxe“, zu achten – ein Gepäckstück, das nicht nur in Thüringen unzählige Urlauber mit sich führen. Kaum war die MDR-Sendung, eine OstVariante von „Aktenzeichen XY ungelöst“, vorbei, erklärte eine Anruferin der Dessauer Polizei, im Hotel Zur Erholung in REUTERS J. LEY / BILD ZEITUNG Opfer Beate, Gesuchter Zurwehme Fahndung nach dem Mann mit der Kraxe AP er Rentner, der auf seiner Wanderung zur polnischen Grenze in Thüringen Station machte, hatte „keine Chance“, wie später ein Polizeibeamter zugab. Friedhelm Beate, 62, wurde von Polizeikugeln getötet. Schnell war klar, daß sein Ableben die Folge der dilettantischen Arbeitsweise zweier Zivilfahnder war, die den Touristen am vorvergangenen Sonntag für einen mehrfachen Mörder gehalten hatten. Doch Innenminister Richard Dewes (SPD), ohnehin schon durch einige Affären in seinem Hause beschädigt, schwadronierte noch zwei Tage später unverbindlich über „laufende Ermittlungen“. Dann verstieg er sich zu diesem Urteil: „Unglücksfälle dieser Art kommen immer wieder vor.“ Dewes beschönigte damit eine beispiellose Kette von Fehlentscheidungen, Irrtümern und höchst peinlichen Pannen. Der Minister, der bei den Landtagswahlen im September gern Regierungschef werden möchte, ist an den desolaten Zuständen nicht unschuldig: Er kennt die Mängel bei der Polizei Thüringens durch zahllose Beschwerden von Bürgern – hat sie aber nicht abgestellt. „Von den rund 7000 Beamten des Freistaats genügen vielleicht 350 den Standards einer modernen Polizei, die mit den Bürgern richtig umgeht“, sagt ein hoher Polizeibeamter. Das wundert im Führungsapparat niemanden: Viele der Uniformierten wurden nach der Wende in Crash-Kursen von maximal sechs Monaten auf die neuen Aufgaben vorbereitet – sie dienten bis dahin als Volkspolizisten. Auch die Todesschützen, 44 und 30 Jahre alt, haben diese Hauruckkarriere absolviert. Dennoch tat Dewes so, als gebe es keine Vorbehalte. Die Beamten, behauptete er, seien „gut ausgebildet und gehören zur Zivilen Einsatzgruppe“. Doch die sogenannte ZEG fährt gewöhnlich in Zivilfahrzeugen Verkehrssündern hinterher oder spürt Kleinkriminellen nach. Für Festnahmen von Schwerverbrechern fehlt ihr das Know-how. Zur Überforderung kam womöglich noch die Aussicht, einen per TV-Fahndung gesuchten Killer zu stellen – nur so ist zu erklären, daß die Beamten bei ihrem Einsatz im 2500-Seelen-Ort Heldrungen in der Nähe des Kyffhäuser-Denkmals fast gegen jede polizeiliche Regel verstießen. Tatort in Heldrungen d e r s p i e g e l Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland EINZELHANDEL Diktat der Arbeit E r war auf dem besten Weg, ein Don Quijote des deutschen Ladenschlusses zu werden. Weil er nicht einsehen wollte, daß er seine Zigarren nicht auch sonntags verkaufen dürfe, hatte Eberhard Wolff sein Geschäft am Potsdamer Platz auch am Tag des Herrn aufgeschlossen. Erst erließ das Berliner Landesamt für Arbeitsschutz Bußgeldbescheide, die sich auf bislang rund 10 000 Mark summierten, dann ließ die Behörde die Ladentür zu „Tabac & Cigars“ kurzerhand von Amts wegen schließen. Jetzt stand Wolff vor dem Richter – und verurteilt wurde das Ladenschlußgesetz (LSchlG). Diese Vorschrift, befand der Berliner Verwaltungsrichter Norbert Kunath, sei „völlig aus dem Ruder gelaufen“. Es handle sich „nicht nur in Berlin, sondern auch bundesweit um ein Auslaufmodell“. Und schließlich: „Dieses Gesetz nimmt doch keiner mehr ernst.“ Der geschäftstüchtige Wolff („Ich will meine Dienstleistung dann anbieten dürfen, wenn die Kunden kommen – und die kommen vor allem sonntags“) hofft nun auf Amnestie. Der Tabakhändler sieht sich bestätigt durch einen Vorstoß der Berliner Sozialsenatorin Beate Hübner (CDU), deren Beamte bei Wolff so vehement auf Dienst nach Paragraph 3 LSchlG beharrten. Noch im Juli will Hübner eine Schneise der Freizügigkeit vom Ku’damm bis zum Alexanderplatz durch die Berliner City schlagen. Hunderten von Baukränen, staubigen Baustellen und Zehntausenden von im Stau festsitzenden Autos zum Trotz soll O. JANDKE / CARO Berlin will den Ladenschluß kippen. Doch die meisten Bundesländer beharren auf dem Gesetz, das ein Verwaltungsrichter „Auslaufmodell“ nannte. Abstimmungsaktion der Dussmann-Gruppe: Fast 32 000 Stimmen für den Spätkauf das Herz der Hauptstadt zum Erholungsgebiet umetikettiert werden – schließlich erlaubt Paragraph 10 LSchlG in Kur- und Ausflugsorten eine Öffnung auch an 40 Sonn- und Feiertagen im Jahr. Solche und andere Schlupflöcher sind inzwischen zum Lieblingsinstrument von Politikern im ganzen Land geworden, um das Gesetz auszuhebeln. Seit wenigen Wochen ist praktisch ganz Sachsen ein einziger Kurort. Und der von der Großen Koalition des Berliner Senats im Bundesrat eingebrachte Antrag, die Läden montags bis samstags erst um 22 Uhr zuzusperren, glaubt Senatorin Hübner, werde womöglich „schon vor Weihnachten“ längere Einkaufsbummel bringen – „fast alle Bundesländer“ hätten daran Interesse. Also Schluß mit dem Ladenschluß? Daß eines der zähesten Relikte deutscher Regulierungswut ausgerechnet vom verkarsteten Politikstandort Berlin im Sturm zu überrennen ist, bleibt wohl Hübners Wunschtraum. Jedenfalls muß sie die Signale der Bundesländer irgendwie falsch gedeutet haben. Offensiv wie Berlin wollen nur Sachsen, Schleswig-Holstein, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern die Diskussion vor- antreiben. Kein oder nur wenig Interesse an Korrekturen haben Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Hamburg und das Saarland. Abwartend verhalten sich Bayern, Bremen, Brandenburg, Hessen und Sachsen-Anhalt, wo die zuständigen Minister auf die Ergebnisse eines 1996 beim IfoInstitut für Wirtschaftsforschung bestellten Gutachtens warten. Im Herbst sollen die Münchner Experten der Bundesregierung berichten, was die bisherige Lockerung der Ladenschlußzeiten auf 20 Uhr (montags bis freitags) gebracht hat. Ein erster Zwischenbericht liefert den Anhängern des Spätkaufs allerdings kaum Argumente. Nur 39 Prozent des Einzelhandels, mehrheitlich Warenhäuser, größere Fachmärkte und Supermarktketten haben die Verkaufszeit bis 20 Uhr verlängert. Und lediglich 14 Prozent der Geschäfte konnten ihren Umsatz steigern, vor allem jene Großbetriebe, die mit geringer Personalbesetzung auskommen. Da aber bei einem Drittel der Unternehmen der Umsatz abnahm, ist man weit von jenen 20 Milliarden Mark jährlichem Plus entfernt, die Ifo vor Jahren für den Fall längerer Öffnungszeiten prognostizierte. K. THIELKER / IMAGES.DE Auch die erwarteten 50 000 neuen Arbeitsplätze wurden nicht geschaffen – die Bilanz ist sogar negativ. Eine Studie der Sozialforschungsstelle Dortmund ergab, daß sich die Vollzeitbeschäftigung verringerte, lediglich die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse nahmen zu. Die Konsequenz: Ein Viertel der Beschäftigten in Deutschlands Läden, rund 700 000, sind, so die Studie, nur noch geringfügig beschäftigt. Allerdings war der Arbeitsplatzabbau geringer in Unternehmen mit verlängertem Ladenschluß. Auch die Frage, wie viele Kunden überhaupt längere Öffnungszeiten wünschen, beantworten Fachleute eher ernüchternd. 85 Prozent der Bundesbürger seien mit der gegenwärtigen Regelung völlig zufrieden. Von einer „massiven Nachfrage“ für eine weitere Liberalisierung, wie sie Politik und Verbände angeblich allerorten verspüren, könne jedenfalls keine Rede sein, bestätigt Ifo-Forscher Uwe-Christian Täger. Die Verbraucher wünschten eher ein angenehmeres Ambiente und besseren Service. Entweder hat sich im Kundenverhalten im letzten Jahr etwas geändert, oder in der Hauptstadt hat der Einzelhandel, wie der Staatssekretär im bayerischen Wirtschaftsministerium Hans Spitzner glaubt, tatsächlich „andere Strukturen“. Der gemeine Berliner Kunde jedenfalls steht auf Späteinkauf. 63 Prozent, das ergab im November eine Telefonumfrage der Forschungsstelle für den Handel, kaufen derzeit regelmäßig oder gelegentlich zwischen 18 und 20 Uhr ein; zwei Drittel der regelmäßigen Spätkäufer verdienen monatlich 8000 Mark und mehr. Von den jungen Hauptstädtern bis 29 Jahre sollen sogar fast 80 Prozent den späten Service nutzen. Gut ein Viertel aller Befragten würde gern bis 22 Uhr einkaufen können. In der vergangenen Woche übergab die Dussmann-Gruppe, mit ihrem „Kulturkaufhaus“ einer der Vorkämpfer gegen den Ladenschluß, Berlins Wirtschaftssenator Wolfgang Branoner einen Stapel Unterschriftenlisten: 31 704 Dussmann-Kunden plädierten für längere Einkaufszeiten. Präzedenzfall Potsdamer Platz „Andere Strukturen in Berlin“ Doch den meisten Ländern reicht, daß die Ausnahme längst die Regel ist. Allein in Mecklenburg-Vorpommern dürfen dank der großzügig ausgelegten „Bäderregelung“ in 192 Kommunen die Geschäfte auch sonntags öffnen. Das wird genutzt, um auf fremden Märkten zu wildern. Die Schweriner Einzelhändler werben in halbseitigen Anzeigen in Hamburger Zeitungen mit dem Sonntagsverkauf. Sie wollen so die Kaufkraft aus der vom strenggläubigen Sozialdemokraten Ortwin Runde regierten Hansestadt in ihre Kassen umleiten. Niedersachsen nutzt die Expo 2000 für eine befristete Liberalisierung. Sogar im katholischen Bayern erhielten schon jetzt rund 450 Orte Sondergenehmigungen; Baden-Württemberg registrierte im vergangenen Jahr insgesamt 626 Ausnahmeregelungen für sonntags – ein Plus von 28 Prozent gegenüber 1996. Am weitesten ging das CDU-regierte Sachsen. Hier wurden kurzerhand Leipzig und Görlitz zu Touristikzentren mit generellem Sonntagsverkauf deklariert. Geprüft wird das Modell gegenwärtig für Chemnitz, Hoyerswerda und Weißwasser, wahrlich keine touristischen Hochburgen. Die Einzelhandelsverbände fordern deshalb endlich eine konsequente Lösung. „Einen Schuß in die richtige Richtung“, nennt Britta Gallus vom Bundesverband der Filialbetriebe und SelbstbedienungsWarenhäuser die Berliner Bundesratsinitiative. Doch die geliftete Fassung – mit Rücksicht auf die süddeutschen Länder wird ein genereller Sonntagsverkauf nicht mehr verlangt – gehe nicht weit genug. Man wünsche sich die totale Liberalisierung. So bleibt der Sonntag der strittige Punkt in der ideologisch geführten Debatte. Im Schulterschluß mit den Kirchen sorgt sich die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen um die Sozialkultur des siebten Wochentags. „Der arbeitsfreie Sonntag ist Ausdruck der Menschenwürde“, an ihm sollen wir „vom Diktat der Arbeit frei sein“, insistiert sie in einem Infoblatt. Und die nicht immer frommen Gewerkschafter Sachsens führen derzeit stets ein Bibelwort im Munde: „Der siebte Tag aber soll ein Ruhetag sein, der dem Herrn, deinem Gott, gehört.“ Mit der Option zur Sonntagsarbeit werde den Arbeitgebern Tür und Tor geöffnet, Druck auf Arbeitssuchende auszuüben, befürchtet die evangelische Kirche Berlins. Bischof Wolfgang Huber findet die gegenwärtige Diskussionslage „völlig schief“: Der Sonntagsschutz sei im Grundgesetz festgeschrieben. Sachsens Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU), der den Ladenschluß „als Relikt aus dem Zunftwesen“ verspottet und ihn lieber gestern als morgen abschaffen möchte, wird möglicherweise von den eigenen Parteifreunden vors Verfassungsgericht zitiert. Den rechtspolitischen Sprecher der CDU-Landtagsfraktion Marko Schiemann stört, daß sich die neuen Bundesländer mehrheitlich für die Liberalisierung des Ladenschlusses stark machen. Sie würden mißbraucht, mutmaßt er, um „politische Aktionen durchzusetzen, die im Westen gescheitert sind“. Maik Große-Katthöfer, Adrienne Woltersdorf Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite M. LACOMBE / SYGMA Deutschland Fremdenlegionärs-Ausbildung in Französisch-Guayana (1996): Berufssoldaten aus mehr als 100 Ländern ZEITGESCHICHTE Sklaven der Marianne Verkrachte Existenzen und Abenteurer vieler Länder gingen in die Fremdenlegion – ausgerechnet die deutschen „Erbfeinde“ stellten lange die meisten Söldner, fand eine neue Studie heraus. D Fremdenlegionäre bei der Parade* „Eine geniale Erfindung“ 48 schließlich fort. Ernst Jünger kam knapp sechs Wochen nach seiner Flucht gerade noch rechtzeitig zum Christfest wieder daheim in Rehburg an: „So rauh der süßen Schwärmerei entrissen / wird eins mir klar / ’s ist hier wie dort beschissen“, dichtete der angehende Großgeist kleinlaut. Das Bürgerkind war eine Ausnahme. Die meisten Legionäre verdingten sich aus Not oder Verzweiflung. Sie waren im bürgerlichen Beruf Gescheiterte, Wurzellose und Weltenbummler oder auch Leute, die vor dem Gericht, der Ehefrau oder einer Alimentenklage die Flucht ergriffen hatten. SIPA PRESS ie Flucht des 18jährigen Pennälers sorgte für Schlagzeilen: „Der Unterprimaner Jünger, ein Sohn des Bergwerkbesitzers Dr. phil. Jünger hierselbst, hat sich für die französische Fremdenlegion anwerben lassen und befindet sich bereits auf dem Wege über Marseille nach Afrika“, meldete das Lokalblatt im niedersächsischen Rehburg am 16. November 1913. „Der Vater des Bedauernswerten hat sich an das Auswärtige Amt in Berlin um Hilfe gewandt.“ Während Vater Jünger deutsche Amtsstellen bemühte, um seinen Sohn aus den Fängen der Fremdenlegion zu befreien, besann sich der minderjährige Ernst schon eines Besseren. Zweimal versuchte er, aus dem Ausbildungslager in Algerien auszubrechen, vergeblich. Die Legionäre wußten nichts mit diesem Jüngling aus gutbürgerlichem Haus anzufangen und schickten ihn Auffallend viele Deutsche trugen das „Képi blanc“ der Legion. Jünger war der Prominenteste, ihm am nächsten kam Philip Rosenthal, Porzellanfabrikant und Sozialdemokrat. Er trat am 8. September 1939 in die Fremdenlegion ein, um gegen Hitler zu kämpfen. Doch anstatt die Maginot-Linie zu verteidigen, mußte er nach der Grundausbildung mit einer Maultierkompanie durch die Sahara ziehen. Rosenthals Zeit als Legionär endete am 23. Oktober 1942. Da hatte Frankreich längst kapituliert, die Fremdenlegion unterstand dem Regime von Vichy. Der Deutsche wollte desertieren, mußte in einem Steinbruch Zwangsarbeit verrichten und schlug sich schließlich über Gibraltar nach England durch. Fast 100 Jahre lang, so schreibt der Historiker Eckard Michels, der die Geschichte der Deutschen in der Fremdenlegion erstmals erforschte, seien sie „quantitativ wie qualitativ die bei weitem wichtigste Nationalität in der Legion“ gewesen**. Die 1831 vom Bürgerkönig Louis Philippe gegründete „Légion étrangère“ sollte den französischen Kolonial*Auf den Champs-Elysées in Paris am 14. Juli 1993. ** Eckard Michels: „Deutsche in der Fremdenlegion 1870–1965. Mythen und Realitäten“. Schöningh Verlag, Paderborn; 362 Seiten; 68 Mark. Werbeseite Werbeseite Deutschland Auslieferung aller deutschen Legionäre. Die Fremdenlegion sperrte sich – nicht aus politischen Gründen, sondern um das „Anonymat“ zu wahren. Auf der Garantie, deren Identität nicht preiszugeben, beruhte die Loyalität der Legionäre. Für Juden war die Legion kein Fluchtort. Als sich immer mehr jüdische Flüchtlinge aus Deutschland gemeldet hatten, um gegen die Nazis zu kämpfen, beschloß der Generalstab im Februar 1940, „fortan unter Vorschieben verschiedenster Gründe allen Juden den Eintritt in die Legion zu verweigern“. Die Zahl der angeworbenen Deutschen sank prompt um gut die Hälfte. Noch während die letzten Schlachten im Zweiten Weltkrieg tobten, rekrutierten die Franzosen unter gefangengenommenen Wehrmachtssoldaten, die das an die Ex-Legionäre Jünger, Rosenthal*: „So rauh der süßen Schwärmerei entrissen“ Ersten Weltkrieg nicht in den Schützengräben Nordfrankreichs, sondern in Nordafrika und Indochina. Nach den guten Erfahrungen rekrutierten die Franzosen nach 1918 gezielt in den besetzten Rheinlanden. Der französische Staatschef Georges Clemenceau ließ in den Versailler Vertrag eigens eine Klausel aufnehmen, die Paris das Recht gab, Deutsche für die Legion anzuwerben. Um sie nicht zu verprellen, blieb das gebräuchliche Schimpfwort „Boche“ tabu; ein Sergeant, der es benutzte, wurde umgehend zum einfachen Legionär degradiert. Deutsch, nicht Französisch, war, sofern kein Offizier dabeistand, die Umgangssprache in der Truppe. Nach der Machtergreifung Hitlers durfte die Fremdenlegion in Büchern, Filmen oder Vorträgen nicht erwähnt werden. 1939 entzogen die Nazis aktiven Fremdenlegionären die deutsche Staatsbürgerschaft. Ehemalige wurden als „bedingt wehrwürdig eingestuft“ und im Krieg in das Strafregiment des Afrikakorps gesteckt. Der Anteil der Deutschen sank auf 20 Prozent. Nach der Niederlage Frankreichs 1940 forderten die Nazis vom Vichy-Regime die * Links: im Dezember 1994 bei einer Sitzung des bayerischen Maximiliansordens für Wissenschaft und Kunst in München; rechts: im Oktober 1996 in seinem Haus in Selb vor einem Porzellanbild Victor Vasarelys. 50 brochen. Freddy Quinn führte mit dem Lied „Der Legionär“ 1958 wochenlang die Hitparade an. Die Polizeidirektion Landau meldete, die Zahl der Freiwilligen erhöhe sich „ganz erheblich, wenn in der Presse Berichte oder Bildreportagen über die Fremdenlegion erscheinen“. Die Bonner Regierung wurmte vor allem, daß die Franzosen ungeniert auf deutschem Boden rekrutierten. Doch solange die Bundesrepublik nicht ihre Souveränität wiedererlangt hatte, hielt sich Adenauer mit Kritik an Paris zurück. So stoppte Bonn im März 1954 eine Plakataktion der Mainzer Landesbehörden gegen die Fremdenlegion. Die Franzosen waren fortan bei der Rekrutierung in Deutschland um Unauffälligkeit bemüht. Obwohl ihre Militärs befürchteten, ohne die Deutschen könnte die Legion bis zu 80 Prozent ihrer dringend in Indochina benötigten Bewerber verlieren, schloß sie 1952 das „Camp Wagram“ am Stadtrand von Offenburg. Die Anwerbung fand von nun an in getarnten Büros statt. Erst der Krieg in Algerien „setzte einen Schlußpunkt unter annähernd ein Jahrhundert deutscher Dominanz in der Fremdenlegion“, schreibt Autor Michels. Daß deutsche Söldner in Indochina kämpften, hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer noch damit gerechtfertigt, dort werde die freie Welt gegen den Kommunismus verteidigt; in Algerien jedoch tobte ein reiner Kolonialkrieg. Zum erstenmal sah man die deutschen Legionäre daheim nicht als Opfer der Franzosen, als „Sklaven der Marianne“, sondern als Täter in einem schmutzigen Krieg. Der französische Abzug aus Algerien 1962 bedeutete das Ende der „alten“ Legion und der deutschen Dominanz. Innerhalb kurzer Zeit schrumpfte die Truppe von 19 000 Mann auf 7500. 1962 wurden monatlich gerade noch 50 Legionäre angeworben, Deutsche waren kaum noch darunter; im Wirtschaftswunderland gab es immer weniger Wurzellose, die es in die Fremde zog. Heute gehören der Fremdenlegion noch 8500 Berufssoldaten aus mehr als 100 Ländern an. Sie führten Kommando-Unternehmen im Tschad, in Gabun und im Kongo aus, nahmen am Golfkrieg, an Friedensmissionen im Libanon und in ExJugoslawien teil. „Die Legion ist eine geniale Erfindung“, meint ein amerikanischer Diplomat fast neidisch. „Sie bewahrt Frankreich die Rolle der Kolonialmacht. Und wenn die Sache schiefgeht, liegen in den Särgen wenigstens keine toten Franzosen.“ Hans Michael Kloth DPA STEFAN MOSES ambitionen in Afrika und Asien militärischen Nachdruck verleihen, ohne daß allein die eigenen Bürger Blutzoll entrichten mußten. Die Offiziere waren Franzosen, aus dem Ausland kamen die Fußtruppen. Keine fremde Nation sollte eigentlich mehr als ein Drittel der einfachen Soldaten stellen. Doch seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 bildeten ausgerechnet die Landeskinder des rechtsrheinischen „Erbfeindes“ das Rückgrat der französischen Expeditionsstreitmacht. Zwischen 1871 und dem Ersten Weltkrieg traten rund 38 000 Deutsche in die Legion ein. Weil die Pariser Militärs dem Legionsmotto „Legio patria nostra“ (Die Legion ist unser Vaterland) nicht so recht trauten, kämpften deutsche Fremdenlegionäre im Japaner verlorene Vietnam zurückerobern sollten. Der Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen“, Adalbert Weinstein, berichtete 1954 aus Saigon, er habe „auf den Grabkreuzen fast ausschließlich als Geburtsorte Städte und Dörfer gefunden, die zwischen Königsberg und Trier, Hamburg und München lagen“. Von 20 000 deutschen Legionären dienten 11 000 in Indochina; unter den 3500 Söldnern, die als Verteidiger der Dschungelfestung Dien Bien Phu das „Stalingrad des weißen Mannes“ erlebten, waren 1600 Deutsche. Auch auf der Gegenseite, dem Vietminh, standen makabrerweise deutsche Fremdenlegionäre. Die Gegenpropaganda, für Ho Tschi-minh, lag in den Händen zweier deutscher Ex-Legionäre, die 1945 aus japanischer Gefangenschaft zum Vietminh gewechselt waren. „In die Köpfe dieser schlecht denazifizierten, verirrten und verwirrten Landsleute ,mehr Licht‘ zu bringen ist schwer“, schrieb der Goethe-kundige Vietminh-Oberstleutnant Erwin Borchers 1950 an den DDR-Botschafter in Peking und bat um logistische Hilfe bei einem Rückführungsprogramm für Fremdenlegionäre. Daheim in der westlichen Teilrepublik blieb die Faszination der Legion unged e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland Die „Abfallwirtschaft Aufnahmemenge GmbH Halle-Lochau“, Wo ist noch Platz? pro Jahr Restvolumen in tausend eine Tochter der örtliGroße Hausmülldeponien in Deutschland in Millionen m3 Tonnen chen Stadtwerke, bejuHalle-Lochau, Sachsen-Anhalt 80,0 700 belt im Internet die „für Dortmund-Nordost, 17,0 Nordrhein-Westfalen 330 Deutschland einzigartiIn Sachsen-Anhalt bedroht eine 120 Pohlsche Heide, Hille, Nordrhein-Westfalen 16,5 gen Kapazitätsreserven“. gigantische Mülldeponie Schönberg, Mecklenburg-Vorpommern 16,0 269 Die Deponie gewährdas Grundwasser. Trotzdem will 150 Mertesdorf, Trier, Rheinland-Pfalz 14,3 leiste „die Entsorgungsdie Landesregierung Schöneiche, Neu Fahrland, Brandenburg 11,0 675 sicherheit der Region bis weit ins 22. JahrHannover, Niedersachsen 10,0 400 sie weiterbetreiben lassen. hundert“. Heilbronn Vogelsang, Baden-Württemberg 9,0 350 Ein Alptraum für Umppiges Grün breitet sich gnädig 240 Eiterköpfe-Ochtendung, Koblenz, Rheinland-Pfalz 8,5 über die tiefe Wunde, die der real- weltschützer und AnhänEmscherbruch, Gelsenkirchen, Nordrhein-Westfalen 8,5 366 sozialistische Energiehunger einst ger einer zeitgemäßen 150 Hochsauerlandkreis, Meschede, Nordrhein-Westfalen 7,8 in das flache Land geschlagen hat. Am Abfallwirtschaft. LangfriBurghof, Bietigheim-Bissingen, Baden-Württemberg 7,3 142 Grund des ehemaligen Braunkohletage- stig, warnen sie, werde Leppe, Engelskirchen, Nordrhein-Westfalen 6,9 200 baus Halle-Lochau glitzert schilfumsäumt sich das Braunkohleloch 500 Mechernich, Euskirchen, Nordrhein-Westfalen 6,5 als größte Ökozeitbombe ein Weiher. Haus Forst, Kerpen, Nordrhein-Westfalen 5,3 160 Doch die Idylle trügt. Denn nach den Deutschlands entpuppen. Berlin 400 Schöneicher Plan, 5,0 Als der Rat der Stadt Kohleschürfern kamen Mitte der siebziger 430 Vorketzin, Neu Fahrland, Brandenburg 5,0 Jahre nicht die Landschaftsgärtner, son- Halle beschloß, das ehe73 Höfer Kragen, Celle, Niedersachsen 4,8 dern die Müllmänner: Schon zu DDR- malige Braunkohleberg730 Wiesbaden-Dyckerhoffbruch, Hessen 4,7 Zeiten schufen sie wenige Kilometer werk als Mülldeponie zu Quelle: Umweltbundesamt südöstlich des Hallenser Stadtzentrums nutzen, war der SED bekannt, daß das Fundaeine Müllkippe der XXL-Klasse. Eine endlose Kette schwerer Lkw don- ment der Deponie unterhalb des Grund- ehe sie den großen Rest zum Schleudernert seither von früh bis spät durch das wasserspiegels liegen würde und die Gru- preis auf Billigkippen wie Halle-Lochau Tal, um Hausmüll, Bauschutt, Schlacken, be noch dazu über keine geologische Ba- entsorgen. Kunststoffabfälle oder Farbreste abzukip- sisabdichtung, etwa in Form einer wasserFünf Millionen Tonnen Gewerbeabfälle pen. Schwärme von Planierraupen ver- undurchlässigen Tonschicht, verfügte. Eine „verschwindeln“ („VDI-Nachrichten“) auf teilen und verdichten die Abfallberge. Bis Todsünde beim Betrieb einer Müllkippe. diese Weise nach Schätzungen von Fachheute wurden hier 16 Millionen Kubik- Nach der Wende ermöglichte der deutsch- leuten jedes Jahr in ungenügend gesichermeter Zivilisationsmüll vergraben – 80 deutsche Einigungsvertrag den Weiterbe- ten Erdlöchern. Gleichzeitig entzieht das trieb. 1994 schließlich bestätigte das da- Ökodumping den Müll solchen KommuMillionen sollen noch folgen. mals zuständige Bergamt Staß- nen oder Privatinvestoren, die in der Verfurt eine Betriebsgenehmigung gangenheit in Erwartung einer ökologisch bis zum Sanktnimmerleinstag. orientierten Abfallwirtschaft dreistellige Danach kam die Müllstern- Millionenbeträge in moderne – und desfahrt Richtung Saale richtig in halb teure – Deponien und MüllverbrenSchwung. „Heute“, klagt der nungsanlagen investierten. Bundestagsabgeordnete und Halle-Lochau wäre wegen der fehlenMüllexperte Reinhard Schultz den Basisabdichtung heute keinesfalls (SPD) aus dem westfälischen Wa- mehr genehmigungsfähig. Allerdings könrendorf, „ist Halle-Lochau die nen die Behörden nach der 1993 in Kraft mit Abstand größte bundesweite getretenen Technischen Anleitung SiedSenke für Gewerbeabfälle.“ lungsabfall (TASi) das Abkippen auf AltDie Betreiber machen sich deponien weiter zulassen, wenn dort enteine Lücke in dem 1994 vom da- sprechende „Nachrüstprogramme“ umgemaligen Umweltminister Klaus setzt werden. Töpfer durchgeboxten KreislaufDarauf pochen die Hallenser Müllwirtschaftsgesetz zunutze. Da- sammler (Slogan: „Wir halten dicht“). Seit nach muß zwar Haus- und Ge- der Wende, versichert Geschäftsführerin werbemüll, der ohne vorge- Martina Raphtel, seien 80 Millionen Mark schaltete Sortierung deponiert in Umweltschutzmaßnahmen investiert werden soll („Abfall zur Beseiti- worden, vor allem in eine moderne Sickergung“), auf regionalen Kippen wasserreinigung. Eine Anlage zur Sammentsorgt werden. Gleichzeitig er- lung und Verstromung brennbarer Abgase, laubt das Gesetz die bundeswei- welche die Deponie unablässig produziert, te Verschiebung von „Abfällen soll noch vor Jahresende in Betrieb gehen. zur Verwertung“, jedoch ohne Gegner der Mammutkippe wie der Sozu definieren, was das bedeutet. zialdemokrat Schultz, ein vehementer VerUm dem Recht Genüge zu fechter moderner Müllverbrennungsanlatun, reicht es aus, rund um die gen, verlangen trotzdem die sofortige großen Deponien einen Kordon Schließung von Halle-Lochau. Umstritten einfachster Sortieranlagen anzu- ist dort vor allem die Langzeitsicherheit. siedeln, die pro forma ein paar Denn irgendwann nach dem endgültigen Joghurtbecher oder Bierdosen Ende des Deponiebetriebs müssen auch „zur Verwertung“ abzweigen, die Pumpen abgeschaltet werden, die derDeponie Halle-Lochau: Billigkippe der XXL-Klasse U M W E LT Undichte Senke C. EISLER / TRANSIT Ü 52 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 zeit mit einem täglichen Durchsatz von 6000 Kubikmetern verhindern, daß Grundwasser von allen Seiten in die ehemalige Braunkohlegrube einströmt. Dann säuft die Deponie ab. Verantwortbar wäre das erst, wenn der gesamte Müll durch den permanenten Entzug und die Reinigung des Sickerwassers soweit „ausgelaugt“ ist, daß der brisante Cocktail aus Salzen, Stickstoffverbindungen, Schwermetallen und gefährlichen organischen Verbindungen nicht mehr in hoher Konzentration ausgeschwemmt wird. Das wird dauern – nach Ansicht von Experten möglicherweise Jahrhunderte. Zu allem Überfluß halten die Deponiebetreiber einen absurden Kreislauf in Gang: Das Filterkonzentrat aus der Sikkerwasserreinigung wird nach einer Zwischenlagerung per Tankwagen wieder oben auf der Deponie „verrieselt“. So spart man Geld für eine sachgerechte Entsorgung. Über die Zukunft des Müllorkus von Halle-Lochau muß die Magdeburger Umweltministerin Ingrid Häußler (SPD) entscheiden. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz verpflichtet die Bundesländer, spätestens bis Ende dieses Jahres „Abfallwirtschaftspläne“ für die kommende Dekade vorzulegen. Die Betreiberfirma drängt auf einen unbefristeten Weiterbetrieb. Der aber ist nach den TASi-Vorgaben eigentlich nicht möglich. Die verbieten spätestens ab Mitte 2005 auch Altdeponien die Einlagerung eines Müllcocktails mit hohen organischen Problemfrachten. Die Kriterien der Technischen Anleitung erfüllen bisher nur aufwendige thermische Müllbehandlungsanlagen, welche die biologisch und chemisch aktiven Abfälle zuverlässig stabilisieren. Erwünschter Nebeneffekt: Aus billigen Altdeponien werden durch die vorgeschriebenen technischen Nachbesserungen schlagartig teure, die ihren Kunden dann kaum mehr bessere Konditionen anbieten können als moderne Müllverbrennungsanlagen. Schlecht für Halle-Lochau, gut für die Umwelt. Doch Ministerin Häußler hat schon im vergangenen Herbst verkündet, sie wolle das Deponiezentrum in Lochau langfristig erhalten. Ökokritiker hegten daraufhin den Verdacht, da seien lokale Seilschaften im Spiel: Die Chemikerin Häußler war bis vor einem Jahr Regierungspräsidentin in Halle. Aus dieser Zeit kannte sie Lochau-Geschäftsführerin Raphtel, ebenfalls eine Chemikerin, gut. Und im nächsten Jahr möchte die Ministerin Oberbürgermeisterin in ihrer Heimatstadt werden. Der Abgeordnete Schultz hofft dagegen auf Europa. In diesen Tagen tritt eine neue Deponierichtlinie der EU in Kraft. Die, davon ist Schultz überzeugt, werde den Müllzustrom an die Saale spätestens nach einer dort vorgesehenen Übergangsfrist von acht Jahren stoppen. Gerd Rosenkranz d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ehepaar Schröder: „Schmaler Grat zwischen willkommenem Engagement und unwillkommener Einmischung“ AP E H E F R AU E N Zart, zäh und einflußreich Als dekoratives Anhängsel sehen sie die einen, für die anderen ist sie ein Machtfaktor in der Politik. Doris Schröder-Köpf weiß, was die Medienrepublik bei einem Job wie ihrem verlangt: Öffentliche Zurückhaltung wird mit Einfluß belohnt. Von Barbara Supp A lles ist Politik, wirklich alles, egal was sie tut. „Grün ist die Hoffnung“, sagt Doris Schröder-Köpf und meint nur ein grünes Auto, das verlost werden soll an diesem Abend bei einer Benefiz-Gala von „Bild“ in Hannover. Aber wenn sie das sagt, die Kanzler-Ehefrau, dann gibt das manchem in der Partei gleich zum Grübeln Anlaß. Dann ist das nicht bloß so ein Satz. Wie hat sie das wohl gemeint? Es gibt ja Leute, die lauern immer noch ständig, ob sie sich etwa wie ihre Vorgängerin Hiltrud benimmt, Gerhard Schröders dritte, sehr eigenwillige, ökologisch denkende Ehefrau. Unvergessen ist jener Moment im vergangenen Sommer in der SPDWahlkampfzentrale, als dpa aus Hannover gemeldet hatte: „Doris Schröder-Köpf geht ins Wahlkampfteam von Gerhard Schröder.“ Verwirrung. Schrecken. Als müsse er einen Schock mildern, als schwebe der Geist Hillus durch die Landschaft und terrorisiere die Getreuen, so gab gleich der Schröder-Vertraute Uwe-Karsten Heye zu Protokoll: Die neue Ehefrau des Kanzlerkandidaten werde „an keine Vorbilder anknüpfen“. Sie werde „ihre eigene Rolle finden“. Keine Angst. 56 Sie müssen sehr froh gewesen sein in Partei- und Wahlkampfzentrale, als Doris, Schröders vierte Ehefrau, verlauten ließ, daß sie „im Hintergrund“ bleiben wolle und das dann auch tat. Sie war auf hübschen Bildern zu sehen und hielt den Mund, wenn es von ihr erwartet wurde. Sie gab sich ganz als „Frau an seiner Seite“ – ein harmloses Wesen, meinen viele. Eine Weile lang jedenfalls. Bis ihnen dann auffällt, wie oft er sie anruft, von Rio oder sonstwoher, und ihre Meinung hören will. Wie oft zu hören ist: „Doris sagt.“ Also doch kein Püppchen? Doch nicht nur dekorativ? Da steht sie an einem Juni-Samstag in Berlin, ihrem neuen Dienstort; schmal, blond und verschwindend klein auf einem Podium am Brandenburger Tor. In der Hauptstadt feiert die Unicef ihre „Days for Kids“, Benjamin Blümchen ist da, Bürgermeister Diepgen, Moderator Wolfgang Lippert, und die 35jährige Schirmherrin läßt einen Luftballon steigen und wünscht sich „Frieden und Freiheit“ für alle Kinder dieser Welt. Es regnet, und im Pulk schiebt sich der Prominententrupp durch die Straße Unter d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 den Linden vorbei an Lego-, Cola- und Kindermalständen, begleitet von rempelnden Sicherheitsleuten, und die blauen Schirme hat der Hauptsponsor gestiftet, das ist VW. Es müssen Sandmännchenlieder gesungen und Spreewaldgurken gegessen und Kinder begrüßt werden. Ziemlich mürrische Kinder manchmal, so wie jener 14jährige, der lieber Schröder selbst vor sich hätte, um sich über dessen KosovoPolitik zu beschweren, „aber det is ja nur die Doris, zu sagen hat die ja nüscht“. Die Doris lächelt, bereitwillig, aber ein bißchen spitz. Es ist diese offizielle Freundlichkeit, bei der das Gesicht immer ein wenig maskenhaft wirkt und ein wenig starr. Zu lesen ist: Ihr habt mein Lächeln. Aber glaubt nicht, ihr habt meine ganze Person. Schon merkwürdig, sagt Doris SchröderKöpf ein paar Tage später in einem Café in Hannover, wie plötzlich „alle Welt behauptet, Bescheid zu wissen, wer ich bin“. Sie ist ja selbst Journalistin und kennt das Gewerbe, aber das Ausmaß an Tratsch, das kursiert, hat sie doch „ein bißchen überrascht“. Vor ein paar Wochen beispielsweise riefen plötzlich Bonner Journalisten an, die ein bißchen mitleidig klangen; wie Deutschland Bei der „Augsburger Allgemeinen“ bekommt sie ein Volontariat, direkt nach dem Abitur. Eine Redakteursstelle kriegt sie auch, „und dann“, sagt sie heute, in ihrem hannoverschen Café, „dann will man ja immer mehr: Lokal-, dann Bezirks-, dann Landespolitik, immer denkt man, da ist es noch spannender, da geschieht noch mehr“. Lange hat sie die Redaktion gequält, damit sie, eine Volontärin noch, zum Münchner CSU-Parteitag durfte, wenigstens, um zu fotografieren. Da stand sie dann mit ihrer Nikon in der Hand und einem lächerlichen Blitzgerät obendrauf; eine seltsame Erscheinung im Fotografentrupp: ein Wesen im Trachtenrock, mit weißer Bluse und mit blondem Pferdeschwanz und nicht viel Ahnung davon, wie man gute Bilder macht. „Mädchen“, sagte schließlich so ein Bonner Foto-Profi, „da braucht man keinen Blitz.“ Er stellte ihr die Kamera ein, sie machte „wunderbare Strauß-Fotos, das hätte ich allein nie geschafft“. Die Fotografen „waren alle sehr freundlich“ zu die- Gut zehn Jahre ist das jetzt her. Dazwischen liegt die Zeit in New York mit dem ARD-Korrespondenten Sven Kuntze, dem Vater ihrer Tochter Klara, die Trennung, die „Focus“-Jahre als alleinerziehende Mutter und innenpolitische Redakteurin – eine, die beispielsweise 1994 einen Bericht über die Ehefrauen von Ministerpräsidenten verfaßte, Hillu Schröder, Karin Stoiber, Ingrid Biedenkopf. „Leihmütter für Millionen“ hieß der Artikel, sie befaßte sich darin mit dem „schmalen Grat“ zwischen „willkommenem Engagement und unwillkommener Einmischung“, auf dem sich „die Seelchen fürs Soziale häufig bewegen“. Jetzt, als Kanzler-Ehefrau, schreibt sie nicht mehr, sondern wird selbst beschrieben, das gehört zum Job. Für „Paris Match“ ist sie „Deutschlands Charme der Stunde“; für die „Financial Times“ ein „Media Babe mit sanfter Stimme und kicherndem Lachen“; für Alice Schwarzer, die Feministin, ist sie eine, die zu ihrem Mann aufblickt, die zurücksteht und sich selbst aufgegeben hat – ein Rückschritt für Deutschland also. Sie bedaure sehr, klagte A. PENNY / IMAGES.DE B. BOSTELMANN / ARGUM es ihr gehe, fragten sie. Es dauerte eine Weile, bis sie von einem alten Freund erfuhr, was in Bonn gerade Gesprächsstoff sei: Man sehe sie so selten in der Stadt. Die große Ehekrise im Hause Schröder sei da. Gestaunt hat sie auch, als eine Journalistin ihr im Restaurant bis aufs Klo gefolgt ist, um herauszufinden, ob sie, die Überschlanke, an Eß-Brechsucht leidet. Blödsinn, sagt Doris Schröder-Köpf: „Wenn ich krank wäre, würde ich darüber sprechen. Da muß man in die Offensive, so wie Betty Ford mit ihrem Brustkrebs, wie Tipper Gore mit ihren Depressionen. Das würde ich auch Gerd immer so raten, wenn etwas wäre. Die Leute haben dann Mitleid und identifizieren sich – die Sympathie, die einem dann zu Recht entgegenschlägt, ist gar nicht bezahlbar, denke ich.“ Sie muß gewußt haben, daß sie zum Medienwesen mutieren würde, von dem Moment an im März 1996, als die Öffentlichkeit von der Schröder-Köpf-Beziehung erfuhr. Sie hat die Zeit der bösen Scherze durchgestanden, die manchmal oberhalb und häufig tiefer als die Gürtellinie zielten. Kanzler-Ehefrau Schröder-Köpf beim Berliner Unicef-Fest, mit First-Lady-Kolleginnen*: „Deutschlands Charme der Stunde“ Jetzt ist sie Ehefrau des Kanzlers, und die Kritiker sind leiser geworden, aber immer noch werden Witze gerissen, über sie und ihren Ehemann. Und jedes Stirnrunzeln wird beobachtet, jede Geste interpretiert. Sie darf nichts Falsches sagen, bloß nichts Falsches. Ein seltsames Leben. Ist es das, was sie wollte? Immer schon? Große Flausen waren nicht üblich für ein Mädchen, damals, in Tagmersheim, diesem 1100-Seelen-Dorf im bayerischen Schwaben, aus dem sie stammt, wo der Bruder Ministrant war und die Tanten beim Kirchenputz halfen. Wo es damals noch etwas Besonderes war, wenn eine ins Gymnasium durfte, obwohl der Vater nicht Arzt oder Lehrer, sondern Mechaniker war, so wie bei ihr. Ein ehrgeiziges Mädchen offenbar. Eines, das nicht viel hält von Mutters Plänen, sie möge doch Studienrätin werden, das sei ein vernünftiger, sicherer Beruf. Es gibt interessantere Orte als die Schule, findet Doris. Solche, an denen wichtige Leute wichtige Dinge entscheiden. „Kommunalpolitik“ findet sie faszinierend. Sehr sogar. ser hübschen, kindhaften Kollegin, „die haben mich sozusagen adoptiert“. Bonn – das klang magisch, da wollte sie hin. Ins Zentrum der Macht. Und weil die „Augsburger Allgemeine“ keine Anstalten machte, eine junge Frau dorthin zu schicken und die „Bild“-Zeitung genau das wollte, griff sie zu. Zum „Kölner Express“ ist sie dann bald gewechselt, sie war zart und zäh, eine erfolgreiche Mischung. „Eine junge Frau“, erinnern sich Kollegen, „die sehr genau wußte, was sie wollte. Und wie sie es kriegt.“ Sie habe, so sagt sie selbst, das sehr aufregend gefunden, zu wissen, „wer mit wem kann, wer mit wem streitet, wer Absprachen trifft“. Dabeisein. Das Gefühl haben: Ich weiß etwas, das ihr nicht wißt. „Das Schreiben war mir nie so wichtig. Das Bescheidwissen schon.“ Damals bereits, in der Bonner Kneipe „Provinz“, hat sie den SPD-Politiker Gerhard Schröder ein paarmal gesehen. Aber in ihn verguckt hat sie sich nicht. * Links: mit Wolfgang Lippert; rechts: beim Damenprogramm des Kölner Gipfels im Juni. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Schwarzer im „Stern“, „daß Sie gerade jetzt Hausfrau geworden sind. Damit hatte ich schlicht nicht gerechnet“. Schröder-Köpf weiß, daß es nicht gut ist, als harsche Feministin zu erscheinen, aber ein Muttchen am Herd, das weiß sie ebenfalls, ist auch nicht mehr sehr beliebt. Sie kennt das Spiel. Sie sagt das, was nach beiden Richtungen nicht gefährlich werden kann: „Ich habe so lange gearbeitet. Ich habe mir von Männern keine Vorschriften machen lassen und denke nicht daran, mir jetzt von Frauen welche machen zu lassen. Niemals.“ Ein selbstbestimmtes Leben – kann es das wirklich geben für jemanden in ihrem Job? Die Diplompsychologin Claudia Kossendey, die mit dem CDU-Mann Thomas Kossendey verheiratet ist, hat zum Thema geforscht und sagt: „In der Öffentlichkeit muß die Ehefrau ihre Identität aufgeben, da sie sonst Konflikte heraufbeschwört.“ Die Macht, sagt die FDP-Politikerin und Paartherapeutin Ursel Bucher, sei bei solchen Paaren immer „ungleich verteilt“. Wie soll das funktionieren, daß sie, die arg57 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland 60 SPD „Die Basis ist verunsichert“ Der Chef der SPD-Grundwertekommission und Partei-Vize Wolfgang Thierse über Oskar Lafontaine, das Schröder-Blair-Papier und die Reform der Partei Sozialdemokrat Thierse „Schmerzhafte Diskussionen“ SPIEGEL: Herr Thierse, ist es für Sie aus- ben. Das heißt nicht, daß die Partei so bleiben kann, wie sie war. Wir sind nach 16 quälenden Jahren endlich Regierungspartei geworden. Und nun müssen wir unsere programmatischen Grundsätze stärker als je zuvor an der Praxis messen lassen. SPIEGEL: Die Partei mußte schon einiges schlucken: einen Kriegseinsatz und ein Sparprogramm. Gefährdet das die Identität der SPD? Thierse: Beides führt zu schmerzhaften, intensiven Diskussionen. Die Parteibasis ist natürlich verunsichert. Ich will nicht bestreiten: Regierung und Parteiführung haben Probleme, diese radikalen Veränderungen zu vermitteln, weil sie unter großem Handlungsdruck stehen. Wir brauchen deshalb dringend eine breite Debatte. SPIEGEL: Wie wollen Sie die organisieren? Thierse: Früher hat man in Kommissionen und mit Papieren eine Partei bewegt. Das ist heute anders. Der politische Kommunikationsprozeß ist viel mehr durch die Medien bestimmt, was nicht alles leichter macht. Die Mitglieder- und Programmpartei SPD tut sich mit dieser neuen Wirk- gleichende Gerechtigkeit, daß nach Oskar Lafontaine nun Bodo Hombach das Kabinett verlassen muß? Thierse: Für Triumphgefühle gibt es keinen Anlaß. Aber bei aller Wertschätzung für Bodo Hombach muß ich schon sagen: Das Ausscheiden eines Vorsitzenden vom Format Lafontaines ist ein größerer Verlust. SPIEGEL: Hat die SPD den Rückzug Lafontaines schon verkraftet? Thierse: Der Abschied ist ein großer Verlust. Aber die Partei ist nicht verwaist. Sie diskutiert, sie streitet und wird auch unter dem neuen Vorsitzenden nicht zum reinen Kanzlerwahlverein verkommen. SPIEGEL: Was ist mit Lafontaine verlorengegangen? Thierse: Ein brillanter Redner, der Kopf und Herzen von Menschen gleichermaßen ansprechen konnte. Er verkörperte die sozialdemokratische Gefühlslage aus Parteilichkeit und WerteIdentität. Es gibt niemanden, der das so konnte wie er. SPIEGEL: Wird die SPD auch unter Gerhard Schröder eine linke Volkspartei bleiben? Thierse: Es gibt ja schon eine rechte Volkspartei. Aber im Ernst: Die Grundorientierung der Partei hat sich durch den Wechsel an ihrer Spitze nicht geändert. Auch die SPD unter Gerhard Schröder muß eine Partei der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität sein. Die Leidenschaft für Gerechtigkeit muß als Kern unserer sozialdemokratischen Identität erkennbar blei- „Entzückend, Madam!“ d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 HAITZINGER M. DARCHINGER wöhnisch beobachtete Ehefrau Gerhard Schröders, ein Leben führt, in dem ihr keiner Vorschriften macht? Da gab es doch diese peinliche Geschichte mit dem „Milliyet“-Interview, als ein türkischer Reporter am Rand einer Veranstaltung mit der Kanzlerkandidaten-Ehefrau plauderte und daraus eine Stellungnahme zum Thema deutsch-türkischer Beziehungen bastelte: Doris Schröder-Köpf denke, hieß es da, „daß Deutschland bei der Entscheidung der EU in Luxemburg einen Fehler gemacht hat“. Danach habe sie einen Maulkorb bekommen, stand in den Blättern. Maulkorb? „Nein“, sagt sie, „aber nie! Das würde mein Mann nie tun! Auf die Art und Weise konnte noch nie jemand mit mir umgehen! Niemand aus dem ganzen Berater- und Mitarbeiterkreis würde so etwas tun!“ Richtig ist: Er ist nicht nötig, so ein Maulkorb; niemals würde sie mit Vorsatz abweichende Meinungen vertreten, womöglich gar als verkappte Grüne auftreten, so wie einst Hiltrud, ihre Vorgängerin. Sie stürmt nicht in Sitzungen, so wie Hillu damals, oder erteilt öffentlich Aufträge, „Gerd, da mußt du was machen.“ Die Sache mit „Milliyet“ war „ein Fehler“, daraus hat sie gelernt. Sie spielt ihre Rolle diskret, aber eifrig, und wird dafür mit Einfluß belohnt; wer öfter mit ihrem Ehemann zu tun hat, bekommt es mit. Nach Terminen ruft er Doris an, „und ich sag’ ihm, wie’s war“. Nach wichtigen Auftritten, großen Interviews beispielsweise, redet auch die Verwandtschaft und Bekanntschaft mit. Da kriegt er dann zu hören, ob man zufrieden war oder nicht. Das ist nicht die Art Politik, die sich Alice Schwarzer vorstellt, aber Politik ist es auf jeden Fall. Denn so etwas kann ausschlaggebend sein bei einem Staatsmann, der öffentliche Meinungen und Umfragen so wichtig nimmt wie dieser, der erste echte Medienkanzler der Republik. Ihr behagt diese Stellung hinter den Kulissen, wo sie halb Regisseurin, halb Souffleuse ist; was überwiegt, das soll nur sie selbst wissen, und natürlich ihr Ehemann. Sie mag diese Diskretion, deshalb wollen sie die Wohnung in Hannover behalten, wohin sie sich zurückziehen kann, wenn es zuviel wird im lauten, öffentlichen Berlin. Aber wenn man sie braucht, wird sie dasein. Verweigern wird sie sich nicht. So wie beim Unicef-Fest, an jenem verregneten Juni-Samstag, an dem der Prominentenpulk über die Straße schiebt und plötzlich schneller wird, die Walkie-talkies pfeifen, es geht zum VW-Zelt, und dann sind sie da. Doris Schröder-Köpf wird erwartet, muß sich jetzt freuen und voller Überraschung ihren Ehemann in die Arme schließen, vor den Fernsehkameras. Sie muß ihn küssen und lächeln, süß lächeln sie, alle beide, innig und strahlend, und die VolkswagenLeute strahlen auch. Bunte SPEED lichkeit schwer. Denn so mancher neue Gedanke erreichte die Mitglieder in den letzten Wochen über die Medien – geradezu überfallartig. SPIEGEL: Womit wir bei Gerhard Schröder wären. Halten Sie es für einen Nachteil, daß der Kanzler gleichzeitig Parteichef ist? Thierse: Natürlich ist das nicht leicht: Der Kanzler darf nicht den Eindruck erwecken, es müsse alles auf ihn stromlinienförmig zulaufen. Aber die Partei darf auch nicht so tun, als sei das Programm alles und der eigene Kanzler nichts. SPIEGEL: Welche Gefahr ist denn derzeit größer? Thierse: Es war schon für viele Mitglieder überraschend, als Schröder plötzlich mit Tony Blair ein Papier vorstellte. Das Papier enthält wichtige Anstöße, über die alle Mitglieder debattieren sollten. SPIEGEL: Wie viele solcher Überraschungen verkraftet die Partei? Thierse: Die SPD hat ein ganz eigenes Innenleben. Sie lebt davon, daß die Mitglieder ein Grundvertrauen darin haben, daß ihre politischen Akteure dieselben Werte vertreten, für die die Gesamtpartei einsteht. Ich warne ausdrücklich davor, damit leichtfertig umzugehen. Wer neue Ideen vertritt, ist beweispflichtig, daß sie mit den Grundwerten der Partei übereinstimmen. SPIEGEL: Ist der Beweis im Blair-SchröderPapier erbracht? Thierse: Eine Schwäche des Papiers besteht darin, daß es die sozialen und ökonomischen Verhältnisse zuwenig analysiert. Es spricht nur wenige der politischen Handlungsfelder an. Insofern ist es von relativer Allgemeinheit. SPIEGEL: Was hält der Chef der Grundwertekommission von den Begriffen „neue Mitte“ und „Dritter Weg“? Thierse: Richtig daran ist, daß unsere Gesellschaft sich dramatisch verändert. Die traditionellen Bindungen an soziale Klassen existieren heute doch nicht mehr. Sowohl das klassisch sozialdemokratische wie das klassisch katholische Milieu sind in Auflösung. Unsere Vorstellung von Grerechtigkeit hat sich verändert. Wir meinen damit heute nicht nur einfach Verteilung, sondern auch die Gerechtigkeit zwischen den Generationen und Chancengleichheit. Auch die Fähigkeit zur Selbstverantwortung hat in unserer Gesellschaft erheblich zugenommen. SPIEGEL: Woran sollte die SPD allem Wandel zum Trotz festhalten? Thierse: Vor allem an der Einsicht, daß es auch in dieser neuen Wirklichkeit ökonomisch starke und schwache Menschen gibt. Um die ökonomisch Starken muß die Politik sich nicht so sehr kümmern. Die kümmern sich schon um sich selbst. Es gilt nach wie vor: Nur die Starken können sich einen schwachen Staat leisten. Die Schwachen brauchen einen Staat, der für innere Sicherheit und soziale Gerechtigkeit sorgt. SPIEGEL: Das klingt sehr traditionell. SPD-Politiker Hombach, Lafontaine, Schröder*: „Ganz eigenes Innenleben“ Thierse: Das stört mich nicht. Aber ich füge hinzu: Staatsverschuldung ist kein linkes Projekt. Die 1,5 Billionen Mark Schulden des Bundes sind ein Ergebnis von 16 Jahren konservativer Politik in Deutschland. Links sein heißt in dieser Situation: Der Staat muß Handlungsfreiheit gewinnen, um den sozialen Ausgleich weiter finanzieren zu können. SPIEGEL: Heißt Schröders Motto nicht ganz simpel: „Mehr Kapitalismus wagen“? Thierse: Es darf nicht der Eindruck entstehen, wir wollen einfach der Wirtschaft Gefallen tun. Ich bin deshalb dagegen zu sagen, wir brauchen einen wirtschaftsfreundlichen Kurs und erfüllen den Unternehmern jeden Wunsch. Ich sage lieber: Wir brauchen einen wirtschaftsverträglichen Kurs. Wenn wir das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft neu diskutieren, dann natürlich auch das zwischen Staat und Wirtschaft, Politik und Markt. Das ist ein notwendiger Diskussionsprozeß. SPIEGEL: An dessen Ende ein neues Parteiprogramm stehen wird? Thierse: Das gültige Programm hatte natürlich Pech. Es ist nach langen Debatten 1989 verabschiedet worden. Es konnte den Umbruch in der DDR und die Folgen nicht thematisieren. Wir brauchen jetzt eine intensive Programmdebatte, vor allem zu einer neuen Frage: Was muß Sache des Staates bleiben, was ist Aufgabe der zivilgesellschaftlichen Gruppen, und was gehört sinnvollerweise in die individuelle Verantwortung? In den nächsten zwei, drei Jahren sollte ein neues Programm entwickelt werden, das sowohl die Erfahrungen der Vereinigung der deutschen Staaten als auch die der Regierungsverantwortung einbezieht. * Auf dem Leipziger SPD-Parteitag 1998. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 SPIEGEL: Wird es in Zukunft noch eine sozialdemokratische Kapitalismuskritik geben? Thierse: Nur weil der sogenannte Realsozialismus sich nicht als Alternative erwiesen hat, ist der real existierende Kapitalismus doch nicht das Ende der Geschichte. Es bleibt bei der Grundüberzeugung, an die man vielleicht manchmal auch Mitstreiter in der eigenen Partei erinnern muß: Der Markt ist weder sozial gerecht noch ökologisch vernünftig. Solange es die massenhafte Erfahrung von Ungerechtigkeit gibt, solange Menschen aufgrund wirtschaftlicher Zwänge in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, muß es Aufgabe sozialdemokratischer Politik bleiben, diesen Menschen ein Leben in Freiheit und Würde zu ermöglichen. SPIEGEL: Sehen Sie nicht die Gefahr, daß die SPD auf dem Weg zur Mitte der PDS linke Themenfelder überläßt? Die plakatiert schon jetzt den Lafontaine-Satz: „Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt.“ Thierse: Ja, und sie plakatiert „Europa schaffen ohne Waffen“. Daran, daß die PDS geistigen Diebstahl begeht, habe ich mich inzwischen gewöhnt. Unsere Antwort auf die PDS heißt: Das Herzstück unserer Politik muß die soziale Gerechtigkeit bleiben. An jedem Projekt, das wir voranbringen, müssen wir das den Menschen durchbuchstabieren können. Diese Anstrengung nimmt uns keiner ab. SPIEGEL: Keine Konkurrenz von links für die SPD? Thierse: Links und Populismus sind zweierlei. Linke muten der Bevölkerung die Wahrheit zu. Gerade das tut die PDS nicht. Die PDS kommt ständig mit schmerzlindernden Mitteln. Wenn das links ist, dann war auch Helmut Kohl ein Linker. Interview: Stefan berg, Horand Knaup 61 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTOS: D. SCHMID / BILDERBERG (li. o.); ULLSTEIN BILDERDIENST (li. u.); GAMMA / STUDIO X (re. o.); C. SHIRLEY (re. u.) IX. DAS JAHRHUNDERT DES KAPITALISMUS: 1. Der große Aufschwung (24/1999); 2. Die Globalisierung (25/1999); 3. Die moderne Fabrik (26/1999); 4. Aufstieg und Krise des Sozialstaats (27/1999); 5. Modell Japan (28/1999) Senioren auf Mallorca; Ultraschalluntersuchung der Brust; Wirtschaftsreformer Erhard (1957); Sozialamt in Wilhelmshaven (1994) Das Jahrhundert des Kapitalismus Aufstieg und Krise des Sozialstaats Hohe Arbeitslosigkeit und eine ungünstige Altersstruktur reißen immer neue Löcher in die Sozialbudgets. Ist das über hundert Jahre alte deutsche Sozialversicherungssystem, das einst auch andere Industriestaaten übernahmen, noch lebensfähig? d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 65 Das Jahrhundert des Kapitalismus: Aufstieg und Krise des Sozialstaats Der soziale Staat Spiegel des 20. Jahrhunderts Von Iring Fetscher Neben diesem machtpolitischen Kalkül trieb den erzkonservativen Kanzler durchaus auch ein christlich-moralisches Motiv zu seiner Sozialreform. Die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiter in den meisten Industriebetrieben jener Zeit hatte so viele Lohnabhängige und deren Familien in Not gebracht, daß Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter oder traditionelle Armenfürsorge längst nicht mehr reichten, dem Massenelend zu begegnen. Es sei „eine Pflicht der Humanität und des Christentums“, so die Begründung der Gesetzesvorlage zur obligatorischen Unfallversicherung, „daß der Staat sich in höherem Maße als bisher seiner hilfsbedürftigen Mitglieder annehmen muß“. Der Vorwurf aus inArbeitsvermittlung (um 1930): Mit Hilfe von Notverordnungen die Sozialausgaben gekürzt dustriellen und liberalen ie Eingangsformel der „Kaiserli- der sozialen Schäden nicht ausschließlich Kreisen, daß er mit seiner Zwangsversichen Botschaft“, die Reichskanzler im Wege der Repression sozialdemokrati- cherung in Richtung Sozialismus oder gar Otto von Bismarck am 17. Novem- scher Ausschreitungen, sondern gleich- Kommunismus gehe, schreckte Bismarck ber 1881 vor dem Reichstag in Berlin ver- mäßig auf dem der positiven Förderung nicht. Im Gegenteil: Er akzeptierte diesen las, war so altertümlich und verschroben des Wohles der Arbeiter zu suchen sein „staatssozialistischen“ Schritt als unumgänglich. „Der Staatssozialismus paukt sich wie eh und je: „Wir, Wilhelm von Gottes werde“. Die Peitsche der Repression, der Unter- durch“, vertraute er Parteigängern an, „jeGnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc., thun kund und fügen hiermit drückung sozialdemokratischer Kräfte, hat- der, der diesen Gedanken aufnimmt, wird te Bismarck schon seit 1878 mit seinem ans Ruder kommen.“ zu wissen …“ Die drei Sozialversicherungsgesetze, die Aber dann mahnte Wilhelm I. auf Be- „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Betreiben seines Regierungschefs ein Re- strebungen der Sozialdemokratie“, dem in den Jahren 1883 (Krankenversicherung), formwerk an, das für die damalige Zeit des berüchtigten Sozialistengesetz, eingesetzt. 1884 (Unfallversicherung) und 1889 (Alnoch weitgehend ungebändigten Kapita- Nun wollte er die Arbeiter mit dem Zucker- ters- und Invaliditätsversicherung) gegen zunächst heftigen Widerstand starlismus geradezu revolutionär war. Um das brot sozialer Sicherung ruhigstellen. Ein vom Staat gefördertes Versiche- ker Fraktionen vom Reichstag angenomLos kranker, alter und dauerhaft arbeitsunfähiger Arbeiter zu bessern, sollten ge- rungssystem ermögliche es, so Bismarcks men wurden, waren damals einzigartig in setzlich geregelte Pflichtversicherungen Credo, „in der großen Masse der Besitzlo- der Welt. In anderen Industrieländern sollte es eingeführt werden, deren Leistungen von sen die konservative Gesinnung zu erzeuden Arbeitgebern, den Arbeitern und dem gen, welche das Gefühl der Pensionsbe- noch Jahrzehnte dauern, bis ähnliche Sorechtigung mit sich bringt“. Schlichter aus- zialversicherungen geschaffen wurden. In Staat zu finanzieren seien. Er sei überzeugt, ließ der Monarch die gedrückt: Ein Arbeiter mit Rentenanspruch den USA gelang es sogar in manchen Bereichen wie der Krankenversicherung bis Parlamentarier wissen, „daß die Heilung taugt nicht mehr zum Revoluzzer. D „Die Arbeiterversicherungsgesetzgebung ist die große unsterbliche soziale Tat seines Lebens. Sie wäre ohne seine Überzeugung und ohne seine Tatkraft nicht vorhanden.“ Nationalökonom Gustav von Schmoller über Bismarcks Sozialreform, 1899 66 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 „Eine Pflicht der Humanität“ heute nicht, einen ähnlichen Schutzzaun zu errichten. Während Bismarcks prachtvoll-protziges Reich von 1871 schon wenige Jahrzehnte später unterging, überstand das zu seiner Zeit geschaffene Sozialversicherungssystem alle Kriege, Umwälzungen und Krisen des 20. Jahrhunderts. Seine Grundstrukturen sind bis heute im wesentlichen gleichgeblieben. Ortskrankenkassen und Berufsgenossenschaften zählen zu den wenigen Institutionen aus der Bismarck-Ära, die das nun zu Ende gehende Jahrhundert überdauert haben. Dennoch steht nach über hundert Jahren Sozialpolitik in Deutschland das traditionelle Sicherungssystem stärker unter Beschuß als je zuvor. Die Rentenversicherung werde, warnen viele Kritiker, in den nächsten Jahrzehnten zusammenbrechen, die Krankenversicherung sei schon jetzt allzu teuer, die Sozialhilfe zu einem unüberschaubaren Wust von Einzelleistungen ausgeufert. Was ist zu tun? Wegen hoher Arbeitslosigkeit, steigender Lebenserwartung, sinkender Geburtenraten und überzogener Ansprüche der Leistungsempfänger seien die überkommenen Sozialversicherungsund Sozialhilfesysteme stark reparaturbedürftig, meinen die einen. Das Herumbasteln an den alten Strukturen genüge nicht mehr, es müsse ein völlig neues, modernes Netz der sozialen Sicherung gespannt werden, behaupten die anderen. Grundrente, Kapitaldeckungsstatt Umlageverfahren, Bürgergeld oder Negativsteuer sind einige der Schlagworte in der Reformdiskussion. * Gemälde Anton von Werners (1888). internationale Arbeiterschutzkonferenz einzuberufen. Natürlich bekam der forsche junge Kaiser seinen Willen: Die Konferenz fand Mitte März 1890 in Berlin statt. Bismarck dagegen mußte sich im Sachsenwald zur Ruhe setzen. Im Mai 1891 wurde dann eine Novelle zur Gewerbeordnung angenommen, die den gesetzlichen Rahmen für den Arbeiterschutz in den nächsten Jahrzehnten schuf: Verbot von Sonntagsarbeit (mit vielen Ausnahmen) und Begrenzung der Arbeitszeit von Kindern, Jugendlichen und Arbeiterinnen sowie zahlreiche Vorschriften zum Schutz von Leben und Gesundheit der Beschäftigten. Für die rasch zunehmende Zahl der „Privatbeamten“, der Angestellten in der Privatwirtschaft, wurde 1911 ebenfalls eine Rentenversicherung eingeführt. Obgleich ihre Tätigkeit wohl kaum aufreibender als die der Arbeiter war, konnten Angestellte schon vom 65. Lebensjahr an Rente beziehen, Arbeiter dagegen erst mit 70. Auch bei den im selben Jahr eingeführten Renten für die Hinterbliebenen war die Angestelltenversicherung großzügiger als die der Arbeiter. Witwen von Arbeitern erhielten nur dann eine Rente, wenn sie selbst erwerbsunfähig waren, AngestelltenWitwen dagegen in jedem Fall. Im Ersten Weltkrieg, als der Kaiser „keine Parteien mehr“, sondern „nur noch Deutsche“ kennen wollte, war jeder soziale Konfliktstoff unerwünscht. Im Interesse einer geschlossenen „Heimatfront“ wurde 1916 das Rentenalter der Arbeiter an das der Angestellten angepaßt. Während der Krisenjahre nach dem Ersten Weltkrieg geriet das gesamte Sozialversicherungssystem in Gefahr. Weil die aberwitzige Inflation das Deckungskapital SÜDD. VERLAG AKG Sozialreformer Bismarck* Vor allem dem traditionellen System der sozialen Alterssicherung geben viele Sozialpolitiker und -wissenschaftler aufgrund der ungünstigen demographischen Entwicklung – aus der Alterspyramide ist ein Gebilde mit schwachem Unter- und starkem Oberbau geworden – keine Chance mehr. Das alte System werde kein weiteres Jahrhundert überstehen. Sozialreformer Bismarck selbst hielt schon bald nicht mehr viel von seinem Pionierprogramm. Denn das unmittelbar angestrebte Ziel, die Sozialdemokraten, diesen Haufen „raub- und mordsüchtiger Feinde“ der bürgerlichen Gesellschaft, zurückzudrängen, verfehlte er mit seiner Sozialpolitik total. Die Sozialdemokraten wurden stärker und stärker, so daß der pensionierte Kanzler im Sommer 1897, etwa ein Jahr vor seinem Tod, düster sagte: „Die soziale Frage hätte einst durch Polizeimittel gelöst werden können, jetzt wird man militärische anwenden müssen.“ Störrisch widersetzte sich Bismarck in seinen letzten Amtsjahren allen Versuchen, über die Arbeiterversicherung hinaus auch für den vorbeugenden gesundheitlichen Schutz der Werktätigen am Arbeitsplatz zu sorgen. Durch solche Regulierungen werde, so begründete der Papier- und Sägemühlenbesitzer seine Abneigung gegen Arbeiterschutzbestimmungen, die deutsche Industrie ihre internationale Konkurrenzfähigkeit verlieren. So oder ähnlich wird auch heute noch in Debatten um den Wettbewerbsstandort Deutschland argumentiert. Selbst als der 1888 auf den Thron gekommene Wilhelm II. sich mit Arbeitsschutzmaßnahmen profilieren wollte, blieb der alte Kanzler stur. Nur mühsam kaschierte er, daß er nichts, aber auch gar nichts von der Idee des Neulings hielt, eine Asyl für obdachlose Frauen in Berlin (um 1908): Mit Armenfürsorge gegen das Massenelend d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 67 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SÜDD. VERLAG der Rentenversicherungen entwertete, mußten immer mehr Rentner vom staatlichen Fürsorgenetz aufgefangen werden. Nachdem die Währungskrise durch Einführung der „Rentenmark“ überwunden war, wurde das traditionelle Sozialsystem wiederaufgebaut. Während die Renten für Arbeiter seit Bismarcks Zeiten so karg bemessen waren, daß die Berechtigten im Alter hinzuverdienen mußten, sollten die Rentenzahlungen fortan als alleinige Einkommensquelle für den Lebensunterhalt im Alter reichen. Die Unfallversicherung erkannte Berufskrankheiten sowie Aufwendungen zur Rehabilitation und Umschulung zwecks Wiedergewinnung der Erwerbsfähigkeit an. Die bedeutendste Neuerung aber war die 1927 eingeführte Arbeitslosenversicherung, die an die Stelle der bis dahin geltenden Erwerbslosenfürsorge rückte. Sie war die einzige der großen Sozialversicherungen, bei der Deutschland nicht Pionier gewesen war. Schon 1911 war in Großbritannien eine Pflichtversicherung installiert worden, die das Risiko des Arbeitsplatzverlustes abdecken sollte. Die von Arbeitgebern und -nehmern paritätisch finanzierte Arbeitslosenversicherung gab jedem Versicherten, der seinen Arbeitsplatz verlor, einen Rechtsanspruch auf Arbeitslosengeld. War der Empfänger des Geldes nach einem halben Jahr noch immer arbeitslos, stand ihm jedoch lediglich eine „Krisenunterstützung“ zu. Nach einer Berechnung des Sozialwissenschaftlers Stephan Leibfried hätte die neue Versicherung mit einiger Mühe 800 000 Arbeitslose laufend und weitere 600 000 vorübergehend unterhalten können. Den Belastungen durch die 1929 her- NS-Institution Winterhilfswerk*: Mit sozialen Einrichtungen wollten die Nazis … einbrechende Weltwirtschaftskrise mit ihrem Heer von Arbeitslosen (1932 in Deutschland über sechs Millionen) aber konnte sie nicht standhalten. Mit Hilfe von Notverordnungen strichen von 1930 an die Präsidialregierungen unter den Reichskanzlern Brüning, von Papen und von Schleicher die Sozialausgaben drastisch zusammen und verschärften so noch die Krise. Im Juni 1932 beispielsweise wurde die Arbeitslosenunterstützung ange* Ausgabe von Kartoffeln an Bedürftige in Berlin 1935. sichts leerer Sozial- und Staatskassen um etwa ein Viertel gekürzt. Die Arbeitsministerien jener Zeit ließen zwar Pläne zur Arbeitsbeschaffung in Straßen- und Siedlungsbau ausarbeiten, aber die Notverordnungsregierungen trauten sich wegen der desolaten Haushaltslage nicht, diese in großem Stil in die Tat umzusetzen. Die Nationalsozialisten setzten sich über solche Skrupel hinweg. Mit Hilfe von Finanzierungstricks realisierten sie zahlreiche Arbeitsbeschaffungsprojekte und Bismarcks Erbe Auf- und Umbau des Sozialstaats 1881 „Kaiserliche Botschaft“ zur geplanten Sozialgesetzgebung Bismarcks 1883 Soziale Krankenversicherung für Arbeiter 1884 Gesetzliche Unfallversicherung für Arbeiter 1889 Alters- und Invaliditätsversicherung für Arbeiter 1911 Alters- und Invaliditätsversicherung für Angestellte; Arbeitslosenversicherung in Großbritannien 1913 Volksversicherung für Alter und Invalidität in Schweden Arbeitslose am Stempelschalter um 1930 70 1949 Verankerung des Sozial1916 Herabsetzung des Rentenalters für Arbeiter auf das der Ange- staatsprinzips im Grundgesetz. Artikel 20: „Die Bundesrepublik stellten (von 70 auf 65 Jahre) Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ 1927 Arbeitslosenversicherung und staatliche Arbeitsvermittlung 1957 „Dynamisierung“ der Renten: Anpassung an die Ent1930 bis 1933 Kürzungen der wicklung der Bruttolöhne. RenArbeitslosengelder und Renten tenversicherung für Landwirte in der Weltwirtschaftskrise 1961 Bundessozialhilfegesetz gibt allen Bedürftigen einen 1935 Social Security Act in Rechtsanspruch auf staatliche den USA: Grundsicherung für Hilfe Alte, Invaliden und Arbeitslose 1938 Ausdehnung der Rentenversicherung auf selbständige Handwerker und Einzelhändler 1972 Einführung der flexiblen Altersgrenze; Öffnung der Rentenversicherung für alle Selbständigen 1946 Schaffung eines umfassenden Systems sozialer Sicherung in Großbritannien nach dem Beveridge-Plan 1977 Erster Versuch, den Anstieg der Ausgaben für das Gesundheitswesen zu bremsen („Kostendämpfungsgesetz“) d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 P/ F/ H Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kapitalismus: Aufstieg und Krise des Sozialstaats Ambulante Pflege 1992 Renten werden den Nettolöhnen angepaßt 1994 Gesetz zur Pflegeversicherung 1996 Die Altersgrenze für den Renteneintritt wird angehoben 1997 In die Rentenformel wird ein demographischer Faktor eingebaut (wirksam ab 1999) 1998 Die Regierung Schröder streicht den zur Entlastung der Rentenversicherung vorgesehenen demographischen Faktor 1999 Die Regierung will die Renten zwei Jahre lang nur im Rahmen der Inflationsrate anpassen ließen massiv aufrüsten. Die Zahl der Arbeitslosen sank in nur fünf Jahren von 6 Millionen auf 470 000. Damit füllten sich auch wieder die Kassen der Sozialversicherungen, zumal die von den früheren Regierungen vorgenommenen Leistungskürzungen zunächst beibehalten wurden. Die Einnahmenüberschüsse wurden zum Teil zur Finanzierung der Rüstung zweckentfremdet. Trotz solcher Willkürakte ließen die Nazis das in verschiedene Bereiche gegliederte Sozialversicherungssystem im großen und ganzen unangetastet. Aus den Plänen, das Versicherungs- durch ein Versorgungssystem zu ersetzen, wurde nichts. gen, vergleichbar nur jenem am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Für 14 Millionen westdeutsche Haushalte standen nur noch 8 Millionen Wohnungen zur Verfügung, Obdachlosigkeit war ein Massenphänomen. Die Beibehaltung von Lebensmittelkarten und die kümmerlichen Rentenzahlungen reichten nicht aus, um extreme Notlagen bis hin zum Hungertod zu verhindern. Hilfsleistungen des Auslands wie amerikanische Carepakete sowie der Tauschhandel zwischen hungernden Stadtbewohnern und den Bauern waren weit wichtiger im Überlebenskampf als Zahlungen der Sozialversicherungen, die auf lokaler Ebene weiterliefen. … die Volksgemeinschaft festigen: NS-Institution Volkswohlfahrt* Zunächst legte die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation den Plan zu einer einheitlichen Staatsbürgerversorgung auf der Basis des Fürsorgeprinzips vor. Später dann, schon im Krieg, wollte die Deutsche Arbeitsfront ein umfassendes steuerfinanziertes „Altersversorgungswerk des Deutschen Volkes“ einführen. Aber beide Projekte kamen – nicht zuletzt, weil der Zentrumspartei nahestehende Beamte des Arbeitsministeriums Widerstand leisteten – über das Planungsstadium nicht hinaus. Dafür bauten die Nazis das überkommene Sozialversicherungssystem noch aus. 1938 wurden die selbständigen Handwerker in die Angestelltenversicherung übernommen, 1939 die Bauern und Bäuerinnen in die Unfallversicherung, 1941 die Rentner in die Krankenversicherung. Mit sozialen Einrichtungen wie der „N. S. Volkswohlfahrt“ oder dem „Winterhilfswerk“ versuchte die NaziFührung zudem, die „Volksgemeinschaft“ zu festigen. Es war ein entsetzliches Erbe, das Hitler und seine Schergen den Sozialpolitikern der Nachkriegszeit hinterließen: Millionen von Witwen, Waisen, Vertriebenen, dauerhaft Behinderten und seelisch Geschädigten waren auf Hilfe angewiesen. Und es war ein riesiges Trümmerfeld zu beseiti- Der rasche Wirtschaftsaufschwung der fünfziger Jahre machte schon bald einen großzügigen Ausbau des Sozialstaats möglich. Gesetze zum Kriegsfolgen-Lastenausgleich und zu den Schwerbeschädigtenrenten sollten die Nöte jener mildern, die besonders stark unter den Nachwirkungen des Kriegs litten. Mutterschutz- und Kindergeld-Gesetze sollten Familien mit Kindern unterstützen. Um den Strukturwandel auf dem Agrarsektor zu erleichtern, wurde 1957 eine Rentenversicherung für Landwirte geschaffen. Bauern, die ihren Betrieb aufgaben, waren fortan rentenberechtigt, auch wenn sie nur über einen kurzen Zeitraum Versicherungsbeiträge gezahlt hatten. Das Bundessozialhilfegesetz von 1961 sorgte dafür, daß Bedürftige, die nichts oder zu wenig aus den Sozialversicherungskassen erhielten, über einen Rechtsanspruch auf staatliche Beihilfen zur Sicherung des Existenzminimums verfügten. Das bedeutendste sozialpolitische Reformwerk der Nachkriegszeit aber war zweifellos die 1957 eingeführte Dynamisierung der Renten – die leicht verzögerte automatische Anpassung der Renten an die Entwicklung der Löhne. Damit sollte den * Verteilung von Kinderwagen an Mütter von Zwillingen in einer Wiener Kinderkrippe 1938. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Rentnern ein Anstieg des Lebensstandards gesichert werden, der in etwa dem Tempo gleichkam, mit dem der Wohlstand der Erwerbsbevölkerung wuchs. Weltweit wurde die „soziale Marktwirtschaft“ – jenes von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard propagierte wirtschaftspolitische Konzept eines Kapitalismus, der durch staatliche Korrekturen eine soziale Komponente erhält – als gelungene Mixtur von ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit bewundert. „Wohlstand für alle“ versprach Erhard 1957 in einem Buch, das zum Bestseller wurde. Die von Kanzler Konrad Adenauer mit Hilfe des Arbeitnehmerflügels der Union und der Sozialdemokraten durchgesetzte „dynamische Rente“ aber war dem damaligen Wirtschaftsminister allzu sozial. Er befürchtete, daß ein System mit Anpassungsautomatik das Wirtschaftswachstum schmälern werde, und warnte vor dem „Gift der Dynamisierung“. Noch aber waren die Kassen voll, als die Sozial-Liberalen unter Willy Brandt mit ihrer Rentenreform von 1972 den Ausbau der sozialen Sicherung weiter vorantrieben. Die Einführung einer flexiblen Altersgrenze gab den Versicherten die Möglichkeit, den Eintritt ins Rentenalter um ein paar Jahre vorzuverlegen. Die Anpassung der Renten an die Einkommen wurde beschleunigt, die Altersversicherung für Hausfrauen, Behinderte und Studenten geöffnet. Auch die meisten anderen europäischen Industrieländer bauten die gesetzlich geregelten Sicherungssysteme nach dem Zweiten Weltkrieg so energisch aus, daß diese Länder zunehmend als Sozial- oder Wohlfahrtsstaaten bezeichnet wurden – als Staaten, die eine ihrer Hauptaufgaben darin sehen, die materielle Existenz ihrer Bürger umfassend zu sichern. Einen großen Schritt in Richtung Wohlfahrtsstaat hatten schon 1946 die Briten getan. Nach Plänen des Ökonomen William Henry Beveridge führte die damalige Labour-Regierung unter Clement Attlee eine Volksversicherung (mit Befreiungsmöglichkeiten für bestimmte Gruppen) und einen nationalen Gesundheitsdienst ein. Als Architekten eines möglichst perfekten Versorgungsstaats taten sich vor allem die Skandinavier hervor. Nach der Maxime, daß in einer wohlhabenden Gesellschaft jeder Bürger ein Recht auf Grundsicherung habe, entschieden sie sich für eine steuerfinanzierte Einheitsversicherung. Die Grenzen eines Sozialstaats, der von ständigem Wirtschaftswachstum abhängt, wurden indes schon wenige Jahre nach der sozial-liberalen Rentenreform von 1972 71 sichtbar. Als die Bundesrepublik nach der Ölpreisexplosion von 1973/74 wie alle anderen Ölimportländer in eine schwere Krise geriet, waren erstmals nach dem Krieg sozialpolitische Korrekturen erforderlich, die zu gedrosselten Leistungen führten. So wurde die Anpassung der Renten an die Löhne wieder verzögert, Leistungssätze wurden gekürzt und Mittel der Bundesanstalt für Arbeit zur Entlastung der Rentenversicherungen herangezogen. Mit wachsender Arbeitslosigkeit, steigender Zahl der Rentner, verlängerten Ausbildungszeiten und stark anschwellenden Kosten des Gesundheitssystems nahmen die Finanzprobleme des Sozialstaats in den achtziger und neunziger Jahren fast ständig zu. Vor allem die Einbeziehung der ehemaligen DDR-Bürger ins bundesdeutsche System der sozialen Sicherung bürdete den Beitragszahlern Lasten auf, die eigentlich von der Gesamtbevölkerung, also den Steuerzahlern, hätten getragen werden müssen. Trotz zunehmender Kritik am traditionellen System gegliederter Übergabe eines Carepakets*: Hilfe zum Überleben Sozialversicherungen errichtete die Regierung Kohl 1994 neben der Renten-, ten. Mit verschiedenen „KostendämpKranken-, Unfall- und Arbeitslosenversi- fungsgesetzen“ versuchten die Gesundcherung noch eine „fünfte Säule der So- heitsminister seit den späten siebziger Jahzialversicherung“: die Pflegeversicherung. ren zu verhindern, daß die Ausgaben im Diese Institution soll der Entwicklung Rech- Gesundheitswesen viel schneller als die nung tragen, daß immer mehr Menschen Durchschnittseinkommen steigen und so sehr alt und damit oft auch pflegebedürftig ein immer größerer Teil des Volkswohlwerden. Da private Vorsorge allein meist stands für Ärzte, Krankenhäuser, Medikanicht reicht, um genügend Rücklagen für mente oder Kuren abgezweigt wird. Sehr viel Erfolg hatten diese Bemühuneine teure Pflege über einen längeren Zeitraum hinweg tragen zu können, soll die gen nicht. Von 1970 bis 1990 stieg das Brutneue Versicherung verhindern, daß Pflege- tosozialprodukt in Deutschland um das 2,6bedürftige total verarmen und auf Sozial- fache. Der Aufwand für das Gesundheitshilfe angewiesen sind oder daß ihre An- wesen nahm im gleichen Zeitraum um das fünffache zu. Von 150 Milliarden Mark im gehörigen überbeansprucht werden. In seinen langfristigen Auswirkungen Jahr 1990 schnellten die Gesamtausgaben kann das Gesetz zur Pflegeversicherung der gesetzlichen Krankenkassen bis 1996 noch nicht beurteilt werden. Einstweilen auf 250 Milliarden Mark empor. Der Anteil sammeln sich in der hierfür eingerichteten dieser Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt Kasse Gelder an, weil die Einnahmen der- kletterte von 6,2 auf 7,1 Prozent – eine im zeit noch höher als die in Anspruch ge- internationalen Vergleich allerdings noch nicht sonderlich hohe Quote. nommenen Mittel sind. Durchaus hinzunehmen ist natürlich, Im übrigen Sozialversicherungssystem dagegen taten sich in den vergangenen Jah- daß mit steigendem Wohlstand und zuren immer größere Finanzierungslücken nehmender Lebenserwartung der Bedarf auf, die durch Beitragserhöhungen, Leistungskürzungen oder Zuschüsse aus öf- * 1947 wird in Bremen das zweimillionste Carepaket fentlichen Mitteln gestopft werden muß- überreicht. an medizinischer Versorgung überproportional zunimmt. Aber ebenso unstrittig ist, daß der Anstieg der Ausgaben für das Gesundheitswesen durch einige strukturelle Eigenheiten dieses Systems allzu sehr beschleunigt wird. Niemand wird offen Einwände dagegen erheben, daß die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung bis zu einer bestimmten Grenze nach dem Arbeitseinkommen gestaffelt, die Leistungen aber prinzipiell für alle Versicherten gleich sind, daß also zwischen eigenem Versicherungsbeitrag und dem Umfang sowie der Qualität der in Anspruch genommenen Leistungen kein Zusammenhang besteht. Es ist ein erwünschter Solidareffekt, daß Besserverdienende einen größeren Teil des Gesundheitsbudgets finanzieren als Bezieher geringer Einkommen und daß Gesunde für Kranke mit einstehen. Da aber die steigende Inanspruchnahme von Leistungen sich nicht direkt auf den eigenen Finanzierungsbeitrag auswirkt, ist es kaum zu vermeiden, daß viele Versicherte versuchen, so viele Leistungen wie nur irgend möglich zu erhalten, darunter gewiß auch unnötige. Hinzu kommt das beinah gleichgerichtete Interesse der Ärzte an möglichst vielen Leistungen, die sie den Krankenkassen in Rechnung stellen können. Verstärkt wird dieser Trend noch durch die zunehmende Ausstattung der Arztpraxen mit teuren Apparaten, die sich nur bei genügend hoher Auslastung rentieren. So verschafften Kostendämpfungsmaßnahmen wie die Limitierung der Budgets für „Leistungskomplexe“ oder die Selbstbeteiligung beim Kauf von Arzneimitteln den Krankenkassen immer nur vorübergehend Luft. Der überaus starke Auftrieb der Kosten im Gesundheitswesen ist offenbar ohne wirklich einschneidende Reformen allenfalls für einige wenige Jahre auf ein erträgliches Maß zu drosseln. Solch eine einschneidende Änderung wäre beispielsweise die Honorierung der Ärzte pro Patient anstelle der Abrechnung jeder Einzelleistung. Es ist anzunehmen, daß die Ärzte dann vermehrt an schnellen, kostensparenden Heilerfolgen interessiert wären, um in einem bestimmten Zeitraum möglichst viele Patienten betreuen zu könDENA-BILD Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kapitalismus: Aufstieg und Krise des Sozialstaats „Mehr als zehn Jahre lang habe ich mich intensiv damit befaßt, den Sinn des Begriffs ,soziale Gerechtigkeit‘ herauszufinden. Der Versuch ist gescheitert.“ Ökonomie-Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek (1899 bis 1992) 72 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite benötigt, aus dem die Renten zu finanzieren sind, funktionierte es relativ rasch wieder reibungslos. Doch inzwischen prophezeien immer mehr Experten, daß der altbewährte „Generationenvertrag“ – die Jungen zahlen für die Alten, damit sie später als Alte von den dann Jungen unterstützt werden – im nächsten Jahrhundert nicht mehr zu halten ist. Schon heute ist gut jeder fünfte Einwohner Deutschlands mindestens 60 Jahre alt. In vier Jahrzehnten wird es jeder dritte sein (vorausgesetzt, daß es zu keiner starken Einwanderung junger Menschen kommt). Würde man trotz dieses Trends an der gegenwärtigen Relation zwischen der Lohnhöhe der Aktiven und dem Durchschnittseinkommen der Rentner festhalten, müßten in den nächsten 40 Jahren die Rentenbeiträge von heute 19,5 Prozent auf bis zu 30 Prozent der Bruttolöhne steigen – eine Last, die der arbeitenden Bevölkerung nicht zuzumuten ist. Umgekehrt ist den Rentnern nicht zuzumuten, daß allein sie die finanziellen Folgen steigender Lebenserwartung und niedriger Geburtenraten für die Rentenversicherung tragen sollten. Bei konstant gehaltenen Beitragssätzen müßte das Rentenniveau in den nächsten Jahrzehnten so gesenkt werden, daß viele Renten kaum den Satz der Sozialhilfe erreichen. Schon heute liegt etwa ein Drittel der Renten nur knapp über dem Sozialhilfepegel. Kurz vor ihrem Ende änderte die Regierung Kohl die Rentenanpassungsformel dennoch zu Lasten der Rentner – mit dem Argument, es müsse berücksichtigt werden, daß die nicht mehr Aktiven dank höherer Lebenserwartung immer länger Renten beziehen. Das Niveau der Renten in Relation zum Arbeitseinkommen sollte deshalb in den nächsten zwei Jahrzehnten um über sechs Prozentpunkte abgesenkt werden. Aber die neue rotgrüne Regierung nahm den demographi- P. FRISCHMUTH / ARGUS Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kapitalismus: Aufstieg und Krise des Sozialstaats Sozialwohnungssiedlung in Hamburg: „Bürgergeld“ soll die Sozialhilfe ersetzen nen. Die Konkurrenz unter den Ärzten müßte allerdings gewährleisten, daß Kranke trotz des Interesses der Mediziner an einem raschen Patientendurchsatz gründlich genug versorgt würden. Im alten China hatten die Ärzte ihr Honorar dafür bekommen, daß sie eine ihnen zugewiesene Zahl von Personen möglichst gesund erhielten. Alt-Chinas Mediziner bemühten sich daher vor allem, ihre Schützlinge über gesundheitsschädigende Lebensweisen sowie ungesunde Wohn- und Arbeitsbedingungen aufzuklären. Das klingt ideal. Aber selbst der fürsorglichste Arzt kann nicht verhindern, daß Menschen krank werden, und man wird einem Mediziner wohl kaum das Honorar in Zeiten kürzen wollen, in denen er, etwa aufgrund einer Epidemie, besonders viele Kranke zu kurieren hat. Dennoch muß erlaubt sein, an solch ein System zu erinnern. Vielleicht regt es ja Politiker an, über Möglichkeiten verstärkter Vorbeugung nachzudenken. Von einer Finanzierungskrise zur nächsten taumelte in den vergangenen Jahren auch das System der sozialen Alterssicherung. Und so gebetsmühlenhaft Regierungspolitiker immer wieder verkündeten, daß die Rente sicher sei, die Versicherten schenkten ihnen von Mal zu Mal weniger Glauben. Umfragen zufolge halten mittlerweile vier Fünftel der 16- bis 45jährigen ihre spätere Rente für gefährdet. Nur ein Drittel der Bevölkerung – zumeist über 60jährige, die schon Rente beziehen – glaubt noch, daß die Alterssicherung auf einer festen Basis steht. Denn das Hauptproblem unseres Alterssicherungssystems kann auch der eloquenteste Verteidiger des Status quo nicht hinwegdiskutieren: Weil die Bevölkerung älter und älter wird, steigt die Zahl der Rentner rascher als die der Er74 werbstätigen. Beim überkommenen Umlageverfahren des Rentensystems – die Beiträge der arbeitenden Bevölkerung werden von den Versicherungsträgern umgehend als Renten an die Alten ausgezahlt – bedeutet dies: Die Beitragszahler haben für mehr und mehr Rentner aufzukommen. Vor 110 Jahren, als die Alterssicherung in Deutschland eingeführt worden war, hatte das alles noch ganz anders ausgesehen. Nur relativ wenige Versicherte erreichten das auf 70 Jahre festgesetzte Rentenalter, und diejenigen, die dies schafften, bezogen nur ein recht kümmerliches Altersgeld. Trotz niedriger Beiträge gab es kaum Liquiditätsprobleme. Das änderte sich auch nicht, als das Rentenalter auf 65 Jahre herabgesetzt und die Lebenserwartung immer höher wurde. Besonders nach Inflations-, Depressions- und Kriegszeiten bewährte sich das Umlageverfahren: Weil es keinen Kapitalstock Alter Altersstruktur der Bevölkerung Deutschlands in Tausend 1910 500 d e r 100 1996 90 100 2030 90 Prognose 100 90 80 80 80 70 70 70 60 60 60 50 50 50 40 40 40 30 30 30 20 20 20 10 10 10 0 500 500 s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 0 500 500 0 500 Werbeseite Werbeseite schen Faktor aus der Rentenformel wieder heraus. Die Freude der Rentner währte nur kurz. Denn nun will die Regierung die Anpassung der Renten an die Nettolöhne in den nächsten beiden Jahren aussetzen, weil die Nettolöhne aufgrund von Steuerentlastungen deutlich steigen werden. Die Rentner sollen in diesem Zeitraum nur einen Ausgleich für die derzeit sehr geringe Inflation erhalten. Was aber müßte geschehen, damit die Renten künftig nicht allzu kümmerlich, die Beitragssätze nicht allzu drückend werden? Ist das traditionelle System todgeweiht, oder ist es noch über die nächsten demographisch kritischen Jahrzehnte zu retten? Anhänger des bestehenden umlagefinanzierten Versicherungssystems schlagen vor, das Verhältnis zwischen Erwerbsbevölkerung und Ruheständlern durch verschiedene Maßnahmen wieder zugunsten der Aktivenquote zu verbessern. So könnte gezielt die Einwanderung junger, arbeitsfähiger Ausländer gefördert werden. Durch entsprechende Anreize ließe sich die in den alten Bundesländern sehr niedrige Frauenerwerbsquote (40 Prozent; in der DDR einstmals 90 Prozent) steigern. Verkürzte Ausbildungszeiten einerseits, verzögerter Eintritt in den Ruhestand, etwa durch Altersteilzeitarbeit, andererseits würden das Problem entschärfen, daß Deutschland zu den Ländern mit den ältesten Berufsanfängern und den jüngsten Rentnern zählt. Doch alle diese Maßnahmen hätten wahrscheinlich Nebenwirkungen, die den Arbeitsmarkt belasten. Der Versuch, mehr Junge, Frauen oder Alte in den Arbeitsprozeß zu integrieren, würde nur dann Sinn haben, wenn dadurch die Gesamtbeschäftigung erhöht werden könnte. Er wäre verfehlt, wenn nur bislang Beschäftigte verdrängt würden. Einige Experten lehnen daher systemimmanente Reformen als völlig unzureichend ab. „Die Wucht, mit der die demographische Entwicklung das Umlageverfahren treffen wird, kann mit den bisher üblichen Maßnahmen der Rentenpolitik nicht abgefangen werden“, prophezeit das „Frankfurter Institut – Stiftung Marktwirtschaft und Politik“, ein Zirkel liberalkonservativer Ökonomen. Manche Fachleute, darunter auch Sozialpolitiker der Union und der Grünen, plädieren deshalb dafür, das gesamte beitragsfinanzierte System zu verschrotten und den Bürgern nur noch eine aus Steuern finanzierte Grundsicherung zu bieten. Wer im Alter bessergestellt sein möchte, als ihm mit einer Basisrente möglich wäre, hätte individuell vorzusorgen oder beizei* Demonstration gegen Kürzungen auf dem zweiten Arbeitsmarkt, 1998. 76 ten einen Arbeitgeber zu finden, der ihn per Betriebsrente absichert. In einer Übergangsphase müßten die durch Beitragszahlungen erworbenen Rentenansprüche ebenfalls aus Steuermitteln befriedigt werden – eine vorübergehend erhebliche Mehrbelastung des Bundeshaushalts. Neben Umstellungsschwierigkeiten beklagen die Gegner einer Einheitsrente – und das sind derzeit noch die meisten Sozialpolitiker – vor allem deren angebliche Leistungsfeindlichkeit. Weil jeder Zusammenhang zwischen Einzahlungen und Renten verlorengehe, werde der Trend zu Schwarzarbeit und Leistungsverweigerung gefördert. Jeder Bürger habe ja seine Grundrente sicher. Auf eine umfassende Reform der vielen, vielen Sozialtransfers, die schon heute aus Steuern finanziert werden, zielen die Pläne, ein „Bürgergeld“ einzuführen. Grundgedanke dieses Konzepts ist es, alle Transferzahlungen wie Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, Wohngeld, Erziehungsgeld oder Bafög zu einer einzigen Leistung zu bündeln und mit der Einkommensteuer Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung Arbeitnehmeranteil in Prozent des Bruttolohns in einem „integrierten Steuer-TransferSystem“ zu verzahnen. Die Finanzämter würden dann nicht nur bei den Gutverdienenden abkassieren, sondern auch all jenen, deren Einkommen unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums liegt, ein „Bürgergeld“ (oder eine „Negativsteuer“, weil das Geld ja vom Finanzamt, nicht vom Sozialamt kommt) überweisen. Damit Anspruchsberechtigte einen Anreiz haben, sich noch etwas hinzuzuverdienen, sollte, anders als bei der gegenwärtigen Sozialhilfe, nur ein Teil der Nettolöhne auf das „Bürgergeld“ angerechnet werden. Der Charme des Konzepts besteht vor allem in seiner Einfachheit: Allein das Finanzamt nimmt (Einkommensteuer) oder gibt (Bürgergeld). Der von Bedürftigen oft als demütigend empfundene Gang zum Sozialamt entfällt, statt dessen weist das Finanzamt eine Zahlung an. Doch wie alle Modelle, die in der Theorie sehr elegant erscheinen, hat auch das integrierte Steuer-Transfer-System seine Tücken, wenn es an die Praxis geht. Der gewichtigste Einwand: Trotz vereinfachter 35 Mai 1999: 30 20,65% Pflegeversicherung 20 25 Sozialleistungen Arbeitslosenversicherung 15 Krankenversicherung bis 1969 Arbeiteranteil 10 in Prozent des Bruttoinlandsprodukts; ab 1990 Gesamtdeutschland 20 15 10 Rentenversicherung 5 5 1960 1970 1980 1990 1999 1960 1970 1980 1990 1997 DPA Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kapitalismus: Aufstieg und Krise des Sozialstaats Arbeitslose in Magdeburg*: Anschwellende Finanzprobleme des Sozialstaats d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 H. ANDRÉ SÜDD. VERLAG ist nach Meinung NeuVerwaltung würde es weit manns und Schapers auch teurer als das gegenwärtige gut so: Die beiden sehen Nebeneinander verschiein den Problemen, die ein dener Sozialleistungen. Je Systemwechsel mit sich nach Ausgestaltung des brächte, eine „wünschensBürgergeld-Modells würwerte“ Stabilitätsgarantie, den zwei- bis dreistellige die gegen „hysterische ReMilliardenbeträge fällig, formideen“ schützt. wenn jeder Bürger, der Ein wirklich durchschlanicht oder nur in begrenzgendes Mittel zur Überwintem Umfang arbeiten kann dung der chronisch defizioder mag, ohne Rücksicht tären Lage unseres sozialen auf die wirtschaftliche Lage Sicherungssystems wäre die seiner Angehörigen AnRückkehr zur Vollbeschäfspruch auf eine Überweitigung. Diesen Königsweg sung vom Finanzamt hätte. zur Sanierung des gesamten Würde man aber wieder Sozialwesens versucht die mit Bedürftigkeitsprüfunneue Regierung mit dem gen beginnen, wäre der Bündnis für Arbeit zwiReiz des Systems aus eischen Staat, Arbeitgebern nem Guß dahin. und Gewerkschaften einzuAls einen Weg, die Beischlagen. Aber nach dem tragsfinanzierung der geschwachen Start der Rotsetzlichen RentenversicheGrünen sieht es nicht so aus, rung beizubehalten, ohne als wären diese Versuche daß diese unter der demoschon bald erfolgreich. graphischen Last kollabiert, Bleibt nur der schwache sehen die Ökonomen des Trost, daß der Sozialstaat „Frankfurter Instituts – sich im zu Ende gehenden Stiftung Marktwirtschaft Jahrhundert selbst nach und Politik“ die UmstelKriegen und Wirtschaftskalung des bislang praktiziertastrophen immer wieder ten Umlage- auf ein Kapifortentwickelt hat – warum taldeckungsverfahren an. also nicht auch nach der Die Renten würden dann Kurgäste in Bad Wörishofen (1997): Teures Gesundheitswesen aktuellen Finanzkrise? nicht mehr aus den laufen„Die geschichtlichen Erfahrungen aus den Beiträgen der jeweils aktiven Genera- systems ansehen, halten die Gegner einen tion gezahlt, sondern jeder Versicherte solchen Systemwechsel gerade wegen des- den Rückschlägen und den wiederkehrenden Fortschrittsphasen der Sozialwürde mit seinen Beiträgen einen Kapital- sen Langwierigkeit für undurchführbar. Denn auf dem langen Weg von der Um- staatsentwicklung stärken die Zuverstock ansparen, aus dem später seine Rente gezahlt würde. Das wäre eine weit- lage zur Kapitaldeckung hätte die aktive sicht“, macht der Aachener Ökonom Karl gehende Angleichung an eine private Generation eine doppelte Last zu tragen. Georg Zinn sich und anderen VerteidiKapitallebensversicherung. Anders als bei Sie müßte die Finanzierung der weiterhin gern des Sozialstaats Mut, „daß das einer Privatversicherung wäre die Mit- bestehenden Rentenansprüche der älteren 21. Jahrhundert besser wird, als gegenGeneration übernehmen und den Kapital- wärtige Restaurationstendenzen befürchgliedschaft allerdings obligatorisch. Konkret schlagen die Kapitaldeckungs- stock für die Deckung der eigenen Renten ten lassen.“ befürworter vor, spätestens vom Jahr 2005 aufbauen. Zu Recht stellen die Sozialwissenschaftan neue Rentenansprüche nur noch im Rahmen des neuen Verfahrens aufzubauen. Le- ler Lothar Neumann und Klaus Schaper Der Autor diglich die bereits bestehenden Ansprüche fest: „Wie man es auch dreht und wendet, Iring Fetscher, 77, müßten in einer Übergangsphase noch nach dies ist keiner Generation politisch und lehrte bis 1988 Podem alten Umlageverfahren befriedigt wer- ökonomisch zumutbar. Die Abhängigkeit litologie in Frankfurt den. Die Übergangszeit, in der das alte Sy- unseres Rentensystems von dem einmal am Main. Schwerstem auslaufen und das neue aufgebaut beschrittenen Weg ist erheblich.“ punkt: Geschichte Gibt es also kein Entrinnen aus dem würde, hätte eine Dauer von zwei, drei der politischen TheoJahrzehnten. Während die Reformer dies System, das noch aus Bismarcks Zeiten rien, besonders des als Chance zu einer allmählichen, nicht all- stammt? Ohne einen großen, langwierigen Marxismus. zu schmerzhaften Umstellung des Renten- Kraftakt jedenfalls geht es nicht. Und das LITERATUR Norbert Berthold: „Der Sozialstaat im Zeitalter der Globalisierung“. Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen 1997; 85 Seiten – Der deutsche Sozialstaat: eine aussterbende Spezies im globalen Wettbewerb. Ludwig Erhard: „Wohlstand für alle“. Econ Verlag, Düsseldorf und Wien 1957 (vergriffen); 382 Seiten – Die sozialen Verheißungen des Wirtschaftswundermannes. Frankfurter Institut – Stiftung Marktwirtschaft und Politik: „Rentenkrise. Und wie wir sie meistern können“. Frankfurter Institut, Bad Homburg 1997; 135 Seiten – Vehementes Plädoyer für eine Umstellung der Rentenversicherung vom Umlage- auf das Kapitaldeckungsverfahren. Franz-Xaver Kaufmann: „Herausforderungen des Sozialstaates“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997; 194 Seiten – Gegen eine großangelegte Reform, für den Umbau des Sozialstaats in kleinen Schritten. Oswald von Nell-Breuning: „Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre“. Verlag Olzog, München 1985; 390 Seiten – Brevier des Nestors der katholischen Soziallehre. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Gerhard A. Ritter: „Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich“. R. Oldenbourg Verlag, München 1991; 252 Seiten – Geschichte der Sozialpolitik von der mittelalterlichen Armenpflege bis zum modernen Wohlfahrtsstaat. Karl Georg Zinn: „Sozialstaat in der Krise. Zur Rettung eines Jahrhundertprojekts“. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999; 117 Seiten – Traditionelle Rezeptur zur Sanierung des Sozialstaats: Beschäftigungspolitik. 77 Das Jahrhundert des Kapitalismus: Aufstieg und Krise des Sozialstaats PORTRÄTS eine tiefgreifende Reform des historisch gewachsenen Systems sozialer Sicherung in Großbritannien erarbeiten zu können: „Ein revolutionärer Augenblick in der Weltgeschichte ist eine Zeit für Revolutionen, nicht für Flickarbeiten.“ Der Report „Sozialversicherung und verwandte Leistungen“, den Beveridge im November 1942 ablieferte, machte seinen Autor weltberühmt. Nie zuvor hatte jemand ein so umfassendes, in sich geschlossenes Konzept sozialer Sicherung vorgelegt. Der sogenannte Beveridge-Plan, der die Bereiche Renten, Gesundheit, Beschäftigung, Familie, Bildung und Wohnungsbau erfaßte, wurde die Magna Charta des modernen Wohlfahrtsstaats. Nur ein Jahr nach dem Krieg begann die Labour-Regierung Clement Attlee, das Reformkonzept in praktische Politik umzusetzen. Sie schuf eine grundsätzlich für alle Bürger obligatorische Einheitsversicherung gegen Altersarmut, Krankheit und Arbeitslosigkeit mit einheitlichen Beitrags- und Leistungssätzen. Zudem gründete sie den von Beveridge vorgeschlagenen staatlichen Gesundheitsdienst. Beveridges Ruf als großer Sozialreformer war damit gesichert. Premier Attlee ließ ihn 1946 zum Lord ernennen. Im Alter von 84 Jahren starb Lord Beveridge 1963 in Oxford. William Henry Beveridge Der Sozialreformer Spiegel des 20. Jahrhunderts Gewerkschaftsführer Ernest Bevin, Arbeitsminister in der Kriegskoalition Winston Churchills, wollte den Liberalen William Henry Beveridge, den ihm der Premier als Mitarbeiter empfohlen hatte, nicht um sich haben. Er bot dem bekannten Sozialwissenschaftler 1941 daher nur den Vorsitz in einem Gremium an, das die bestehenden Sozialversicherungen analysieren sollte. Beveridge hielt die Offerte eigentlich nicht für angemessen, erkannte dann aber die Chance, Vorschläge für AP Bertha Krupp Die Mütterliche Beveridge (1949) Das gefürchtetste deutsche Geschütz im Ersten Weltkrieg war nach ihr benannt: die „Dicke Bertha“. Doch die Alleininhaberin des Stahlkonzerns Fried. Krupp, der den 42-ZentimeterMörser herstellte, war keine kaltschnäuzige Rüstungsmanagerin. Bertha Krupp kümmerte sich vor allem um das soziale Wohl der Beschäftigten und Ruheständler ihrer Firma, der „Kruppianer“. Kaufmännisch-technische Führungsaufgaben überließ sie anderen. ULLSTEIN BILDERDIENST Die Erbin und der Reformer Krupp (1943) Bertha, die erste von zwei Töchtern des Konzernherrn Friedrich Alfred Krupp, war erst 16 Jahre alt, als 1902 ihr Vater starb und sie, gemäß einer testamentarischen Verfügung des Großvaters Alfred, Alleinerbin des riesigen Firmenvermögens wurde. Mit 20 Jahren heiratete sie den Diplomaten Gustav von Bohlen und Halbach, Legationsrat der preußischen Botschaft beim Heiligen Stuhl in Rom. Der durfte sich fortan mit Billigung Kaiser Wilhelms II. Krupp von Bohlen und Halbach nennen und 35 Jahre lang im Namen sowie Auftrag seiner Frau das Unternehmen leiten. Bertha zog derweil in der prunkvollen Essener Villa Hügel sieben Kinder groß und baute die vorbildlichen sozialen Einrichtungen der Traditionsfirma wie Krankenanstalten, Arbeitersiedlungen, Alten- und Erholungsheime aus. Die meisten dieser sozialen Institutionen hatte bereits Großvater Alfred gegründet. Auch als das Firmenvermögen nach dem Zweiten Weltkrieg von der Militärregierung einige Jahre lang beschlagnahmt war, mahnte die KruppSeniorin die damals Verantwortlichen in Essen, die Invaliden und Veteranen des Unternehmens so gut wie möglich zu versorgen. Bertha Krupp von Bohlen und Halbach, von den Arbeitern als „Mutter des Ruhrgebiets“ verehrt, starb 1957 in Essen. Walter Knips DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. DAS JAHRHUNDERT DES KAPITALISMUS; X. ... DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR 78 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Trends H AU S H A LT Eichel stutzt Defizit chneller als geplant will die Bundesregierung das deutsche Haushaltsdefizit abbauen. Schon im nächsten Jahr werde es auf anderthalb Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sinken, meldete die Bundesregierung Ende vergangener Woche nach Brüssel. Anfang des Jahres war sie in ihrem Stabilitätsprogramm noch von einem Wert von zwei Prozent ausgegangen. Ursache für die bessere Entwicklung sei unter anderem das von Finanzminister Hans Eichel (SPD) vorgelegte Sparprogramm, heißt es in der Bonner Mitteilung. Auch für das Jahr 2001 sieht die neue Prognose günstiger aus. Das Defizit soll nur noch ein Prozent betragen statt anderthalb, wie zu Jahresanfang gemeldet. Wegen der Nettoentlastung bei der Steuerreform bleibe es 2002 bei diesem Wert. 2003 soll das Defizit auf ein halbes Prozent des BIP sinken. Der EU-Stabilitätspakt erlaubt den Teilnehmerländern des Euro ein Haushaltsdefizit von höchstens drei Prozent. Deutsches Haushaltsdefizit Prognose der Bundesregierung 1999 2000 2001 2002 2003 –0,5 –1 –1 –1,5 –2 Angabe in Prozent des Bruttoinlandsprodukts T E L E KO M M U N I K AT I O N Unkalkulierbares Chaos FOTOS: H.-G. OED (li.); F. OSSENBRINK (re.) S ICE-Zug, Ludewig DEUTSCHE BAHN Düstere Prognosen M it insgesamt 36,9 Milliarden Mark möchte Bahnchef Johannes Ludewig in den nächsten sechs Jahren das bestehende Gleisnetz modernisieren, so sein „Beschlußvorschlag“ für die Aufsichtsratssitzung am Mittwoch dieser Woche in Berlin. Die Räte sollen den riesigen Investitionen, vollmundig „Strategie Netz 21“ genannt, zustimmen. Tatsächlich müßten sie eine Blankovollmacht unterschreiben. Für welche Strecken das viele Geld ausgegeben werden soll, bleibt Ludewigs Geheimnis. Und ob damit tatsächlich „mehr Verkehr auf die Schiene“ verlagert wird, wie es der DBChef verheißt, bleibt ebenfalls fraglich. Nach den jüngsten Prognosen der Bahn steigt ihr Marktanteil im Güterverkehr bis zum Jahr 2010 nicht, wie noch 1995 vorausgesagt wurde, auf 35 Prozent, sondern sinkt sogar von 21 auf 20 Prozent. Auch im Personenfernverkehr bleibt die ersehnte Wende wohl aus. Der Marktanteil wird in den kommenden zehn Jahren bei kümmerlichen 9 Prozent stagnieren, so die düstere Prognose, statt wie erhofft auf 15 Prozent anzusteigen. Am 31. Dezember 1999 müssen Tausende Ortsvermittlungsstellen und Softwareprogramme bei den großen Telefonkonzernen auf das heikle Datum umgestellt ie heftig umstrittene Interconnection-Regelung, nach der Wettbewerber der Telekom deren Ortsnetze zu einem durchschnittlichen Preis von 2,7 Pfennig pro Minute benutzen dürfen, wird nach derzeitiger Planung der Bonner Regulierungsbehörde um mindestens drei bis sechs Monate über den ursprünglichen Auslauftermin am 31. Dezember dieses Jahres verlängert. Grund ist die Angst der Telefongesellschaften vor dem „Jahr-2000-Problem“. H. MÜLLER-ELSNER / AGENTUR FOCUS D werden. Eine gleichzeitige Veränderung der Tarife in der Abrechnungssoftware, so die Angst der Netzbetreiber, könnte zu einem unkalkulierbaren Chaos führen. Für die Deutsche Telekom AG, die sogar gerichtlich gegen die ihrer Meinung nach viel zu niedrigen Nutzungsgebühren vorgegangen ist, bedeutet die Verschiebung trotzdem Mehreinnahmen in mehrstelliger Millionenhöhe. Eigentlich hatte die Regulierungsbehörde nämlich geplant, die Interconnection-Tarife im Januar deutlich zu senken. Netzzentrale der Telekom (in Bamberg) d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 81 M. S. UNGER Trends Bundeskanzleramt Krupp beim Kanzler M ehrere deutsche Konzerne haben Mitarbeiter im Bundeskanzleramt plaziert. Etwa ein halbes Dutzend von ihren Unternehmen freigestellte Mitarbeiter arbeiten in Gerhard Schröders Regierungsapparat. Darunter ist eine Juristin von Krupp, ein Volkswirt von der Dresdner Bank sowie einige Experten aus der Versicherungswirtschaft. Die Mitarbeiter werden vom Kanzleramt bezahlt. Sorgen über eine einseitige Einflußnahme durch wenige Unternehmen bestehen in Bonn offenbar nicht. Die Unternehmensleute sollten das „gegenseitige Verständnis“ von Politik und Wirtschaft fördern, heißt es im Kanzleramt. „Unsere bisherigen Erfahrungen sind wirklich gut“, so ein Mitarbeiter der Regierungsbehörde, „die Leute aus der Wirtschaft bringen richtig frischen Wind in unseren verknöcherten Haufen.“ Auch über die Beschäftigung von Gewerkschaftern denken die zuständigen Beamten inzwischen nach. Bereits zu Helmut Kohls Zeiten gab es einen von der Deutschen Bank entliehenen Mitarbeiter im Kanzleramt. LINDBERGH meisten LufthansaKunden erfahren dabei erst beim Einchecken, daß sie nicht mit einer LH-Maschine fliegen. Doch vor allem auf den FrankreichStrecken häuften sich in den vergangenen Monaten die Kundenbeschwerden. Passagiere klagten über mangelnde Pünktlichkeit, unfreundlichen Service und unsaubere Kabinen. Das soll sich nun ändern. Wer künftig mit der Lufthansa zusammenarbeiten oder im Geschäft bleiben will, muß harte Auflagen erfüllen. Fällt der Service hinter den geforderten Lufthansa-Standard zurück, drohen empfindliche Vertragsstrafen, bei Übererfüllung des Plansolls gibt es hingegen einen Bonus. Für den Stuttgarter Regionalcarrier Contact Air kommt das neue Vergütungsmodell allerdings zu spät. Die Schwaben durften bis Ende Juni die Strecke Berlin–Straßburg für die Lufthansa fliegen. Seit Anfang Juli setzen die Lufthanseaten dort wieder andere Maschinen ein – den LH-Managern war der Service des Juniorpartners zu schlecht. Czech-Airlines-Maschine L U F T FA H R T Druck auf Partner D ie Deutsche Lufthansa (LH) will bei ihren Kleinpartnern, die innerdeutsche und europäische Nebenstrecken in ihrem Auftrag fliegen, endlich einheitliche Qualitätsstandards durchsetzen und Fluggesellschaften, die sich nicht an die Vorgaben halten, künftig sogar abstrafen. Um Geld zu sparen und ihre Drehscheiben in Frankfurt und München besser auszulasten, läßt der Marktführer Routen wie München– Toulouse oder Hamburg–Prag zunehmend von Billigcarriern wie Debonair oder Czech Airlines bedienen; die 82 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 INVESTMENTBANKEN Steuerparadies London I nvestmentbanken machen in Deutschland boomende Geschäfte, doch es ist schwer, qualifiziertes Personal von London nach Frankfurt zu locken. „Selbst junge Deutsche arbeiten lieber von Großbritannien aus“, klagt der Chef einer US-Investmentbank. Grund: Der Spitzensteuersatz für die gut verdienenden Banker liegt in England zwar theoretisch bei 40 Prozent. Doch die effektive Steuerbelastung steigt selbst für ausländische Spitzenverdiener mit Millioneneinkommen in London selten über 20 Prozent. Denn für alle Arbeitstage, die die ausländischen Investmentbanker außer Landes verbringen, müssen sie überhaupt keine Steuern zahlen. GAMMA / STUDIO X B E R AT E R Finanzzentrum in London Geld F R E M D WÄ H R U N G E N Frankfurt, das Institut von American Express, 1000 Mark, die Santander Direktbank 5000 Mark. Die höchsten Zinsen wirft derzeit der mexikanische Peso mit 16 Prozent (Amex) ab; der südafrikanische Rand bringt 12 Prozent und die griechische Drachme 8 Prozent (Santander). „Je höher der Zinssatz, desto höher das Wechselkursrisiko“, warnt die Amexbank. Das stimmt – im Prinzip. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres brachte nur die tschechische Krone, mit vergleichsweise mageren 5 Prozent verzinst, einen Verlust von 4,39 Prozent; der mexikanische Peso hingegen schaffte einen Wertzuwachs (Kursgewinne plus Zins und Zinseszins) von 22,9 Prozent. Jährliche Zinsen auf Tagesgeldkonten für Fremdwährungen Dicke Zinsen in Prozent W egen der anhaltend mageren Zinsen im Euroland investieren etwas risikofreudigere Anleger einen Teil ihrer Ersparnisse in Fremdwährungen, die bis zu 16 Prozent Zinsen einbringen. Besonders beliebt sind Tagesgeldkonten, die in der Regel höhere Zinsen abwerfen als deutsche Festgeldkonten, bei denen die Einlagen erst nach einer bestimmten Frist – meist zwischen drei und zwölf Monaten – verfügbar sind. Als Mindestbetrag für ein Währungskonto fordert die Amexbank in Mexikanischer Peso 15 Südafrikanischer Rand 11 Polnischer Zloty Griechische Drachme Tschechische Krone % 9 8 5,25 Quelle: Santander Bank BÖRSEN Entwicklung der US-Internet-Aktien 1999 Dax liegt weit zurück 200 N icht an der Frankfurter Börse war im ersten Halbjahr 1999 das große Geld zu verdienen, sondern in Athen: Griechische Aktien schafften einen Kursgewinn von 237,3 Prozent. Börsianer erklären den gewaltigen Sprung vor allem damit, daß Griechenland beste Chancen hat, bald in den Club der Euro-Staaten aufgenommen zu Kursgewinne an ausländischen werden. Mit einem Kursgewinn von 200,7 Börsen im 1. Halbjahr 1999 Prozent liegt Moskau an zweiter Stelle – auf Euro-Basis nicht ganz so erstaunlich, weil russische RANG BÖRSE PROZENT Aktien im vorigen Jahr um über 90 Prozent 1 Griechenland 237,3 abgestürzt waren. Experten glauben, daß 2 Rußland 200,7 die Kurse in Moskau weiter steigen könnten. Einen dreistelligen Zuwachs schafften, 3 Indonesien 118,7 nach schweren Kurseinbrüchen im vergan4 Malaysia 102,8 genen Jahr, auch Indonesien (118,7 Prozent) 5 Südkorea 85,7 und Malaysia (102,8 Prozent); Deutschland liegt mit einem Plus von 7,1 Prozent deut6 Mexiko 75,5 lich unter dem durchschnittlichen Wertzu7 Singapur 74,1 wachs aller Weltbörsen (25,6 Prozent). Das 8 China 67,8 Schlußlicht bilden slowakische Aktien mit Quelle: Datastream einem Minus von 14,3 Prozent. 180 160 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 2. Januar = 100 140 Dow Jones 120 100 Quelle: Datastream Jan. Feb. März April Mai Juni Juli I N T E R N E T- A K T I E N Skepsis an der Wall Street V AP Börse in Athen US-Internet-Aktien iele Banker von der Wall Street glauben nicht mehr an einen neuen Boom der Internet-Aktien. Die Entwicklung sei „außerhalb jeder Proportion“, klagt Steven Rattner, Direktor des Investmenthauses Lazard Frères: „Es ist völlig unklar, wie viele Firmen jemals Geld verdienen.“ Die Börse sei so verrückt, die Aktien von Internet-Firmen nach der Zahl ihrer Kundenkontakte zu beurteilen, egal zu welchem Preis die Kunden gewonnen werden. Der Siegeszug des Online-Dienstes AOL ist wohl kaum beliebig wiederholbar – vor allem weil im elektronischen Handel die Eintrittsbarrieren sehr niedrig sind. Jeder könne sich hinsetzen und im Internet Auktionen organisieren, sagt AOL-Aufsichtsrat Rattner. Ökonomisch mache es für ihn keinen Sinn, daß etwa die kleine Firma Etoys, die online Spielzeug verkauft, an der Börse zeitweise mehr wert ist als der Handelskonzern Toys ‘R’ Us mit rund tausend Läden. „Das liegt“, so Rattner, „an der derzeitigen Casinomentalität der Börse.“ 83 Wirtschaft Boomtown New York: „Wir sind die Propheten des freien Marktes und die Hohenpriester des High-Tech“ REICHTUM „Gier ist gut“ Millionäre am Fließband, ein Überschuß im Staatshaushalt, Aktien auf Rekordniveau – ein historisch einmaliger Konsumrausch treibt die US-Wirtschaft voran. Nirgendwo sonst sind die Chancen so groß, reich zu werden. Doch Millionen Amerikaner gehen leer aus. A K. MOSKOWITZ / CORBIS / OUTLINE merika kennt die Rockefellers, die Fords, die Vanderbilts. Und dann gibt es noch Joe Kraus und seine fünf Kumpels aus dem College. Wie seine berühmten Vorgänger gehören Kraus und seine Gang zu jenen glücklichen Menschen, von denen es jenseits des Atlantiks heißt, sie hätten es geschafft. Kein Streit mehr mit Vorgesetzten, ein feines Heim und Geld ohne Ende, kurzum: nie mehr arbeiten, nur noch Spaß haben. Nur daß Kraus und seine Freunde ein bißchen schneller waren als die Rockefellers. Was der Industrie-Clan in Generationen aufbaute, erreichten sie in gerade sechs Jahren. Sie gründeten die Online-Firma Excite, bauten sie zum Konzern aus und verkauften das Unternehmen im Januar dieses Jahres für sieben Milliarden Dollar. So wie Kraus, 27, schaffen es derzeit mehr Amerikaner als je zuvor. Ein Wirtschaftsboom, der nicht enden will, unablässig steigende Aktienkurse und das anbrechende Internet-Zeitalter haben die Amerikaner in einen modernen Goldrausch versetzt, bei dem es nur eine Sorge zu geben scheint: in ein paar Jahren den Kindern erklären zu müssen, warum ihr Vater nichts abbekommen hat. Während sich die Asiaten mühsam aus der Rezession herausar84 beiten und die Europäer mit hoher ArNirgendwo auf der Welt scheinen die beitslosigkeit kämpfen, melden die USA Chancen derzeit so gut zu stehen, auf eiSiege an fast allen ökonomischen Fronten: nen Schlag richtig reich zu werden. Täglich Wachstum von bis zu vier Prozent, Staats- haben fast tausend Amerikaner mehr ihre überschüsse von über fünf Billionen Dollar erste Million beisammen, eine Million USin den nächsten 15 Jahren und neuen Bürger schafften die Marke allein in den Reichtum für Zehntausende. „Wir sind die letzten drei Jahren. Noch nie waren die Apostel der Jetzt-sofortneuen Reichen so jung, und Welt“, ruft der Autor Thonoch nie rafften sie ihr Vermas Friedman: „Wir sind mögen so flink zusammen. die Propheten des freien Alter: 35 Jahre Schon sieht es danach Marktes und die Hohenaus, als gebe es eine BürMachte die Versandbuchpriester des High-Tech.“ gerpflicht, es ihnen nachzuhandlung Amazon.com tun. Jeden Abend geht es innerhalb von vier Jahren an Bartresen und Partyzum Superstar des Internettischen darum, welcher Shoppings. Obwohl Bezos Freund schon wieder an der bislang nicht einen Cent Gewinn erwirtschaftete, beBörse abkassiert hat. Imwertet die Börse sein Untermer penetranter bedrängen nehmen höher als den AutoFernsehmoderatoren, Zeiriesen Volkswagen. tungsjournalisten und Internet-Redakteure ihr PuGeschätztes Vermögen: blikum mit Erfolgsgeschichten. Motto: Wenn du es Milliarden Dollar jetzt nicht hinkriegst, hast du selbst schuld. Mehr als 60 brachten es in den vergangenen zwölf Monaten sogar zum Milliardär, darunter Jungunternehmer wie Jeff Bezos, 35, vom OnlineVersand Amazon oder Jerry Yang, 30, vom Internet-Service Yahoo. „Erstmals in der Nachkriegsgeschichte sind so viele Leute scheinbar mühelos reich geworden“, sagt der frühere US-Arbeitsminister Robert Reich. Jeff Bezos 10 High Society Längst kann kein Scheich, Sultan oder Ölbaron mehr mit den Amerikanern mithalten. Die zehn teuersten amerikanischen Firmen, darunter High-Tech-Konzerne wie Microsoft und Cisco, sind heute an der Börse 2,4 Billionen Dollar wert, etwa soviel wie der gesamte japanische Aktienmarkt. Die sieben reichsten Menschen der Welt kommen aus den USA, vier von ihnen waren vor 15 Jahren fast noch Habenichtse: die Microsoft-Gründer Bill Gates, Paul Allen und Steven Ballmer sowie der texanische Computerhändler Michael Dell. Kürzlich überstieg Gates’ Vermögen erstmals die 100-Milliarden-Dollar-Grenze, an guten Börsentagen kommt alle 30 Sekunden eine weitere Million dazu. Die neuen Masters of the Universe sitzen nicht mehr in den Glastürmen der Wall Street, sondern in coolen Lofts oder weiträumigen Designer-Büros. Sie sind jünger als 30, und dennoch haben sie in einem Jahr soviel verdient wie ein tüchtiger Broker in seinem ganzen Leben. Ihre Geschichten klingen wie Märchen. Etwa die von Justin Frankel: Der 20 Jahre alte Gründer der Internet-Musikfirma Nullsoft verkaufte kürzlich seinen Laden für 100 Millionen Dollar an America Online. Oder die von Fernando Espuelas: Er entwickelte vor drei Jahren den spanischsprachigen Online-Dienst StarMedia, brachte ihn an die Börse und verfügt nun über 160 Millionen Dollar Vermögen: „Es ist unglaublich, es ist surreal“, sagt er, „aber irgendwie fühlt es sich gut an.“ Kaum eine Woche vergeht, in der nicht mehrere junge Internet-Entrepreneure ihre Firma an die Börse bringen oder gegen Millionensummen an andere Konzerne verkaufen. „Die Geldwelle surfen“ nennen sie das in den Bars der Web-Szene, wo nahezu jeder davon träumt, endlich die Welle seines Lebens zu erwischen. Die Lust am Surfen macht vor allem den großen Konzernen zu schaffen. In Scharen verlassen gestandene Manager die oberen Etagen der Telefonfirma AT & T oder des Unterhaltungsriesen Disney, um ihr Glück bei einer kleinen Online-Firma THE STOCK MARKET Anteil der Haushalte mit mehr als einer Million Dollar Vermögen in Prozent 4,0 3,2 3,2 3,0 1989 1992 1995 1998 erzeugt, in Deutschland sind es gerade 56 Prozent. Das treibt die Umsätze und damit die Aktienkurse und schließlich erneut das verfügbare Vermögen – fast wie bei einem ökonomischen Perpetuum mobile. Angestachelt durch die kauffreudigen neuen Reichen, geben selbst Durchschnittsverdiener soviel Geld aus wie nie zuvor, auch wenn sie es sich eigentlich nicht leisten können. Im Mai sank die Sparquote erstmals auf minus 1,2 Prozent, was bedeutet, daß die Amerikaner mehr Geld ausgeben, als sie verdienen. Die Kreditinstitute melden Rekordumsätze, die Zahl der Agenturen, die hochverschuldeten Bankkunden gegen Wucherzinsen neues Geld verschaffen, hat sich verdoppelt. zu versuchen, bevor es in ihrem Leben zu spät ist. Sie nehmen in Kauf, daß ihr neuer Chef meist 10 bis 20 Jahre jünger ist. Sie übersehen großzügig, wenn er zum Meeting in Shorts und T-Shirt erscheint. Denn die Newcomer versorgen ihre Angestellten mit den begehrten Aktienoptionen. Deren Wert kann sich in einem Jahr leicht vervielfachen und mehr Ertrag bringen als ein ganzes Arbeitsleben zuvor. Die Managerin Meg Whitman etwa war vor anderthalb Jahren noch Abteilungsleiterin bei der traditionsreichen Spielzeugfirma Hasbro. Das Gehalt war anständig, spektakulärer Reichtum jedoch war nicht zu erwarten. Heute ist sie Chefin des Online-Auktionshauses eBay und die reichste Managerin der Welt. Nach 14 Alter: 20 Jahre Monaten sind ihre eBayEntwickelte eine GratisAnteile und Optionen, die Software zum Abspielen von sie bei der Einstellung be- Musik aus dem Internet, die Galt nach den Exzessen kam, mehr wert als das ge- inzwischen von zehn Millioder achtziger Jahre vornehsamte Vermögen der Grün- nen PC-Besitzern genutzt me Zurückhaltung und derfamilie von Hasbro, wird. Anfang Juni verkaufte Knauserigkeit als Tugend, Whitmans vorherigem Ar- der Tüftler aus Arizona seine hat sich in den vergangenen Mini-Firma Nullsoft an AOL. beitgeber. zwei Jahren eine neue KulRund sechs Millionen An- Geschätztes Vermögen: tur des Überflusses entwikgestellte bekommen heute kelt. „Laßt euch sagen, daß wie Whitman zusätzlich ein Schrei durch die Weiten Millionen Dollar zum Gehalt AktienoptioAmerikas hallt“, schreibt Jonen. Nie waren in einem nathan Hoenig, Autor des Land so viele Menschen direkt am Erfolg Yuppie-Ratgebers „Gier ist gut“: „Es ist die ihrer Firma beteiligt, nie partizipierten so Stimme des neuen Geldes.“ viele an den Kursgewinnen der Börse. Schon immer spielten in den USA die InDer schnelle Reichtum hat einen kol- signien des Reichtums wie teure Autos, lektiven Kaufrausch ausgelöst. Rund 70 trendige Villen und verschwenderische Prozent des amerikanischen Wirtschafts- Kurzurlaube eine größere Rolle als in Euwachstums werden heute durch Konsum ropa. Der calvinistische Grundsatz, „du Justin Frankel 100 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 85 den Grundstücksmaklern längst keine Privilegien mehr genießen. Die Aussicht auf Millionengewinne hat einen regelrechten Gründerrausch ausgelöst, Zehntausende neuer Arbeitsplätze geschaffen und eine ganz neue Industrie entstehen lassen – doch an den meisten Amerikanern geht der Geldsegen vorbei. Mehr als zwei Drittel, so ergab Alter: 42 Jahre eine Umfrage des US-MaDie Harvard-Absolventin gazins „Newsweek“, wisübernahm 1998 die Führung sen, daß sie in ihrem gedes Internet-Auktionshauses genwärtigen Job nicht Gegenden wie das kali- eBay. Mit ihren Aktienreich werden. fornische Silicon Valley optionen wurde sie in kurzer Auch Aktien verstärken haben sich zu modernen Zeit zur reichsten Managerin eher noch die Spaltung der Fürstentümern entwickelt, der Welt. Gesellschaft. Obwohl USin deren Haushalten es zuFamilien soviel Börsenpageht wie am Hof Ludwig Geschätztes Vermögen: piere wie nie zuvor halten, XIV. Hier kostet der Prohat gut die Hälfte der Amesciutto im Feinkostladen Milliarden Dollar rikaner nicht einmal einen umgerechnet 50 Mark pro einzigen Anteilsschein im Pfund und die Flasche Balsamico-Essig 1500 Dollar. Hier wählt Depot. Eine Studie des New Yorker Ökodie Ex-Frau eines Oracle-Ingenieurs je- nomen Edward Wolff ergab obendrein, den Morgen ihre Garderobe daß 85 Prozent der Börsengewinne zwiaus einem prall gefüllten schen 1989 und 1998 an das reichste ZehnKleiderkabinett von 16 Me- tel der US-Haushalte flossen. Den meisten bleibt beim Luxusboom ter Länge. Und hier bringt Alter: 27 Jahre der jährliche Wohltätig- allenfalls das Zuschauen: Rund die HälfEntwickelte vor fünf Jahren keitsbasar der örtlichen te der US-Haushalte hat weniger als zusammen mit einem Freund Grundschule rund eine hal- 50 000 Dollar Vermögen, ein Viertel sogar und 50 000 Dollar Startkapital die Internet-Suchmaschine be Million Dollar ein – al- weniger als 10 000 Dollar. Und während lein 125 000 davon stammen die Einkommen des oberen Fünftels in und einer Garage für 200 Excite, die heute zu den geaus der Versteigerung einer den vergangenen Jahren ständig gestieAutos – es wird das größte fragtesten Adressen im Web Ferienwoche auf der Pri- gen sind, verdienen 60 Prozent bestenPrivathaus, das in diesem zählt. Im Januar 1999 wurde vatjacht des milliarden- falls soviel wie ihre Väter in den sechziger Jahrhundert gebaut wurde. die Firma für sieben Milliarschweren Oracle-Gründers Jahren. In der Nachbarschaft den Dollar an den InternetSolche Gewissensfragen sind derzeit alLarry Ellison. vermieten wohlhabende Provider At Home verkauft. Über 250 000 Millionäre lerdings eher out: „Ich fühle mich vollNew Yorker ihre pompö- Geschätztes Vermögen: leben in den Hügeln west- kommen im Recht, unsere Erfolge auszusen Ferienvillen für 100 000 lich der San Francisco Bay. kosten“, sagt Jeff Dachis, 32, Mitbegründer Dollar pro Sommer an UrMillionen Dollar Täglich kommen 64 dazu, der Internet-Agentur Razorfish, nach dem lauber, die nicht auf ihren und viele sind kaum älter Börsengang im April heute 800 Millionen gewohnten Komfort verzichten wollen: breite Marmortreppen, als 25. Sie fahren Ferrari oder McLaren Dollar wert: „Es tut mir leid: In dieser Welt französische Impressionisten an den Wän- und zahlen bar für ihre Häuser, auch wenn gibt es Schafe und Schäfer, und ich rechne den, Leibkoch und den Porsche für die sie fünf Millionen Dollar kosten. Leicht mich den letzteren zu.“ überbieten sie Anwälte und Ärzte, die bei morgendliche Fahrt zum Brunch. Mathias Müller von Blumencron bist, was du erreicht hast“, ist tief in die Seele jedes Amerikaners eingraviert. Doch nie folgten sie dem Gebot mit solch religiöser Inbrunst wie in den letzten Tagen des 20. Jahrhunderts. Inzwischen gibt es sogar schon Wartelisten für so begehrte Luxus-Utensilien wie das 15 000 Dollar teure Täschchen von Hermès oder den Gulfstream-Jet für 65 Millionen Dollar. Je teurer, je größer, um so besser, lautet die neue Devise der Aufsteiger. In den Hamptons, dem Wochenendrefugium der New Yorker Schickeria, baut der Börsenspekulant Ira Rennert, Hersteller des Golfkrieg-Vehikels Humvee, gerade einen Palast mit 29 Schlafzimmern, 39 Bädern, 2 Bowling-Bahnen, einem eigenen Kraftwerk AP Meg Whitman AP 1,2 Joe Kraus 47 Nation im Erfolgstaumel + 142,5 HAUSHALTSÜBERSCHUSS in Milliarden Dollar BÖRSENBOOM 100 11026 + 69,2 85 90 – 73,8 8000 98 2000 Prognose für den Überschuß 2000 bis 2015 insgesamt DEFIZIT – 200 +5470 6000 +2,3 – 290,4 2 +2,8 +1,2 +1,2 16. Okt. 1990 4000 2381 Milliarden Dollar 86 USA geschätzt –100 –300 +3,9 Deutschland 4 95 Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent 10 000 ÜBERSCHUSS 0 1980 WIRTSCHAFTSWACHSTUM 6 + 5,7 11. Mai 1999 Dow Jones Index 0 1990 Quelle: Datastream 1990 95 d e r s p i e g e l –0,9 99 2 7 / 1 9 9 9 –2 95 –1,1 98 Wirtschaft RECYCLING Schrott auf Reisen Die deutsche Altautoverordnung ist eine Farce: Die meisten Fahrzeuge werden exportiert – vorbei an den Verwertern. G. SCHLÄGER D as Geschäft des Autoverwerters Karl Winkler läuft nicht besonders gut. „Ein Jahr lang habe ich schon keinen Daimler mehr auf dem Hof gehabt“, klagt er. Es sind nicht nur altersschwache Mercedes, die der Freiburger Schrotthändler vermißt: Seit die Altautoverordnung am 1. April vergangenen Jahres in Kraft trat, ist die Zahl der Karossen, die auf Winklers Autofriedhof enden, um die Hälfte geschrumpft. Früher habe er 500 Tonnen Schrott pro Monat produziert, sagt Winkler: „Heute bin glücklich, wenn ich 250 Tonnen zusammenkriege.“ Obwohl immer mehr Fahrzeuge stillgelegt werden, 1998 waren es 3,2 Millionen, landen immer weniger von ihnen bei Autoverwertern: nur schätzungsweise 1,3 bis 1,5 Millionen. Der Rest, fast 2 Millionen Autos, verschwindet größtenteils ins Ausland – mal abgesehen von jenen Gefährten, die am Straßenrand dahinrosten: In Stuttgart zum Beispiel werden jeden Monat über 200 illegal abgestellte Autos gefunden, Tendenz steigend. Eigentlich sollte die deutsche Altautoverordnung die unkontrollierte Verschrottung eindämmen – in der Praxis verhält es sich eher umgekehrt. Der Schrottourismus boomt, weil das Regelwerk die Verwertung teurer gemacht hat. In der Region München, so ermittelte der ADAC, sind die Gebühren um 70 Prozent gestiegen. Meist müssen die Kunden heute etwa 100 bis 200 Mark für die Entsorgung zahlen. Eine Viertelmillion Mark hat der Norderstedter Autoverwerter Kiesow investiert, um die Anforderungen der Verordnung zu erfüllen. Nun werden Fahrzeugen alle Flüssigkeiten entzogen, die Schadstoffe beseitigt und die Autos demontiert. Die laufenden Betriebskosten sind so um fast sechs Prozent gestiegen. Kiesow versucht, sich die Kosten von den Altautobesitzern zurückzuholen, aber das sehen viele nicht ein: „Die Kunden weichen aus“, sagt Martin Kiesow. Sie inserieren zum Beispiel in Annoncenblättern „Auto zu verschenken“. Händler rufen an und bieten gelegentlich sogar noch ein paar Mark für das Fahrzeug. Dann wandern die Autos ganz legal in den Export statt in die Entsorgung. Altfahrzeuge im Hafen von Neustadt (Holstein): Zweiter Frühling im Baltikum Im vergangenen Jahr wurden am Hafen in Neustadt/Holstein 17 600 Autos in Richtung Osten verfrachtet. „Manche glauben schon, hier sei ein Schrottplatz“, erklärt Hafenmeister Karl Wegner, weshalb Autobesitzer ihre Karren einfach in der Nähe abstellen. Im Baltikum, neuerdings auch auf dem Balkan, erleben die Altautos ihren zweiten Frühling, oder sie werden einfach ausgeschlachtet – vorbei an den hiesigen Autoverwertern und wohl auch an der umweltgerechten Entsorgung. Geplant war alles ganz anders: Das Auto wird bei einem zertifizierten Verwerter gegen Gebühr umweltgerecht entsorgt, dafür bekommt der Besitzer einen Verwertungsnachweis, den er bei der Zulassungsstelle vorlegt, so die Idee. Doch die meisten finden einen anderen Weg, der als Ausnahme gedacht war: Sie melden das Fahrzeug ab und füllen lediglich eine Verbleibserklärung aus. Darin geben sie überwiegend an, das Fahrzeug ins Ausland verkauft zu haben. Was dort mit den Autos passiert, läßt sich von den Behörden kaum überprüfen. „Ich kann ja schlecht eine Dienstreise nach Litauen machen“, sagt Ewald Buck, Leiter des Abfallwirtschaftsamtes im Enzkreis in Baden-Württemberg. So könnte das Auto genausogut in einer Hinterhofwerkstatt zerlegt worden sein. Von diesen Schraubern existieren noch genügend. Von einst rund 4000 Verwertern verfügen nur gut 1000 über zertifizierte Entsorgungsanlagen. Doch die Behörden schaffen es nicht, den übrigen das Handwerk zu legen, die Papierflut lähmt sie. „Überall werden Datenfriedhöfe angelegt“, sagt Joachim Lohse vom Hamburger d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Institut Ökopol, „aber nichts passiert mit den Informationen.“ Maßlose Bürokratie, überforderte Behörden, Schlupflöcher in der Verordnung: „Das Ganze ist ein Flop“, schimpft HansGünter Fischer vom Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung. Auch die von Brüssel geplante, von der Bundesregierung aber torpedierte europäische Altautorichtlinie hätte kaum Abhilfe geleistet. Zumindest jedoch, so hofften manche Verwerter, wären die Kunden mit ihren Autos wieder eher zu ihnen als zu den Exporthändlern gegangen. Nach der EU-Richtlinie hätten nämlich nicht mehr die letzten Besitzer für die Entsorgung aufkommen müssen, sondern die Autohersteller. Doch die wetterten so laut beim Kanzler aller Autos, daß Gerhard Schröder vorerst alles beim alten beließ. Knapp 350 Mark koste sie im Schnitt die Entsorgung eines Autos, behauptet die Industrie. Doch selbst die herstellernahe Arbeitsgemeinschaft Altauto kommt „in den seltensten Fällen“ auf „mehr als 150 Mark“. Womöglich spielt die Industrie auf Zeit, um letztlich selbst ins Autorecycling einzusteigen, wie Volkswagen bereits angedeutet hat. „Wenn die Hersteller die Entsorgung irgendwann finanzieren müssen, dann wollen sie den Markt lieber gleich kontrollieren“, vermutet Ulrich Leuning von der Bundesvereinigung Deutscher Stahlrecycling- und Entsorgungsunternehmen. Dann wäre für viele Verwerter Feierabend. Schon wechseln die ersten in ein verwandtes Gewerbe: In Nürnberg hat sich die Zahl der Gebrauchtwagenhändler von 30 auf 60 verdoppelt. Alexander Jung 87 B. BOSTELMANN / ARGUM Telekom-Chef Sommer*: Gute Miene zum bösen Spiel T- A K T I E Blaues Auge Mit einer bislang einmaligen Kursattacke haben geschickte Spekulanten der Telekom den zweiten Börsengang vermiest. Jetzt ermitteln die Aufsichtsbehörden. E igentlich war Ron Sommer alles andere als „sehr zufrieden“ – auch wenn er das tapfer behauptete, dabei vergnügt in die Kameras lächelte, die Hand des Finanzministers schüttelte und mit den Kursmaklern ein Gläschen Champagner kippte. Der Telekom-Chef ließ sich seinen Verdruß am vergangenen Montag nicht anmerken. Schließlich hatte er die Deutschen gerade zum zweitenmal mit T-Aktien beglückt. 286 Millionen frische Papiere wurden zum * Am Montag vergangener Woche in der Frankfurter Börse; rechts hinter Sommer: Finanzminister Hans Eichel. Schwarzer Freitag Preis von 39,50 Euro zugeteilt, dem Schlußkurs vom Freitag zuvor. Die Mammut-Kapitalerhöhung spülte rund 21 Milliarden Mark in die Kassen der Telekom. „Ein Traumergebnis“, behauptete Sommer. Es war eher ein Alptraum. Denn in den letzten Handelsminuten des Freitags hatten Spekulanten eine in Deutschland bislang einmalige Attacke gegen einen Dax-Wert gestartet, die das Unternehmen mehr als 1,2 Milliarden Mark kostete. Und dabei ist die Telekom noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. In dem Angriff verlor die T-Aktie nämlich letztlich nur 5,2 Prozent. Mit diesem Abschlag mußte Sommer die neuen Papiere am Montag verkaufen – er hätte noch weit größer ausfallen können. Denn im Lauf des Freitags waren immer neue, unlimitierte Verkaufsaufträge für T-Aktien bei der Börse eingegangen – alle mit dem Vermerk: „Closing Auction only“. Bei so einer Schlußauktion werden alle Orders gesammelt. Sekündlich stellt der Computer den „indikativen Preis“ fest – den Kurs, zu dem bei der aktuellen Or- Wie die Telekom-Aktie am 25. Juni attackiert wurde 16.50 bis 17.00 Uhr In den letzten zehn Handelsminuten hält sich der Kurs der T-Aktie bei relativ geringem Handelsvolumen konstant um 41,70 Euro. Der Schlußkurs dieses Tages soll gleichzeitig der Ausgabekurs der neuen Telekom-Aktien sein. 16.59 Uhr, letzte Notierung: Aktienkurs in Euro 17.00 bis 17.29 Uhr Die T-Aktie stürzt bei der abschließenden Auktion jedoch derart jäh ab, daß die Festlegung eines Schlußkurses erst um 17.29 möglich ist – ein an der Börse ungewöhnlicher Vorgang. Institutionelle Anleger hatten in dieser Zeit T-Aktien in großer Zahl angeboten. 41,68 41,80 41,60 40 60 50 40 30 20 10 0 88 derlage die meisten Aktien gehandelt würden. Nach drei Minuten wird dieser Preis zum Schlußkurs – die Aufträge werden abgewickelt. Jedenfalls normalerweise. Noch um 16.59 Uhr wechselten an diesem Freitag 200 T-Aktien für 41,68 Euro den Besitzer. Um 17.00 Uhr waren die unlimitierten Verkaufsofferten im Markt. Mit verheerender Wirkung. Genau sechs Sekunden nach 17 Uhr war der indikative Preis schier lotrecht um 30 Prozent auf 30 Euro abgestürzt. Hektik brach aus in den Handelssälen, ungläubig starrten Börsianer auf ihre Bildschirme, Telefonleitungen waren blockiert, die Gerüchte überschlugen sich. Der Kurs hatte sämtliche Korridore, die die Börse gegen allzu große Schwankungen eingebaut hat, durchbrochen. Eilig wiederholten die Frankfurter Kurswächter die Auktion – um allen Marktteilnehmern die Möglichkeit zu geben, auf die Verkauforders zu reagieren. Doch auch um 17.05 Uhr und 59 Sekunden lag die T-Aktie mit einem Kurs von knapp 37 Euro weit außerhalb des Korridors. Eine zeitlich unlimitierte Auktion begann, während die meisten der an der Kapitalerhöhung beteiligten Banken verzweifelt versuchten, von ihren Kunden Kauforders für die T-Aktie zu organisieren, um so den Kurs zu stützen – und die Anbieter in ihre Schranken zu weisen. Zu den Verkäufern zählten vor allem das kanadische Maple-Partners-Bankhaus (4,2 Millionen Aktien), die BHF-Bank (1,4 Millionen) und die Bankgesellschaft Berlin (1,1 Millionen). Auch Trinkaus & Burkhardt, die HypoVereinsbank sowie Fimat International Banque, eine Tochter der Société Générale, warfen einige hunderttausend Aktien auf den Markt. Insgesamt verkauften knapp 30 Banken und Makler 12,93 Millionen T-Aktien. Die französische Bank Paribas dagegen orderte 1,5 Millionen T-Aktien, der Freimakler Wolfgang Steubing eine Million, Dresdner Bank und Deutsche Bank je Indikativer Preis in Euro 17.09 Uhr: 39,50 17.29 Uhr, Schlußkurs: 39,50 38 Kontrakte gehandelte Aktien in tausend Stück 36 34 32 30 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 17.04 Uhr: 35,00 17.03 Uhr: 33,00 17.02 Uhr: 31,00 17.00 Uhr: 30,00 Zum Schlußkurs wurde schließlich die enorme Zahl von 12,9 Millionen Aktien im Wert von rund einer Milliarde Mark gehandelt. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite DPA Börsenchef Seifert Kritische Situation 600 000 Aktien. Gemeinsam konnten sie das Schlimmste verhindern. Schon gegen 17.09 Uhr lag die Kursschätzung bei 39,50 Euro, sie rutschte später zwar erneut auf 37,70 Euro ab. Aber um 17.29 Uhr und 13 Sekunden hatte sich der Kurs endgültig stabilisiert: Der für die Handelsüberwachung zuständige Börsenvorstand Reto Francioni schloß die Auktion. Börsenchef Werner Seifert war zufrieden. Der Ausgang der Attacke zeigte, daß das erst vor zwei Jahren eingeführte Computer-Handelssystem Xetra auch mit äußerst kritischen Situationen fertig wird. Auch Heinz-Jürgen Schäfer und Stephan Schuster, die beiden für die Konsortial-Führerschaft zuständigen Manager bei Dresdner und Deutscher Bank, wischten sich den Schweiß von der Stirn. Sie hatten Ron Sommer ausdrücklich vor diesem Angriff gewarnt – daß er aber so heftig kommen sollte, damit hatten sie gewiß nicht gerechnet. In der Tat hat sich Sommer das Drama um die T-Aktie selbst zuzuschreiben. Sein für die Kapitalerhöhung zuständiger Manager, Helmut Reuschenbach, wollte die neuen Aktien am Montag zum Schlußkurs vom Freitag verkaufen: eine völlig ungewöhnliche Festsetzung des Ausgabekurses, die ein entscheidendes Manko in sich birgt. Die Telekom hatte ihren Altaktionären nämlich auch Bezugsrechte für die neuen Aktien zugeteilt. Zehn der handelbaren Scheine berechtigten zum Kauf einer TAktie mit einem Preisabschlag von zwei Euro. Der innere Wert eines Scheines betrug somit 20 Cent. Doch die Bezugsrechte wurden teilweise unter 20 Cent gehandelt – allein an jenem für die Telekom verhängnisvollen Freitag wechselten 104 Millionen Scheine für rund 0,18 Euro die Besitzer. Gewiefte Anleger witterten eine risikolose Arbitrage – ein Geschäft, das kurzfristige Kursdifferenzen eines Wertpapiers ausnutzt. Wer sich etwa zehn Millionen Bezugsrechte für 18 Cent gesichert hatte, brauchte am Freitag nur eine Million T-Akd e r tien zum Schlußkurs zu verkaufen. Wie tief der letzte Kurs war, konnte ihm dabei völlig egal sein. Denn schon am Montag würde er, dank seiner Bezugsrechte, eine Million T-Aktien für zwei Euro unter ebendiesem Schlußkurs zurückkaufen können. Brutto-Einnahme: zwei Millionen Euro. Bei Ausgaben von 1,8 Millionen Euro für die Bezugsrechte bleiben 200 000 Euro Gewinn. Als ein lupenreines „free lunch“, ein kostenloses Mittagessen, bezeichnete ein Frankfurter Banker die von der Telekom gebotene, risikolose Verdienstmöglichkeit. Auch die Feinde der Telekom hatten ein leichtes Spiel. Sie brauchten sich nur eine große Zahl der Bezugsrechte zu sichern und konnten so der Telekom durch massive Verkäufe den letzten Kurs – und damit den Preis für die Kapitalerhöhung – vermiesen. Und das bei relativ geringen Kosten, selbst wenn sie nicht alle zur Absicherung notwendigen Bezugsrechte für 0,2 Euro bekommen haben. Bei vielen der Banken, die in der Schlußauktion die Aktien verschleuderten, herrscht mittlerweile betretenes Schweigen. Denn zumindest einige haben, den Unterlagen der Börse zufolge, für die eigenen Bücher gehandelt. Zum Beispiel die BHF-Bank, die dies jedoch bestreitet. „Es war ein Kunde, für den wir die Aktien verkauft haben“, sagt Chefaktienhändler Christoph Arzt. Einige der Institute haben wohl tatsächlich für Kunden gehandelt. Wer also sind die Hintermänner der Attacke? Genau das ermittelt nun das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel und die hessische Börsenaufsichtsbehörde. Viele Banker vermuten eine Verschwörung der institutionellen Anleger. Denn die haben einen triftigen Grund, der Telekom eins auszuwischen. Hintergrund ist ein kleiner, aber sehr effektiver Trick, mit dem Sommer die T-Aktie nach oben trieb: Er ließ die Telekom-Anteile des Bundes für die Börse zu – obwohl die dort gar nicht gehandelt werden. Dadurch stieg das Gewicht der Telekom im Dax von 6 auf 14,7 Prozent – und viele Fondsmanager, die sich am Dax orientieren, mußten sich für teures Geld mit den Papieren eindecken. Der Kurs der T-Aktie kletterte deshalb rechtzeitig zur Kapitalerhöhung von 35 Euro auf über 45 Euro. Und einige wenige, nicht an der Kapitalerhöhung beteiligte Banken fanden dafür klare Worte. Die Aktie sei viel zu teuer, warnte etwa das Bankhaus Julius Bär. Analysten vom Credit Lyonnais errechneten einen „fair value“ von 37 Euro für das T-Papier. Wer auch immer hinter der Attacke stand – die Millionen Kleinanleger, die neue T-Aktien geordert hatten, können ihnen dankbar sein. Sie haben die T-Aktie dadurch zu einem Preis bekommen, von dem sie wenige Tage zuvor nur träumen konnten. Wolfgang Bittner, Wolfgang Reuter s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 91 Wirtschaft AU T O M O B I L I N D U S T R I E „Ich trage alle Ideale mit mir“ William Clay Ford Jr., Chef des Ford-Verwaltungsrats, über seinen Familienclan, die Probleme im Deutschlandgeschäft und seine Visionen vom ökologischen Autokonzern J. ABBOTT SPIEGEL: Herr Ford, Sie sollen als Ford: Den Edsel als Symbol seiMitglied der Eigentümer-Faminer Amtszeit anzuführen wäre lie den zweitgrößten Automoabsolut falsch. Henry Ford II. hat bilkonzern der Welt führen. Was das Unternehmen nach dem qualifiziert Sie für diese SpitZweiten Weltkrieg aus den Ruizenposition? nen wiederaufgebaut – uns trennten noch ein Monat oder Ford: Ich bin mit der Ford Motor zwei vom Konkurs. Er kam als Company aufgewachsen. Sie ist 28jähriger Mann und hat dann ein Teil meines Lebens seit meidie gesamte Firma erneuert. Ich ner Geburt. Inzwischen habe ich akzeptiere nicht, daß ein Fehdort 21 Berufsjahre verbracht. ler, der sicher bemerkenswert Meine Familie hat kein Intereswar, die großen Erfolge überse daran, jemanden an die Spitschatten soll, die mein Onze zu setzen, der untauglich ist. kel hatte. So mußte ich mich nach meinem Studium in Princeton und SPIEGEL: Er war für seinen sehr am Massachusetts Institute of autoritären Führungsstil beTechnology über Jahre hinweg kannt. Unangenehme Diskusimmer aufs neue bewähren. sionen beendete er mit dem Ausspruch: „Mein Name steht SPIEGEL: Management und Faauf der Fabrik.“ milie standen lange miteinander im Streit. „Ein Ford zu sein, Ford: Ich würde nicht behaupmacht keine längeren Beine“, ten, daß das bezeichnend für sagte der frühere Vorstandschef seinen Führungsstil gewesen sei. Donald Petersen. Die Ford Motor Company war enorm erfolgreich unter seiner Ford: Das war 1987, ein Jahr beWilliam Clay Ford Jr. Führung, das ist doch unbevor ich in den Verwaltungsrat stritten. eintrat. Im ganzen Unternehist der Urenkel des Firmengründers Henry Ford. Der Milmen jedoch, ich rede jetzt nicht liardenerbe übernahm im Januar den Vorsitz des VerwalSPIEGEL: Als er 1980 in den Runur vom Top-Management, ist tungsrats der Ford Motor Company. Seit sein Onkel Henry hestand ging, wurde die Familie man sehr froh über das MitwirFord II. diese Position 1980 abgab, ist Ford, 42, das erste Fafürs erste von allen Führungsken der Familie. Ford ist bis heumilienmitglied, das wieder an der Spitze des zweitgrößten positionen ausgeschlossen. te kein namenloser Gigant, der Autokonzerns der Welt steht. Die Familie verfügt über 40 Ford: Es stand einfach kein gevon anonymen Investmentfonds Prozent der stimmberechtigten Aktien. Nach dem Studium eignetes Familienmitglied zur beherrscht wird. an der Universität Princeton und dem Massachusetts InstiVerfügung. Mein Vater wurde tute of Technology trat Ford 1979 in das Unternehmen ein. gerade am offenen Herzen opeSPIEGEL: Mit Ihnen an der Spitriert, und meine Generation war ze will Ford erklärtermaßen noch zu jung. wieder mehr Autos verkaufen als General Motors und zum erstenmal seit setzen und über die beste integrierte Stra- SPIEGEL: Jetzt rückt mit Ihnen wieder ein 1927 wieder der größte Automobilherstel- tegie für Ford nachdenken müssen, die alle Familienmitglied ganz nach oben. Was ist Ihr Ziel? Ein großes Unternehmen noch ler der Welt werden. Wann soll das Über- Marken einbezieht. SPIEGEL: Das Design der deutschen Ford- größer zu machen? holmanöver stattfinden? Ford: Darüber denken wir gar nicht nach. Modelle war lange Zeit schrecklich lang- Ford: Nein. Für diese Aufgabe gäbe es unGröße ist für mich nicht notwendiger- weilig, manchmal geradezu häßlich. Der zählige andere. Natürlich besteht das Geweise ein Garant für Erfolg. Die Basisda- letzte Ford Scorpio scheiterte am Markt, schäft im wesentlichen darin, Gewinne zu ten des Unternehmens müssen stimmen. die Produktion mußte wegen mangelnder erwirtschaften und die Aktionäre zufrieWas wir brauchen, sind hervorragende Nachfrage vorzeitig eingestellt werden. denzustellen – auch im Interesse unserer Produkte, große Kundenzufriedenheit und Ford: Die Resonanz auf den Ford Focus und Familie, die über 40 Prozent des Aktienein strenges Kostenmanagement. Gewin- den Ford KA ist dafür sehr positiv. Stimmrechts verfügt.Aber über diesem Ziel ne und Wachstum kommen dann auto- SPIEGEL: Kritiker verglichen den Scorpio steht ein viel bedeutenderes. Was mich anmatisch. mit dem völlig mißratenen Ford Edsel der treibt und was ich erkannt habe: Wir befinSPIEGEL: Ford hat in Europa enorme späten Fünfziger. Dessen Frontgrill, hieß den uns mitten in einer zweiten großen inSchwierigkeiten. In Deutschland fiel der es, glich einem Mund, der an einer Zitro- dustriellen Revolution. Es geht darum, Ford ne saugt. Der Wagen war einer der größten zum Vorreiter umweltfreundlicher TechniMarktanteil 1998 unter zehn Prozent. Ford: Hier haben wir viel zu tun, da haben Flops der Ford-Geschichte. Ihr Onkel, Hen- ken zu machen, zum Musterbeispiel für soSie recht. Deutschland ist ein gutes Bei- ry Ford II., hat sich da kein schönes Denk- ziale Verantwortung. Ich denke, das ist eine wichtige Grundlage für langfristigen Erfolg. spiel dafür, daß wir uns jetzt zusammen- mal gesetzt. 92 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Kampf der Giganten Ford Motor Company Ford Aston Martin Jaguar Lincoln Mazda Mercury Volvo tut die amerikanische Autoindustrie praktisch nichts. Ford: Das ist richtig. Besonders in den USA verlangen die Konsumenten nach Fahrzeugen, die alles andere als sparsam sind. Wir müssen diese Produkte anbieten. Was wir tun können, ist, sie wenigstens so sauber wie möglich zu machen. SPIEGEL: Kürzlich stellte Ford einen gewaltigen Geländewagen namens „Excursion“ vor, der etwa 20 Liter auf 100 Kilo- Ford-Brennstoffzellenauto: „Die Industrie sauberer machen“ meter verbraucht. Ford: Seine Abgase werden aber 45 Pro- Die führenden Technologien zur Entwickzent sauberer sein als der Durchschnitt die- lung sparsamerer Autos, etwa die ersten ser Fahrzeuge. Außerdem wird er die höch- TDI-Diesel von Audi und VW oder die ste Quote wiederverwertbarer Teile in sei- Benzinmotoren mit Direkteinspritzung ner Klasse erfüllen. Die Lackiererei, aus von Mitsubishi, kamen stets aus Ländern der er kommt, ist die sauberste in Ameri- mit hohen Kraftstoffpreisen. ka. Natürlich könnten wir auch das ge- Ford: Das ist richtig. Amerika hat hier einen samte Fahrzeugsegment verlassen und nur strategischen Nachteil. Deswegen müssen noch sogenannte Drei-Liter-Autos anbie- wir um so mehr der Legislative vorauseilen. ten. Das wäre eine große Geste, nur leider Und wir tun das, zum Beispiel mit der Entwürden solche Autos beim Händler ste- wicklung alternativer Techniken. Ford arhen, bis sie eckige Reifen haben. Das wür- beitet etwa am Brennstoffzellenantrieb, der de weder dem Aktionär noch der Umwelt umweltfreundlichen Wasserstoff schluckt etwas bringen. und keine giftigen Abgase ausstößt – SPIEGEL: In vielen Staaten der USA ist Ben- nur Wasser. zin billiger als Mineralwasser. Als Auto- SPIEGEL: Aber Ford war nicht der Pionier manager, der sich grüne Thesen auf die dieser Technik. Daimler-Benz brachte schon Fahnen schreibt, sollten Sie vielleicht die 1994, lange vor der Fusion mit Chrysler, amerikanische Regierung ermutigen, die den ersten Versuchswagen auf die Straße. Kraftstoffpreise drastisch anzuheben. Ford schloß sich dem Projekt erst vor einFord: Der Kraftstoff ist in den USA zu bil- einhalb Jahren an. lig, das ist ein Problem. Wir sind starke Ford: Aber heute sind wir genauso weit. Befürworter einer höheren Kraftstoff- Wir werden, wie DaimlerChrysler, im Jahr besteuerung und haben schon konkret 2004 mit den ersten Brennstoffzellenautos 50 Cent für die Gallone, also umgerechnet in den Handel gehen – und mit einem Mit25 Pfennig pro Liter, gefordert. Doch es telklassewagen, der größere Marktchancen fehlt der politische Wille in Washington. hat als die Minis, mit denen andere HerSPIEGEL: 25 Pfennig pro Liter, das wäre steller das versuchen werden. noch keine Revolution. Bei uns haben Po- SPIEGEL: Der frühere Vizepräsident von litiker der Grünen schon fünf Mark pro Li- Chrysler, Robert Lutz, verglich Umweltter gefordert, und eben wurde eine Öko- kämpfer einmal mit Kommunisten, die die steuer eingeführt. Vielleicht kein Zufall: freie Mobilität torpedieren wollen – eine Ansicht, die im Automanagement noch imGeneral Motors mer verbreitet scheint. Verkaufte Fahrzeuge in Millionen GMC Ford: Das glaube ich nicht. Ich schätze Bob 8,57 8,15 Buick Lutz sehr. Er war einer der besten Spit8,05 7,54 Cadillac zenmanager, die unsere Autoindustrie je Chevrolet hatte. Und er würde mit meiner heutigen Holden 6,68 6,61 Strategie voll übereinstimmen. Unser Ziel Isuzu 5,94 ist nicht, die Leute in Autos zu zwingen, die 7,22* Oldsmobile sie nicht wollen. Wir müssen das, was die Opel * 1998 mit Volvo Leute wollen, so sauber wie möglich Pontiac 1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 hinkriegen. Ich setze auf den Durchbruch Saab umweltfreundlicher Techniken: Mein UrSaturn großvater hat einmal gesagt, das T-Modell Vauxhall sei in jeder Farbe lieferbar, solange sie schwarz sei. Ich möchte, daß Ford einmal Autos aller Art anbietet – Hauptsache, sie Interview: Gabor Steingart, sind grün. Christian Wüst d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 93 A. FREEBERG SPIEGEL: Auf jeden Fall sind das große Worte. Teilt die Familie diese Ansicht? Wagt sie überhaupt, Ihnen zu widersprechen? Ford: Aber sicher. Sie wissen, wie Familien sind. Verwandte sind meist die schärfsten Kritiker, aber auch ein großer Rückhalt. SPIEGEL: Schon in Ihren College-Jahren galten Sie als Enfant terrible. Sie haben oft öffentlich darüber nachgedacht, die Firma ganz hinter sich zu lassen und einen Umwelt-Fonds zu gründen. Ford: Enfant terrible? Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen. Die Familie hat mich nie als schwarzes Schaf angesehen. Das ist absolut nicht wahr. Höchstwahrscheinlich habe ich die traditionellste Erziehung unter allen Verwandten meiner Generation genossen. Ich ging direkt nach dem Studium zu Ford. SPIEGEL: Aber Sie haben stets sehr unbequeme Öko-Thesen vertreten. Wie viele Ihrer früheren Ideale können Sie ins Management mitnehmen? Ford: Ich trage alle Ideale weiter mit mir. Klar ist, wenn Sie 18 sind, dann wissen Sie nicht viel darüber, wie die Welt funktioniert. Damals war ich schlicht umweltbewegt; heute versuche ich, unsere Industrie sauberer zu machen, die Autos selbst und auch die Fabriken. SPIEGEL: Ford ist kein Ökokonzern – Sie stellen die meisten spritschluckenden Pickups und Geländewagen her. Ford: Moment mal. Wir sind der einzige Hersteller in den USA, der sämtliche Pickup-Trucks nach den niedrigeren Pkw-Emissionsstandards zuläßt, obwohl der Gesetzgeber das nicht fordert. Wir haben mehr Fahrzeuge für alternative Kraftstoffe in den Verkehr gebracht als jeder andere Autokonzern. Wir sind die einzigen, die weltweit alle Fabriken nach der strengen Umweltrichtlinie ISO 14 000 zertifiziert haben. Wenn Sie das alles zusammenrechnen, kommt niemand auch nur in die Nähe unseres Umweltengagements. SPIEGEL: Sie konzentrieren sich sehr auf Emissionen, die seit der Einführung des Katalysators nicht mehr das ganz große Problem sind. Viel bedrohlicher erscheint der Raubbau an fossiler Energie. Dagegen Wirtschaft ter gesetzlicher Vorschriften und zur Ausweitung ihres Geschäfts dringend frisches Eigenkapital. Die Düsseldorfer Landesregierung verfiel auf die Idee, ihrem Institut die ebenfalls dem Land gehörende Wohnungsbauförderungsanstalt zu übereignen. Die steht seither mit 5,9 Milliarden in der Bilanz. Davon erkannte das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen jedoch nur 4 Milliarden Mark als Haftungskapital an. Von dieser Summe waren 1,5 Milliarden für die Wohnungsbaugeschäfte blockiert, 2,5 Milliarden aber halfen der WestLB als Wenig professionell W. M. WEBER Karel Van Miert zwingt die WestLB zu einer Rückzahlung von rund 1,6 Milliarden Mark. Er hält die staatlichen Zuschüsse für unzulässig. WestLB-Chef Neuber Magere Zinsen für den Investor D ie Exekutoren des EU-Kommissars trieben keinen überflüssigen Aufwand. Auf dem Flur des Centre Borschette informierten Beamte des Wettbewerbskommissars Karel Van Miert die Abgesandten der Düsseldorfer Landesbank WestLB knapp, sie hätten rund 1,6 Milliarden Mark Buße zu zahlen. In dieser Woche soll die Kommission Van Mierts Verdikt bestätigen. Bis zum Freitag widersprach nur Monika WulfMathies. Der Spruch, wenn er denn Bestand haben sollte, wird gravierende Folgen für die staatliche Beteiligung an Unternehmen haben. „Damit würde die Kommission“, empört sich WestLB-Chef Friedel Neuber, „die Privatisierung aller wirtschaftlichen Beteiligungen des Staates erzwingen.“ Der Fall WestLB ist für Van Miert ein Präzedenzfall. Setzt er sich mit seiner Entscheidung durch, kündigt der Kommissar in seinem geheimen Entscheidungsentwurf bereits jetzt an, müsse sein Nachfolger auch die Landesbanken in Berlin, Hamburg, Bayern und Schleswig-Holstein mit Beihilfeverfahren überziehen – mit ähnlichen Ergebnissen. Doch die WestLB gibt noch nicht auf. Neuber ist überzeugt, Van Miert habe sich mit dem Ziel, Bund, Länder und Gemeinden auf dem Beihilfenweg vom Markt zu vertreiben, übernommen. 1992 brauchte die WestLB, ähnlich wie andere Landesbanken, aufgrund geänder94 Am Ende ergibt sich in Van Mierts kompliziertem Rechenwerk eine Verzinsung von 9,7 Prozent, die die Konkurrenten der WestLB für die Milliarden hätten aufbringen müssen, die WestLB aber zahlte nur 0,6 Prozent. Der Gewinnverzicht des Landes ist für Van Miert eine versteckte Staatsbeihilfe, die sich auf 1,6 Milliarden Mark summiert. Diesen Betrag soll die WestLB zurückerstatten, plus Zinsen. Wie aber kommt der Kommissar auf die erstaunlich hohe Eigenkapitalrendite von zwölf Prozent nach Steuern als Grundlage seines Rechenwerks? In ihrem Entscheidungsentwurf nehmen seine Beamten die Eigenkapitalrendite der Banken als Maßstab. In der Fußnote 47 zitieren die Beamten Zahlen der Europäischen Zentralbank (EZB), die wiederum von der OECD stammen. Danach lag die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Banken in den Jahren von 1990 bis 1993 zwischen 11,9 und 14,4 Prozent. Das paßt ungefähr zu den jährlichen Angaben der Deutschen Bundesbank. Doch es gibt einen entscheidenden Dissens. Die Kommission betrachtet die Ziffern als Wert nach Steuern. In den jährlichen Berichten der Bundesbank sind die fast gleichen Zahlen jedoch als Wert vor Abzug der Steuern klassifiziert. Seit dieser Entdeckung hoffen die WestLB-Manager, die Brüsseler Beamten könnten die Vorsteuer- und Nachsteuerwerte schlicht verwechselt haben. Dann wären zwar immer noch WestLB-Zentrale: Ein Präzedenzfall für Brüssel Nachzahlungen fällig, aber Eigenkapital, ihre Geschäfte auszudehnen wesentlich geringere. Das System der öfund den Privatbanken auf allen Sektoren fentlichen Banken wäre gerettet. Die Hoffnung ist verfrüht. Man sei in Konkurrenz zu machen. Für die Kapitalspritze zahlte die WestLB dem Investor der Tat auf eine „wenig professionelle“ NRW pro Jahr 1,1 Prozent vor und 0,6 Pro- Formulierung in dem EZB-Bericht hereingefallen und habe den Vorsteuerwert zent nach Steuern. Das rief die Konkurrenten auf den Plan. fälschlich als Nachsteuerwert-Beleg herSie selbst, jammerten die deutschen Pri- angezogen, räumt ein Fachbeamter der vatbanken, müßten für frisches haftendes Generaldirektion Wettbewerb ein. Für Eigenkapital viel mehr zahlen, der niedri- die Festsetzung der Referenzrendite von ge Zins sei eine verdeckte, nicht geneh- zwölf Prozent sei dies jedoch nur ein zumigte Beihilfe des Landes an seine Bank sätzliches Mosaiksteinchen gewesen. Es komme allein darauf an, welche Rendiund müsse daher verboten werden. Kein privater Investor, meint Karel Van teerwartungen ein Investor 1992 als MoMiert, hätte der damals nicht gerade glän- tiv für eine Kapitalspritze bei der WestLB zend verdienenden WestLB zu diesen Be- hätte haben müssen – und da sei die dingungen so viele Milliarden als Eigenka- Generaldirektion auf zwölf Prozent gepital gegeben. Der private Anleger hätte kommen. Die Fußnote wird nun aus der Entscheieine übliche Vergütung erwartet. Die beziffert der Kommissar auf 12 Prozent nach dungsbegründung entfernt. Eine ErsatzbeSteuern. Daraus errechnet er eine Vor- gründung für den Zwölf-Prozent-Satz aber gibt es nicht. Winfried Didzoleit steuerrendite von 23,7 Prozent. T. SCHMIDT / VISUM WETTBEWERB d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 KARRIEREN Unser Ronaldo E in Kommissionsmitglied hielt Martin Bangemann bis zuletzt die Stange – Edith Cresson, ausgerechnet. Die Kommissarin verteidigte am vorigen Donnerstag in einer vertraulichen Sondersitzung der EU-Kommission in Brüssel den deutschen Goldfinger: Grundsätzlich sei doch nichts dagegen einzuwenden, daß der Kommissar zur Industrie wechsele. Das müsse man mit Milde betrachten. Sie legte offenbar die eigenen Maßstäbe an. Bis zuletzt hatte sich die Französin, trotz offenkundiger Günstlingswirtschaft und groben Mißmanagements, geweigert zurückzutreten. Sie trug so zum Sturz der Kommission des Jacques Santer bei. Mit dem üblichen Lächeln ließ der dicke Deutsche die Empörung der anderen ExKollegen an sich abperlen. Daß Bangemann, als Industriekommissar auch zuständig für die Telekommunikation, ohne jede Schamfrist mit seinem Insiderwissen als Topberater zum Topgehalt (angeblich zwei Millionen Mark im Jahr) zur spanischen Telekommunikationsfirma Telefónica wechselt, habe ihn, so Neil Kinnock, „glatt umgehauen“. Der Brite prangerte das Verhalten des Kommissars als eklatanten Verstoß „gegen den Geist und wohl auch den Buchstaben“ des EU-Vertrags an. Artikel 213 verpflichtet die Kommissare, nach dem Ausscheiden aus dem Amt „bei der Annahme gewisser Tätigkeiten oder Vorteile ehrenhaft und zurückhaltend zu sein“. Wettbewerbskommissar Karel Van Miert gab zu Protokoll, anders als im Falle der Fusion Bertelsmann/Kirch habe Bangemann nicht bei ihm interveniert, wenn es um Telefónica ging. „Das große Problem“ aber seien Bangemanns Insider-Informationen. Er habe „sehr sensible“ Kenntnisse über Strategien europäischer Unternehmen erhalten. Wenn er die jetzt mitnehme, dann sei das „wie Insider-Trading“. „Er ist unser Ronaldo“, pries hingegen der Telefónica-Chef Juan Villalonga den Kommissar, als habe er das brasilianische Fußballwunder eingekauft. Bangemann ist zweifellos für die Gesellschaft, die 70 Prozent des heimischen Mobiltelefonmarkts beherrscht und in Lateinamerika in die Offensive gehen will, eine interessante Akquisition. Ein früherer Spitzenmanager der Deutschen Post-Telekom berichtet, vor strategischen Entscheidungen über Beteiligung etwa an US-Firmen habe man bei Wettbe- AFP / DPA EU-Kommissar Martin Bangemann verkauft sich samt InsiderWissen an die Telefónica – weil er sich so gelangweilt hat. Künftiger Telefónica-Manager Bangemann, Chef Villalonga: Sehr sensible Kenntnisse werbswächter Karel Van Miert und dessen Kommissionskollegen Bangemann zwangsläufig streng vertrauliche Interna ausbreiten müssen, die keinesfalls den Mitbewerbern zur Kenntnis gebracht werden dürften. Beileibe nicht nur eine Stilfrage sei es, so ein ranghoher Vertreter der Bonner Regulierungsbehörde, wenn Bangemann Wissen mitnehme, das die europäischen Telekomfirmen ihm als EU-Regulierer anvertraut hätten. Solche Daten würden sie Konkurrenten niemals offenbaren. Bangemann hat sich zwar am Donnerstag vor der Kommission verpflichtet, nichts Vertrauliches weiterzugeben. Muß er ja auch nicht. Wenn er als Berater der Telefónica Vorschläge macht, braucht er nicht zu sagen, woher er seine Weisheiten hat. Für die Spanier ist Fachmann Bangemann auch wegen seines Netzwerks interessant, das er im Beamtenapparat der EUKommission wie zu Politikern in aller Welt unterhält. Noch kurz vor seinem Ausscheiden hat er vier Mitarbeiter seines Kabinetts mit bestens dotierten Jobs in der Kommissionsverwaltung versorgt. Bei Medienmann Leo Kirch war zuvor ein weiteres Kabinettsmitglied untergekommen. Die zehn größten Telekommunikationsunternehmen Europas UNTERNEHMEN LAND UMSATZ * in Milliarden Euro 1 Deutsche Telekom Deutschland 35,7 2 France Télécom Frankreich 24,6 3 British Telecom Großbritannien 23,2 4 Telecom Italia Italien 22,1 5 Telefónica Spanien 17,5 Gewinn: 1,3 Milliarden Euro Beschäftigte: 62 000 6 Cable & Wireless Großbritannien 12,4 7 KPN Niederlande 8,0 8 Swisscom Schweiz 6,5 9 Telia Schweden 5,3 10 Tele Danmark Dänemark 4,8 *jeweils letztes Geschäftsjahr d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Für Kommissionspräsident Santer war es ein „richtiger Schock“, als er beim EUGipfel in Rio von Bangemanns Coup, seit Monaten insgeheim vorbereitet, erfuhr. In einem frostigen Schreiben forderte er Bangemann auf, seine Funktionen niederzulegen, zugleich aber verlangte er von ihm, im Amt zu bleiben, bis der Ministerrat über die Nachfolge entschieden habe. Diebisch gefreut, erzählte Bangemann, habe es ihn, wie er dem EU-Ratspräsidenten, dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder, seinen Umstieg „verklickert“ habe: Er würde sich in Brüssel „zu Tode langweilen“ und habe einfach keine Lust mehr, womöglich bis Dezember herumzusitzen. Bei dem Angebot aus Spanien habe er schnell zupacken müssen. Der Griff nach dem großen Geld krönt eine Karriere, bei der sich Bangemann von Niederlage zu Niederlage nach oben befördert hat. Kaum hatte er 1974 eine Bauträgerfirma in den Konkurs gesteuert, machte ihn die FDP zum Generalsekretär. 1979 übernahm er die Liberale Fraktion im Europäischen Parlament. Nach einer Legislaturperiode sackte die FDP-Riege unter fünf Prozent, Bangemann jedoch landete im Sessel des Bundeswirtschaftsministers und FDP-Parteivorsitzenden. In beiden Jobs erfolglos, schaffte er 1989 den Absprung nach Brüssel. Besser dotiert als der Bundeskanzler, fiel der Kommissar durch ein besonderes Amtsverständnis auf. Seine Abneigung gegen Aktenstudium und Kommissionssitzungen trug ihm eine Abmahnung des Kommissionspräsidenten ein. Und obgleich es große Fragezeichen hinter dem Verbleib von EU-Fördermitteln beim Bau einer Luxusjacht oder bei Rednerauftritten des Lebemanns gab – der Name Bangemann fand sich auf wundersame Weise nicht im Bericht der Weisen, über den die Santer-Kommission stürzte. Gut davongekommen ist Bangemann auch zum Schluß. Die Kommission verzichtete darauf, sein Verhalten förmlich zu verurteilen, und beließ es dabei, ihre „Überraschung“ zu erklären. „Die meisten von denen wollen es doch Bangemann nachmachen“, weiß ein Mitglied des SanterKabinetts, „und so schnell wie möglich auf einen Topjob in der Industrie.“ Dirk Koch 95 Werbeseite Werbeseite Medien Trends RTL Jauch im Wintersport? R RTL TL will seinen Moderator Günther Jauch bei der Übertragung von Wintersport-Wettkämpfen einsetzen. „Es gibt derzeit Gespräche darüber“, bestätigt Chefredakteur Hans Mahr. Gleichzeitig würde sein bis März 2000 laufender Vertrag verlängert. Fußball-Experte Jauch soll schon bald für die neue Aufgabe geschult werden. RTL will aus den Skispringen, die der Sender ab Anfang 2000 erstmals über- Jauch, Beckenbauer trägt, ein quotenträchtiges TV-Familienereignis machen – „eine Formel 1 im Winter“, so Mahr. Jauchs alten Job, die Moderation der Fußball-Champions-League, übernimmt nach dem Wechsel der TVRechte zum Sender TM 3 wohl der dortige Sportchef Michael Pfad. Der gebürtige Hamburger, der vorher für den Pay-TV-Sender Premiere arbeitete, wird dabei voraussichtlich mit Franz Beckenbauer zusammenarbeiten. Die Fußball-Legende, die bislang Jauch assistierte, hat allerdings noch einen Vertrag mit der RTL-Mutterfirma CLT-Ufa, der nun eine Vermittlungsgebühr zusteht. FERNSEHEN WERBUNG Naddel kommt Kreative Hitze DPA it einem Ein-Jahres-Vertrag bei RTL 2 startet Nadja ab del Farrag („Naddel“), 34, ihre TV-Karriere. Die Gegenspielerin von Fernsehstar Verona Farrag, Bohlen Feldbusch moderiert vom Herbst an die Erotiksendung „Peep“. Ihr sei „ein großes Mitspracherecht“ eingeräumt worden, sagt ihr Lebensgefährte, Popsänger Dieter Bohlen (Modern Talking). Harte Sexszenen sollen bei „Peep“ wegfallen, Farrag will journalistisch arbeiten. Für den Job, der mit rund einer Million Mark honoriert wird, verzichtete sie auf die Moderation der geplanten Samstagssendung „Talk, Talk, Talk“ auf Pro Sieben, in der skurrile Talkszenen wiederaufbereitet werden sollen. Die TV-Novizin wird zudem in dem RTL-Film „SOS Barracuda“ eine Polizistin mimen. A uf internationalen Werbefestivals belegen die Deutschen seit Jahren letzte Ränge, jetzt scheint die Trendwende geschafft. Mit Kampagnen von Ogilvy & Mather („Südwestrundfunk“), Springer & Jacoby („Lufthansa“) und Jung von Matt („Bild“) errangen die Deutschen in Cannes den fünften Platz. Selbst auf US-Festivals wurden sie in diesem Jahr reichlich ausgezeichnet. „Endlich liegen wir im Ranking nicht mehr zwischen Nordportugal und Südfinnland“, jubelt Delle Krause, Jury-Mitglied in Cannes und Kreativchef von Ogilvy. Für Sebastian Turner, Berlin-Chef von Scholz & Friends („Frankfurter Allgemeine“) gibt es einen einfachen Erfolgsgrund: „An den Agenturschreibtischen sitzt die erste Generation, die vor dem Fernseher aufgewachsen ist“ – entsprechend wachse das Gefühl fürs Medium. André Kemper, Kreativdirektor bei Springer & Jacoby („Mercedes“, SPIEGEL), fehlte in Deutschland bislang „die kreative Hitze“, weil die Werber-Szene auf zu viele Städte verteilt war. „Berlin wird ein Schmelztiegel für Werber“, glaubt Kemper, der bereits erwägt, seine Agentur komplett von Hamburg nach Berlin zu verlegen. Nur einer lästert: „Gemessen am Gewicht der deutschen Mediaetats“, sagt Jean-Remy von Matt, dessen Agentur gerade wieder mit Preisen überhäuft wurde, „sind die Zufallstreffer von Cannes ein trauriges Ergebnis.“ Audi-Anzeige von Jung von Matt PRESSE Löffler geht B ei dem Hamburger Wochenblatt „Die Zeit“ steht die Ablösung der Feuilletonchefin Sigrid Löffler bevor. Chefredakteur Roger de Weck forderte in einer Sitzung das Ressort bereits auf, mit ihm nach einem Nachfolger zu suchen. Die freie Journalistin und ehemalige Chefredakteurin der „taz“, Elke d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Schmitter, sagte freilich schon ab. Löffler, bekannt als Mitglied des „Literarischen Quartetts“ im ZDF, war bereits bei der Einführung eines Literaturteils in der „Zeit“ übergangen worden. Wahrscheinlich bekommt die 56jährige Österreicherin, die 1996 bei dem Blatt des Stuttgarter Verlegers Dieter von Holtzbrinck begann und derzeit urlaubt, einen Autorenvertrag. Eine „Zeit“-Sprecherin will den Vorgang nicht näher kommentieren. 97 J. v. MATT M Medien ZEITGESCHICHTE Temperatursturz as Klima der Erde schwankt, das der Kultur erst recht. Was auf dem Globus Zehntausende von Jahren dauert, geschieht in Kino und Fernsehen innerhalb von Monaten. Letzte Woche beim Münchner Filmfest zeigte sich: In Deutschland stürzen die Temperaturen. Nach den lauen Lüftchen der Beziehungskomödie bricht eine Eiszeit an. Avancierte Filme- und TV-Movie-Macher wie Dominik Graf, Sönke Wortmann und Hermine Huntgeburth lassen die Herzen gefrieren. „Liebe ist kälter als der Tod“, der Titel des ersten Fassbinder-Spielfilms, könnte die jetzige Stimmung überschreiben. Anders als bei dem 68er Genie fehlt im jetzigen Winter der wärmende Hauch von Auflehnung gegen den Frost unter den Menschen. Die neuen Gletscherkönige lassen es tragikverliebt glitzern, Gefühle werden zu Kristallen, die Gesellschaft zu sich aneinander reibenden Eisschollen. Der Lebenssinn so unberechenbar wie verwehender Schnee. Bei Graf („Deine besten Jahre“) zappelt eine Frau im Netz der Machenschaften ihrer Vorfahren – die Kamera berauscht sich an kalt-düsteren Villen und brutal-erhabenen Landschaften. Der Raum wird zur Falle. Wortmann („St. Pauli Nacht“) treibt dem Reeperbahn-Sujet jede DieterWedel-Gemütlichkeit aus, das Geschichtenknäuel heddert der nackte Wahnsinn zusammen. Huntgeburth („Der Hahn ist tot“) exekutiert in ihrer Satire die brutale Wahrheit, daß den am Attraktivitätsjahrmarkt aussortierten Frauen nur die Gewalt bleibt, um ein Stück von der Liebe abzubekommen. Die Götter der Existentialphilosophie erheben ihre gefrorenen Häupter: ein würfelnder blinder Gott, stolze Geworfenheit und ein rasendes Pathos der Verzweiflung. Sich warm anziehen und den neuen Temperaturen aussetzen oder eine neue Warmzeit abwarten, heißt die Frage für das Publikum. Oder den Abflug machen zu den BallermannStoffen der Unterhaltung. Die Gemütlichkeit in anspruchsvollen Filmen ist erst mal hin. 98 D er israelische Filmemacher Dan Setton greift in seinem neuesten Dokumentarfilm „Kapo“ ein Thema auf, das vor allem in Israel an ein Trauma rührt: Es geht um die Rolle der KZHäftlinge, die von den Nazis gedungen wurden, um als Hilfspolizei, Block- und Lagerälteste die SS-Mörder bei ihrem Vernichtungswerk zu unterstützen. Juden wurden, wie die Angehörigen anderer Opfergruppen, als Kapos in das System der industriellen Tötung einbezogen. Nach dem Krieg gab es in Israel zahlreiche Gerichtsverfahren gegen gewalttätige Kapos. Dokumentarist Setton PROJEKTE Nacht der Sternenkrieger W em die Zeit bis zum 19. August zu lang wird – dann startet voraussichtlich der „Star Wars“-Film „Die dunkle Bedrohung“ in den deutschen Kinos –, bekommt knapp zwei Wochen vorher Sternenstaub als Vorspeise. Der „DCTP Nacht Club“ veranstaltet am 6. August auf Vox von 0.25 Uhr an eine fünfstündige „Star Wars“-Kultnacht. Zu sehen gibt es unter anderem Rückblicke auf die galaktische Trilogie, Interviews mit Regisseur George Lucas und Autor Roger MacBride Allen. Außerdem kann sich die Gemeinde an einem einschlägigen Quiz beteiligen. QUOTEN RTL und ARD Kopf an Kopf M it einem durchschnittlichen Marktanteil von 14,9 für RTL beziehungsweise 14,6 Prozent für die ARD liegen der Kölner Sender und das Erste im er- CINETEXT D Gedungene Helfer beschäftigt sich mit diesen Prozessen und zeigt die inneren Widersprüche bei der Bewertung der Taten. Außerdem suchte er überlebende Kapos auf, unter anderen eine heute in Australien lebende jüdische Lagerälteste des KZ Auschwitz. Der aufwühlende Film – SPIEGEL TV hat ihn koproduziert und wird ihn auf einem noch festzulegenden Sendeplatz zeigen – macht vor allem deutlich, daß durch die Existenz von Kapos die moralischen Gewichte nicht verschoben werden können: Einzige Schuldige am Holocaust bleiben die Deutschen. Auf dem Münchner Filmfest, wo „Kapo“ vergangene Woche gezeigt wurde, betonten dies auch Überlebende der Judenverfolgung sowie Fachleute, die sich mit dem Holocaust beschäftigen. Szene aus „Die dunkle Bedrohung“ sten Halbjahr dieses Jahres fast gleichauf. In der Primetime, also zwischen 20.00 und 23.00 Uhr, hat das Erste die Nase mit 16,1 Prozent deutlich vorn, gefolgt vom ZDF (15,0) und RTL (14,4) sowie den Dritten (14,3). Einen Ost-WestUnterschied gibt’s nach wie vor: Im Westen führt die ARD mit 15,6 Prozent, im Osten mit 16,3 Prozent RTL, das Erste bringt es dort nur auf 11,3 Prozent. Marktanteile der großen TV-Sender im ersten Halbjahr 1999 14,9 (–0,1) 14,6 (–1,1) gegenüber dem 1. Halbjahr 1998 in Prozent Dritte Programme 13,4 (–0,7) 12,6 (+0,5) 11,2 (–1,0) Marktanteil West-/Ostdeutschland 14,4 16,3 d e r 15,6 11,3 s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 14,2 10,5 12,1 14,2 11,1 11,9 Fernsehen Vo r s c h a u Einschalten 360° – Die Intelligenz Montag bis Donnerstag, 20.15 Uhr, Arte Ophüls-Festival in Saarbrücken mit dem Förderpreis der Jury ausgezeichnet – schildert den Konflikt zwischen Tom (Richy Müller) und Tina (Catherine Flemming), die sich gegen das Ende der Jugend mit Ausreißerträumen wehren und daran scheitern. die jüngste, aber grundsolide. Lex Barker als Old Shatterhand, Pierre Brice, der unverwüstliche Winnetou, und Karin Dor als Apachenhirne verwirrende Schönheit verderben den Spaß nicht. Howgh – der SPIEGEL hat gesprochen. Frankfurt Airport Dienstag, 21.00 Uhr, ZDF Alfred Franz Maria Biolek Samstag, 22.25 Uhr, ARD Ein Irrgarten namens Flughafen – im letzten Jahr zählte Frankfurt 42 Millionen Gäste. Bodo Witzke und Ulli Rothaus beobachten in dieser fünfteiligen Doku-Soap, der Überlebenschance für den guten alten Dokumentarfilm, Flugbedienstete und Reisende. Alles sei authentisch, versichern die Macher. Im Gelärme der Talkshows hält er seit Jahren den Kammerton. Seine dienstagsabendliche Plauderrunde, das Küchenkabinett am Freitagnachmittag („Fleisch ist Vertrauenssache“) – stets suggeriert der gelernte Jurist Alfred Biolek, die Prominenten dieser Welt bildeten eine große Familie. Kein inquisitorischer Unterton, keine freche Frage sollen die Eintracht trüben. Die Erlauchten und Erhobenen haben dem Moderator dessen Milde gedankt: Bio konnte 1996 den talkscheuen Bundeskanzler Helmut Kohl begrüßen, später auch das Staatsoberhaupt Roman Herzog. Anläßlich seines 65. Geburtstags gibt es heute eine filmische Collage über das Leben des in Mähren geborenen TV-Zeremonienmeisters von Klaus Michael Heinz, dem für „Boulevard Bio“ verantwortlichen Redakteur. „Tagesthemen“-Anchorman Ulrich Wickert gibt den Vorleser, verschont uns aber hoffentlich mit seinen Werken. Vierjährige Klavierschülerin Die „Geo“-Reportagen berichten unter anderem von der gripsstärkenden Wirkung der Mozart-Musik, mit deren Hilfe Zweitkläßler in einem Armenviertel von Los Angeles ihre Konzentrationsfähigkeit verbessern. Ferner Reportagen über die Verstandesstärke von Affen sowie über Experimente mit Künstlicher Intelligenz. Winnetou II Freitag, 20.15 Uhr, Sat 1 Die Verfilmung des Karl-May-Stoffes (1964) von Harald Reinl ist nicht mehr Cuba Libre Montag, 0.05 Uhr, ZDF Zu den Selbstpeinigungen moderner junger Menschen gehört das krampfhafte Verlangen, dauernd über die Befindlichkeit angesichts des unaufhaltsam vorrückenden Lebensalters nachzudenken. Ein solcher Moment des eingebildeten Schreckens tritt ein, wenn man plötzlich zu den „Thirtysomethings“ gehört, also das biblische Alter mit einer Drei als erster Zahl des Lebensalters erreicht hat. Das kleine Fernsehspiel widmet an diesem und den folgenden zwei Montagen der Scheinkrise drei Filme. Der Auftaktfilm „Cuba libre“ von Christian Petzold – 1996 auf dem Max- Formel 1 Sonntag, 13.00 Uhr, RTL „Winnetou II“-Darsteller Brice, Dor Großer Preis von Großbritannien aus Silverstone. Der Name klingt nach Silberpfeil – Schumi wird etwas dagegen haben gemäß dem schnellateinischen Motto: Veni, ferrari, vici. Ausschalten Tour de France Montag, 14.03 Uhr, ARD Ilona Christen Freitag, 13.00 Uhr, RTL Peep! Sonntag, 22.20 Uhr, RTL II Es steht zu befürchten, daß Spaßmacher Harald Schmidt recht behält: Die Radsportexperten Jürgen Emig, Herbert Watterot und Rudi Altig werden bei der diesjährigen Tour de Vacance (ohne Pantani, ohne Ullrich) viel Baedeker-Wissen über all die Sehenswürdigkeiten zum besten geben müssen, an denen der Troß ohne Megastars vorbeiradelt. Auf der Straße sieht es so aus, als sei die Luft aus den Reifen. „Jetzt kauf’ ich mir ’nen Mann“. Eurotik – die Kunst, Geld zu Liebe zu machen. Beachten Sie bitte die Männerbörse im Petra-Dax-Handel: Jung-Akte werden bevorzugt. Zu den am meisten herabgewirtschafteten Genres des Fernsehens gehören die Sex-Magazine. Ob nun Verona Feldbusch, Verena Araghi oder wie die Blondinen im Geiste noch heißen, die da ihre Unbedarftheit in die Kamera lachen, es dominieren „zugeballerte JungProlls und C-Klasse-Pornographen“ („Hör zu“). Was einst als Befreiung von rigider Moral gemeint war, ist zum Festival geiler Gartenzwerge verkommen. Voll normaaal Samstag, 20.15 Uhr, Sat 1 Komiker Tom Gerhardt als Kölner Vorstadt-Proll mit Pudelmütze. Der Ballermann ist überaaal. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 99 M. WOLF / PLUS 49 / VISUM Medien Gruner + Jahr-Zentrale, umstrittene „Stern“-Titel „Wir werden zeigen, daß noch Feuer in der Hütte brennt“ ZEITSCHRIFTEN „Weg ins Nirwana“ Der „Stern“ steckt – wieder einmal – in der Krise: Chefredakteur Michael Maier, als Hoffnungsträger gestartet, mußte nach nur sechs Monaten gehen. Nun wird ein neuer Wundermann gesucht, der die seit Jahren anhaltende Talfahrt der Illustrierten stoppen kann. R olf Wickmann, Zeitschriftenvorstand des Hamburger Großverlags Gruner + Jahr (G + J), stand noch unter der Dusche, als am vergangenen Montag gegen halb acht morgens das Telefon klingelte. Am Apparat war Michael Maier, 41, Chefredakteur des „Stern“. Er habe beschlossen, sich von Thomas Osterkorn zu trennen, verkündete der Journalist. Der geschäftsführende Redakteur und Ressortleiter sei der Rädelsführer einer Verschwörung altgedienter „Stern“-Leute, die es darauf abgesehen hätten, ihn zu Fall zu bringen. „Darüber müssen wir noch reden“, sagte Wickmann, „ich bin in einer Stunde im Büro.“ Doch Maier ließ sich nicht bremsen. Wenige Minuten später eröffnete er Osterkorn, er müsse gehen. Um acht Uhr versuchte „Stern“-Verlagsleiter Michael Beckel ein letztes Mal, seinen Chefredakteur davon abzuhalten, den folgenschwersten Fehler seiner Karriere zu begehen. „Herr Maier“, sagte Beckel, „Sie unterschätzen Ihre Redaktion.“ Doch der Beratungsbedarf des 100 „Stern“-Chefs war an diesem Morgen klein. Gegen 8.15 Uhr verkündete er dem Redaktionsbeirat: Osterkorn solle gehen. In völliger Verkennung der Lage flog Maier wenige Stunden später auf den Balkan, ins nächste Krisengebiet. Er besuchte die Familie des Dolmetschers, der zusammen mit den „Stern“-Reportern Gabriel Grüner und Volker Krämer im Kosovo ermordet worden war. Am nächsten Morgen trafen sich in der Zentrale von Gruner + Jahr („Stern“, „Geo“, „Brigitte“) Konzernchef Gerd Schulte-Hillen und Vorstand Wickmann, um über das weitere Schicksal ihres wichtigsten Chefredakteurs zu beraten. Die Herren waren sich schnell einig: Diesmal war Maier zu weit gegangen. „Rolf“, sagte Schulte-Hillen, „let’s face it. Wir müssen handeln.“ Vergebens versuchten sie, Maier auf dem Balkan zu erreichen. Am Nachmittag des gleichen Tages teilte Schulte-Hillen dem Redaktionsbeirat mit, man werde Osterkorns Demission nicht hinnehmen. Am Mittwoch inford e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 mierte er Mark Wössner, den Aufsichtsratschef. Abends gegen 22 Uhr kam es schließlich zur entscheidenden Unterredung mit dem „Stern“-Chef, der kurz zuvor in Hamburg eingetroffen war, noch mit Lehm aus Mazedonien an den Schuhen. Maier habe gegen seinen Vertrag verstoßen, erklärte Schulte-Hillen, er habe für die Osterkorn-Aktion nicht die Zustimmung des Verlags eingeholt. Maier widersprach, doch der Verlagschef blieb hart: „Die Grenze ist erreicht. Das Vertrauen ist weg.“ „Dann brauche ich wohl einen Anwalt?“ fragte Maier. „Ja, den brauchen Sie wohl.“ Das war das Aus für den Österreicher, der seinen Job erst im Januar als gefeierter Hoffnungsträger angetreten hatte. „Viele Wege führen nach Rom“, kommentiert Schulte-Hillen, „aber nach Rom müssen Sie schon gehen. Doch der von Maier hätte ins Nirwana geführt.“ Das sei eine „große Enttäuschung für mich, das Haus und Herrn Maier“. Mit dem abrupten Abgang des Mannes, der die seit Jahren anhaltende Talfahrt des NEUHAUSER len, der dem damaligen Re„Stern“ stoppen sollte, steckt Deutschlands abgeschwätzt, die später porter Gerd Heidemann in größte Illustrierte tiefer in der Krise denn zum „Stern“ mutierte. Das einer Geheimaktion an der je. Noch nie hat sich ein Chefredakteur so Bilderblatt würzte er in Chefredaktion vorbei rund schnell entzaubert, noch nie sind Hoff- den ersten Jahren bevor9,3 Millionen Mark für nungen auf eine große Generalreform bei zugt mit Storys über Stars Kujau und seine Kladden dem Traditionsblatt so schnell zerstoben. und Starlets, später mit Pozahlte. Woche für Woche sank die Auflage auf hi- litik. Nannen stützte Willy Blamiert vor aller Welt, storische Tiefstände. Besonders im Einzel- Brandts Ostpolitik und vermußten die Chefredakteuverkauf am Kiosk drohte das Blatt zum öffentlichte das Bekenntnis re Peter Koch und Felix Ladenhüter zu werden. Mit Sonderver- prominenter Frauen: „Wir Schmidt zurücktreten. Das käufen hielt der Verlag die Auflage stabil. haben abgetrieben.“ Das war in den Siebziwar der Auftakt zu einer Ausgerechnet am Tag, als beim GütersSerie rasanter Wechsel (sieloher Verlagseigentümer Bertelsmann Kon- gern. Der „Stern“, dieser he Grafik). zernpatriarch Reinhard Mohn seine Mehr- „Musikdampfer“ (NanWer auch immer in den heitsstimmrechte feierlich an ein Gremium nen), traf das Lebensgefühl Folgejahren den „Stern“ von Managern, Mitarbeitern und Fami- einer Generation und die Ex-„Stern“-Chef Maier führte: Den Niedergang lienmitgliedern abgab, machte das Vorzei- kühnsten Zielprojektionen des Verlags. Die Auflage stieg auf bis zu 1,9 konnte er nicht stoppen. Zuletzt scheitergeorgan Negativ-Schlagzeilen. Dabei hatten die Strategen vom Mutter- Millionen Hefte. „Der ‚Stern‘ war die Lo- te Werner Funk, 62, früher Chefredakteur haus Bertelsmann mit dem Flaggschiff ih- komotive, die nicht nur den Zug, sondern des SPIEGEL, der die Redaktion mit harrer Zeitschriftentochter gerade Großes vor. den ganzen Bahnhof mitzog“, scherzte ter Hand geführt hatte, daran, daß er keinen Nachfolger aufgebaut hatte. Daraufhin Die bekannte Presse-Marke soll, als großes Nannen gern. Doch diese Schubkraft hat schon lange wurde Schulte-Hillen aktiv. Tor zu breiten Publikumsschichten, Leser Insgesamt hat das Haus in den 18 Jahren locken und Kunden für andere Konzern- nachgelassen. Nachdem sich Gründer Nanaktivitäten bringen, etwa fürs Internet. nen Anfang 1981 aus der Chefredaktion seit Nannens Abgang 13 Chefredakteure Maier galt auch in Gütersloh als erste Wahl. verabschiedet hatte, sank der „Stern“ ra- verschlissen – Branchenrekord. Zu den hausgemachten Problemen kam Und nun – der „Stern“ im Gerede, Schul- pide. Nannens große „Wundertüte“ blieb te-Hillen 16 Monate vor Ende seiner Amts- immer häufiger leer – und leistete sich zwei der Niedergang des ganzen IllustriertenJahre später einen spektakulären Fehlgriff. Genres. So wurde Konkurrent „Quick“ zeit im Krisenstreß. Der Skandal um die angeblichen Hitler- eingestellt. Spezialzeitschriften, Privat„Ich weiß ziemlich genau, was man beim ‚Stern‘ machen muß“, hatte Maier Ende Tagebücher, die Meisterfälscher Konrad fernsehen und neue Magazine wie „Focus“ vergangenen Jahres im Interview mit der Kujau in Heimarbeit angefertigt hatte, setz- zogen Leser und Werbekunden ab. Wo früher die wißbegierige „Stern“österreichischen Zeitschrift „TV Media“ te Redaktion und Verlag auf viele Jahre („Ich will an die Spitze“) getönt und auf schwer zu. Immerhin war es Schulte-Hil- Klientel exklusiv mit Fotos aus Kriegen, die Frage nach seiner Qualifikation geantwortet: „Was glau1,72 Verkaufte Exemplare in Millionen ben Sie, was man mir schon alJanuar 1981: Gründer Henri Nannen wird Herausgeber und übergibt die Chefredaktion an Peter Koch und Felix Schmidt les nicht zugetraut hat!“ Der promovierte Jurist und 1,61 gelernte Orgelspieler hatte es 25. April 1983: Veröffentlichung der gefälschten Hitlertagebücher. Rücktritt von Koch und in wenigen Jahren vom RedakSchmidt im Mai 1983, Rolf Gillhausen (ab Januar 1983) verbleibt in der Chefredaktion teur einer österreichischen Kir1,58 chenzeitung zum Chefredakab Mai 1983: Peter Scholl-Latour und Rolf Gillhausen; teur des G + J-Blattes „Berliner Johannes Gross wird auch berufen, tritt aber nicht an Zeitung“ gebracht. Mit finanziellen Kraftakten schaffte er es, das frühere SED-Parteiblatt Schneller Verschleiß zur respektablen Hauptstadt- 1,52 Auflagenverfall und Wechsel zeitung auszubauen – wenn ab März 1984: der Chefredakteure beim Stern Rolf Winter auch mit bröselnder Auflage. Doch Maier strebte nach 1,43 Höherem. „Er kennt nur ein ab Mai 1986: Heiner Bremer, Ziel: Er will nach oben“, sagt Klaus Liedtke (beide bis Januar ein Ex-Mitarbeiter. Der „Stern“ 1989) und Michael Jürgs schien da gerade recht. Die größte deutsche Illustrierte er- 1,33 wirtschaftet mit jährlich über Januar 1989: Michael Jürgs bleibt; Riehl-Heyse ist zwischenzeit400 Millionen Mark rund acht Herbert lich für vier Monate mitverantwortlich Ausgabe Prozent des G + J-Umsatzes. Es 22/99 1,27 gab Zeiten, da wurde die Hälfte des Verlagsgewinns vom 1,11 ab Februar 1990: 1,25 1,04 Rolf Schmidt-Holtz ab Mai 1994: „Stern“ bestritten. ab Januar 1999: Michael Maier, Das Blatt zehrt immer noch Werner Funk entlassen am vom Mythos des legendären 1. Juli 1999 Illustrierten-Gründers Henri Nannen. Der hatte britischen Besatzungsoffizieren nach dem Quartal Krieg eine Lizenz für die Ju- 1/81 2/83 1/85 1/87 1/89 1/91 1/93 1/95 1/97 Heft 1/1999 wöchentlich gend-Illustrierte „Zick-Zack“ d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 101 Medien T. MEYER / ACTION PRESS Als Drahtzieher der Opposition machte Regierungsbüros oder Ehebetten bedient dem es im Inhaltsverzeichnis den liebediewurde, erfüllen heute 30 TV-Programme nerischen Text als Hof-Bericht ankündigte. Maier den im Verlag beliebten Thomas täglich alle Informationswünsche. Vom wachsenden Unmut in der Redak- Osterkorn aus, als Ressortchef für DeutschZudem machte sich der Verlag selbst tion bekam Maier wenig mit. „Mensch, landthemen zuständig. Den schon von Konkurrenz. Mit den Gewinnen des Herr Maier, Sie müssen da reingehen und Funk favorisierten langjährigen „Stern“„Stern“ entwickelte G + J ein Reportage- immer wieder mit den Leuten reden“, for- Mann hatte Schulte-Hillen bei Maiers Amtsantritt als stellvertretenden Chefre(„Geo“) und ein Klatschmagazin („Gala“). derte Schulte-Hillen. Sogar vor einer Billigversion („Tango“) seiMaier aber sinnierte im Kämmerlein mit dakteur empfohlen. Doch Maier fühlte sich nes Luxusdampfers schreckte Schulte-Hil- Getreuen über einen neuen „Stern“, mit von Osterkorn schlecht informiert, ging auf len nicht zurück – und scheiterte damit. Rubriken für Interviews, Reportagen und Distanz. Am 11. Juni teilte er Schulte-HilDie Folgen der veränderten Medienwelt Porträts – und mit einer um Internet-The- len mit, er wolle sich von dem Mann trenfür den „Stern“: Die Zahl der Anzeigen- men erweiterten TV-Beilage, in der die de- nen. Der Verlagschef widersprach und seiten fiel von 6177 (1982) auf 4438 (1997). fizitäre Multimedia-Zeitschrift „Konrad“ empfahl erneut, Osterkorn zum StellverNur mit einer deftigen Preissenkung wur- entsorgt werden sollte. Nebenbei jettete er treter zu machen. Das war der Anfang von de der Rückgang gestoppt. Die Auflage zwecks Personalgewinnung nach New Maiers Ende. Der kämpft inzwischen um sackte im gleichen Zeitraum von 1,66 Mil- York, schrieb Kolumnen im Wiener „Stan- seine Abfindung, die sich in Millionenhöhe lionen auf 1,1 Millionen – jeder dritte Le- dard“ („Warum muß die Kirche weiter bewegen wird. Jetzt soll sein Gegner Osterkorn komser ging verloren. „Insgesamt muß man nach rechts“), philosophierte in meist feststellen, daß sich seit 1980 die Auflage unbeholfenem Bürokraten-Deutsch im missarisch für eine Übergangszeit der Redaktion vorstehen. Als erstes linear nach unten bewegt“, gewill der Neue an der Spitze stand der neue Chefredakteur zusammen mit VerlagsmanaMaier Mitte April öffentlich ein. gern und dem Oberkreativen Der Österreicher und sein Linke, der an Bord bleiben soll, Landsmann und Stellvertreter über Maiers Reformvorschläge Oliver Herrgesell trafen auf eine richten. zutiefst verunsicherte MannViel wird davon nicht übrigschaft, als sie das Blatt überbleiben. Schulte-Hillen will kein nahmen. „Nach dem Martyneues Info-Magazin schaffen, er rium unter Funk haben wir ihn glaubt an Nannens Rezepte: mit offenen Armen empfan„Das Prinzip Wundertüte funkgen“, sagt ein Redakteur über tioniert, wenn sie richtig gefüllt Maier, dem aus Berliner Zeiten wird.“ Der „Stern“ komme aus der Ruf eines „Menschenfändem Bauch, sagt er, und sei imgers“ vorauseilte, der manchen mer auch ein unterhaltsames Journalisten „wie einer attrakBlatt gewesen: „Alles, was singt, tiven Frau nachstellte“, um sie tanzt und pfeift.“ abzuwerben. Die „Stern“-Krise habe mit Doch der neue Mann wurde schneller entzaubert, als es ir- G+J-Chef Schulte-Hillen, Maier-Vorgänger Funk*: Streit über Nachfolge dem Blatt zu tun, „nicht mit dem ganzen Segment“, meint gendeiner in der Branche für möglich gehalten hatte. Nach nur sechs „Stern“-Editorial über Gott und die Welt der Hamburger Werbeagenturchef JeanRemy von Matt: „Die große Illustrierte hat Monaten feierten „Stern“-Redakteure sei- und bastelte an den aktuellen Heften. nen vorzeitigen Abgang vergangene Woche Die verkauften sich am Kiosk immer noch immer Chancen – ob der ,Stern‘ eine mit Champagner. „Die Redaktion hat sich schlechter, die Auflage sackte und sackte. Zukunft hat, weiß ich nicht.“ Mit einem Werbeetat von zusätzlich von einem Joch befreit“, sagt Reporter Titel wie „100 Jahre beißen und gehorchen Heiko Gebhardt, immerhin seit 33 Jahren – Der deutsche Schäferhund“ oder ein zehn Millionen Mark will der Verlag den beim „Stern“: „Sie ist der wahre Sieger Stück über die belgische Dioxin-Lebens- alten Musikdampfer in diesem Jahr wieund wird zeigen, daß noch Feuer in der mittelkrise, das mit einem gerupften Huhn der flottmachen – und in spätestens zehn Hütte brennt.“ Ein Kollege: „Unter Funk angekündigt wurde, gerieten zu Lachnum- Wochen soll auch der neue Kapitän festhatten die Leute Angst um ihren Job, un- mern. Maier hatte offenbar Nannens Bon- stehen. Nach dem Maier-Mißgriff sucht Schulter Maier hatten sie Angst um den ‚Stern‘.“ mot („Schon oft sind Leute als Adler geSchon kurz vor seinem Start in Ham- startet und als Suppenhuhn gelandet“) te-Hillen zur Zeit intensiv nach einem burg ließ der Neue seine künftige Redak- mißverstanden. Selbst vermeintliche Ver- Nachfolger. Der Redaktionsbeirat brachtion über ein Porträt in der Zeitschrift kaufsgaranten wie ein Stück über Aller- te bereits den früheren Chefredak„Max“ indirekt wissen, daß er die Optik gien zogen nicht mehr. Eine Coca-Cola- teur Michael Jürgs, 54, ins Spiel. Aber für mißlungen halte und den zuständigen Flasche in der Gestalt einer untergehenden auch die Chefredakteure Hans Mahr Art Director Wolfgang Behnken wahr- „Titanic“ auf dem Titelbild verhinderte (RTL) und vor allem Michael Spreng scheinlich durch Dirk Linke ersetzen wer- vergangene Woche in letzter Minute erst („Bild am Sonntag“) gelten als aussichtsde, den Chefgrafiker der „Woche“. Da der Hausjustitiar – er befürchtete Scha- reiche Kandidaten. Sogar Kulturstaatsschäumten die ersten. densersatzforderungen des von Skandalen minister Michael Naumann wird als NaKaum im Amt, leierte Maier einen Ex- genervten Coca-Cola-Konzerns. me gehandelt. klusivbericht über die Hochzeit der moSpreng, zur Zeit im Italien-Urlaub, erZum Schluß glichen die Redaktionssitnegassischen Prinzessin Caroline mit Prinz zungen beim „Stern“ drögen Pressekonfe- klärt, es habe keine Anfrage gegeben. ImErnst August von Hannover an, bei dem er renzen: Chef Maier und Vize Herrgesell merhin – den Mann vom Springer-Verlag sich in einer Vereinbarung verpflichtete, fragten, die Redakteure mauerten. zeichnet großer Realitätssinn aus: „Das ist den Text samt Fotos dem Presse- und Prinder härteste Job, der derzeit im deutschen zenanwalt Matthias Prinz vorzulegen. Da * Am 30. September 1997 auf einer Feier zur Veröffent- Journalismus zu vergeben ist.“ schäumte auch der Vorstand zum erstenmal, lichung der Sonderhefte zum 50jährigen „Stern“Konstantin von Hammerstein, Hans-Jürgen Jakobs, Thomas Tuma und das zuständige Ressort rächte sich, in- Jubiläum in Hamburg. 102 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 FILMGESCHÄFT Reise in die Nacht der Lust Vier Monate nach seinem Tod steht der exzentrische Filmemacher Stanley Kubrick im Mittelpunkt der Sensationslust: Mit Gerüchten und Enthüllungen wird der Start seines geheimnisumwobenen Psychothrillers „Eyes Wide Shut“ in den US-Kinos vorbereitet. W BULLS PRESS as Medienrummel und -hysterie bewirken können: Vor vier Monaten, als Stanley Kubrick in der Nähe von London starb, galt er als halbwegs vereinsamter, paranoider KinoEigenbrötler, dessen Zeit längst abgelaufen war – nun aber, dank einer durch Gerüchte, Enthüllungen, Dementis und neue Gerüchte auf Hochtouren gebrachten PRKampagne für sein nachgelassenes Opus „Eyes Wide Shut“, das Mitte Juli in die USKinos kommt, steht Kubrick als der letzte große Genius des amerikanischen Films da. George Lucas, so die herrschende Fama im Augenblick, mag mit seiner neuen „Star Wars“-Episode den krönenden letzten Höhepunkt des Kinderkinos im Traumfabrikstil hervor- und zum Massenerfolg gebracht haben – das ultimative FilmkunstEreignis des Jahrhunderts hingegen, das wahre Wagnis für den erwachsenen Zuschauer verheißt der letzte Streich des Meister-Mystifikateurs Kubrick. Daß die Amerikaner unter einem Film für Erwachsene („adult movie“) landläufig einen Porno verstehen, kommt der Erwartung, die da gereizt werden soll, nicht ungelegen. Die erste und über Jahre hin einzige Verlautbarung, mit der die Firma Warner Brothers Ende 1995 die Produktion ankündigte, sprach von einem Film über „Eifersucht und sexuelle Obsession“, und da in den Londoner Studios, wo Kubrick arbeitete, strengste Geheimhaltung verfügt war, kamen an der Gerüchtebörse die ver- CINETEXT Star-Paar Kidman und Cruise in „Eyes Wide Shut“: „Tour de force des Erotizismus“ Regisseur Kubrick (1976) Guru, Hexenmeister, Mystifikateur heißungsvollen Spielarten Transvestitismus und Nekrophilie sowie das Stichwort „Orgie“ hinzu. Nicht alles an Neugier scheint der geheimnisumwobene und noch immer geheimgehaltene Film zu befriedigen, doch seine eigentliche innerste Triebkraft ist offenbar die sexuelle Phantasie. Kubrick, der mit so skandalträchtigen Filmen wie „Lolita“ (1962) und „A Clockwork Orange“ (1971) an die Tabugrenzen des Kinomöglichen in der damaligen Gesellschaft rührte, hat offenbar noch einmal das Heikelste gewagt, um die Beziehungskrise eines Ehepaars auch bis in die Abgründe des Fleischlichen zu erkunden. Für den Vertrieb in den US-Kinos, wo bekanntlich die Selbstzensur in Sachen Gewalt zu Nachsicht neigt, bei der Entblößung primärer Geschlechtsmerkmale hingegen kein Pardon kennt, sind (wohl mit Kubricks Einverständnis) 65 Filmsekunden einer Gruppensex-Szene durch digitale Bildbearbeitung sterilisiert worden. Das unverschleierte Original soll erst zur Eröffnung des Filmfestivals in Venedig am 1. September seine Premiere erleben. Das wirklich Aufregende und Sensationelle des Films wird, so oder so, gewiß nicht in diesen 65 Sekunden liegen, vielmehr in der Intensität, mit der er seine Reise in die Nacht der Lust in spektakuläre Kid e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 nobilder verwandelt. Vor allem aber ist es sensationell, daß es diesen Film überhaupt gibt, daß also der unleidliche Geheimniskrämer Kubrick, schon jenseits des Grabes, als Stanley Superstar noch einmal ganz groß herauskommt. Mit weit aufgerissenen Augen starrt die New Yorker Medienszene dem Ereignis „Eyes Wide Shut“ entgegen; Titelbilder, Titelgeschichten und Marathon-Interviews heizen die Neugier an. Das machen die Stars, die der alte Hexenmeister auf schier unglaubliche Weise in seinen Bann zu ziehen vermocht hat – Hollywoods superheißes Superglamourpaar Nicole Kidman und Tom Cruise –, das macht aber auch der Zauberer selbst, der ein letztes Mal alles riskiert hat. Seit der Amerikaner Kubrick sich Anfang der sechziger Jahre mit Frau und drei Töchtern auf einen weitläufigen Landsitz nördlich von London zurückgezogen hatte, den er eigentlich nur noch zu Dreharbeiten verließ, war er mehr und mehr ins Legendenhafte entrückt, präsent nur noch in Anekdoten als egomanes Regiemonster, dessen Perfektionsbesessenheit mit der dutzend- oder gar hundertfachen Wiederholung winziger Details Techniker und Schauspieler an den Rand des Wahnsinn trieb – alles in allem dem verrückten Schriftsteller immer ähnlicher, den Jack 103 Medien Amerikanische Magazin-Titel zum Kinostart: Kein Beistand von Sex-Therapeuten 104 Es entsprach Kubricks zwanghafter Geheimniskrämerei, daß er dem Drehbuchautor Frederic Raphael, den er dafür engagierte, den Autor der Vorlage zu verheimlichen suchte (was nicht lange gelang). Auch seine Stars, als er sie gefunden hatte, bat er, Schnitzlers Werk nicht zu lesen. Zumindest bei Nicole Kidman ist unwahrscheinlich, daß sie sich daran hielt, denn ihre private Schnitzler-Lektüre trug überraschende Früchte: Auf ihre Anregung schrieb David Hare, frei nach Schnitzlers Liebesszenen-Wechselspiel „Der Reigen“, das Stück „The Blue Room“. Nicole Kidman feierte darin, alle fünf weiblichen Rollen spielend, in London und New York einen spektakulären Erfolg als Frontfrau einer neuen erotisierenden Schauspielkunst. Das Urteil eines Kritikers, sie sei „theatralisches Viagra“, verstand sie durchaus als Kompliment. Was im Zwielicht der Bühne noch Verheißung war, soll sich, so die Hoffnung der Warner Brothers, auf der Leinwand nun strahlend erfüllen. Kubrick, der Listenreiche, hatte (vermutlich von seinem alten Freund Sydney Pollack beraten) das Drehbuch zu „Eyes Wide Shut“ Kidman und Cruise getrennt SIPA PRESS Nicholson 1980 in dem Horrorfilm „The Shining“ spielte, Kubricks letztem durchschlagenden Kinoerfolg. Er schien sich unsichtbar gemacht zu haben. Doch sein Prestige in der Branche war und blieb so einzigartig, daß er bei der ihm in Treue verbundenen Firma Warner Brothers immer wieder mit neuen Projekten Unterstützung fand, obwohl seine Spielregeln ebenfalls einzigartig waren und bleiben: Allein der oberste Boß bekam ein Drehbuch samt Kalkulation vorgelegt – und falls er ja sagte, hatte er keinen weiteren Einfluß auf die Unternehmung, bis Kubrick den fertigen Film ablieferte. Allerdings wuchsen die Zweifel, ob je etwas daraus würde. In den frühen neunziger Jahren hatte er unter dem Titel „Aryan Papers“ einen Film nach Louis Begleys autobiographischem Holocaust-Buch „Wartime Lies“ („Lügen in Zeiten des Krieges“) vorbereitet, auch die Hauptdarsteller waren ausgesucht und die Drehorte (im Umkreis der dänischen Stadt Aarhus) festgelegt. Doch ziemlich plötzlich blies er die Unternehmung ab. Auch ein anderes, von Warner Brothers geduldig gefördertes Projekt mit dem Arbeitstitel „AI“ („Artificial Intelligence“), das offenbar, eine Generation nach der Weltraum-Odyssee „2001“, tricktechnisch einen neuen Markstein in der Geschichte der Kino-Science-Fiction setzen sollte, blieb Gedankenspiel. Angeblich fürchtete Kubrick, die Computerkunst sei seinen Visionen noch nicht gewachsen. Kubrick war Mitte 60, als er die „Aryan Papers“ beiseite gelegt hatte, und sein letzter (kommerziell enttäuschender) Film, der düstere Vietnam-Todestanz „Full Metal Jacket“, lag mittlerweile sieben Jahre zurück. Was tun? In diesem Dilemma muß er sich auf ein kleineres und technisch problemloses Projekt besonnen haben, mit dem er sich erstmals schon Ende der sechziger und erneut Mitte der siebziger Jahre beschäftigt hatte: Arthur Schnitzlers Ehekrisen-Erzählung „Traumnovelle“ (1926 auf deutsch, 1927 in den USA unter dem Titel „Rhapsody“ erschienen), deren heimliches Motto sein könnte: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. zugeschickt. Gemeinsam aber beschlossen die beiden, diesem Film „ihr Leben zu widmen“ (Kidman) – berühmt genug und reich genug waren sie längst und um so rasender ehrgeizig nach edlerem Lorbeer. Daß die ursprünglich auf gute vier Monate veranschlagten Dreharbeiten auch länger dauern könnten, hatten die beiden wohl vorausgesehen. Und daß sie sich dann von Ende 1996 bis ins Jahr 1998 hinzogen – eine fast unglaubliche und in der neueren Kinogeschichte beispiellose Zeitspanne –, nahmen sie, soweit bekannt, klaglos hin. Der plötzliche Herztod des Regisseurs Anfang März 1999 – nur fünf Tage, nachdem er den definitiv fertigen Film bei Warner Brothers abgeliefert hatte – traf das Star-Paar tief. Die Interviews, mit denen sich Kidman und Cruise nun, pünktlich zum Kinostart, zu Wahrern des Kubrickschen Vermächtnisses stilisieren, lassen hinter viel anbetungsvollem Schmus eine reale Lebenserfahrung erkennen: daß nicht nur sie beide in dem menschenscheuen Workaholic eine guruhafte Vaterfigur fanden, sondern auch umgekehrt er, der schwer zu liebende, in der Fürsorge und Hingabebereitschaft der beiden ein herzerwärmendes spätes Glück. Kidman sagt in einem „Rolling Stone“-Interview, Kubrick sei ihr zuletzt näher als „mom and dad“ gewesen. Daß es in der nichtendenwollenden Arbeitsklausur dennoch Streß von der großkalibrigen Art gab (Cruise entwickelte ein Magengeschwür), verraten Umstände, die man (etwa im „Time Magazine“, das zum selben Medienkonzern wie Warner Brothers gehört) nicht ausposaunt: Die beiden wichtigsten Nebendarsteller hielten nicht durch. Harvey Keitel wurde durch den umgänglicheren Sydney Pollack ersetzt, und Kubrick-Film „A Clockwork Orange“ (1971): An den Tabugrenzen des Möglichen d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Jennifer Jason Leigh (als sie glaubte, ihre unter dem Titel „1999: A Sex Odyssey“ Rolle sei eigentlich schon abgedreht) durch eine Kritik, die den Film als „tour de eine unbekannte Schwedin namens Marie force of eroticism“ bejubelte, erstmals aber Richardson. auch pikante Details der Handlung publik Die Heimlichkeit, mit der all dies sich in machte – vom Prostituiertenbesuch bis zur den abgeschotteten Londoner Pinewood- Teilnahme an einem makabren SchickeriaStudios vollzog und unendlich hinzog, Maskenfest mit Gruppensex. stimulierte so viele Gerüchte, daß sogar Kokett gab sich Walker zudem als Kendas gegen üble Nachrede sonst ziemlich ner privater Umstände zu erkennen: Bei abgehärtete Paar Kidman/Cruise sich we- den Gemälden in der Luxuswohnung des nigstens einmal mit juristischem Erfolg New Yorker Film-Paares Harford handle wehrte: Das Boulevardblatt „Star“ hatte es sich, so verriet er, um Werke der Ehefrau behauptet, Kubrick habe den beiden Nachhilfeunterricht bei Sexualtherapeuten verordnet, damit sie ihre Bettszenen zustande brächten. Aber wovon handelt „Eyes Wide Shut“ (mit Chris Isaaks schmachtendem „Baby Did a Bad Bad Thing“ als Titelsong) nun tatsächlich? Es ist, aus Schnitzlers Wiener Fin de siècle ins heutige New Yorker Fin de siècle transponiert, die „Traumnovelle“: die Geschichte eines braven, erfolgreichen und rechtschaffenen Arztes, der durch das Geständnis eines vielleicht nur Kubricks „Full Metal Jacket“ (1987): Tod in Vietnam in Gedanken begangenen Ehebruchs seiner Frau so abrupt aus aller Christiane (die als junge deutsche SchauBalance und Lebensgewißheit gestürzt spielerin unter dem Namen Susanne Chriwird, daß er sich zu einer Erkundung der stian in Kubricks frühem Meisterwerk Nachtseiten seiner eigenen Sexualität auf- „Wege zum Ruhm“ mitgewirkt hatte) und macht und dabei fast ums Leben kommt: der Tochter Katharina Kubrick. Eros und Tod bitten zu einem letzten Schon in der Nacht nach der VerTango. öffentlichung dieser Kritik brach die Kubricks Bannfluch hätte dafür gesorgt, Internet-Seite des „Evening Standard“ daß selbst dies bis zur Premiere geheim (www.thisislondon.com) unter dem Angeblieben wäre, doch durch seinen Tod drang neugieriger Kubrick-Freaks fast zufühlte sich mancher Getreue von der sammen, und am folgenden Tag sorgte Schweigepflicht entbunden. Der erste pro- der gefürchtete amerikanische Internetminente „Verräter“ war der Drehbuchau- Klatschpublizist Matt Drudge dafür, daß tor Frederic Raphael, der sich den Unmut Walkers Indiskretionen auch in Hollywood der Kubrick-Familie durch den Vorabdruck weiteste Verbreitung fanden. Bei Warner aus einem Werkstatt-Enthüllungsbuch in Brothers sann man wohl über Sanktionen der Zeitschrift „The New Yorker“ zuzog nach, beließ es dann aber bei einer Rüge und überdies durch eine mißverständliche des „massiven Vertrauensbruchs“ samt eiFormulierung bei empfindlichen Lesern nem Detail-Dementi: Nein, daß der Filmdas Mißverständnis provozierte, Kubrick held (wie Walker reportiert hatte) auf seihabe, anders als Schnitzler, aus „jüdischem nem Selbsterfahrungstrip auch der Lust Selbsthaß“ die Hauptfigur (die im Film den der Nekrophilie verfalle, sei nicht wahr. vermutlich an Harrison Ford erinnernden Prototypische Kubrick-Figuren sind imNamen Harford trägt) bewußt nicht als Ju- mer wieder Männer gewesen, die durch den charakterisiert. einen scheinbar geringfügigen Systemfehler Als zweiter, noch dreisterer „Verräter“ aus ihrer rationalen Lebensbahn geworfen tat sich der seit Jahrzehnten emsigste wurden. Was Kubrick aber gerade an Kubrick-Apologet hervor, der Londoner Schnitzlers „Traumnovelle“ über drei JahrFilmkritiker Alexander Walker, dem als zehnte so fasziniert hat, kann nur der Film persönlichem Freund des Hauses von der selbst verraten. Der Drehbuchautor FredeWitwe die Gunst einer exklusiven Privat- ric Raphael warf in einem der ersten Televorführung gewährt worden war, damit er fongespräche mit dem Eremiten Kubrick termingerecht seine (auch für den deut- die Frage auf, ob man den Wiener Jahrschen Markt schon im Henschel-Verlag an- hundertwende-Stoff einfach in die New gekündigte) Kubrick-Biographie abrunden Yorker Gegenwart versetzen könne, da könne. sich doch besonders in der Beziehung zwiSchnurstracks nutzte Walker seinen schen Mann und Frau so viel verändert Wissensvorsprung und veröffentlichte am habe. „Glauben Sie?“ fragte Kubrick. „Ich 22. Juni im Londoner „Evening Standard“ nicht.“ Urs Jenny 108 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 U. RÖHNERT Medien Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft Szene A R B E I T S P L AT Z H AU P T S TA D T Ordnung ist Luxus Party der Exhibitionisten Die Frankfurter Büroorganisatorin Edith Stork, 53, über den Unterschied von Chaos und Unordnung D aß die Love Parade, die an diesem Samstag durch Berlin zieht, das große Fest der Liebe ist, nimmt der Berliner Porno-Filmer Rolf Schmidt wörtlich: Zwischen den halbnackten Ravern plaziert er seine Akteurinnen und Akteure, filmt sie tanzend auf einem Wagen, mal über, mal unterm Rock. Später begleitet er sie in den Tiergarten und auf die Paradise-City-Party, wo er Hardcore-Sex-Szenen drehen will – diese allerdings abgeschirmt durch Bodyguards. Schon im vergangenen Jahr schuf der Filmhochschulabsolvent Schmidt unter dem Titel „Tanz der Techno-Titten“ eine pornographische Doku-Soap. Dieses Jahr möchte er außerdem einen Erotikfilm über die Love Parade machen, der ab 16 Jahre freigegeben sein soll. Auch Love Parade in Berlin (1998) andere aus der Branche mischen bei der großen Party mit: „Pri- geht es dagegen harmloser zu. Der vate“, der weltgrößte Porno-Produzent, Dortmunder Szeneforscher Ronald wird sich mit einem Wagen präsentie- Hitzler, 49, fand heraus, daß Raver zwar ren, genauso wie der deutsche Orion- mit Erotik spielen, aber meist „ohne die Sex-Versand. Unter den Techno-Fans Idee der Penetration“. SPIEGEL: Frau Stork, Deutsche gelten J. P. BOENING / ZENIT gemeinhin als ordentlich, warum sind Sie dennoch so gut im Geschäft? Stork: Ganz einfach: Auf Universitäten oder Fachhochschulen wird die Regentschaft über das Papier nicht gelehrt. SPIEGEL: Sieht es chaotisch aus in unseren Büros? Stork: Wir haben jedenfalls trotz Computer und Internet mehr Papier denn je, das wir organisieren müssen. Übrigens ist das Gegenteil von Ordnung nicht Chaos, sondern Unordnung. SPIEGEL: Danke, und welchen Unterschied macht das? Stork: Chaos, philosophisch begriffen, kann für den einzelnen durchaus produktiv sein. Unordnung dagegen mindert die Lebensqualität. Papiere und Arbeitsunterlagen sollten so geordnet sein, daß man keine Zeit darüber ver- E I N K AU F E N Stork liert und teamfähig bleibt. Ich helfe dabei, ein tiefes Bedürfnis zu befriedigen, nämlich die Kombination von Arbeitswelt und Lebenswelt. Wenn es gelingt, begreifen die meisten, daß Ordnung eine Form von Luxus ist. SPIEGEL: Haben Sie spezifisch männliche und spezifisch weibliche Schwächen in Sachen Unordentlichkeit entdeckt? Stork: Nein, Stapel auf dem Fußboden oder Hängebauchschweine, also übervolle Hängeregister, sind männliches wie weibliches Urgut. E in Herz für Stubenhocker hat das Pariser Kaufhaus „Printemps“. An bestimmten Tagen können Kunden von ihrem eigenen Computer aus drei Verkäufer aktivieren. Ausgestattet mit Inline-Skates und Videokamera, Notebook und Internet-Verbindung brettern die flinken „Webcamer“ durch die Regalschluchten. Ist der gewünschte Spitzenbody oder die gemusterte Herrensocke gefunden, halten die rollenden Berater das Produkt vor die Kamera, drehen und wenden es, wie vom Kunden gewünscht. Die Ware wird dann per Post nach Hause geliefert. Der ultramoderne Service kommt an: Bei der Premiere lockte Printemps über 1500 Käufer virtuell in seine Hallen. www.webcamer.com d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 LE PRINTEMPS U. MARTIN Rollende Konsumberater Verkäufer mit Laptops im „Printemps“ 111 Der nackte Untertan Satelliten schauen in Vorgärten, Mikrokameras beäugen Kassiererinnen, Computer belauschen Telefonate, Marktforscher durchleuchten Wohnhäuser, Voyeure schnüffeln im Internet – Little Brother is watching you. Wie harmlos ist die digitale Gesellschaft? Von Uwe Buse und Cordt Schnibben A ls die englische Polizei den Mann suchte, der in London drei Nagelbomben detonieren ließ, fand sie den mutmaßlichen Täter auf den Bändern einer Überwachungskamera. Als die Nato-Staaten während des Krieges Bilder brauchten von den Massengräbern im Kosovo, lieferten Satelliten metergenaue Fotos. Als der Sonderermittler Kenneth Starr Beweise suchte für die Verlogenheit des USPräsidenten, hoffte er sie in den illegal mitgeschnittenen Gesprächen zwischen einer Praktikantin und ihrer Freundin zu finden. Weil der ostfriesische Windkraftanlagenhersteller Enercon amerikanischen Konkurrenzunternehmen unbequem wurde, lieferte ein US-Geheimdienst abgehörte Firmengeheimnisse. 112 Weil ein amerikanisches Ehepaar in Connecticut dem Kindermädchen mißtraute, filmte eine versteckte Kamera die Prügel für das Baby. Weil sich die Lübeckerin Patricia Christoph vor dem Arbeitsgericht über ihre Entlassung wunderte, präsentierte ihr Chef private E-Mails aus ihrem Computer. Weil der Wirt einer Gaststätte im Kreis Mettmann die Genitalien seiner Gäste so reizvoll fand, klemmte er Mini-Kameras an seine Kloschüsseln und verbreitete die Bilder weltweit im Internet. In seinem Zukunftsroman „1984“ hat George Orwell eine Gesellschaft vorhergesehen, in der „Big Brother“ die Untertanen Tag und Nacht nicht aus den Augen läßt. Der Mann hat sich geirrt: Nicht ein großer Bruder wacht über die Menschheit, d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 sondern viele kleine Brüder wachen; nicht zu Überwachungsstaaten entwickeln sich die modernen Gesellschaften, sondern zu Überwachungsgesellschaften – der Ladenbesitzer filmt seine Kassiererinnen, der Fabrikbesitzer überwacht die Umkleidekabinen seiner Arbeiter, Adressenhändler filmen jedes Haus in Großstädten. Was von Militärforschern in die Welt gesetzt wurde, um potentielle Kriegsgegner auszuschalten, ist nach dem Ende des Kalten Krieges im Elektroladen und per Internet zu bestellen. Mikrokameras in Teddybären beäugen jetzt lieblose Babysitter; das Ortungssystem GPS, entwickelt, um Bodentruppen an die richtigen Kriegsziele zu bringen, dient nun Trekkingtouristen als Navigator; mit Laserabhörsystemen lassen vermögende und mißtrauische Ehe- Titel Iris-Überprüfung zur Identifizierung SPL / AGENTUR FOCUS Der Mensch wird bewacht, damit er länger lebt männer ihre Frauen bespitzeln; dank des weltweiten Abhörnetzes Echelon, eingerichtet, um wichtige militärische Entscheidungen zu belauschen, erfahren Unternehmen von Faxen und Telefonaten der Konkurrenzfirmen; um Kreditkartendiebe zu fangen, nutzen Banken die gleiche Computertechnik, die in Waffensystemen eingesetzt wird, um feindliche Ziele aufzuspüren und zu zerstören. Orwells Schreckensvision mußte in den vergangenen Jahrzehnten immer herhalten, wenn es darum ging, vor Volkszählungen und Überwachungskameras an Straßenkreuzungen, vor Kreditkarten und Scannerkassen in Supermärkten zu warnen. In der erfundenen Welt von „1984“ gab es keine Intimsphäre mehr, und es interessierte „nicht Reichtum oder Luxus oder langes Leben oder Glück: nur Macht, reine Macht“. Irrtum: In der Welt von 1999 geht es um Reichtum und Luxus und langes Leben und Glück; der Mensch wird von Kameras bewacht, damit er länger leben soll; die Konsumforscher spionieren ihn aus, damit er den Luxus bekommt, den er will; und nicht Machtstreben, sondern Gewinnstreben macht aus der Privatsphäre ein Objekt der Begierde für große Augen und große Ohren. Deutschlands größte Elektronikhändler, die Conrads aus Hirschau, melden in diesem Jahr „einen erfreulichen Anstieg beim Vertrieb von Überwachungsanlagen“; der Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen spricht von einem „Boom“; und auch ein Kleinhändler wie Stefan Gmyrek verdient gutes Geld mit dem Wunsch seiner Mitmenschen nach umfassender Kontrolle über das eigene Leben und über das anderer. Gmyrek verschickt aus seiner Leipziger Wohnung Minikameras, Wanzen, Wanzenaufspürgeräte und Wanzenstörgeräte. Mit seiner eigenen Minikamera hat der 31jähri- FOTOS: RTL ge in Tschechien über Menschenschmuggler triumphiert und sie heimlich gefilmt, er hat Mikrofone in fremden Wohnungen installiert, die monatelang problemlos sendeten. Die Kameras kosten ein paar hundert Mark, nehmen noch durchs Knopfloch auf, senden drahtlos und in Farbe. Ein Körperschallsender kostet 1549 Mark. Für 25 000 Mark gibt es Laser, die Schwingungen von Fensterscheiben benutzen, um Gespräche in einem Zimmer aufzuzeichnen. Und wenn der zu bespitzelnde Raum am anderen Ende der Welt liegt, kauft man für 149 Mark eine Webcam, klemmt ein Modem dran, wählt sich ins Internet ein, und schon kann man am Computer sehen, was der Hausmeister nachts in der Ferienwohnung in der Karibik treibt. Über tausend Webcams beliefern inzwischen Internet-Voyeure mit Bildern aus Schlafzimmern und Küchen; und Dutzende Minikameras füttern das Internet mit Bildern aus Kloschüsseln rund um den Globus. In den Zimmern eines Hamburger Bordells entdeckte die Polizei versteckte Minikameras. Sie klebten hinter Bildern an der Wand und filmten durch ein millimetergroßes Loch in der Leinwand. Im Keller des Puffs stand die Überwachungszentrale. Über die Hälfte der 16 600 deutschen Tankstellen ist mit Videokameras ausgerüstet, jede Bank und jede Sparkasse hat mehrere, im Frankfurter Hauptbahnhof kontrollieren rund 120 Kameras die Wartenden. Bereits 300 000 Überwachungskameras sollen in Deutschland ein Auge auf die Deutschen haben. Vielleicht sind es auch 400 000. Sie hängen in Banken, in Rathäusern, Gerichten, in Casinos, Spielhallen, Tankstellen, Fabriken, Büros, Supermärkten und Polizeiwachen. „Diskrete Überwachung“ nennt Horst Piechowiak die Vergesellschaftung der Privatsphäre, und er ist stolz auf diesen Begriff: „Den hab’ ich mir sogar schützen lassen.“ Der Hamburger Unternehmer verdient sein Geld mit dem Verstecken von Kameras in Umkleidekabinen, über La- Bilder einer Überwachungskamera: Sekretärin fotografiert Körperteile mit einem Kopierer Nicht ein großer Bruder wacht über die Menschheit, sondern viele kleine Brüder; nicht zu Überwachungsstaaten entwickeln sich die Gesellschaften, sondern zu Überwachungsgesellschaften d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 113 Titel nover vorstellte. Joachim Jacob, der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, hält das Projekt für „gesetzwidrig“. Die Firma, die unter Datenschützern als „extrem klagefreudig“ bekannt ist, zog vor Gericht und verbot Jacob den Mund. Die Gründer von Tele-Info sind nicht Gesandte von Außerirdischen, sie sind auch keine Handlanger von Terroristen oder Kidnappern. Sie sind Unternehmer, die begriffen haben, daß Daten eine einträgliche Ware sind, ein Rohstoff wie Öl oder Kokain. Und Daten über Konsumenten sind wie Gold: Bis zu 15 Mark kostet eine Konsumentenadresse, wenn ein Unternehmen bei einem Adressenhändler Dateien von Hundefutterkäufern, Alarmanlageninteressenten oder Porno-Liebhabern erwerben will. 60 Millionen Adressen mit einer Milliarde Daten hat Deutschlands größer privater Datensammler in seinen Rechnern. Sie stehen in der Kleinstadt Ditzingen bei Stuttgart, von hier regiert Arnold Steinke sein Konsumentenimperium. Für Verbraucherschützer ist er so etwas wie das personifizierte Böse. Steinke ist Geschäftsführer der Schober Direktmarketing GmbH, Interviews gibt er selten. Wenn doch, sitzt er hinter seinem beige Konferenztisch, lä- Frauen im Watchcam-Haus bei Orlando: Leben und chelt unverbindlich und sagt zur Begrüßung, „daß man uns ja doch nur mißSchon heute kennt Steinke 90 Prozent verstehen will“. Mit „uns“ meint Steinke der Deutschen. Er weiß, wer ein Garagendie 1300 registrierten Adressenhändler parker ist, wer lieber für die Deutsche Deutschlands, die viele für die Wegelage- Kriegsgräberfürsorge spendet statt für rer der digitalen Gesellschaft halten. Stein- Greenpeace, er weiß, wer in der Familie ke und die anderen Adressenhändler ar- die Hosen anhat, wer geizig ist oder arm beiten mit Hochdruck an einer digitalen genug, um mit Frau und Kindern eine Karte der Konsumgesellschaft im Maßstab Nacht in einer Jugendherberge zu schlafen; eins zu eins. er kann sehen, wer seinen Mercedes bar bezahlt und wer sich für den Stern auf der Haube ruiniert. Doch Steinke möchte mehr wissen. Steinke will jeden kaufkräftigen Deutschen kennen und auch jeden armen Schlucker, „denn für jeden gibt es ein Produkt“. Aus diesem Grund schickt Steinke seine Völkerkundler aus, die alles plündern, was Information verspricht. Telefonbücher, Zeitungsanzeigen, Aushänge in Behörden, Messekataloge, Einwohnermeldeämter, repräsentative Umfragen, Luftbilder. Und wenn er nicht weiterkommt, schickt er den Leuten Fragebögen ins Haus, verspricht ihnen den Hauptgewinn im Preisausschreiben und läßt sie 125 Fragen über ihre Konsumgewohnheiten und Kaufabsichten beantworten. 1,5 Millionen antworteten bisher und gestatten Steinke nun, ein wenig tiefer in die Seele des deutschen Konsumenten zu blicken. Als die Verbraucherzentralen von der Umfrage erfuhren, schrien sie laut auf, aber alles, was sie zu hören bekamen, war US-Abhöranlage in Bad Aibling: Genutzt für Wirtschaftsspionage F. HELLER / ARGUM denkassen und sonstwo, vor allem im Auftrag von Firmen. Der Hamburger Datenschutzbeauftragte Hans-Hermann Schrader nennt das gesetzwidrig. Piechowiak nennt es freie Marktwirtschaft: „Sollen doch die klagen, die beim Griff in die Kasse erwischt werden.“ Was die versteckten Kameras filmen, ist peinlich für die Opfer und amüsant für die Fernsehzuschauer, denen die Fundstücke in Shows wie „Life! Total verrückt“ gelegentlich präsentiert werden: Von Überwachungskameras gefilmt wurde der Angestellte, der seinem Boß in den Kaffee pinkelt, der Schlachter, der ins Hackfleisch spuckt, und die Sekretärin, die ihren nackten Hintern kopiert. Inzwischen leben Menschen davon, sich Tag und Nacht filmen zu lassen und die Bilder übers Internet zu verbreiten. Die Frauen im Watchcam-Haus bei Orlando (Florida) lassen sich sogar von mehr als 20 Kameras beobachten. Nirgendwo registrieren mehr Kameras mehr Unappetitliches, mehr Peinliches und mehr Kriminelle als in Großbritannien (siehe Seite 122). Kein Land der Welt besitzt eine höhere Kameradichte pro Kopf, in keinem anderen Land nutzen Verbrechensbekämpfer Videoaufnahmen so regelmäßig und so erfolgreich. Schon 1993 wurden die minderjährigen Mörder eines Zweijährigen in Liverpool durch Überwachungskameras identifiziert. In Deutschland fahren seit dem vergangenen Jahr Busse der niedersächsischen Firma Tele-Info durch die Straßen deutscher Städte, 8 Kameras auf jedem Dach, jede schießt 50 Bilder pro Sekunde. Zusammen mit dem Grünflächenkataster, dem Straßenkataster, dem Liegenschaftsregister, Flächennutzungsplänen und Bebauungsplänen landen die Aufnahmen der Häuser im „City-Server“, einer Datenbank, die Tele-Info auf der Cebit in Han- 114 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 FOTOS: RTL T. EVERKE Datenhändler. „Man kippt einfach jede Menge Fakten in den Rechner und wartet, was am Ende rauskommt.“ Was das ist, kann keiner bei Schober voraussagen. „Die Maschinen sind so leistungsfähig, sie stellen Zusammenhänge her, wo eigentlich keine sind“, freut sich Steinke. In seinem Unternehmen steht ein digitales Perpetuum mobile, ein Computer, der aus Daten neue Daten gewinnt. „Data-mining nennen das die Amerikaner“, sagt Steinke und fügt neidisch hinzu: „Die sind sowieso viel weiter als wir hier.“ Für amerikanische Dataminer ist Deutschland nur ein Entwicklungsland mit tollen ISDN-Leitungen. Deutschland steckt in einer Art digitalem Mittelalter fest, in dem Aberglaube und böse Geister herrschen. Vor allem große Handelskonzerne und Dienstleistungsunternehmen arbeiten emsig an der Modernisierung: Sie geben Kundenkarten aus, um dem anonymen Heer ihrer Konsumenten Gesichter und Datenprofile zu geben. Karstadt, Ikea, Görtz und andere Firmen sammeln von inzwischen über acht Millionen Deutschen Daten über deren Kaufverhalten. „Auch wenn es keiner ausspricht“, sagt der Geschäftsführer der Software-Firma SqribeTechnologies, die Programme zur Aufbereitung der Konsumentendatenflut entwickelt hat, „das Ziel ist der gläserne Kunde, dessen Bedarf, Finanzkraft und Einkaufsgewohnheiten die Anbieter möglichst genau kennenlernen wollen“. Lieben, während Zehntausende per Kamera und Internet zuschauen Der Konkurrenzkampf zwingt die Unein lapidarer Satz des Geschäftsführers von ne eigene Zelle stecken und vor der Markt- ternehmen, immer mehr Daten über die Schober: „Wir wollten die Schmerzgrenze einführung der Windelvariante mit Wer- Staatsbürger und ihre Vorlieben zu samder Deutschen testen.“ An dieser Grenze bung eindecken. Kauft der Mann oder die meln. Fluggesellschaften speichern Inforpatrouilliert Steinke mit seinen Hundert- Frau ein neues Produkt erst, wenn der mationen über ihre Passagiere, um sie schaften weiter, um am Ende das große Nachbar es ausprobiert hat, schenkt sich durch Vielfliegerprogramme an sich zu binZiel zu erreichen: jeden Deutschen, jede Steinke die Frühwerbung und attackiert den; das „Computer-Assisted Passenger Screening“ prüft seit Anfang vergangenen Deutsche in eine eigene Zelle zu sperren. erst nach ein paar Monaten. Wie eng die Zellen der Deutschen zur Jahres in den USA allerdings auch, ob ein „Eine Zelle ist von einer homogenen Gruppe bevölkert“, erklärt Steinke. Zum Zeit sind, mag Steinke nicht sagen. Da- Kunde oft in arabische Länder fliegt – dann Beispiel ein Haus voller Pamperskäufer. tenschützer schätzen, daß es zumindest besteht Terrorismusverdacht, und die Das ist eine genau umrissene Gruppe, die einzelne Blocks sind, die in den nächsten Gepäckkontrolle fällt zukünftig bei ihm sich sehr gut „bewerben läßt“. Aber noch fünf oder zehn Jahren in Isolationszel- besonders gründlich aus. Die Buchungsinformationen des intergenauer trifft Werbung, wenn man jedes len aufgeteilt werden. „Neuronale Netze Mitglied der Gruppe, jeden Pamperskäufer sind wirklich eine tolle Sache“, schwärmt nationalen Luftverkehrs werden zu Bewegungsprofilen aller möglichen Personen kennt. Weiß Steinke, ob er ein Frühkäufer Steinke. Neuronale Netze sind Computerpro- verarbeitet. Schon vor zehn Jahren wollte ist, einer, der eine neue Pampers mit perfekterem Auslaufschutz sofort nach der gramme, die so tun, als wären sie ein Ge- das FBI den Zugriff auf alle staatlichen und Markteinführung kauft, kann er ihn in sei- hirn: Sie sind das mächtigste Werkzeug der privaten Datenbanken der USA gesetzlich durchdrücken; der Kongreß lehnte ab. Weil seitdem jedoch immer mehr Behörden aus Geldknappheit Datenpakete an Unternehmen und Datenhändler verkaufen, kann das FBI diese damals verweigerten Einblicke inzwischen mühelos zusammenkaufen. Jeder kann es: Für eine Bilder einer Überwachungskamera: Zimmermädchen stiehlt Geld aus der Tasche eines Hotelgastes Gebühr von 9 Dollar besorUS-Firmen wie „Infor„Das Ziel ist der gläserne Kunde, dessen Bedarf, Finanzkraft und gen mus“ die Schulzeugnisse jeEinkaufsgewohnheiten die Anbieter möglichst genau kennenlernen wollen“ der gewünschten Person, für d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 115 Titel 10 Dollar gibt es eine Übersicht über die Finanzlage des Chefs, inklusive des Kredits fürs Auto und der Höhe seiner monatlichen Raten. 11 Dollar verlangt Informus für die Beurteilungen früherer Arbeitgeber, 160 Dollar kostet eine fünfseitige Akte, Das deutsche Datenschutzgesetz schützt eher Daten als Menschen. die ein ganzes Leben von der Geburt bis zur Gegenwart umfaßt, Straftaten eingeEine EU-Richtlinie ist überfällig. Was bleibt, ist Selbsthilfe. schlossen. Geliefert und abgerechnet wird online. Auskunft gibt Informus allen, die igentlich könnte Helmut Bäum- Fall ist, entscheidet die Behörde. Einvorgeben, ein Geschäft zu besitzen, eine ler, Datenschutzbeauftragter der wohnermeldeämter geben Daten an Adresse, einen Internetanschluß und eine Landesregierung in Schleswig- Parteien zu Wahlkampfzwecken weiKreditkarte. Holstein, zufrieden sein. Tausende be- ter. Mit einem Brief an das Amt läßt So weit ist es heute noch nicht in folgten in den vergangenen Wochen sich das unterbinden. Im Internet werden Cookies, kleine Deutschland. Heute führt die „Gesellschaft seinen Aufruf und teilten der Firma für Zahlungssysteme“ nur Schattenkonten Tele-Info im niedersächsischen Garb- Dateien mit Informationen, vom Interfür Kreditkartenbesitzer und läßt Polizisen mit, sie seien nicht damit einver- net-Rechner zum PC versandt, sobald sten da reinschauen, wenn es sein muß. standen, daß ihr Haus in die Gebäude- eine Internet-Seite aufgerufen wird. Heute legen Detekteien in ganz DeutschDatenbank des Unternehmens auf- Die gängigen Internet-Browser bieten die Möglichkeit, das Verschicken von land Datenbanken an, in denen sie speigenommen wird. chern, wer betrogen, geschlagen, mißDeprimierend, so Bäumler, sei aller- Cookies zu stoppen, oder sie teilen mit, braucht wurde und wer angeblich betrodings, „daß das deutsche Datenschutz- wenn sich ein Cookie im eigenen Rechgen, geschlagen, mißbraucht hat. „Früher gesetz keine direkte Handhabe bietet, ner niederlassen will. E-Mails mit persönlichen Angafand die Polizei in Detekteien einen Block das Digitalisieren ganzer Städte zu vervoller Notizen“, erinnert sich Helmut Bäummeiden“. Die EU-Datenschutzrichtli- ben sollten immer verschlüsselt verler, Datenschutzbeauftragter von Schlesnie würde den Deutschen mehr Macht schickt werden. Eines der gängigsten wig-Holstein, „heute kann sie sich über über ihre Daten geben. Aber die Um- Programme zum Verschlüsseln von ganze Dossiers freuen, säuberlich gespeisetzung der Richtlinie ist seit Oktober elektronischer Post ist „Pretty Good Privacy“. Es ist kostenlos aus dem chert, die ihr eine Menge Arbeit ersparen.“ vergangenen Jahres überfällig. Die Liste der öffentlichen und privaten Ganz oben auf der Schwarzen Liste Internet zu laden (www.pgpi.com). Datenbanken, in denen ein Deutscher von von Bäumler stehen Kundenkarten wie Die deutsche Suchmaschine web.de bietet Geburt an Spuren hinterdie Ikea-Card. „Diese Karten sollte (www.web.de) läßt, ist schwindelerregend man gar nicht benutzen.“ Es sind reine ebenfalls die Möglichlang: Die Ankunft eines neuMarketinginstrumente, mit ihrer Hilfe keit, Briefe zu veren Konsumenten und Staatskönnen die Firmen detaillierte Kon- schlüsseln. Ein Weg, im Internet bürgers registrieren Kindersumprofile jedes einzelnen Karteninanonym zu bleiben, ist nahrungshersteller ebenso habers entwerfen. wie Meldeämter; Daten Beim Abschluß von Verträgen mit das Benutzen anonymer über Wohnsitz, SchulleiKreditkartenfirmen raten Datenschüt- Remailer (www.replay. stungen, Führerschein, Paß, zer zur Frage, ob die Daten im In- oder com). Die E-Mail wird Sozialversicherung, Vorstraim Ausland bearbeitet werden. Zwar nicht direkt an den fen, Steuerzahlungen, Famiversichern die Unternehmen, daß sie Adressaten geschickt, lienstand und Rentenandie Bearbeitung der Daten nur aus sondern an den Remaisprüche sammeln sich in öfKostengründen ins Ausland verlagern, ler, der die Anschrift des fentlicher Hand; Daten über „aber es bleibt fraglich, ob das tat- Absenders löscht und sächlich der einzige Grund ist“, so der die Post zustellt. Video vom Londoner Attentäter Bankkonten, Kreditkarten, Eine zweite Möglich- Höchste Kameradichte Versicherungen, ArbeitsstelBerliner Datenschützer Hansjürgen keit bieten große Interlen, Wohnverhältnisse, KonGarstka. sumverhalten, Eigentum, Reisen und Gegen unerwünschte Werbung im net-Portale wie Yahoo. Das UnternehKrankheiten türmen sich in privaten DaBriefkasten hilft ein Eintrag in die men vergibt E-Mail-Adressen, die mit tenbanken. Jeder Bundesbürger über 18 „Robinson-Liste“ in Ditzingen. Sie yahoo.com enden. Das Land und der Jahre ist durchschnittlich in 52 kommerwird vom Deutschen Direktmarketing Provider des Briefeschreibers sind ziellen Datenbanken erfaßt. Verband geführt, der verspricht, daß nicht mehr erkennbar. Das anonyme Surfen im Internet Ein Drittel aller Deutschen geht davon die in der Liste Eingetragenen nicht aus, daß ihre persönlichen Daten einmal mehr mit Werbesendungen belä- ermöglichen Anonymisierer (www. oder mehrmals mißbraucht worden sind. stigt werden. Rechtsverbindlich ist die anonymizer.com). Sie verschleiern 60 Prozent glauben, daß sie von AdreßListe allerdings nicht. Wer ganz si- den Startpunkt der Reise im Internet. händlern erfaßt sind, weil sie plötzlich ihre chergehen will, muß jede einzelne Homepage-Betreiber können so kaum persönliche „Millionärskarte mit der Firma, die seine Adresse benutzt, an- noch Rückschlüsse auf die Identität des Besuchers ziehen. Chance zur Verdopplung des Super-Geschreiben. Spam, die Internet-Variante der PostBehörden in Deutschland müssen winns“ im Briefkasten finden oder ihnen auf Antrag Auskunft über gespeicher- wurfsendung, läßt sich mit Filterproeine monatliche Zusatzrente von 5100 te Daten zur Person des Antragstellers grammen (www.spammerslammer. Mark versprochen wird. geben. Die Auskunft kann verweigert com) oder zwei E-Mail-Adressen beSolange die Datenbanken hübsch gewerden, wenn die öffentliche Sicher- kämpfen. Eine Adresse wird zum Surtrennt bleiben und die Datenschutzgesetheit in Gefahr ist oder die Arbeit der fen im Netz benutzt, die zweite zur ze beachtet werden, hat keiner Grund zur Behörde gefährdet wird. Ob das der Korrespondenz. Besorgnis. Menschengruppen allerdings, die unter Sonderbeobachtung des Staates stehen, wie Sozialhilfeempfänger, Asylbe- Wenig Daten sind gute Daten AP E 116 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 K. MEHNER Trainingszentrum der U. S. Army im oberpfälzischen Hohenfels: Krieg per Satellit und Bildschirm werber, Prostituierte, Vorbestrafte und Extremisten, müssen damit rechnen, daß ihre Daten vernetzt werden. Und da kann es schon mal Probleme geben. In Hessen wurden Verfassungsschützer gerügt, weil sie Daten zu lange speicherten. In Bayern steht jeder zehnte Bürger in den elektronischen Akten der Verbrechensbekämpfer, jeder hundertste landet dort, nach einer Stichprobe des Landesdatenschutzbeauftragten, ohne Tatverdacht. Bei dem Rest finden sich häufig seltsame Kürzel wie ANST für Ansteckungsgefahr oder GEKR für geisteskrank. Eine Frau geriet auf die Festplatte des Polizeicomputers, weil sie eine „auffällige Person“ war, „die im Rahmen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung ohne konkreten Tatverdacht“ gespeichert wurde. Die Auffälligkeit, die Beamte eine Gefahr wittern ließ, war ein Schwächeanfall, hervorgerufen durch eine entzündete Bauchspeicheldrüse. Das prominenteste Opfer bayerischer Datensammler ist die Sozialministerin des Freistaates. Im Herbst 1997 wurde bekannt, daß Barbara Stamm seit 1991 wegen angeblicher Rechtsbeugung in den Computern gespeichert war. Die Ministerin de- mentierte empört. Es stellte sich heraus, daß sie sechs Jahre lang ohne Tatverdacht in den digitalen Akten geführt worden war. Innenminister Günther Beckstein mußte sich entschuldigen und ließ seinen Sprecher eine „polizeiliche Todsünde“ eingestehen. Der hessische Datenschutzbeauftragte Rainer Hamm kritisiert, daß sich die Strafprozeßordnung zu einem „Warenkatalog für Eingriffsbefugnisse“ entwickelt habe. Innerhalb eines Jahres, von 1995 bis 1996, stieg die Zahl der Telefonüberwachungen allein im Netz der Telekom von 3667 auf 4674. Von 1996 auf 1997 stieg die Zahl aller Telefonüberwachungen um weitere 10,7 Prozent. Wie viele Telefonate abgehört wurden, steht in keiner Statistik. Mitschuld an dieser Situation tragen die Richter, die den Fahndern das Abhören fast immer erlauben, weil sie die Fälle in der Regel kaum kennen, sie auch kaum wieder auf den Tisch bekommen und eher mit Staatsanwälten sympathisieren als mit Verdächtigen. Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin ist das mittlerweile zuviel. Sie verlangt, „daß das strafprozessuale Abhören wieder auf ein rechtsstaatlich vertretbares Maß zurückgeführt“ werden müsse. FOTOS: RTL Auf Beschluß der Länder hin wurde auf „eine systematische Erhebung des Erfolges“ von Abhörmaßnahmen verzichtet, weil das zu „rechtspolitisch unerwünschten Konsequenzen“ führen würde. Auf deutsch: Wenn belegt werden müsse, wie erfolgreich oder erfolglos die Überwachungen sind, ließen sich neue Befugnisse nur schwer durchsetzen. Das digitalisierte Telefonnetz der Bundesrepublik erleichtert die Schnüffelei: Rechner prüfen in ein paar Stunden die Gespräche der letzten Tage und präsentieren dann die Nummern der Telefone und die Länge der Gespräche. Möglich wird das großflächige Abhören und das Katalogisieren ganzer Nationen durch die Digitalisierung der Welt. Was 1941 in einer Berliner Wohnung begann und verständnislos belächelt wurde, beherrscht heute immer größere Teile des gesellschaftlichen und privaten Lebens. Wer telefoniert, faxt, telext, wer sich sein Geld am Automaten zieht, wer im Internet surft, E-Mail schreibt und chattet, wer an Preisausschreiben teilnimmt, wer eine Flugreise bucht und Grenzen überschreitet, wer eine Zeitschrift abonniert, sich vom Arzt eine Salbe verschreiben läßt, wer zu schnell fährt oder falsch parkt, wer einfach nur in seiner Wohnung wohnt, hinterläßt ein paar unscheinbare Bits in einer Datenbank. Auf vielen Festplatten sammelt sich eine ganz neue Generation von Daten. Körpereigene Merkmale, gespeichert als biometrische Daten, gelten als Schlüssel für Bilder einer Überwachungskamera: Angestellter uriniert in die Kaffeekanne seines Chefs sicheren elektronischen HanStatt ein Paßwort einzuWer telefoniert, wer eine Flugreise bucht oder wer einfach nur in seiner del. tippen, gewährt das eigene Wohnung wohnt, hinterläßt ein paar unscheinbare Bits in der Datenbank Gesicht oder der Scan der d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 117 118 B. BOSTELMANN / ARGUM Iris oder ein elektronischer Fingerabdruck Zugang zum Bankkonto oder zu Sicherheitszonen. Die Marktforscher von Frost & Sullivan rechnen in Europa mit einer jährlichen Wachstumsrate des Biometrie-Marktes von zehn Prozent. Und Microsoft-Boß Bill Gates ist überzeugt, daß „Biometrie die wichtigste Computer-Innovation in den nächsten Jahren sein wird“. Weil immer mehr Menschen immer mehr Bausteine ihres Lebens auf immer mehr Computern hinterlassen, werden auf allen Kontinenten Informationsgebirge aufgeschüttet, die von Unternehmern und Regierenden kartographiert und ausgebeutet werden. Das alles ist ungefährlich und höchstens lästig, solange die Datenbanken nur benutzt werden, um den Menschen die Briefkästen mit Werbebriefen vollzustopfen, um ihnen Freiflüge zu schenken und um sie vor Terroristen zu schützen. Doch seit Orwell der Menschheit prophezeit hat, die Überwachungstechnik werde sich gegen sie wenden, sind es besonders Schriftsteller und Filmemacher, die immer wieder die Angst vor der totalen Überwachung in Szene setzen. Hollywood weiß, wovor sich Menschen fürchten, und hat deshalb in den letzten Jahren Millionen Kinobesucher immer wieder vor der Hauptgefahr der modernen Zivilisation gewarnt: Böse Mächte nutzen die Möglichkeiten der digitalisierten Welt, um reich zu werden und Tod und Verbrechen zu verbreiten. In „Matrix“, seit dem 17. Juni auf deutschen Kinoleinwänden zu sehen, ist es ein weltumspannendes Computersystem, das die Menschen so perfekt versklavt, täuscht und überwacht, daß sie glücklich und ahnungslos leben. Sie genießen die Freuden der schönen neuen Technik, und nur eine Handvoll von Schlaumeiern durchschaut den digitalen Totalitarismus. In „Das Netz“ wird Sandra Bullock durch die Manipulation von Datenbanken ihre Persönlichkeit geraubt, weil sie der Computermafia auf der Spur ist; in der „Truman Show“ ist Jim Carrey den allgegenwärtigen Überwachungskameras eines Big Brother ausgeliefert, weil der sein Leben weltweit als Soap-Opera vermarktet; in „Staatsfeind Nr. 1“ gerät Will Smith als Rechtsanwalt in das Visier einer Organisation, die all das an Überwachungstechnik gegen ihn einsetzt, was die moderne Welt zu bieten hat: Satelliten verfolgen jeden seiner Schritte; Mikrokameras beäugen jedes Zimmer seines Hauses; Überwachungskameras in Läden, Tankstellen und Straßentunneln liefern Bilder von seinen Begegnungen mit Bekannten und seiner Geliebten; und Manipulationen an diversen Datenbanken machen den vermögenden Familienvater zu einem armen, einsamen Mann, der keinen Job mehr hat, keine Frau und keine Kreditkarten. Die allmächtige bitterböse Organisation, die im Film hinter dieser digitalen Vernich- Kameraüberwachung im Frankfurter Hauptbahnhof: „Truman Show“ für alle tungsaktion steckt, heißt „National Security Agency“ (NSA) und ist im wahren Leben der geheimnisvollste Geheimdienst der USA. Lange Zeit war über die NSA nicht mehr bekannt, als daß der Dienst keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt, daß er keinen anständigen Haushalt besitzt, aber trotzdem 27 Milliarden Mark im Jahr ausgibt, daß er jährlich 24000 Tonnen streng geheime Akten produziert und daß er jeden Tag 40 Tonnen Akten schreddert. Heute ist bekannt, daß die NSA die Welt belauscht. 1996 veröffentlichte der neuseeländische Journalist Nicky Hager sein Buch „Secret Power“, in dem Angestellte der NSA anonym Auskunft gaben über die Möglichkeiten des Dienstes, weil sie Angst hatten vor dem Mißbrauch der Macht und d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 des Wissens, das auf dem 400 Hektar großen Gelände in Fort Meade, Maryland, gesammelt wird. Unter dem Codenamen Echelon scannt die NSA seit Anfang der achtziger Jahre alle Telefonate, alle Faxe, alle E-Mails, alle Telexe, die über internationale Telekommunikationssatelliten, regionale Satelliten, Kabel und Mikrowellentürme gesendet werden. Computerprogramme durchkämmen die Datenschwemme nach verdächtigen Begriffen, Namen und Nummern und sortieren aus dem Weltlärm die Gespräche aus, die für Geheimdienste, Polizeibehörden und Regierungsstellen von Bedeutung sein können. Eine der Abhörstationen steht im bayerischen Bad Aibling und hört geostationäre Titel chert, und die SPA hatte diese Information an alle Arbeitgeber weitergegeben, die sich bei ihr nach Kelly erkundigt hatten. Aber Kelly war kein Ladendieb. Der Mann, der ihm im „ComedyStore“ in Los Angeles die Brieftasche gestohlen hatte, war der Dieb und hatte nach seiner Festnahme Kellys Namen und Geburtsdatum angegeben. Die Polizei hatte die Information ungeprüft gespeichert, die SPA hatte sie ungeprüft weitergegeben. Kelly verlangte, daß die Einträge gelöscht werden. Die Antwort der Polizei in Riverside: „Das ist unmöglich. Falls der Täter noch einmal Ihren Namen benutzt, brauchen wir diese Angaben.“ Kelly wollte den Dieb verklagen. Die Polizei: „Das können Sie nicht. Das einzige Vergehen des Diebes ist, einen Cop angelogen zu haben.“ Dann gab ein Polizist Kelly ein Formular, das bestätigte, daß er nicht vorbestraft sei. „Wie lange muß ich das bei mir tragen?“ Die Antwort des Polizisten: „Für den Rest Ihres Lebens.“ Bronti Kelly hat seinen Namen geändert. Er ist immer noch arbeitslos. Die Digitalisierung der Gesellschaft begann als großes Versprechen. Sie sollte das Leben bequemer machen, die Welt gerechter und den Alltag transparenter. Aber wer liest schon die Gebrauchsanweisung seines neuen Anrufbeantworters so genau, um zu erfahren, daß er sich zur Raumüberwachung eignet; wer mag sich nach Feierabend durch alle Paragraphen des Telekommunikationsgesetzes quälen, um zu erfahren, was der Staat mit jedem privaten Telefonanschluß alles treiben darf; wem fällt schon ein, daß er den Kreditkartenbeleg zerknüllt im Ascher der Pizzeria hat liegenlassen und deswegen auf seiner Monatsabrechnung obskure Firmen auftauchen. Wer hat schon die Lust und die Zeit, sich mit diesem ganzen Kram zu beschäftigen? Der Brite Steve Wright tat es im Auftrag der EU. Er fand in Forschungslaboren Kakerlaken mit implantierten Mikroprozessoren, er lernte die Funktionsweise von Geruchsidentifizierungsgeräten, von Netzhaut, Finger- und Gesichtsscans, er verbrachte Zeit mit Memex, einem Programm, das Zugriff auf Hunderte öffentlicher Datenbanken hat und das Leben eines Menschen in Minuten rekonstruiert. Wright kam zu dem Schluß, daß es angesichts der geBilder einer Überwachungskamera: Hotelangestellter beobachtet Gäste und wird vom Hausdetektiv überwältigt fährdeten Bürgerrechte dringend notwendig ist, in„Unsere Datenprofile entziehen sich weitgehend unserer Kontrolle, nerhalb der EU die Entwickdoch sie können unsere wahre Persönlichkeit unterdrücken“ lung der Gesetze der EntFOTOS: RTL PA / DPA Sigint-Satelliten ab, die auf Radarsignale spezialisiert sind. Was genau in Bad Aibling passiert, weiß nicht einmal der Bundesnachrichtendienst. Insider sagen, daß die Überwachungsanlagen nicht mehr nach Osten, sondern ins europäische Inland zielen, um dort die Wirtschaft auszuspionieren (SPIEGEL 13/1999). Wem Hollywood-Filme zu verschwörerisch und zu unglaubwürdig erscheinen, der kann im Buch des kanadischen Politologen Reg Whitaker, „Das Ende der Privatheit“, nachlesen, was in Filmen wie „Staatsfeind Nr. 1“ Fiktion ist und was Wirklichkeit*. Whitaker hat all das zusammengetragen, was sich inzwischen zum globalen Netz der Überwachung verknüpft hat. Sein Ergebnis: „Unsere Datenprofile entziehen sich weitgehend unserer Kontrolle, doch sie können unsere wahre Persönlichkeit überschatten und unterdrücken.“ Seine Frage: „Warum erhebt die Öffentlichkeit so relativ wenig Einspruch gegen das Vordringen der neuen Überwachungstechnologien in die Privatsphäre des einzelnen?“ Eine Antwort darauf hat der Ame- Liverpooler Kindermörder: Täterjagd mit Kamera rikaner Bronti Kelly nicht, aber er weiß, wie es ist, wenn der eigene Daten- in Riverside, Kalifornien, wurde obdachlos. schatten mächtiger wird als man selbst. Er Aber das war nicht das Schlimmste. „Das stand an der Theke eines Comedy-Clubs in Schlimmste war, daß ich keine Ahnung hatLos Angeles und lachte, als sein Daten- te, wieso das alles passierte.“ Die letzte klare Antwort, die Kelly vor schatten sich davonmachte: Kelly sah nicht, wie jemand seine Brieftasche von der The- seinem Absturz gegeben wurde, stammte ke nahm, er merkte es nicht, bis er sein Bier von seiner Chefin im May Department bezahlen wollte, und er ahnte nicht, daß Store: „Sie sind fristlos entlassen, weil der Verlust von vier Dollar in Scheinen, sie in einer anderen Filiale beim Klauen erdes Führerscheins und des Sozialversiche- wischt wurden.“ Kelly gab ihr eine Errungsausweises in einer digitalen Gesell- klärung der US-Luftstreitkräfte, die ihn schaft lebensgefährlich ist. Er zeigte den freisprach. An dem Tag, zu der Stunde, als Diebstahl an, kaufte sich ein neues Porte- er angeblich als Dieb festgenommen wormonnaie und vergaß die ganze Angele- den war, hatte er auf der March Air Force genheit. Zwei Monate später begann der Base in Riverside eine KC-10 aufgetankt. Seine Chefin blieb bei ihrer Entscheidung. Alptraum. Nach drei Jahren in den Straßen von Los Erst verlor er den Job, dann seine Wohnung. Bronti Kelly, Ex-Mitglied der ameri- Angeles und vielen erfolglosen Bewerkanischen Streitkräfte, Ex-„Angestellter bungen erfuhr Kelly von einem netten Ardes Monats“ des May Department Stores beitgeber, der ihn mal wieder nicht einstellen wollte, was los war: Bei einer Firma namens „Stores Protective Association“ * Aus dem Englischen von Inge Leipold. Antje Kunstwar „Bronti Kelly“ als Ladendieb gespeimann Verlag; 260 Seiten; 38 Mark. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 119 wicklung der Überwachungsgeräte anzupassen. Sie könnten nur warnen und empfehlen, antworten die hauptberuflichen Datenschützer der Länder und des Bundes auf diese Forderung. Sie müssen sich schon freuen, wenn es ihnen gelingt, das Speichern von Daten von fünf auf drei Jahre zu senken. Gegen die Übergriffe staatlicher Datenjunkies können sie wenigstens etwas tun, gegen die Sammelwut privater Datenjäger schon weniger. Private Datenbanken entwickelten sich „wildwüchsig“, kritisierten die Datenschutzbeauftragten von Berlin, Nordrhein-Westfalen, Bremen, SchleswigHolstein und Brandenburg im November letzten Jahres in einer Zehn-Punkte-Liste „zum wirksameren Schutz der Privatsphäre“. Der Bundesbeauftragte Joachim Jacob fordert in seinem jüngsten Jahresbericht, wenigstens den Adressenhandel und die Verwendung von Videobildern durch private Überwachungskameras gesetzlich zu regeln. Und er sorgt sich, wie sein hessischer Kollege, um die zunehmende Rolle von privaten Sicherheitsdiensten, die Personendossiers anlegen, verdeckte Ermittlungen betreiben und Videoaufnahmen archivieren. Vor sich selbst, sagt Jacob, könne man den Bürger allerdings nicht schützen, und meint damit die Leichtfertigkeit, mit der sich viele Deutsche selbst entblößen. Wer Auskunft darüber gibt, ob er sich eine Alarmanlage anschaffen will und welchen Möbelstil er bevorzugt, um vielleicht einen Videorecorder zu gewinnen, beweist sein Urvertrauen in das Gute im Menschen. Ein sicherer Weg, das eigene Leben zu ruinieren, ist der unverschlüsselte OnlineKauf mit der Kreditkarte. „Wer das tut, kann gleich Blankoschecks in der Fußgän- A. KOESTER / SYGMA Überwachungsfilm „Truman Show“: In jeder Sekunde des Lebens von Kameras erfaßt Computeropfer Kelly mit Doppelgänger Datenschatten mächtiger als man selbst 120 gerzone verteilen“, urteilt Stefan Kelm vom Deutschen Forschungs-Netzwerk in Hamburg. Das Internet, einst entwickelt als dezentrales Kommunikationsnetz, ist zum Guckloch in die Privatsphäre von Millionen Computernutzern geworden. Wofür man sonst Wanzen und Detektive brauchte, reichen nun Tastatur und Mausklick: Die Suchprogramme liefern E-Mail-Adressen, Kleinanzeigen und Diskussionsbeiträge von fast jedem ahnungslosen InternetBürger. Der Internet-Service Dejanews beispielsweise durchstöbert seit 1995 alle Wortmeldungen in mehr als 50 000 Debattierclubs des Internets und spuckt auf Knopfdruck eine Liste mit allen Beiträgen des Opfers aus, geordnet nach Themen. Jeder kann so erfahren, daß Robert Dreher (Name geändert) die Spice Girls liebt, seinen Golf verkaufen will, einen neuen Job sucht und seinen Chef haßt. Jeder kann einen Nachsendeantrag für jedermann bei der Post stellen, man muß nur einen Brief mit der neuen Adresse hinterlegen. Und kurze Zeit später liegt die Kreditkartenabrechnung nicht mehr im Briefkasten von Dreher, sondern auf dem Tisch des Identitätsdiebs. Der bucht im Internet ein Jahresabo im Voyeur-Club und kauft schöne und teure Computerprogramme. Bezahlt wird online, mit der Nummer von der Kreditkartenabrechnung, eine Unterschrift ist nicht nötig, ein Foto auch nicht. Und der Chef bekommt eine d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 anonyme E-Mail, die ihm mitteilt, daß Robert Dreher ihn für einen „alten Sack“ hält. Weil es so ertragreich ist, per Internet in der Privatsphäre der Bürger herumzuschnüffeln, bieten Firmen wie „CPS Krohn“ Fahndungen im weltumspannenden Netz an. Sortiert nach Kategorien wie „Betrug“, „Diebstahl“, „Brandstiftung“ und „Tötung“, hilft das „Europäische Sicherheits-Informations-System“ bei der Fahndung nach Personen und Diebesgut. Bereits im November 1996 hat eine internationale Arbeitsgruppe der Datenschützer die datenrechtliche Kontrolle des Internet als „unzureichend“ kritisiert. Ohne Folgen. Nicht nur Privatpersonen sind Opfer ihrer Computerpost. Microsoft-Boß Bill Gates kämpft seit Monaten vor Gericht gegen die Zerschlagung seines Konzerns, nachdem die Ankläger Dutzende belastender Memos auf den Festplatten der Firmenrechner fanden. Oberstleutnant Oliver North und anderen Beamten der ReaganAdministration wurde in der Iran-Contra-Affäre die gespeicherte E-Mail-Korrespondenz zum Verhängnis. Und im Kosovo-Krieg entdeckten die US-Militärs mit Schrecken Sicherheitslecks auf sechs Kriegsschiffen, die im Mittelmeer kreuzten. Die Besatzungen waren per E-Mail erreichbar, serbische Sympathisanten schrieben ihnen unter falschen Identitäten elektronische Briefe und erhielten Informatio- nen, die nicht für sie bestimmt waren. Der Kapitän des Landungsschiffes USS Nashville kappte verstört die Leitungen: „In der gegenwärtigen Situation hat es mehrfach Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen gegeben. Deshalb ist der E-Mail-Verkehr jetzt auf eingehende Nachrichten beschränkt.“ Schon seit einiger Zeit beunruhigt das US-Verteidigungsministerium die Sorge, durch „Data-mining“ könnten feindliche Experten aus den vielen nicht geheimen Informationen auf den vielen Web-Sites der Militärs gefährliche Rückschlüsse ziehen. Es sei ein Fehler gewesen, gab der stellvertretende US-Verteidigungsminister John Hamre zu bedenken, die Veröffent- FOTOS: SIPA PRESS (li.); PANDIS / TELEPRESS (M.); REUTERS lichungen der Militärs im Internet PR-Leuten überlassen und Sicherheitsrisiken unterschätzt zu haben. Noch gefährlicher sei allerdings der unkontrollierte Verkauf von Software, mit der man mühelos in militärisch empfindliche Systeme vordringen könne. Hamre: „Die beste Möglichkeit, die USA anzugreifen, ist, bei jemandem Kunde zu werden.“ Daß Daten im Krieg zu Waffen werden und man dumm dasteht, wenn man keine eigenen hat, ist den europäischen Nato-Ländern in den Wochen des Kosovo-Krieges besonders bewußt geworden. Die in Jahrzehnten perfektionierte Überwachungstechnik macht die USA zum Big Brother der Kampfgemeinschaft, die anderen 18 Staaten sind politisch und militärisch davon abhängig, welche geheimen Informationen die US-Militärs ihnen gnädigerweise geben. „Die Amis zeigen uns längst nicht alles, was sie haben“, beklagte sich kurz nach Kriegsbeginn ein Bundeswehrgeneral. Nicht nur über die Kriegsbilder, aufgenommen während der Bombenabwürfe, bestimmen die US-Generäle, auch die Geheiminformationen über Taten und Pläne des Kriegsgegners monopolisieren die Amerikaner. Wann Milo∆eviƒ weitere Vertreibungen plante, ob er Giftgas gegen Bodentruppen einsetzen wollte, wie viele serbische Panzer im Kosovo waren, wie erfolgreich die nächtlichen Luftschläge waren – Informationen dieser Art liefert das Überwachungsnetz vor allem den USA, diese Daten bestimmen aber die Strategie aller Nato-Staaten. Ob Saddam Hussein neue Giftgasfabriken hat, ob Gaddafi wieder Terroristencamps im Land duldet, ob im indonesischen Dschungel Minderheiten in Massengräbern verschwinden – all diese Informationen sammelt Big Brother im Pentagon, definiert so, je nach Bedarf, den jeweiligen Hauptfeind der Menschheit und damit das Böse, gegen das die Gemeinschaft der 19 Staaten gemäß der neuen Nato-Strategie mit Bomben und Waffen vorgehen soll. GAF mbH , MÜNCHEN Titel Satellitenbild vom CIA-Hauptquartier Freier Blick aus dem All für Terroristen Ein eigenes Satellitensystem bräuchten die Europäer, hat Verteidigungsminister Rudolf Scharping erneut gefordert, nachdem sein amerikanischer Kollege abgelehnt hatte, freizügiger mit Satellitenbildern umzugehen. Ein eigenes GPS-Navigationssystem unter dem Namen „Galileo“ könnte 2008 einsatzbereit sein und das Monopol der Amerikaner beenden. Ein eigenes Abhörnetz soll schon bald funktionieren: Die europäischen Justiz- und Innenminister wollen den Großangriff über den EnfopolRatsbeschluß abstimmen. Kommt er durch, kann jede elektronische Kommunikation, also Telefon, E-Mail, Fax, Telex, Handy von europäischen Polizeibehörden abgehört werden. Um an Satellitenbilder von US-Qualität zu kommen, reicht den Europäern bald eine Kreditkarte: Am 27. April startete von der Vandenberg Air Force Base in Kalifornien eine Athena-Rakete. Im Laderaum „Ikonos 1“, der erste kommerzielle Satellit, der jeden Besitzer einer Bilder einer Überwachungskamera: Prinzessin Diana und Dodi Al-Fayed beim Verlassen des Hotels „Ritz“ kurz vor ihrem Tod In Orwells „1984“ ist klar, wer die Menschheit über wacht; in der Welt von 1999 ist nicht mehr klar, wer wen wann warum überwacht d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 121 Titel Kreditkarte in ein nationales Risiko verwandelt. Ikonos erlaubt jedem Voyeur einen Blick in Pamela Andersons Pool und Kriegsherren einen sehr genauen Blick auf die Truppen des Feindes. Ikonos liefert Bilder mit einer Auflösung von einem Meter und ist Jahrelang war Newham eine gesetzfreie Zone, in der fast so scharfäugig wie die besten US-Spioniemand länger blieb als nötig. Jetzt ist das Gesetz nagesatelliten. Space Imaging, die Betreizurückgekehrt: 250 Kameras beobachten den Stadtteil. berfirma, weiß, mit welchen Bildern Geld zu verdienen ist. Im Internet wirbt das Unternehmen, das von dem hochklassigen ExSpion Jeffrey Harris geleitet wird, für seine Kosovo- und Bagdad-Bilder und verspricht, prompt zu liefern, sollten Tornados einige USBundesstaaten mal wieder in Trümmer legen. „O ja, ich gehe davon aus, daß Diktatoren versuchen werden, an die Bilder von Ikonos zu gelangen.“ Der Mann, der das sagt, heißt John Pike, ist Militärexperte der angesehenen „Federation of American Scientists“ und gilt als einer der bestinformierten Satelliten-Experten außerhalb des Pentagons. „Und sie werden sie wohl auch bekommen.“ Sie brauchen nur ein paar Freunde mit Kreditkarten, die für sie die Bilder bestellen. Der freie Blick aus dem All für jedermann ist die bisher letzte Erfindung der Überwachungswelt. In Orwells „1984“ ist klar, wer die Menschheit überwacht; in Überwachtes Newham: Ein Hochsicherheitstrakt, in dem Aufruhr nicht geduldet wird der Welt von 1999 ist nicht mehr klar, wer wen wann warum übers gibt viele Leute, die waren der Mei- und daß der Stadtteil im Osten Londons wacht; klar ist nur, daß die Überwachung nung, sie könnten Robin Wales über- kein Krisengebiet mehr ist, dessen Einheute totaler ist, als Orwell sie sich Ende gehen, weil das Schicksal ihn mit dem wohner sich aus Angst vor Überfällen in der vierziger Jahre ausmalen konnte. Gesicht eines Zwölfjährigen gestraft hat. ihren Wohnungen verbarrikadieren. Die Staatsdiener haben ihr Überwa- Eltern glaubten es, als sie hörten, sie würMitte der Neunziger gehörte die Arbeitschungsmonopol verloren und konkurrie- den verklagt, wenn sie ihre Kinder nicht losenquote Newhams zu den höchsten ren mit Unternehmern und Gangstern, mit zur Schule schicken. Lehrer glaubten es, Großbritanniens, jeder dritte Einwohner Terroristen und Spannnern um den besten als sie hörten, sie würden gefeuert, wenn sie lebte von der Sozialhilfe; die Chance zu Blick durchs Schlüsselloch. Nicht ein Auge, nicht unterrichten. Und Schuldirektoren sterben, bevor das Leben richtig losging, nicht tausend Augen, Hunderttausende glaubten es auch. Wales blieb standhaft. Er war doppelt so hoch wie im Rest des LanAugen bewachen die Menschheit. Das schmiß 20 von 87 Schuldirektoren raus und des; und die einzige Sehenswürdigkeit, die beunruhigt die einen und beruhigt die jeden dritten Lehrer, zerrte Hunderte El- Newham zu bieten hatte, war das riesige anderen. tern vor Gericht und lehrte England zum Auffangbecken einer Kläranlage. Es brachDer ungetrübte Blick aus dem All läßt al- erstenmal das Staunen. te dem Viertel den Namen „Klo von Lonlerdings noch ein wenig auf sich warten: Natürlich sagt er das nicht so. Wenn der don“ ein. Acht Minuten nach dem Start stürzte Iko- Chef des Stadtparlaments von Newham Heute ist die Kriminalität kaum höher nos 1 ab. Ikonos 2 soll noch in diesem Jahr auf einem Stuhl sitzt, die Hände zwischen als im Rest Londons, die Teenager leben starten. Sitz und Oberschenkel geklemmt, und ner- länger, und langsam wird Newham den Ruf Israel protestiert heftig gegen den unge- vös mit den Füßen schlenkert, spricht er los, ein Auffanglager für Wohlstandsverbetenen Zuschauer aus dem Weltraum. vom Team, von der Mitarbeit aller; aber triebene zu sein. Die ehemalige gesetzfreie Und auch die US-Regierung beansprucht werden seine Mitarbeiter gefragt, wer das Zone im Osten Londons ist heute ein Ort, das Recht, Aufnahmen aus bestimmten Re- Sagen hat, dann zeigen sie mit ihren Fin- in den Politiker aus England und dem übrigionen zu verbieten. Ein weltliches Gericht gern auf seinen schmalen Rücken und sa- gen Europa pilgern, um zu sehen, daß muß nun klären, ob die Macht des Großen gen: Er ist der Boß. Stadtteile, in denen das Gesetz kapitulierBruders bis ins All reicht – und ob sie Ihm ist es zu verdanken, daß die Schu- te, vom Gesetz zurückerobert werden köngrößer ist als die Macht des Geldes. len in Newham guter Durchschnitt sind nen. Und Robin Wales ist heute kein un- E 122 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 FOTOS: S. GILL „Wir kriegen sie alle“ Hauptstraße in Newham: Sauber wie eine frisch gewischte Küche wachungskameras montieren, bestückte sie mit Objektiven, die auch bei Mondlicht sehen, mit einem Zoom, das Pickel in 100 Meter Entfernung scharf stellt, und verwandelte das Viertel in einen Hochsicherheitstrakt, in dem Disziplinlosigkeit und Aufruhr nicht mehr geduldet werden. Bevor er das tat, fragte er die Menschen in Newham, ob sie dafür wären, wenn er die Kriminalität reduziere. Er hörte ein kräftiges Ja. Und heute, da die Newhamer sehen, daß Wales immer mehr Kameras aufstellen läßt, sind sie immer noch zufrieden. Lucy, drei Einkaufstüten zu ihren Füßen und Polizisten im Kontrollraum: Verdächtige verfolgen eine Frühschicht im Gesicht, erbekannter Kommunalpolitiker mehr, er klärt es beim zweiten Bier: „Welche Freilehrte das Land zum zweitenmal das Stau- heit hatten wir denn, bevor die Kameras nen. Er ist der Mann, der das Klo von Lon- kamen? Die Freiheit, in eine dunkle Ecke gezerrt und vergewaltigt zu werden.“ Und don reinigte. Wales gewann seinen Kreuzzug gegen ein Dicker mit Seitenscheitel und drei die Kriminalität aus der Luft. Fünf Me- Goldringen an der linken Hand ruft vom ter über dem Boden ließ er 250 Über- Nebentisch: „Genau. Wer sich benimmt, d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 braucht die Kameras nicht zu fürchten.“ Die Hüter der öffentlichen Ordnung sitzen in einem Raum mit schiefem Boden, klapprigen Fenstern und einer verkalkten Kaffeemaschine, die laut Wasser schlürft. Sie heißen Dave, Lloyd und Chris, und ihr Job ist, auf eine Wand mit 200 Monitoren zu starren, die Kassetten in den 24-Stunden-Videorecordern zu wechseln, Verdächtige zu beobachten und ihre Kollegen im Streifenwagen zu alarmieren, wenn die öffentliche Ordnung bedroht ist, was selten der Fall ist. „Das Tolle ist, die Kameras senken die Zahl der Straftaten von einer Sekunde zur nächsten“, schwärmt Wales. „Nimm das Stratford-Einkaufszentrum, stell eine Kamera hin und wamm – verschwinden die Randalierer. Finde sie, stell eine neue Kamera hin, verdränge sie weiter und weiter, bis sie merken, daß sie in Newham nichts verloren haben.“ Und wer trotzdem Ärger macht, wird geschnappt. Wie der Depp, der eine Überwachungskamera klauen wollte und dabei von einer zweiten beobachtet wurde. Oder der Fahrer des weißen Fiat, der es wagte, auf der Busspur zu halten. „Wir überwachen alle, und früher oder später kriegen wir sie alle“, prophezeit Wales. Eine Studie der britischen Universität Hull sagt, daß zehn Prozent aller observierten Frauen „ausschließlich aus voyeuristischen Gründen“ beobachtet werden. Überproportional häufig geraten Jugendliche, Schwarze und Obdachlose in den Fokus der Kamera. Unbeobachtet bleiben nur Polizisten und andere Uniformträger. Die Autoren der Studie, zwei Kriminalisten, kommen zu dem Schluß, daß Überwachungssysteme nur bestehende Vorurteile verstärken und Kriminalität verdrängen, nicht bekämpfen. „Und“, fragt Robin Wales, „wo ist das Problem?“ Jahrelang war Newham nichts weiter als ein Loch, in dem Zuversicht und Engagement verschwanden. Nun beginnen sich die Menschen für ihr Viertel zu interessieren, statt es nur zu erdulden, und Wales hat nicht vor, sich diesen Erfolg von kleinlichen Kritikern zerreden zu lassen. Nicht von akademischen Kriminologen und auch nicht von der Polizeigewerkschaft, die jammert, weil das Land 170 Millionen Pfund für die Kameras ausgibt und das Geld für den Kampf gegen Wirtschafts- und Schwerkriminalität angeblich knapp wird. Wales weiß, daß es nicht darauf ankommt, Verbrechen wirklich zu bekämpfen. Entscheidend ist, daß die Menschen 123 Titel Verdächtige nicht direkt in sich sicher fühlen. Und wenn die Kamera, verschiebt sich graffitifreie Wände, Häuser das Dreieck. Deshalb ähnelt ohne Eckenpinkler, Straßen der Polizist, der als Versuchsohne Bettler und herumperson herhalten muß und gammelnde Jugendliche das mürrisch an der Kamera vorerreichen, dann verschafft beistarrt, seinem Foto nur zu der Politiker Wales seinen 77 Prozent. „Aber das krieWählern eine saubere Stadt gen wir in den Griff“, sagt und überläßt das Bekämpfen Wales und träumt von einer der Schwerkriminalität anZukunft, in der Newham so deren. sauber ist wie eine frisch geDem sexy Image der Kawischte Küche. meraüberwachung erliegen Der kleine Rechner ist der immer mehr Politiker und Poerste in Großbritannien, der lizisten in Großbritannien. in einem Stadtviertel unGestützt von Tony Blairs Beunterbrochen nach unergeisterung für die „zero-tolewünschten Personen sucht, rance“-Strategie des New und er ist der Alptraum von Yorker Bürgermeisters RuSimon Davies. „Wir haben dolph Giuliani, getrieben von immer gesagt, die Gesichtder Nachricht, daß es gefährerkennung kommt, aber keilicher ist, in Englands Hauptner wollte uns glauben.“ Nun stadt zu leben als in New ist sie da, „und plötzlich York, werden immer mehr schreien die Leute: Oh, fuck!“ Kameras an Wände und auf Davies sitzt in seinem BüPfähle geschraubt. ro am Institut für ComputerLängst ist der Überblick sicherheit an der London verlorengegangen, niemand Kameras über Newham: Rotes Fadenkreuz auf dem Bildschirm School of Economics, redet weiß genau, wie viele Kameras ein Auge auf England haben. Kon- auf hingewiesen zu werden, daß sie sich in Rage und sieht aus wie die Idealservative Schätzungen gehen von einer nicht erwünscht sind. Wenn der kleine besetzung für den „Big Brother“ oder irMillion aus, 500 sollen jede Woche hinzu- Computer fehlerfrei arbeitet, und das soll gendeinen anderen glatzköpfigen Schinkommen. Fast jede Stadt vertreibt ihre Kri- bald sein, müssen unerwünschte Personen der. Davies ist der Direktor von „Privacy minellen mit Kameras oder wehrt sich nicht mehr auffallen, sie müssen nur noch International“, einer Bürgerrechtsorganisation, die das Verschwinden der Privatmit ihnen gegen die aus dem Nachbarort dasein. Vertriebenen. Polizisten rekonstruieren die In dem Rechner sitzt „FaceIT“, ein Ge- sphäre bekämpft. Eine ganze Weile beschränkte sich der letzten Stunden von Vermißten anhand der sichterkennungsprogramm der amerikaniVideobänder. Politiker, die sich weigern, schen Firma „Visionics“. Arbeitet der Kampf darauf,Vorträge zu halten und KonKameras zu installieren, müssen sich auf Rechner, tanzt ein rotes Fadenkreuz über dome und Sexpuppen auf Kameras zu Versammlungen rechtfertigen. den Bildschirm. Dann vergleicht das Pro- pfropfen, „um die Technik lächerlich zu „Wir sind auf dem richtigen Weg“, sagt gramm die Gesichter, die ihm die Über- machen“. Aber zu viele Menschen hielten Wales, aber noch ist Newham nicht so sau- wachungskameras liefern, mit den Fahn- sie zu oft für pubertierende Spinner. Im ber, wie er es gern hätte. Noch meldet dungsfotos einer Datenbank. Stimmt ein vergangenen Jahr kam Davies die Idee, eidie Zeitung des Viertels Unordnung: Idi Gesicht zu 80 Prozent mit einem Foto nen „Big Brother Award“ zu basteln. Der Preis besteht aus dem vergoldeten Kopf eiAmins Ex-Frau führt in Newham ein Re- überein, schlägt der Rechner Alarm. staurant, ein von Kakerlaken besetztes Das Programm funktioniert, es ist nur ner Schaufensterpuppe, der von einem verLoch, in dem sogar die Lichtschalter eine ein bißchen zu pedantisch. Es identifiziert goldeten Stiefel getreten wird. Der ameriGefahr für die Gesundheit sind. Wales Personen mit der Hilfe des Dreiecks zwi- kanische Geheimdienst NSA erhielt einen weiß, es ist nur eine Frage der Zeit, bis so schen Augen und Nasenwurzel. Blickt der Kopf, der amerikanische Softwarehersteller Harlequin und Newham auch. Der Stadtteil etwas unmöglich ist. erhielt seinen Kopf „für das innovative Bis dahin muntert er sich mit anderen Koppeln“ von Kameras und Datenbanken. Nachrichten auf. Zum Beispiel der, daß Davies prophezeit, „der nächste Schritt sich ein Junge der Polizei gestellt hat, nachwerden Identifikationsstellen in Kaufhäudem er einer 83jährigen Witwe eine Tasche sern oder am Eingang von Geschäftszenmit 800 Pfund geklaut hatte. „So was pastren sein“. Betritt ein bekannter Dieb den siert nur in Newham“, grinst Wales, faltet Laden, identifiziert ihn das System und den Artikel sorgfältig zusammen und sagt schlägt Alarm. „Und warum sollte man bei seinen Lieblingssatz: „Erfolg ist nie eine den Dieben aufhören?“ fragt Davies und Frage des Geldes, sondern des politischen spielt mit dem Kopf, den der SoftwareherWillens.“ Dieser Satz und die beängstisteller Harlequin zurückgeschickt hat. gende Entschlossenheit des Mannes mit „Warum soll man Obdachlose in einer Gedem Kindergesicht wird Newham noch schäftsstraße dulden? Oder Fixer in der Insauberer machen. Ein unscheinbarer Comnenstadt?“ puter im Kontrollraum wird Wales helfen. Bob Lack, der Chef des KontrollzenIn ihm steckt die Zukunft der Verbretrums, schwärmt schon von einer Kreuchensbekämpfung. zung in Newham, an der Männer, FrauBislang müssen Kriminelle und Stöen und Kinder „direkt in die Kamera“ rer gegen die öffentliche Ordnung ver- Kommunalpolitiker Wales gucken. stoßen, um von Newhams Polizisten dar- „Wir sind auf dem richtigen Weg“ Uwe Buse 124 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Songs mit Einschlafgarantie Die Zielgruppen der Musikindustrie werden immer jünger – jetzt gibt es CDs für neu- und ungeborene Hörer. D ie lieben Kleinen waren unersättlich. Immer wieder mußte der Papa die Spieluhren seiner Kinder aufziehen. Die klangsüchtigen Babys brachten ihren Erzeuger auf eine Geschäftsidee, die sich bezahlt machte: Achim Perleberg, 50, erweiterte seinen Grußkarten-Verlag um eine Sparte für Babymusik. Inzwischen verkauft er weltweit Titel wie „Country für Babys“ oder „Beatles für Babys“. Die zentrale Botschaft der meisten Popsongs – „Baby, I love you“ – erreicht endlich die richtigen Adressaten.Wie es scheint, haben Kinderkrankenhäuser, Krabbelgruppen und Kleinstkinder nur auf den letzten Schrei zum ersten Schrei gewartet. „Moderne Musik für Babys, die auch den Eltern gefiel, gab es lange nicht“, sagt Perleberg. Und die Konkurrenz verhält sich wie viele Kleinkinder: Sie schläft nicht und ahmt alles nach. Und sie wartet nicht erst bis zur Geburt ihrer Adressaten. Eine Pränatal-Platte aus der Reihe „Babies Music“ im Vertrieb der Firma Eurotools liefert den nötigen Gebär-Groove; das Stück „Brightness“ mit aufstachelnden Flügelhorn-Fanfaren und einem regelmäßig gesummten „hmm, hmm, hmm“ soll die Bindung zwischen Mutter und Kind stärken. Perlebergs neuestes Produkt auf dem Gebiet des Postnatal-Pops ist die CD „Nach der Geburt“, angeblich besonders geeignet „für Babys erste Stunden und Tage“. Das „Happy Baby Orchester“ präsentiert auf dem Album Stücke wie „Husha-bye Baby“ oder „Go to Sleep“ im speziellen „Womb-Sound“, einem verwegenen Mix aus Herztönen, Spieluhr-Klängen und Streichmusik. Der Rhythmus zu den Kinderliedern kommt aus dem Bauch. Den Beat zu „Au Clair de la Lune“ oder Schuberts „Wiegenlied“ liefert das Pulsieren der Plazenta, ein Geräusch, das werdende Eltern vom Bauchabhören während der Schwangerschaft kennen. Fred Schwartz, Anästhesist am Piedmont-Hospital in Atlanta und Erfinder der kuriosen Schwangerschaftsschlager, preist seine Komposition als akustisches Beruhigungsmittel an: „Womb-Sounds helfen dem Baby, die Trennung vom Mutterleib zu Hans-Helmut DeckerVoigt in seinem anschaulichen, im Kreuzlinger Ariston-Verlag erschienenen Buch „Mit Musik ins Leben“. Das wachsende wissenschaftliche Verständnis der Bedeutung von Tönen für die frühkindliche Entwicklung hat freilich mit der industriellen Vermarktung von „Baby-Musik“ wenig zu tun. Die CD „Elvis für Babys“ etwa kombiniert Baby-Brabbeln mit Spieluhr-Klängen und süßlich gesummten Melodien des Kinder-Kings, einschließlich „That’s Alright, Mama“. Ob Musik die Neugeborenen eher entspannt oder zusätzlich streßt, ist umstritten. Bei einer Untersuchung mit 32 Babys stellten Wissenschaftler der Harvard University fest, daß die Kleinen auf harmonische Klänge positiv reagieren und sich beruhigen. Babys regen sich nach den Erkenntnissen der Harvard-Psychologen am besten bei ausgewählSchwangere ten Naturinstrumenten Schon im Mutterbauch gibt’s was auf die Ohren und weichen Klängen ab. überwinden.“ Der Gebärmutter-Remix mit Schmuserocker wie Chris de Burgh müßdem Herzton-Beat ist gar mit einer „Ein- ten also ganz oben in den Baby-Hitparaden schlaf-Garantie“ versehen. Aus der Per- stehen. Heilsam auf die Kinderpsyche wirke spektive des Neugeborenen wirkt die Baby-Beschallung vielleicht weniger hit- Baby-Musik besonders nach medizinischen verdächtig: Kaum auf der Welt, gibt’s schon Eingriffen, sagt Ludwig Blinzler, Anästhesist in Nürnberg: „Erste Eindrücke bei der was auf die Ohren. Christin Graba etwa, eine Hebamme aus Anwendung derartiger CDs bei Neugebodem bayerischen Starnberg, hält nicht viel renen nach kleinen operativen Eingriffen von gezieltem Musikeinsatz vor, während waren durchaus positiv.“ Gottlob Prüm, Facharzt für psychotheund direkt nach der Niederkunft. „Die Geburt ist ein so großer Schock für die Kin- rapeutische Medizin in Siegsdorf im der, daß sie nicht noch zusätzliche Reize Chiemgau, will bei einem Test mit 50 Säugbrauchen“, sagt die erfahrene Geburtshel- lingen herausgefunden haben: „Mit Musik ferin. Musik lenke die Kleinen eher davon schlafen Kinder zwar nicht schneller ein, ab, natürliche Töne wahrzunehmen und zu aber entspannter.“ Er spielte den zwei bis verarbeiten. „Absolut überflüssig“ findet drei Monate alten Babys beim Einschlafen Christin Graba spezielle CDs für die Be- eine CD für Neugeborene aus der Reihe „Babies Music“ vor und maß dabei den schallung von Embryos im Bauch. Ist es also unsinnig, die Fruchtblase Puls sowie den Sauerstoffgehalt im Blut. in eine Disco zu verwandeln? Im Mutter- Unter dem Einfluß von „Babies Music“ leib hören Ungeborene ab dem sechsten habe „die Sauerstoff-Sättigung des Blutes Schwangerschaftsmonat, wenn ihr Gehör aufgrund muskulärer Entspannung zugeausgebildet ist, genügend Geräusche, die nommen“, behauptet Prüm. Zudem hätihnen permanent einen Rhythmus vorge- ten die Kleinen beim Einschlummern mit ben: Atmung, Herzschlag und Verdauung Musik „deutlich ausgeglichener“ gewirkt als ohne. der Mutter. Erfahrene Eltern wollen allerdings Nach Erkenntnissen des Akustikforschers Alfred Tomatis prägt der Sound der wissen: Ein Staubsauger oder der Sound Körpergeräusche die Klangmuster des Kin- eines Kinderwagens, der über Kopfdes entscheidend. Ähnliches berichtet der steinpflaster rattert, wirkt genauso zuHamburger Musiktherapeut und Professor verlässig. Titus Arnu BAUMGARTL / BILDERBERG (gr. Bild) FA M I L I E d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 125 Werbeseite Werbeseite Ausland Panorama KOLUMBIEN „Zone der Entspannung“ Staatspräsident Andrés Pastrana, 44, über Friedensgespräche mit der Guerrilla und die deutschen Vermittlungen G. ULUTUNCOK / LAIF Rekrutierung von Soldaten in Kinshasa, Kabila (r.) KONGO Ringen um Frieden H offnungsschimmer für das blutende Herz Afrikas: Im neutralen Sambia verhandeln die in den Krieg um die Region der Großen Seen verwickelten Staaten über ein Friedensabkommen. Auf der einen Seite steht der Kongo des Diktators Laurent Kabila mit Simbabwe, Angola und Namibia; auf der anderen nehmen Ruanda und Uganda als Paten der Anti-Kabila-Rebellen teil, die erstmals auch selbst vertreten sind. Schon hat die Uno Pläne für eine 30 000 Mann starke Blauhelmtruppe ausgearbeitet, Südafrika will dafür Friedenssoldaten bereitstellen. Doch noch ist kein Waffenstillstand in Sicht. Im Gegenteil: Simbabwe schickte vorige Woche weitere 3000 Soldaten zur Unterstützung Kabilas an den Kongo. Sie sollen die Offensive ruandischer Truppen auf die Diamantenstadt Mbuji-Mayi stoppen; mit den Edelsteinen kann Kabila seinen Krieg bezahlen. Im östlichen Kongo dämpfen neue Konflikte die Aussichten auf Frieden: Rivalisierende Rebellengruppen bekämpfen sich gegenseitig und treiben täglich Hunderte zur Flucht ins benachbarte Tansania. Druck auf Athen zu erzeugen – der vergangene Woche schließlich zur Einigung auf eine Zusammenarbeit bei der Terrorbekämpfung geführt hat. Ähnlich könne man künftig auch mit anderen nkara überlegt, den zum Tode verLändern umgehen, die laut Öcalan die urteilten PKK-Chef Öcalan langfriPKK bislang unterstützt hätten. Vor alstig als diplomatischen Joker einzusetlem die absehbare Zurückweisung des zen – so eine Studie, die derzeit im türTodesurteils durch den Europäischen kischen Außenministerium vorbereitet Gerichtshof für Menschenrechwird. Demnach verfolgt die te sei als außenpolitisches „VeTürkei in der Affäre Öcalan hikel“ nutzbar. Eine übereilte eine „Drei-Phasen-StrateHinrichtung Öcalans, so zitiert gie“: Die Phasen eins die Istanbuler Zeitung „Cum(Öcalans Festnahme) und huriyet“ einen hohen Diplomazwei (Auflösung der PKK) ten, könne Ankaras „Trumpfseien erfolgreich abgekarte anderen in die Hände schlossen; in Phase drei spielen“ und die europäischen gehe es nun darum, Aussichten der Türkei „verder„Öcalan zu verwenden“. Im ben“. Alle außen-, innen- und Falle Griechenlands habe sicherheitspolitischen Aspekte diese Taktik bereits Früchte zusammengenommen, so das getragen: Mit Hilfe von Ergebnis der Studie, sei von eiÖcalans Aussagen während ner Hinrichtung Öcalans abzuseines Prozesses sei es geraten. lungen, internationalen Anti-Öcalan-Demo TÜRKEI Trumpfkarte Öcalan A AFP / DPA G. DEKEERLE / GAMMA / STUDIO X lige Kanzleramtsminister Bernd Schmidbauer bei den Bemühungen um die Freilassung von 64 Geiseln, die sich in den Händen von Guerrilleros des „Nationalen Befreiungsheers“ (ELN) befinden? Pastrana: Schmidbauer hat versucht, humanitären Beistand zu leisten. Wir haben die Guerrilla aufgefordert, alle Geiseln aus humanitären Gründen freizulassen. SPIEGEL: Werden Schmidbauer oder der Privatagent Werner Mauss bei Friedensgesprächen mit dem ELN vermitteln? Pastrana: Solche Gespräche kommen erst nach der bedingungslosen Freilassung aller Geiseln in Frage. Jede Beteiligung Deutschlands daran wird von Regierung zu Regierung vereinbart, nicht mit Privatpersonen. Darauf habe ich mich mit Kanzler Schröder verständigt. SPIEGEL: Mit der größten Guerrillabewegung Kolumbiens, den „Revolutionären Pastrana Streitkräften“ (Farc), sind Sie schon im Gespräch. Wird die Europäische Union dabei helfen? Pastrana: Ich habe meinen europäischen Kollegen beim Gipfeltreffen in Rio den „Kolumbien-Plan“ zur Unterstützung des Friedensprozesses unterbreitet. Er enthält Punkte, die auch für Europa wichtig sind: Die Farc haben vorgeschlagen, den Coca-Anbau einzudämmen und ein Abkommen zum Schutz der Umwelt zu schließen. Wir wollen mit der EU finanzielle Hilfe für diesen Plan aushandeln. SPIEGEL: Sie haben den Farc ein riesiges Gebiet im Süden überlassen. Droht jetzt die Balkanisierung Kolumbiens? Pastrana: Nein. Mit der „Entspannungszone“ haben wir einen Platz geschaffen, wo Regierung und Guerrilla gefahrlos miteinander reden können. Ich war schon dreimal dort. Der Sprecher des US-Kongresses, fünf Botschafter, Vertreter der Medien, der Industrie, ja sogar der Chef der New Yorker Börse haben sich dort mit der Guerrilla getroffen. Das zeigt, daß wir allmählich zu einer gemeinsamen Sprache finden. Am 7. Juli beginnen offiziell die Gespräche mit den Farc, wir werden uns dann hoffentlich rasch auf ein Datum für die Aufnahme von Verhandlungen verständigen. REUTERS SPIEGEL: Welche Rolle spielt der ehema- d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 127 Panorama CHINA Zukunftsangst in Hongkong D ie ehemalige britische Kronkolonie Hongkong ist zwei Jahre nach der Übergabe an die Volksrepublik China in einer schweren Krise. Während Chris Patten, der letzte britische Gouverneur, bei seinem Abgang Zustimmungsraten von fast 36 Prozent hatte, vertrauen nur noch 25 Prozent der Einwohner dem von Peking eingesetzten einheimischen Stadtchef Tung Chee-hwa. Viele zweifeln an dem versprochenen Prinzip „Ein Land – Zwei Systeme“, das der „Sonderverwaltungsregion“ für die nächsten 50 Jahre garantiert worden war. Jüngster Anlaß für das Mißtrauen: Pekings Nationaler Volkskongreß verwarf eine Entscheidung des Obersten Gerichts in Hongkong. Die unabhängigen Richter hatten Anfang des Jahres geurteilt, daß in China lebende Kinder von Hongkongern einwandern dürfen – selbst wenn die Eltern zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht in dem Territorium wohnten. Aufgeschreckt durch die mögliche Zuwanderung von 1,6 Millionen Menschen, bat daraufhin Hongkongs Regierung das Mutterland um eine „neue Interpretation“ der lokalen Verfassung. Peking schränkte die Zahl der Berechtigten prompt auf rund 200 000 ein. Das Vorgehen stellt nach Protestkundgebung in Hongkong Ansicht angesehener Juristen einen Rechtsbruch dar, denn Peking darf sich nur in Fragen der Verteidigungs- und Außenpolitik einmischen. Ein weiterer Rückschlag für die lange so erfolgsverwöhnte 6,8-Millionen-Stadt, deren Wirtschaft 1998 um 5,1 Prozent schrumpfte: Der US-Senat will Exporte nach Hongkong von Ausrüstung und Technologie, die militärisch genutzt werden könnten, NIEDERLANDE Steuern vom Dealer AP K Beschuldigter Bürgermeister Tiberi FRANKREICH Sturm auf die Festung E in Ermittlungsverfahren gegen den Pariser Bürgermeister Jean Tiberi wegen Beihilfe zu illegaler Vorteilsnahme sorgt für Unruhe im Elysée-Palast. Denn der Beschuldigte war der wichtigste Mitarbeiter des gaullistischen Staatspräsidenten Jacques Chirac während dessen Zeit als unumschränkter Rathauschef (1977 bis 1995) in der französischen Metropole. Chiracs langjähriger Stellvertreter Tiberi soll in Millionenschwindel bei der Vergabe städtischer Bauaufträge verwickelt sein; zudem flossen Gehälter aus der Rathauskasse 128 an Phantomangestellte – in Wirklichkeit gaullistische Funktionäre. Zwar können die Untersuchungsrichter Chirac während seiner Amtszeit als Staatschef bis zum Jahre 2002 nicht behelligen. Aber ein Prozeß gegen Tiberi würde auch den Elysée-Herrn in Verruf bringen und könnte sogar seine Wiederwahl gefährden. Schon jetzt gilt als sicher, daß die Gaullisten bei den Kommunalwahlen 2001 das „Hôtel de Ville“ – einst ihre als „Chiraquie“ bespöttelte Festung – an die Linke verlieren werden. Die Chancen der Partei stehen auch deswegen so schlecht, weil sich Tiberi, der sich für unschuldig hält, nicht für seinen Boß opfern will: Er will wieder für das Bürgermeisteramt kandidieren. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 offieshops in Holland, die für die geduldete Abgabe von illegalem Cannabis zuständig sind, streiten um die steuerlichen Feinheiten des Haschisch-Verkaufs: Der Europäische Gerichtshof verurteilte letzte Woche den Betreiber des Haschcafés „Sibirien“ in Amsterdam zur Zahlung von Umsatzsteuer, die bei der Vermietung eines Tisches an seinen Hausdealer anfalle. Der Betreiber des Cafés hatte die Steuer mit der Begründung einbehalten, daß der Staat am Handel mit der illegalen weichen Droge nicht mitverdienen dürfe. Ein Amsterdamer Gericht bestätigte zunächst diese Ansicht. Die niederländischen Finanzbehörden riefen den obersten niederländischen Gerichtshof und schließlich die Europarichter in Luxemburg an. Der EUGH gab ihnen recht: Zwar könne es kein Staat vertreten, den Verkauf illegaler Produkte zu besteuern, die Vermietung eines Tisches an den Haschisch-Dealer gelte jedoch als reine Dienstleistung. Der Koffieshop muß jetzt 22 000 Gulden nachzahlen. Ähnliche Konflikte hatte es schon um die Veranstaltung unerlaubter Glücksspiele in der EU gegeben. Ausland Denn wenn sie antritt, fällt sie weitgehend als fleißige Geldsammlerin für die Demokraten aus. Das träfe vor allem Vizepräsident Al Gore: Der konnte für seinen Präsidentschaftswahlkampf im ersten Halbjahr 1999 bislang nur 18,5 Millionen Dollar einheimsen, der Republikaner George W. Bush, Gouverneur von Texas, brachte es im selben Zeitraum auf das Doppelte. USA Störenfried Hillary erschweren. Die Amerikaner sind nach dem Skandal um die angeblich von Pekinger Agenten entwendeten Atom-Geheimnisse mißtrauisch geworden und fürchten, daß Chinas Armee über Hongkong Militärtechnologie bezieht. ie politischen Pläne von Hillary Clinton mobilisieren nicht nur ihre Gegner, sondern beschäftigen auch Rechtsanwälte: Bewirbt sich die amerikanische First Lady um den frei werdenden Senatorenposten im Bundesstaat New York, droht ein Interessenkonflikt zwischen ihrer politischen Karriere und den offiziellen Aufgaben im Weißen Haus. Zwar kann Frau Clinton ihr Prestige als Präsidentengattin für die Kampagne nutzen, sie würde auch als Wahlkämpferin von Leibwächtern des Secret Service geschützt. Juristisch umstritten ist aber die Benutzung von Hubschraubern, Flugzeugen und gepanzerten Limousinen. Auch müßte die First Lady private Spenden für ihre Kandidatur sammeln. Aus diesem Grund kritisieren sogar demokratische Parteifreunde die Polit-Ambitionen von Hillary Clinton. Hillary Clinton J. BOURG / GAMMA / STUDIO X DPA D L AT E I NA M E R I K A ALGERIEN Absagen für Havanna Bruderkrieg der Islamisten W AP ird der linke Diktator Fidel Castro dafür büßen, daß sich der rechte Ex-Diktator Augusto Pinochet vor Gericht verantworten muß? Der chilenische Präsident Eduardo Frei drohte vorige Woche in Gesprächen mit dem spanischen Regierungschef José María Aznar am Rande der Rio-Konferenz, er werde nicht zum Iberoamerikanischen Gipfeltreffen im November nach Kuba reisen. Grund für das diplomatische Zerwürfnis ist der Auslieferungsprozeß um Pinochet, der auf Veranlassung des spanischen Untersuchungsrichters Baltasar Garzón seit Oktober in London festgehalten wird. Ende August soll der Richter seine Anklageschrift vorlegen. Sie führt 108 Folterfälle an. Am 27. September beginnt in London die Anhörung über die Auslieferung. Frei verlangt von Spanien, die Klage einem Schiedsverfahren zu unterwerfen. Außerdem solle die britische Regierung den greisen Angeklagten „aus gesundheitlichen Gründen“ nach Chile zurückkehren lassen. Frei fand Unterstützung bei seinem Kollegen Carlos Menem aus Argentinien. Denn der spanische Richter ermittelt auch gegen die ehemalige argentinische Junta. Die Nicaraguaner wollen das Treffen in Havanna ebenfalls boykottieren – weil Castro keine demokratischen Wahlen zuläßt. Gipfeltreffen in Rio de Janeiro d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 U nter Algeriens Islamisten ist ein mörderischer Machtkampf ausgebrochen. Die Islamische Heilsfront (FIS) verfolgt die Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA), mit der sie früher gemeinsam gegen die Regierung gestritten hatte: Der GIA wurde 1989 gegründet und nahm 1992 den bewaffneten Widerstand gegen den algerischen Staat auf, nachdem das Militär die Parlamentswahlen abgebrochen hatte, weil sich ein Sieg des FIS abzeichnete. Ursache für die Fehde unter den einstigen Verbündeten: Nach der Ankündigung einer Generalamnestie durch den neuen Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika Mitte Juni hat der FIS den Krieg gegen die Regierungstruppen eingestellt. Der GIA dagegen kritisiert die Entscheidung des FIS, die Waffen niederzulegen, und kündigt Anschläge in Algerien und im Ausland an. Nun jagen im Guerrillakrieg erfahrene Sondereinheiten des FIS die ehemaligen Kampfgenossen, deren Schlupfwinkel sie oft noch aus der Zeit des gemeinsamen Kampfes kennen. Zum Dank rechnen die noch inhaftierten Politkader der Heilsfront mit ihrer baldigen Freilassung. Sie haben ihre Bereitschaft erklärt, mit dem Staat zusammenzuarbeiten und sich jeglicher Gewaltaktionen gegen Andersdenkende zu enthalten, solange eine von der Regierung in Aussicht gestellte Vorbereitungsphase für politische Reformen anhält. 129 Ausland J U G O S L AW I E N „Nieder mit euch Banditen“ Die Opposition will dem jugoslawischen Präsidenten Milo∆eviƒ mit Dauerdemonstrationen im ganzen Land zusetzen. Auch in der enttäuschten Armee grummelt es. Die Nervosität des Regimes wächst, aber dem Widerstand fehlt eine anerkannte Führungsfigur. D GAMMA / STUDIO X Serbenführer Milo∆eviƒ Vereint in Krieg und Frieden 130 Den Oberst Petroviƒ forderte er auf, die Panzer gefälligst vor der eigenen Tür abzustellen, statt sie neben Schulen und Krankenhäusern zu parken – in der Hoffnung, die Nato werde sich so von Luftschlägen abschrecken lassen. Eine unerhörte Bezeugung von Zivilcourage: Die Kriegsherren in Belgrad erklärten Iliƒ zum Landesverräter. Polizei umstellte sein Haus in der Nacht, aber der Bürgermeister konnte seinen Häschern entkommen. Er versteckte sich in den Wäldern und fand Hilfe in einem kleinen, abgelegenen Dorf in den serbischen Bergen. „Ich danke den Mönchen, die mir gesagt haben: Greif nicht zu den Waffen, nimm lieber das Kreuz“, sagt er. Gern werde er sich jetzt einem Gericht stellen: „Ich bin verfolgt worden, obwohl ich niemanden verraten habe, ich habe nur die Wahrheit gesagt.“ Und er beschreibt auch, was er sich und den Serben wünscht: „Ein Land, in dem es nie wieder Krieg und Verfolgung geben wird.“ Der heimgekehrte Iliƒ ist ein Symbol des Widerstands gegen die Belgrader Nomenklatura geworden. Und der begann vorigen Dienstag in ∏a‡ak. Organisiert von der „Allianz für den Wechsel“, hatten sich an die 10 000 Oppositionsanhänger hier zur ersten Nachkriegsdemonstration einge- Patriarch Pavle: „Dann soll Serbien verschwinden“ funden. Im Chor riefen sie: „Hau ab, Milo∆eviƒ“ und: „Eure Zeit ist vor- freundlich mitgeteilt, daß die Versammüber.“ Die Protestwelle soll sich über ganz lung verboten sei. Weil die OrganisatoSerbien ausbreiten – bald schon jeden Tag ren sich nicht darum kümmerten, wurde in einer anderen Stadt. tags darauf Bussen die Einfahrt nach „Es ist Zeit, daß wir das Regime verja- ∏a‡ak versperrt. Dissidenten reisten per gen“, bekräftigt Goran Svilanoviƒ, 36, Vor- Autostopp, wobei sich Soldaten als die eifsitzender der Bürgerallianz (siehe Seite rigsten Helfer erwiesen. ∏a‡ak war ein 132). Wann immer der Name Milo∆eviƒ er- Test: für die Opposition zur Prüfung ihrer wähnt wurde, johlte die Menge: „Nach Stärke, für Milo∆eviƒ zum Ermessen des Den Haag, nach Den Haag.“ Unmuts. Aber zuerst galt es, die Angst zu überDenn die Nervosität des Regimes winden. Einen Tag vor der Protestaktion in wächst. Hoffnungslosigkeit und Frust nach ∏a‡ak, gegen Mitternacht, hatte die Poli- erster Erleichterung über das Ende der zei die Oppositionsführer aus dem Schlaf Bombardierung greifen um sich. Mit einem geweckt, sie aufs Revier gebeten und ihnen als Kriegsverbrecher in Den Haag angeAP ie Menge sehnt sich nach neuen Helden, nach solchen, die Wohlstand und Freiheit statt Eisen und Blut versprechen. „Veljo,Veljo“: Der Name steigt aus tausend Kehlen auf wie ein einziger Schrei, und die Menschenmassen schieben sich zur Tribüne vor. Eine Stadt hat ihren Bürgermeister wieder. ∏a‡ak, Industriezentrum mit 120 000 Einwohnern im tiefen Serbien, bejubelt Velimir Iliƒ, der 33 Tage verschwunden war und nun zurück ist, um sich an die Spitze des Bürgerprotests gegen das Regime des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milo∆eviƒ zu stellen. Erkennbar gerührt, das Gesicht von einem Vollbart umrahmt, den er früher nicht trug, streckt der Mann im schwarzen Sporthemd die Arme in Siegerpose hoch. Andächtig lauschen die Versammelten, viele wischen sich Tränen aus den Augen, als Iliƒ, 43, die Geschichte seines Untertauchens erzählt: „Ich habe ein reines Gewissen, vor euch und vor Gott.“ Im Mai, mitten im Luftkrieg der Nato, war der Bürgermeister mächtig in Wallung geraten. Doch seine Wut galt der falschen Seite, der eigenen. Die Bomber der Allianz hatten gerade eine Werkstatt zerstört, in der Panzer der jugoslawischen Streitkräfte repariert wurden, direkt in einem Wohnviertel von ∏a‡ak. Vier Tote hatte es gegeben und zahlreiche Verletzte, viele Häuser wurden beschädigt. Da warf Iliƒ der eigenen Armee vor, sie gefährde absichtlich das Leben unschuldiger serbischer Bürger und benutze Zivilisten als menschliche Schutzschilde. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 T. PETERNEK / SYGMA Massendemonstration in ∏a‡ak*: Die Angst überwunden klagten Präsidenten, das wissen die meisten Serben, bleibt der Wirtschaftsaufschwung Illusion. Serbenpräsident Milan Milutinoviƒ, berichtet „Glas javnosti“, habe vorige Woche auf einem Propagandafeldzug durch die Provinz in Kur∆umlje die „bitterste Enttäuschung seines Lebens“ erlebt, als er der Menge zurief: „Das Kosovo ist in unseren Händen und wird es auch bleiben.“ Sofort schallte es zurück: „Nieder mit euch Banditen!“ In Ni∆, wo er den raschen Wiederaufbau der Tabakfabrik DIN versprach, * Mit Plakaten des Sozialdemokraten-Chefs Obradoviƒ. flehte Milutinoviƒ bereits: „Serben, bleibt im Frieden vereint wie im Krieg!“ Dafür spricht wenig. Die Opposition wittert eine Chance, die Trutzburg Milo∆eviƒ mit Hilfe des Westens zu schleifen. Die USA erklärten Jugoslawien zum „terroristischen Staat“, sie wollen jede Wirtschaftshilfe blockieren, solange Milo∆eviƒ mit seinen Genossen an der Macht ist. Erste Kontakte zwischen den Amerikanern und einer Gruppe serbischer Oppositioneller in Montenegro brachten noch keine nennenswerten Ergebnisse. Mehr als moralische Unterstützung und bescheidene Finanzspenden könne der Westen der d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 serbischen Opposition kaum versprechen, so US-Vermittler Robert Gelbard. Was ihn zaudern läßt: Wer derzeit in Serbien Widerständler ist und wer Sympathisant des Regimes, läßt sich so einfach nicht entwirren. Der nationalistische Monarchist Vuk Dra∆koviƒ von der Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO) solidarisierte sich in der jugoslawischen Bundesregierung mit den Sozialisten, nur um sich kurz vor Kriegsende durch seine Kritik an Milo∆eviƒ dem Westen wieder als „demokratische Alternative“ zu empfehlen. In ∏a‡ak war er nicht dabei. Radikalenführer Vojislav e∆elj macht aus seiner ideologischen Übereinstimmung mit den Linken kein Hehl – obwohl eine „Abwählung Milo∆eviƒs auf legale Weise“ auch sein Gefallen fände. Die Prognosen für seine Partei schwanken zwischen 10 und 20 Prozent. Aus Protest gegen die Räumung des Kosovo erklärte e∆elj zunächst seinen Austritt aus der serbischen Regierung, hofft aber nun, starker Mann in einer neuen Koalition zu werden. Der Vorsitzende der Demokratischen Partei Serbiens, Zoran Djindjiƒ, in Bonn gern gesehen, fehlte in ∏a‡ak.Während des Krieges hatte er vor Morddrohungen in Montenegro Zuflucht gefunden. Weil er einen Einberufungsbefehl zur Armee ignorierte, soll er sich vor einem Militärgericht verantworten. Ihm drohen 5 bis 20 Jahre Haft wegen Fahnenflucht. Die Allianz für den Wechsel, ein Bündnis von über 30 Parteien, konnte bei den letzten Wahlen nur 2 Prozent erreichen, lag jedoch Umfragen zufolge kurz vor Ausbruch des Krieges bei 20 Prozent. Heute fehlt ein populäres Zugpferd an der Spitze. In ∏a‡ak galt der stärkste Beifall nach Bürgermeister Iliƒ dem Führer der Sozialdemokraten,Vuk Obradoviƒ, einem General a. D. mit immer noch guten Kontakten zur Truppe. Um den Machtapparat zu spalten, spricht er die Armee von jeder Schuld im Kosovo frei und erklärt die von Milo∆eviƒ gehätschelte Polizei zu den Schergen des Regimes. Tatsächlich ist die Spannung zwischen murrenden Soldaten und Belgrads Prätorianergarde mancherorts unübersehbar. In Kraljevo rasselte ein Panzer die Hauptstraße bis zur örtlichen Polizeistation hinunter. Drohend richtete das Ungetüm seine Kanone auf die Wache. Soldaten sprangen herab, zückten Handgranaten und verlangten die Herausgabe eines festgenommenen Kameraden. Die Polizei gab nach. Der gaffenden Menge rief der Kommandeur zu: „Ihr habt nichts gesehen, geht nach Hause.“ In Kraljevo, Kragujevac, Vrbas und Po≈arevac blockierten aufgebrachte Reservisten tagelang die Straßen, um ihren Sold gewaltsam einzutreiben. Mittlerweile beschuldigen sich Armee, Polizei und Spezialeinheiten gegenseitig, die Greueltaten im Kosovo verübt zu haben. Geistlichen Zuspruch bekommt die Opposition vom Patriarchen Pavle, der bereits 131 Ausland Goran Svilanoviƒ, Vorsitzender der serbischen Bürgerallianz, über den wachsenden Widerstand gegen Milo∆eviƒ AP SPIEGEL: Die Opposition plant eine Reihe von Demonstrationen für die nächsten Wochen. Hoffen Sie wirklich, damit den jugoslawischen Präsidenten zum Rücktritt zu zwingen? Svilanoviƒ: Angesichts der Medienzensur sind Kundgebungen unsere einzige Chance, den Menschen die Wahrheit beizubringen. Slobodan Milo∆eviƒ ging es niemals um die Rettung Serbiens, sondern ausschließlich um seine Macht. Rambouillet mag für das Kosovo keine ideale Lösung angeboten Svilanoviƒ haben, aber der Krieg hätte vermieden werden müssen. Wenn Milo∆eviƒ nicht freiwillig zurücktritt, kann er auf einer außerordentlichen Sitzung des Parlaments abgesetzt werden. SPIEGEL: Das sind doch Illusionen. Milo∆eviƒ hält mit Hilfe seiner Sozialistischen Partei und der radikalen Bündnispartner die Macht im Land weiter fest in Händen. Svilanoviƒ: Nein, ich glaube, daß ihn bereits panische Angst befallen hat. Er weiß, daß seine politische Karriere beendet ist. Serbiens starker Mann ist mittlerweile der Radikalenführer Vojislav e∆elj, den Präsident Milutinoviƒ auf Knien bitten mußte, seinen Austritt aus der serbischen Regierung zu widerrufen. Ich will allerdings nicht ausschließen, daß Milo∆eviƒ als Endlösung sich im Wald eine Kugel in den Kopf schießt. Das entspräche seiner Psyche. SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, daß er vorher noch mal alles auf eine Karte setzen wird? Er kann einen Krieg mit Montenegro anzetteln oder in Serbien den Ausnahmezustand ausrufen. Svilanoviƒ: Im Moment werden keine wichtigen politischen Entscheidungen getroffen. Wesentlich wird jetzt die Bildung einer Übergangsregierung für die nächsten Monate sein. Es muß zu neuen Wahlen kommen, dann werden die Sozialisten wie die Radikalen ein Desaster erleben. SPIEGEL: Milo∆eviƒ kündigte umfangreiche Reformen und den schnellen Wiederaufbau an. Wird der Opposition 132 damit nicht der Wind aus den Segeln genommen? Svilanoviƒ: Mit welchem Geld will er denn die Reformen bezahlen? Er kann nichts tun, es sei denn, der Westen akzeptiert ihn wie nach dem Friedensschluß von Dayton erneut als großen Staatschef und steckt ihm für den Verkauf von Staatsfirmen Milliarden Dollar in die Tasche. SPIEGEL: Was soll die Bürger in Serbien bewegen, eine in sich zerstrittene Opposition zu wählen, die ständig über mangelnde Unterstützung aus dem Westen jammert und deren Ideologie oft keine wesentliche Alternative zu Milo∆eviƒs Politik bietet? Svilanoviƒ: Wir wissen, daß wir schwach sind. Deshalb sollte unser wichtigstes Ziel unsere Einigung sein. Die künftige Oppositionslandschaft wird sich erst formieren und ihre Richtung suchen. Ich will auch nicht ausschließen, daß sich ein Reformflügel von den Sozialisten abspaltet. SPIEGEL: Die geplanten Demonstrationen könnten leicht zu unkontrollierten Ausschreitungen führen. Nehmen Sie einen Bürgerkrieg in Bürgermeister Iliƒ: Reines Gewissen Kauf? macht selbst die aus dem Kosovo vertrieSvilanoviƒ: Das ist nicht unser Ziel, aber benen Serben schnell zu Staatsfeinden. natürlich weiß niemand, wie sich die In Belgrad wurden zwei ihrer Anführer Situation entwickelt. Die Menschen zu je 30 Tagen Haft verurteilt, weil die sind sehr aufgebracht. Sie wollen endobdachlosen Flüchtlinge im Zentrum der lich besser leben. Sie müssen ihre Angst Hauptstadt protestieren wollten. Bei vor Repressalien überwinden, und ich den in der verlorenen Provinz zurückbin überzeugt, sie haben die rote Linie gebliebenen Serben ist Milo∆eviƒ inzwibereits überschritten. schen genauso verhaßt wie die UÇK (sieSPIEGEL: Würden Sie Präsident Mihe Seite 133). lo∆eviƒ nach dessen Sturz dem KriegsDoch Milo∆eviƒ denkt offenbar nicht verbrechertribunal in Den Haag ausdaran aufzugeben, trotz Warnungen der liefern? Nato sucht er womöglich die nächste KonSvilanoviƒ: Ich will die Zuständigkeit frontation: mit Montenegros Präsidenten des Tribunals nicht in Frage stellen. Milo Djukanoviƒ, seinem potentiell geAber es wäre sehr viel besser, wenn fährlichsten Herausforderer. er sich hier – vor jugoslawischen GeMontenegros Führung kündigte verganrichten – verantworten müßte und gene Woche die Einführung einer eigenen gegebenenfalls verurteilt würde. MutWährung an und will Jugoslawien in eine maßliche kroatische Kriegsverbrecher, lose Konföderation verwandeln. Milodie aus Den Haag zurückkehrten, ∆eviƒ konterte mit der Entsendung von Panwurden in ihrer Heimat wie Helzern und Militäreinheiten in die Rebelden gefeiert. Wir würden Milo∆eviƒ lenrepublik – angeblich nur Routine. Im lieber selbst zum Verbrecher erkläKonfliktfall hofft die Kleinrepublik auf ren. Interview: Renate Flottau Hilfe durch die nahebei stationierten KforTruppen. Renate Flottau, Romain Leick d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 T. PETERNEK / SYGMA „Kugel in den Kopf“ mehrmals den Rücktritt Milo∆eviƒs sowie die Bildung einer Regierung der nationalen Rettung forderte. Aus Protest hat er seinen Amtssitz vorläufig in das Kosovo-Kloster Peƒ verlegt, auch verbat er sich die Teilnahme der Regierenden am Gottesdienst zum Gedenken an die legendäre Schlacht auf dem Amselfeld vor 610 Jahren. Er wolle keinem Land angehören, so das Kirchenoberhaupt, das mit kriminellen Methoden verteidigt werde: „Dann soll Serbien lieber von der Landkarte verschwinden.“ Auch die ehrenwerten Mitglieder der Serbischen Akademie der Wissenschaften stritten sich über die Lage der Nation. Während der Romancier und Ex-Präsident Dobrica ±osiƒ den sofortigen Rücktritt Milo∆eviƒs „zum Wohle des Volkes“ verlangte, nannte Philosoph Mihajlo Markoviƒ die hitzige Debatte um Schuld und Sühne „primitiv wie Caféhaus-Geschwätz“. Die Furcht des Regimes vor einem unkontrollierten Ausbruch des Volkszorns FOTOS: K. MÜLLER Kfor-Zone: Frankreich MONTENEGRO Brennendes Zigeunerviertel in Mitrovica: „Sie brauchen diese Rache“ SERBIEN USA Deutschland ALBANIEN An den Ufern des Ibar in der geteilten Stadt Mitrovica belauern sich Serben und Albaner. Die Kfor-Soldaten haben Mühe, die Todfeinde auf Distanz zu halten. langweilt auf eine dicke neue Rauchsäule, die wie ein weißer Elefant aus Watte einen Kilometer entfernt in den Himmel steigt. Das Feuer frißt sich schnell durch die Häuser, die Plünderer müssen sich beeilen. Achtlos hingeworfen liegt ein altes Familienfoto in einem brennenden Innenhof. Der Bäcker kennt den schnauzbärtigen Mann und seine beiden Töchter, die darauf abgebildet sind. Es sind Roma. Sie waren früher seine Kunden. „Ich weiß nicht, wer noch mein Brot kaufen soll“, sagt er. Es wird ohnehin Wochen dauern, bis er sein demoliertes Geschäft wieder öffnen kann. Die schwarzweiße Porträtaufnahme hat wahrscheinlich Mom‡ilo Negovanoviƒ gemacht – allerdings zu einer Zeit, als sich die Bürger von Mitrovica noch nicht gegenseitig umbrachten. Mom‡ilo ist ein großer schlanker Mann von knapp 70 und seit 1960 der einzige Lichtbildner am Ort. Sein Laden ist weder geplündert noch bombardiert worden. „Photo-Moma“, wie ihn alle nennen, ist Serbe. Niemand in der Stadt wird so gut bewacht wie er. Denn sein Geschäft liegt an der Brücke des Flusses Ibar, der das albanische vom serbischen Stadtviertel trennt. Genau vor Photo-Momas Laden haben die Kfor-Soldaten Panzer und Jeeps aufgefahren und ihren Kontrollpunkt eingerichtet. Wer vom einen in den anderen Teil der Stadt will, muß sich von ihnen nach Waffen durchsuchen lassen. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Pri∆tina K O S O V O „Unsere Mauer ist der Fluß“ A Großbritannien Italien Peƒ KO S OVO slan Kabashi ist Bäcker von Beruf, doch heute sieht der 60jährige Albaner eher aus wie ein Schornsteinfeger. Seine Hände, mit denen er die zerschossene Eingangspforte seiner Konditorei festhält, sind schwarz von Ruß. Selbst an seinen Augenbrauen, die er wachsam nach oben zieht, wenn jemand sein Grundstück passiert, haftet Asche. In der Fabrika-Straße mitten im Zigeunerviertel von Mitrovica brennt alle paar Dutzend Meter ein Haus. Die Brandstifter waren Albaner. „Sie brauchen diese Rache“, sagt Aslan Kabashi. Die Roma seien Kollaborateure der Serben. Sie hätten albanische Häuser geplündert und Feuer in ihnen gelegt. Als Vorwand, das Haus eines Zigeuners anzustecken, reicht den Zündlern bereits der Vorwurf, der Besitzer habe als Totengräber für die Serben gearbeitet, um ermordete Albaner unter die Erde zu bringen. Daß viele Zigeuner zu solchen Frondiensten gezwungen wurden, interessiert hier keinen. Die Roma aus Kabashis Nachbarschaft sind nach Serbien oder Mazedonien geflüchtet. Ganz geräuschlos gehen die Plünderer und Brandstifter ihren Geschäften nach. Nur das Knacken und Knistern der brennenden Dachbalken ist zu hören. Die französischen Kfor-Soldaten schauen tatenlos zu. „Wir haben einfach zuwenig Leute“, sagt ein Sergeant und sieht ge- Mitrovica 25 km Prizren MAZEDONIEN Momas Fotoladen liegt am albanischen Ufer des Ibar. Er sagt: „Früher war das hier die Innenstadt. Alle sind in meinen Laden gekommen, Serben, Albaner, Zigeuner, alle.“ Photo-Moma kann mit seinen vielen Aufnahmen, die bis dicht unter die Decke seines Geschäfts hängen, dokumentieren, daß das Leben in Mitrovica einst vom Prinzip der guten Nachbarschaft bestimmt war. Zigeunerinnen mit bunten Ohrringen und gerafften Röcken lachen von der Wand. Daneben serbische Kinder, die Mädchen in violetten Kleidchen, die Jungs im dunklen Sonntagsstaat. Alte Männer singend auf einer Hochzeit, Witwen lachend beim Leichenschmaus. Ein kolorierter Großabzug in goldenem Rahmen zeigt Moma selbst als flotten jungen Mann mit Clark-Gable-Bärtchen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war gerade der Zweite Weltkrieg vorbei. Niemand dachte damals im Traum daran, daß es einmal einen neuen Krieg in Mitrovica geben würde. Mitrovica war eine ganz normale kleine Stadt, und Moma war ihr Chronist. Jetzt ist etwa die Hälfte der Häuser, in denen Albaner wohnten und ihre Geschäfte hatten, zerstört oder beschädigt. Viele von denen, die nicht flüchten konnten, versteckten sich, wie der Arbeiter Hagim Istrafi, monatelang im Keller. Sein Freund Ismail Mechmedi hat den Krieg in einem maze133 Ausland donischen Flüchtlingslager verbracht. Als er zurückkehrte, waren seine Wohnung und die drei Kneipen, die Mechmedi gehörten, zerstört. Die Kfor-Soldaten lassen ihn nicht einmal die Trümmer besichtigen. „Zu gefährlich“, heißt es, „wir können Ihre Sicherheit nicht garantieren.“ „Ich wollte, die Deutschen kämen!“ seufzt der Chirurg Bajram Rexhepi, der im albanischen Stadtteil „so etwas wie ein Bürgermeister“ ist. Gewählt hat ihn zwar niemand, aber da sein Büro im Hauptquartier der Befreiungsorganisation UÇK liegt, wird seine Legitimation von kaum einem Albaner angezweifelt. Wären die Deutschen in Mitrovica, würde es gerechter zugehen, glaubt Rexhepi. Viel mehr Serben würden aus Angst die Stadt verlassen. Die Franzosen aber seien immer Freunde der Serben gewesen, „sie werden sie auch jetzt wieder bevorzugen“. Wenn die Franzosen die Brücke nicht freigeben, will die UÇK diese Woche einen Protestmarsch der Albaner ins serbische Viertel führen. „Dann werden wir ja sehen, was passiert“, sagt der Bürgermeister. Die Kfor hat ihn bisher als Verhandlungspartner noch nicht voll akzeptiert. Nun will der Arzt den Franzosen offenbar beweisen, daß an ihm kein Weg vorbeiführt. Rexhepi fürchtet, daß die ethnische Teilung der Stadt ein erster Schritt zur politischen Spaltung des Kosovo sein könnte. Denn vom serbischen Teil Mitrovicas fahren die Serben fast nur noch durch serbische Dörfer ins 40 Kilometer entfernte Mutterland. Dieser Teil des Kosovo wäre für Serbien leicht abzutrennen. Weil viele Albaner nicht in ihre Wohnungen am rechten Ufer des Ibar zurück- kehren dürfen, ziehen sie nun in die Wohnungen von Serben ein, die im albanischen Teil gewohnt haben und sich seit dem Einmarsch der Kfor nicht mehr über die Brücke trauen. Die Kfor hat die ethnische Teilung, die sie eigentlich verhindern wollte, bis auf weiteres zementiert, um des lieben Friedens willen. Die Anfang vergangener Woche in Mitrovica stationierte Gendarmerie der Franzosen will im Zentrum nun eine Sicherheitszone schaffen, in der sich Serben und Albaner unter dem Schutz von Militär und Polizei frei bewegen können. Doch bis die eingerichtet ist, werden Wochen vergehen. Im Café „Dolce vita“ im serbischen Viertel warten die Gäste nur auf Anlaß zu neuem Streit. Schon morgens um zehn sitzen serbische Männer beim Bier, am frühen Nachmittag sind die ersten betrunken. Dann herrscht Kampfstimmung. Man hat von hier einen guten Blick auf den albanischen Stadtteil und auf die Brücke, über die Albanerinnen zum Broteinkaufen kommen, weil die einzige Bäckerei der Stadt im serbischen Teil liegt. Junge Serben zeigen denen von drüben, wer auf dieser Seite das Sagen hat. Sie kontrollieren Einkaufstüten, konfiszieren „serbisches Brot“, verlangen Ausweisdokumente von Passanten. Albaner berichten von gewalttätigen Übergriffen durch serbische Bürger, aber auch Serben erzählen, sie seien auf dem Weg in den anderen Stadtteil verprügelt worden. Die Gäste im „Dolce vita“ reden pausenlos über die „Terroristen von der UÇK“. Denen werde man schon die Hölle heiß machen. Alles Maulheldentum. Man kann sehen, daß sie Angst haben. Von Albanern geplünderte Häuser in Mitrovica: „Ich wollte, die Deutschen kämen“ 134 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Wo sind die Paramilitärs geblieben, die hier gewütet haben wie die Vandalen? „Alle weg“, sagt der Chef vom „Dolce vita“, den alle „den Russen“ nennen. Er hat streichholzkurze Haare und ein freundliches Lächeln, das sich in unangenehmes Zähnefletschen verwandelt, wenn es einer seiner betrunkenen Gäste zu bunt treibt. Eigentlich sei hier niemand gegen die Albaner, sagt der Russe, er habe immer albanische Gäste gehabt. Wegen ihres Umgangs mit den Albanern hatten sie sogar Ärger mit den Nationalisten. Und die serbischen Killer stammten natürlich auch nicht aus Mitrovica, sondern von außerhalb. Milo∆eviƒ? „Den sollte man auf die Brücke binden und sie dann in die Luft sprengen.“ Die Gäste johlen zustimmend, sie fühlen sich von ihrem einstigen Idol verraten und verkauft. Im Café „Black Lady“ in einer kleinen Nebenstraße, wo die Kfor selten hinkommt, sitzen Serben von besonderem Kaliber. Einer ruft: „Es gibt noch immer zu viele Drecks-Albaner in unserem Viertel.“ „Genau“, ruft sein Tischnachbar. „Ich bin ein Tschetnik!“ Dabei spreizt er drei Finger zum serbischen Zeichen. Seine Kleidung ist so pechschwarz wie sein Vollbart. Er ist schon mittags angetrunken. Die UÇK, sagt er, habe seinen Vater ermordet. „Ich will Rache!“ ruft er wütend. Und dann wieder resigniert: „Was kann ich tun?“ Er greift erneut zum Bier und sagt frustriert: „Ich kann nur noch trinken.“ Wie es weitergehen soll? Photo-Moma hat eine düstere Vision: „Mitrovica wird sein wie Berlin, und unsere Mauer ist der Fluß.“ Claus-Christian Malzahn Aller Voraussicht nach würden die Kosovaren dann ihre Währung an die Mark koppeln. Doch das ist politisch heikel: Anders als Bosnien-Herzegowina ist das Kosovo Bestandteil Jugoslawiens – die Geldpolitik wird von der Belgrader Zentralbank gesteuert. Ohne ein stabiles ZahlungsIn den vergangenen Jahren mittel ist der Wiederaufbau haben inflationsgeplagte Ländes Kosovo kaum zu schaffen. der in zunehmendem Maße ihre desolaten Finanzen zu stabiDie Mark soll helfen. lisieren versucht, indem sie ihre Währungen an eine starke eutsche Einzelhändler werden Fremdwährung angebunden haschnell mißtrauisch, wenn ein Kunben. Lateinamerikaner suchen de mit einem 1000-Mark-Schein beZuflucht im Dollar, Ost- und zahlen will. Der große Schein ist selten Südosteuropäer im Euro – oder hierzulande, viele Deutsche haben ihn in der Euro-Spielart D-Mark, noch nie gesehen. Geldwechsler im Kosovo: Schwarzmarktkurs 10 : 1 weil ihnen diese Währung geDabei haben die Gelddruckeläufig ist. reien knapp 87 Millionen 1000Währungen von Balkanstaaten gegenüber der Mark Bulgarien und Estland haben Mark-Noten hergestellt, der Tauihre Währungen über ein sogesender macht mehr als ein DritJugoslawischer Neuer Kroatische Kuna 0,30 nanntes Currency Board an den tel des gesamten Bargeldumlaufs Dinar 0,40 Euro gebunden. Das Kosovo aus. Rein statistisch, so ermittel0,35 0,29 würde, wie Bosnien-Herzegote die Deutsche Bundesbank, 0,30 wina, seine Währung wohl eher müßten in einem durchschnitt0,28 fest an die Deutsche Mark koplichen Vier-Personen-Haushalt 0,25 peln, weil den Bewohnern die zwei 1000-Mark-Noten in der 0,27 0,20 blauen, grünen und braunen Schublade liegen. Tatsächlich 0,26 Scheine aus Deutschland veraber schlummern die Riesen un0,15 traut sind. ter ausländischen Matratzen. Die wirtschaftlichen Vorteile In osteuropäischen Ländern 1996 1997 1998 1999 1996 1997 1998 1999 einer solchen Anbindung liegen wie Polen oder Tschechien, vor auf der Hand: Die hohe Inflaallem aber auf dem Balkan wird 1000 Rumänische Leu 100 Bulgarische Lew tion würde gestoppt, weil der die Deutsche Mark als stabiles 2,00 0,50 Staat seine finanziellen ProbleZahlungsmittel gehortet, am me nicht mehr mit der Notenliebsten in platzsparenden 200-, 0,40 1,50 presse lösen kann. Die Wäh500- und 1000-Mark-Ausgaben. rungspolitik der Balkan-Staaten Seit den sechziger Jahren, als ju0,30 1,00 würde praktisch in Frankfurt goslawische Gastarbeiter nach gemacht. Deutschland strömten, hat sich 0,20 0,50 Ein derart stabilisierter Diauf dem Balkan die Mark als nar – oder wie auch immer Parallelwährung etabliert, und 0,10 die nationale Währung heißen seit den blutigen Auseinander1996 1997 1998 1999 1996 1997 1998 1999 könnte – würde auch die setzungen hat sich ihr Einfluß Kapitalflucht beenden. Keiner verstärkt. Wegen des schwächlichen jugoslawiDer Bevölkerung Serbiens und des Ko- müßte mehr aus Furcht vor der ständigen schen Dinars wird der Handel zwischen sovo hingegen ist ihre Währung suspekt. Geldentwertung seine Scheine so schnell Serben und Kroaten praktisch nur über Der jugoslawische Dinar verliert ständig wie möglich in eine harte Währung umD-Mark abgewickelt, und „in Bosnien-Her- an Wert; im vergangenen Jahr betrug die tauschen. Auch wenn ein Staat mit der Koppelung zegowina ist die Mark de facto Zahlungs- Inflationsrate 30 Prozent. Nach der Wähmittel“, sagt Bundesbank-Direktor Mi- rungsreform Anfang 1994 war ein Dinar seiner Währung an eine ausländische ein chael Blome. eine Mark wert, dann lag das Verhältnis Stückchen Souveränität abgibt – viele Die Bosnier haben ihre „Konvertibilna bei 3,3 zu eins. Derzeit beträgt der offi- Finanzexperten sehen in einer solchen Marka“ im Verhältnis eins zu eins an die zielle Kurs sechs zu eins; realistischer ist Anbindung an Dollar oder Euro die einDeutsche Mark gebunden. Die Zentral- der Schwarzmarktkurs von zehn zu eins. zige Chance der hochverschuldeten und bank hält D-Mark als Reserven vor, die Wechselstuben im Kosovo geben für eine wirtschaftlich angeschlagenen Länder, ihre Probleme in den Griff zu beihre „Marka“ und „Feninga“ decken. So Mark bis zu 16 Dinar. wird die Parität gestützt. Daher hat, so BloOhne eine stabile Währung, darin sind kommen. Das gelte nicht nur für das Kosovo oder me, „die Bevölkerung schnell Vertrauen in sich alle Experten einig, ist der Wiederaufihre Währung gefunden“. bau des Landes kaum möglich. Montene- für Serbien, sondern auch für Staaten Den Bürgern im muslimischen Teil von gro hat die Einführung einer eigenen Wäh- wie Albanien, Rumänien, die Ukraine Mostar zum Beispiel ist der Umgang mit rung angekündigt, falls der Dinar weiter und Rußland, meinte Daniel Gros, Wähbeiden Währungen gleichermaßen ver- an Wert verliert. Auch das Kosovo soll den rungsexperte des Centre for European traut. Wer in einem Café mit D-Mark be- weichen Dinar bald durch eine eigene Policy Studies in Brüssel: „Sie alle sind zahlt, kann durchaus „Feninga“ als Wech- Währung ersetzen, schlägt die Uno-Inte- Kandidaten für eine schnelle Euroisierung.“ selgeld herausbekommen oder umgekehrt. rimsverwaltung vor. Hermann Bott BALKAN Marka und Feninga AFP / DPA D d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 135 Pakistanische Geschützstellung in Baltistan: Mehr Sold für den Dienst in großer Höhe KASCHMIR Heiße Rohre Die Inder kommen am Himalaja nicht voran, ihre Militärs wünschen einen Generalangriff. W ie eine polierte Scheibe steht die Sonne über dem Hochland von Deosai im äußersten Nordosten Pakistans. Matt wirkt das Eis der Gletscherberge, es glänzt nicht – ein Zeichen für die Hitze selbst in 3000 Meter Höhe. Plötzlich zerreißt ohrenbetäubender Lärm die Stille, denn Muhammad Nawaz hat wieder den Feuerbefehl für seine Batterie von fünf Geschützen erteilt. „Um über die Berge hinwegzuschießen, brauchen wir eine hohe Flugbahn der Geschosse“, erläutert der Offizier, „nach jeder Salve muß man die Rohre neu justieren.“ Seine Soldaten tragen die Uniform mit besonderem Stolz, weil sie die Vorhut der pakistanischen Armee darstellen – gegen einen Angriff indischer Einheiten, den sie von den Fünftausendern am Horizont her erwarten. Das Echo der Breitseite rollt donnernd zu der Geschützstellung im weißen Sand zurück, den der nahe Shingo-Fluß auf seinem Weg zum Indus abgelagert hat. Adler und Raben fliegen auf, während die Granaten auf die indische Seite des Grenzmassivs, zu den Serpentinen des National Highway 1-A, hinabsausen. Von dort aus haben „Jawan“, indische Soldaten, vorigen Mittwoch heftige, aber verlustreiche Gegenangriffe geführt. Sie mußten in Felsrinnen Schutz suchen vor dem Kugelhagel, mit dem sie von Mudschahidin-Kämpfern belegt wurden, die Stellungen hoch über ihnen besetzt hielten. „Unsere Männer müssen Seile anbringen und sich mit Klemmbügeln emporhan136 geln“, beschreibt im Grenzort Kargil Oberst Atvar Singh die gefährliche Lage. Der indische Generalstab hat die „Operation Vijay“ ausgerufen, das „Unternehmen Sieg“. Doch trotz des Einsatzes von fünf frischen Divisionen kommen die Inder nur langsam voran. Kampfflugzeuge haben lasergelenkte Bomben ausgeklinkt, um die zähen Gegner von den strategisch wichtigen Tiger Hills zu vertreiben, aber allein beim Sturm auf die Graterhebung Peak 4700 sind 25 indische Jawan gefallen. Im jüngsten von bisher drei Kriegen um Kaschmir läuft der Regierung in NeuDelhi die Zeit davon. Mit schweren Gewittern hat der Vormonsun begonnen, was die Eröffnung einer zweiten Front im Pandschab unmöglich macht – Indiens Panzerarmee würde dort im Schlamm steckenbleiben. Und schon im September setzt auf den Höhen des Himalaja der Winter ein, vereisen die Wände und erlauben kein Hochkommen mehr. Frustrierend ist für die Inder auch, daß die Mudschahidin neue Kräfte in ihrem Heiligen Krieg um Kaschmir nach vorn werfen. Rund 900 fanatisierte Streiter sollen aus Azad Kaschmir, dem pakistanischen Westen der umkämpften Region, heraufgestiegen sein und darauf warten, die Waffenstillstandslinie der sogenannten Line of Control (LoC) zu überschreiten. So viele waren es bereits am 9. Mai, als der Konflikt begann. „Sie holen die Toten und Verwundeten vom Berg, während die Verstärkungen nach oben rücken“, konstatiert mißmutig Oberst Singh. In Delhi wächst deshalb der Druck der Militärs, die einen Generalangriff über die LoC nach Baltistan hinein verlangen, der pakistanischen Pufferprovinz an den Grenzen zu China und dem indischen Kaschmir. Skardu soll zerstört werden, die staubige Basarstadt von Baltistan. Sie ist Standort einer Brigade, die Pakistan-Premier Nawaz Sharif vor kurzem besucht hat. „Ihr seid Soldaten Allahs, die weder den Feind d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 noch den Tod fürchten“, sprach er zur Fronttruppe. Jene Soldaten, die in großer Höhe Dienst tun, erhielten ein Viertel mehr Sold, gelobte Sharif. Unterdessen wächst in Islamabad die Nervosität. Am Flughafen sind Luftabwehrraketen installiert worden, und Politiker drohen mit den pakistanischen Atomwaffen. „Der Zweck, solche Bomben zu entwickeln, ist bedeutungslos, wenn man sie nicht einsetzt“, meint etwa Zafarul Haq, der Vorsitzender des Senats ist. Im schneeweißen Parlamentsgebäude am Fuß der Vorberge zum Himalaja befürchten Abgeordnete jedoch, international so isoliert zu sein, daß Pakistan am Ende nachgeben und die Versorgung der Gipfelkrieger in ihren Felsbunkern einstellen muß. Nawaz Sharif war sogar in Peking abgeblitzt und erhielt von dem alten Verbündeten China keine Unterstützung. Das Gerücht, von den Amerikanern sei ein Durchbruch an der Front des Friedens vorbereitet worden, wurde am Freitag zurückgewiesen – von den Indern. Man sei an „keinen Verhandlungen irgendwelcher Art“ beteiligt, sagte Außenminister Jaswant Singh. Das indische Militär versprach, auch den Winter über tapfer in den zurückeroberten Stellungen auszuhalten. Und weil sich inzwischen auch USAußenministerin Madeleine Albright für den Konflikt interessiert – ihr Vater war Autor eines Standardwerks mit dem Titel „Gefahr in Kaschmir“ –, sanken die Aussichten Islamabads noch mehr. Albright hat Pakistan vorgeworfen, die Mudschahidin zu unterstützen, und verlangt deren Abzug. Doch unverdrossen hat die Mudschahidin-Front Lashkar-e-Taiba („Legion der Frommen“) angekündigt, daß sich auch Veteranen des Afghanistankriegs am Kampf gegen die Hindu-Armee beteiligen. Racherufe erschallen nahe der Waffenstillstandslinie im tiefer gelegenen Azad Kaschmir, etwa im „Garten der Märtyrer“ in Kotli, einer Hochburg der Kämpfer. „Wir haben mehr Freiwillige, als wir ausbilden können“, sagt dort Tayyab Muslim, ein Kommandeur der Mudschahidin. „Die herrschende Elite ist faul und korrupt, sie kann unseren Männern nichts bieten.“ Auf dem Sandplateau von Deosai machten die Geschütze des Batterieführers Nawaz mit der Kanonade weiter. Er mußte aufpassen, weil die Rohre heiß wurden und damit die Reichweite der Granaten zunahm: „Wir müssen genau treffen, damit der Schaden möglichst groß ist.“ Nawaz kämpft mit seinen Mannen angeblich allein. Mudschahidin habe er in seinem Abschnitt nie gesehen, behauptet er und gibt den Befehl zum Nachladen. Joachim Hoelzgen Ausland Manöver in der Nacht Der neue Premier will seine Machtfülle nutzen, um dem Friedensprozeß Schub zu geben. E hud Barak ist ein Mann der Rekorde. In 90 Sekunden befreite er 1972 als Chef eines israelischen Sonderkommandos eine von Terroristen entführte Sabena-Maschine. Das Mammutwerk „Ulysses“ von James Joyce las er angeblich an einem Tag. Bei einem Wettbewerb knackte der leidenschaftliche Tüftler 100 Schlösser in einer Stunde. Wer allerdings erwartet hatte, daß Mr. Blitz (so die Übersetzung des hebräischen „Barak“) auch in Rekordtempo eine Regierung bilden würde, sah sich getäuscht. Erst anderthalb Monate nach seinem fulminanten Wahlsieg brachte der israelische Premier und Chef der Arbeitspartei eine Koalition zustande. Gerade noch rechtzeitig vor Ablauf der gesetzlichen Frist bat er den amtierenden Knesset-Präsidenten Schimon Peres, für diese Woche das Parlament zur Vereidigung der neuen Regierung einzuberufen. Zäh und zielstrebig nutzte Barak die Zeit, um eine Mehrheit zusammenzubasteln, die ihn zu einem der mächtigsten Premiers seit Bestehen des Staates Israel machen soll. So wie er früher als Armeechef im Manöver seine Angriffe plante, verhandelte er am liebsten im Morgengrauen. Das Land wird nun von einer Koalition regiert, die von der linken „Merez“ über die russische Einwandererpartei „Israel B’Alija“ bis zu den ultraorthodoxen Parteien „Schas“ und den „Nationalreligiösen“ fast die gesamte Breite des politischen Spektrums umfaßt. Mit 75 Mandaten verfügt Baraks säkularreligiöse Allianz in der Knesset über eine Mehrheit von 15 Sitzen. Sein Vorbild Jiz- Baraks Koalition Schas * Mit Parlamentspräsident Schimon Peres und ExAußenminister David Levy vor einem Rabin-Porträt. Regierung und Opposition im neuen israelischen Parlament Zentrumspartei Merez chak Rabin startete gerade mal mit 2 Sitzen. Barak verfügt über so viele Partner, daß er selbst dann noch eine Mehrheit behielte, wenn einer seiner Koalitionäre wieder abtrünnig würde. US-Präsident Bill Clinton zeigte sich beeindruckt: „Nun haben wir eine echte Chance für Frieden.“ Tatsächlich scheint Barak vor allem darauf bedacht, sich größtmöglichen Rückhalt beim Friedensprozeß zu sichern. Dafür zahlt er innenpolitisch einen hohen Preis. Er zog die orientalischen Fundamentalisten von Schas trotz heftiger Proteste seiner Anhänger den Likud-Nationalisten seines Vorgängers Netanjahu vor. In Friedensfragen verhielten sich die frommen Ultras bisher meist moderat. Ihnen geht es um Pfründen und Privilegien. Und die sichert ihnen Barak im neuen Kabinett – zur Enttäuschung vieler linksliberaler Wähler, die Barak und sein Wahlbündnis „Ein Israel“ in der Hoffnung auf eine Begrenzung des religiösen Einflusses gewählt hatten. Überdies hat der Premier schon eine Art politischen Bypass vorbereitet, um im Notfall seine Koalition übergehen zu können. Erstmals in der israelischen Geschichte will er die Bevölkerung in einem Referendum um Unterstützung für den Frieden bitten. Auch dürfte im Ernstfall die antireligiöse Protestpartei Schinui ebenso wie die Gruppe der zehn arabischen Abgeordneten teilweise mit der neuen Regierung stimmen; das schränkt die Erpressungsmöglichkeiten der Frommen ein. Barak selbst hat sich das wichtige Verteidigungsministerium reserviert. Faktisch wird er auch die Außenpolitik steuern. Die Verhandlungen mit Libanon, Syrien und den Palästinensern laufen in seinem Stab zusammen, in dem er sich mit ehemaligen Generalskameraden umgeben hat. Ihr Auftrag ist klar: zuerst Frieden nach außen, die Versöhnung der tief gespaltenen israelischen Gesellschaft muß warten. „Die inneren sozialen Angelegenheiten“, meint Barak, „können durchaus noch zwei bis drei Monate aufgeschoben werden.“ Israel B’Alija 10 6 Nationalreligiöse Partei Vereinigtes Tora-Judentum 6 5 5 Arbeitspartei Likud 19 17 26 Regierung 75 Sitze Opposition 45 Sitze d e r s p i e g e l 6 Schinui 4 Israel Beiteinu 4 Nationale Einheit 3 Hadasch 2 Ein Volk 5 Vereinigte Arab. Liste 2 Arab. Parteien 2 7 / 1 9 9 9 Die Erblast, die ihm die alte Regierung hinterließ, erweist sich nun als wertvolles Startkapital. Der erfahrene Stratege Barak schwieg, als sein Vorgänger die Siedlung Maale Adumim an Jerusalem anband und damit einen riesigen Riegel ins Palästinenserland schob. Ungerührt schaute er auch zu, als Netanjahu Hisbollah-Angriffe auf Israels Norden mit Luftschlägen auf Ziele um Beirut vergalt. Um so leichter kann sich Barak nun als Versöhner geben. Für diesen Monat stehen Treffen mit Bill Clinton, Jassir Arafat, dem ägyptischen Staatschef Husni Mubarak sowie Jordaniens jungem König Abdullah an. Und Ende Juli geht US-Außenministerin Made- DPA ISRAEL Wahlsieger Barak (M.)* Startkapital für den Versöhner leine Albright auf Nahost-Reise. Dann könnte sie eine Botschaft Baraks mit nach Damaskus nehmen. Denn vieles spricht dafür, daß Barak den syrischen vor dem palästinensischen Pfad betritt. Ein Friedensschluß mit dem alten Erzfeind Hafis el-Assad könnte Barak sein eigenes Foto im Geschichtsbuch sichern – neben dem historischen Handschlag zwischen Rabin und Arafat auf dem Rasen des Weißen Hauses. Als Pianist hat Barak gelernt, wie man mit zwei Händen verschiedene Tempi spielt. Während er schon öffentlich mit Assad liebäugelte, ließ er einen frustrierten Arafat auf Nachricht warten. Erst als sich der Palästinenserchef vergangene Woche öffentlich beschwerte, meldete sich Barak: Er werde den wichtigen „Partner“ Arafat „baldmöglichst treffen“. Während der Israeli darauf vertraut, einen längeren Atem zu haben, weiß Arafat, daß die Zeit gegen ihn arbeitet. Die Palästinenser sind nach Netanjahus Blockadepolitik so kleinlaut, daß sie vorerst schon mit der Umsetzung längst verabredeter Zugeständnisse zufrieden wären. „Barak sieht sich nicht als Rabin, er sieht sich als Ben-Gurion“, spottet ein Koalitionspartner über das pralle Selbstbewußtsein des neuen Chefs, „und ich meine damit Momente, in denen er sich schwach fühlt.“ Annette Großbongardt 137 Ausland Das Seilbahnunglück, das sich vergan- Gesellschaft gegründet, später schloß sich genen Donnerstag gegen 7.15 Uhr ereig- das staatliche spanische „Instituto Geonete, war das schwerste in Frankreich seit gráfico Nacional“ an. Seit 1981 war die Seilbahn in Betrieb. fast 40 Jahren. Die Ursache war am Wochenende noch ungeklärt; die Staatsan- Sie wurde, weil kein öffentliches Transwaltschaft Grenoble leitete jedoch vor- portmittel, zwar nicht vom Verkehrsminisorglich ein Verfahren gegen Unbekannt sterium überwacht, dafür aber von denselben Fachleuten nach den „strengsten wegen fahrlässiger Tötung ein. Sicherheitsstandards der Frankreichs InnenmiBeim schwersten SeilbahnWelt“ gewartet, wie die nister Jean-Pierre CheA 41 unglück Frankreichs Pariser Regierung beteuvènement und ArbeitsmiFRANKREICH starben 20 Menschen. Auffällig ert. Erst im März war nisterin Martine Aubry die Anlage vollkommen hasteten per Helikopter sind die Parallelen zu Grenoble überholt worden. an den Katastrophenort – einem Absturz vor zehn Jahren. Sicher scheint einsteine Demonstration höchweilen nur: Die für den ie Katastrophe kündigte sich an mit sten staatlichen Interesses N 91 Transport von etwa sieschrillem Pfeifen, das zu einem me- an der Sicherheit dieser ben Tonnen Fracht kontallischen Kreischen schwoll. Etwa Transportmittel. Denn 10 km N 85 zipierte Gondel war mit 500 Meter nach Fahrtbeginn zum Gipfel nirgendwo in Europa gibt 20 Personen bei weitem des Pic de Bure glitt die Gondel der Draht- es so viele Drahtseilnicht überlastet. Auch ein seilbahn plötzlich wieder talwärts, rutsch- bahnen („téléphériques“) Kabelbruch scheidet als te immer schneller zurück und stürzte und Skilifte wie im TouUnglücksursache wohl Saint-Etienneen-Dévoluy aus; beide Tragseile und das Zugseil waren nach dem Unfall intakt. Der Arbeiter Cyril OdPic de Bure dou, der die Todesfahrt 2708 m verschlafen hatte, weil Gap sein Wecker nicht klingelN 75 te, berichtete allerdings von Reparaturarbeiten „noch am Vorabend“. Und der Rentner Aldo Oberti, von 1982 bis 1993 für die Wartung der Seilbahn verantwortlich, erinnert sich an chronische Probleme: Regelmäßig habe man Klammern austauschen müssen, mit denen die Kabine am Seil befestigt war. Obertis Nachfolger ist unter den Opfern. Möglicherweise, spekulieren Experten, sei die Halterung der von der Berner Carrosserie Gangloff AG gefertigten Kabine durch Blitzschlag, Kälte, Wind beschädigt gewesen, oder eine Sturmbö habe sie von den Tragseilen gehoben. Der Schluß liege Abgestürzte Gondel (mit Zugseil): „Strengste Sicherheitsstandards der Welt“ nahe, daß die Führungsrollen von den Tragschließlich 80 Meter in die Tiefe. Krachend rismusland Frankreich. 4038 mechanische seilen gesprungen seien – ähnlich wie zerbarst die Kabine auf den grünen Matten Gebirgsaufzüge beförderten voriges Jahr 1989, als in Vaujany im Departement Isère eine Touristengondel bei einer Probefahrt und Felsbrocken eines Gebirgstals nahe 673 Millionen Passagiere. Auch die betroffene Industrie reagierte mit acht Technikern an Bord aus 200 MeSaint-Etienne-en-Dévoluy in den französischen Alpen, 50 Kilometer südlich von sogleich: Seilbahnunglücke seien „selten ter Höhe abstürzte. Damals wurden schadhafte AufhänGrenoble. 20 Menschen lagen zerschmet- wie Flugzeugabstürze, wirken aber dramatisch“. Auf 2,7 Millionen Fahrgäste gungsvorrichtungen als Ursache ermittelt. tert zwischen den Trümmern. Für die Abgestürzten gab es keine Hilfe käme nur ein Unfall, beschwichtigte der Drei Mitarbeiter der Firma Pomagalski in mehr. Ärztliche und psychologische Be- Chef des nationalen Verbandes der Seil- Grenoble, verantwortlich für die Mängel, treuung brauchten indes die Mitglieder der bahnbetreiber, Jean-Charles Simiand, trotz erhielten je 18 Monate Gefängnis auf BeFreiwilligen Feuerwehr des 550-Seelen- steigender Zahl der Lifte erlitten nur etwa währung. Auch die jetzt verunglückte Bahn wurde von Pomagalski gebaut. Dorfes, die als erste an der Unglücksstelle 200 Menschen im Jahr Schaden. Derweil wird in Saint-Etienne-en-DévoDie gewaltige Katastrophenseilbahn – eintrafen und die Verstümmelten identifi3,9 Kilometer Länge, mehr als 1000 Me- luy weiter Ursachenforschung betrieben. zieren mußten. Alle Toten stammten aus der Gegend. Es ter Höhenunterschied, bis zu 300 Meter Gesehen hat den Absturz niemand, aber eiwaren Arbeiter, Techniker und fünf Wis- gähnender Abgrund unter den Gon- ner wird die Geräusche nie vergessen: Der senschaftler, unterwegs zu einem Obser- deln – diente ausschließlich dem priva- Angestellte Jean-Marc Passeron war im vatorium in 2552 Meter Höhe. Hundert ten Transport von Personal und Mate- letzten Augenlick nicht in die Kabine geMenschen arbeiten dort in Zwei-Tage- rial des „Institut de radio-astronomie stiegen, weil er noch Material holen mußSchichten und erforschen mit fünf Tele- millimétrique“. Das Iram wurde 1979 te. In der Talstation hörte er das schrille skopantennen das Werden und Sterben der vom französischen Forschungszentrum Kreischen, und als er „die Augen hob, war CNRS und der deutschen Max-Planck- da keine Gondel mehr“. Sterne. Lutz Krusche K ATA S T R O P H E N Rätselhafte Trümmer AFP / DPA D 138 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 AP Soldaten Georgiens, Aserbaidschans und der Ukraine im Manöver (bei Tiflis): Die Tür ins westliche Militärbündnis aufstoßen NAT O Enge Umarmung Die westliche Allianz sucht Kontakt zu den ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus und in Zentralasien. Rußland fürchtet einen neuen Militärblock – vor der eigenen Haustür. rium. Der Grund: Schewardnadses prowestliche und Nato-freundliche Außenpolitik, die seine Widersacher spätestens seit dem Kosovo-Krieg für Verrat halten. Der Konflikt auf dem Balkan hat die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die in der GUS organisiert sind, endgültig in zwei Lager geteilt: Rußland, Belorußland und Kasachstan sehen im Westen den selbsternannten Weltgendarmen, der keinerlei Rücksicht mehr auf Moskau nimmt. Einkreisung im Süden UKRAINE 50,5 Bevölkerung R U S S L A N D Millionen 346 000 Streitkräfte K A S A C H S T A N Mann TURKMENISTAN MOLDAWIEN GEORGIEN 4,2 Millionen 5,4 11 000 Millionen Mann ARMENIEN USBEKISTAN KIRGISIEN 4,2 23,7 4,5 Millionen Millionen Millionen 12 000 80 000 16 000 Mann Mann Mann 33 000 Mann TADSCHIKISTAN 7,7 S I PA P R E S S D PA ASERBAIDSCHAN Millionen 72 000 D PA TÜRKEI D PA D as Video, das vom georgischen Fernsehen am vorletzten MaiWochenende in den abendlichen Nachrichten ausgestrahlt wurde, zeigte ein tödliches Arsenal: Auf mehreren Tischen lagen wohlgeordnet automatische Feuerwaffen, dazu Scharfschützen- und Maschinengewehre, Eierhandgranaten und panzerbrechende Munition. Ein Spruchband im Hintergrund verkündete in krakeligem Georgisch: „Die Zukunft ist mit uns.“ Männer vom Staatssicherheitsdienst hatten die Aufnahmen gemacht. Sie seien besonders gefährlichen Verbrechern auf die Spur gekommen, teilten sie den Zuschauern mit – Verschwörern, die einen Anschlag auf Georgiens Präsident Eduard Schewardnadse, 71, vorbereitet hätten. Es war nicht das erste Komplott gegen den einstigen Gorbatschow-Vertrauten und früheren Sowjetaußenminister, der seit sieben Jahren in Tiflis regiert. Im August 1995 explodierte eine Autobombe, als der Präsident auf dem Weg ins Parlament war; Schewardnadse wurde nur leicht verletzt. Zweieinhalb Jahre später, beim nächsten Attentat, überlebte er dank seiner gepanzerten Mercedes-Limousine – der frühere deutsche Amtskollege Klaus Kinkel hatte sie ihm geschenkt. Bislang galten Bandenführer, die in der Bürgerkriegszeit zu Einfluß gekommen waren, als Drahtzieher solcher Anschläge. Diesmal aber führten die Ermittlungen auf eine andere Spur. Der Mordplan soll in den engsten Zirkeln der Macht ausgeheckt worden sein – im Stab der Sicherheitspolizei und im georgischen Verteidigungsministe- Andere GUS-Staaten haben das Vorgehen der Nato gegen Serben-Führer Milo∆eviƒ begrüßt, meist nicht ganz uneigennützig. Sie hoffen auf westliche Hilfe, um sich vom übermächtigen Nachbarn Rußland lösen zu können – neben der Ukraine und Moldawien gehören die Kaukasus-Staaten Georgien und Aserbaidschan zu dieser Gruppe und gleich drei der fünf zentralasiatischen Republiken: Usbekistan, Kirgisien und Turkmenistan. Moskau ist alarmiert. Rußlands südliche Anrainer würden von der Nato immer „enger umarmt“ und versuchten „hartnäckig, die Tür ins westliche Militärbündnis“ aufzustoßen, erregte sich die „Nesawissimaja gaseta“. Nato-Emissäre hätten in den letzten Wochen fast alle Hauptstädte der Nachbarstaaten besucht – vom georgischen Tiflis bis zum kirgisischen Bischkek. Russische Geostrategen sind davon überzeugt, daß unmittelbar vor der eigenen Mann Präsident der Ukraine Präsident Georgiens Präsident Aserbaidschans Präsident Usbekistans Leonid Kutschma Eduard Schewardnadse Gejdar Alijew Islam Karimow d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 139 Ausland lands entziehen“, bekräftigt der Staatschef. Seinem Sicherheitsrat befahl er zugleich, eine neue Militärkonzeption auszuarbeiten: Georgiens 33 000 Mann starke Armee wird modernisiert und auf Nato-Standard festgelegt. Verteidigungsminister David Tewsadse bestellte im Westen neue Waffen und schnelle Küstenschutzboote, Offiziere werden von Amerikanern und Deutschen geschult, Uniformen in England und der Türkei geschneidert. Georgischen Generälen, die sich noch der Tradition des sowjetischen Patriotismus verpflichtet fühlen, geht der Sinneswandel ihrer Führung zu weit. Einige von ihnen sollen sich mit Anhängern des nach Moskau geflüchteten früheren Staatssicherheitsministers Igor Giorgadse verbündet haben, dessen Vater in Tiflis die Kommunistische Einheitspartei führt. Angeblich steht diese Koalition hinter dem jetzt aufgedeckten Umsturzversuch. E. FERORELLI / AGENTUR FOCUS Haustür ein neuer Militärblock entstehen soll, auf den Moskau keinen Einfluß mehr hat. Wie ein Riegel würde er sich quer vor die Südflanke legen – vom Schwarzen Meer bis weit nach Asien hinein, mitten durch eine Region, die politisch instabil, aber reich an Erdöl und wichtigen Transportrouten ist. Damit würde die einstige Großmacht Rußland eingeschnürt und endgültig zum Papiertiger degradiert. Seit dem Nato-Gipfel Ende April in Washington sind das keine abstrakten Befürchtungen mehr. Am Rande der Feierlichkeiten zum 50. Gründungstag der Allianz waren die Präsidenten von vier GUS-Staaten mit Usbekistans Führer Islam Karimow zusammengekommen: Sie nahmen das mit 24 Millionen Einwohnern bedeutendste Land im früheren Sowjetisch-Mittelasien in jenen separaten Staatenbund auf, den sie vor einiger Zeit gegründet hatten. Der Pakt, nunmehr Ölfeld in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku: „Dem Einfluß Rußlands entziehen“ GUUAM genannt (für: Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan, Moldawien), will die Beziehungen zum Westen ausbauen. Karimow hatte vorher den Austritt seines Landes aus dem von Rußland dominierten GUS-Verteidigungsbündnis angekündigt, das die Mitgliedstaaten im Fall eines militärischen Konflikts zu gegenseitigem Beistand verpflichtet. Schewardnadse tat es ihm kurz darauf nach. Enge Beziehungen zur Nato seien künftig „die wichtigste Garantie für Stabilität im Kaukasus“, versicherte er einer aus Brüssel angereisten Militärdelegation. Noch in diesem Jahr sollen an der Grenze zum Nato-Nachbarn Türkei georgische Wachen aufziehen – bislang sind dort Russen auf Posten. Gleichzeitig will Schewardnadse zwei der drei Stützpunkte schließen, die Moskau noch in Georgien unterhält, mit 9000 Soldaten und 140 Panzern. „Wir müssen uns dem Einfluß Ruß140 Noch schlechtere Karten hat Moskau im benachbarten Aserbaidschan. Staatschef Gejdar Alijew, 76, wie Schewardnadse einst in Moskau kommunistischer Spitzenfunktionär, setzt schon seit langem ausschließlich auf den Westen, er strebt eine vollwertige Nato-Mitgliedschaft an. Seine Herzoperation ließ der zum Nationalisten gewandelte Ex-Genosse im amerikanischen Cleveland vornehmen, bis vor kurzem erholte er sich in der Türkei. Alijew unterstützte den Luftkrieg gegen Serbien und bot Soldaten für die NatoFriedenstruppe an. Das werde in Washington „nicht ohne Aufmerksamkeit bleiben“, versicherte US-Botschafter Stanley Escudero dem Parlament in Baku. Angeblich erwägen die Amerikaner, in einem ersten Schritt der Annäherung ihren Luftwaffenstützpunkt vom türkischen Incirlik ans Kaspische Meer zu verlegen. Aserische Politiker hoffen zudem, die westliche Allianz d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 könne bei der Rückgewinnung der Provinz Berg-Karabach behilflich sein, die 1992 an Armenien verlorenging – durch die Stationierung einer Nato-Truppe à la Kosovo. Sie sehen sich ermutigt durch den stellvertretenden Nato-Generalsekretär KlausPeter Klaiber, der jüngst in Baku von einer „außerordentlich wichtigen Rolle der Region in der künftigen globalen Sicherheitsarchitektur“ sprach. Zum Gipfel der GUS-Verteidigungsminister Ende Mai im armenischen Eriwan schickte Aserbaidschan gar keinen Vertreter mehr, aus Tiflis reiste lediglich ein „Beobachter“ an. Armenien, seit dem Karabach-Krieg erbitterter Gegner Aserbaidschans, ist Moskaus letzter Verbündeter im Kaukasus. Um an der Grenze zur Nato überhaupt noch Flagge zu zeigen, bauen die Russen ihre militärische Präsenz dort aus. Sie verlegen MiG-29-Kampfjets sowie modernisierte Abwehrraketen in den Süden und integrierten die Kaukasus-Republik in ihr Luftverteidigungssystem. Doch selbst in Eriwan können sich Moskaus Militärs nicht sicher fühlen. Die armenische Nationaldemokratische Union griff auf einer Kundgebung den eigenen Präsidenten an – er habe das Land zu einseitig an Rußland gebunden. „Die USA fördern in Armenien die prowestliche Opposition“, beklagte sich daraufhin eine Moskauer Zeitung. Auch 1500 Kilometer weiter östlich, in Zentralasien, faßt die Nato Fuß. Usbekistan rüstet konsequent auf amerikanische Technik um – zum Leidwesen der russischen Waffenindustrie. Offiziere der 80 000 Mann starken Armee besuchen US-Akademien, und als jüngst der Chef der amerikanischen Streitkräfte im Nahen Osten, General Anthony Zinni, Usbekistan und das benachbarte Kirgisien bereiste, hieß es schon, die USA würden in Kürze Stützpunkte in Zentralasien errichten – vorerst wurde die Nachricht dementiert. Selbst in Turkmenistan, das lange einen Neutralitätskurs verfolgte, ist den Amerikanern der Einbruch gelungen: Staatsführer Saparmurad Nijasow will demnächst ein Kooperationsabkommen mit der Nato unterzeichnen. Den Vertrag mit Rußland über den gemeinsamen Grenzschutz hat er bereits einseitig gekündigt – von November an sollen Turkmenen die Übergänge nach Iran und Afghanistan schützen. Da steht für die Moskauer „Nesawissimaja gaseta“ zweifelsfrei fest: Nach dem Kosovo-Konflikt werde sich die Nato verstärkt im Kaukasus und in Zentralasien engagieren – ganz im Sinne des früheren US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski, der den Süden der ehemaligen Sowjetunion für eine Art „globalen Balkan“ und eine Zone „unseres nationalen Interesses“ hält. Regionale Konflikte und mithin Vorwände zum Eingreifen, warnt das Blatt, „gibt es bei uns ja auch wirklich genug“. Christian Neef „Der letzte Prozeß“ F. HORVAR / SABA In Zagreb steht ein Kommandant des faschistischen Konzentrationslagers Jasenovac vor Gericht. Die Anklage macht Dinko akiƒ für den Tod Tausender Häftlinge verantwortlich. Angeklagter akiƒ (M.): „Ich bin stolz auf das, was ich getan habe“ D er ältere Herr ist um Würde bemüht. Er hat sich eine Krawatte und Seidenhemden bringen lassen und hält Diät. Sein Haar müßte schlohweiß sein, wenn das Tönungsmittel ihm nicht einen rötlich-braunen Schimmer verleihen würde. Er trägt auch im Gefängnis blankgeputzte Schuhe und erscheint vor Gericht im gebügelten Sakko. Für einen Verbrecher hält er sich nicht; er glaubt, er sei ein Patriot. Für ∏edo Prodanoviƒ ist dieser gepflegte Greis „eine jämmerliche Kreatur“ und „kranke Person“. Ein „harmloser, gebrechlicher Mann“ mit Blasenschwäche, derentwegen die Verhandlung ständig unterbrochen werden muß. Ein Mann ohne Macht, der verzweifelt um Contenance ringt und der doch verurteilt gehört für das, was er vor einem halben Jahrhundert angerichtet hat. Im großen Saal des Zagreber Bezirksgerichts sitzen sich die beiden gegenüber. Prodanoviƒ als Nebenkläger neben dem Staatsanwalt, Dinko akiƒ als Angeklagter, eingerahmt von zwei Polizisten. Der Staatsanwalt hat akiƒ, 77, als Massenmörder angeklagt, der für den Tod von mehreren tausend Menschen verantwortlich sei. Der schuldig sei, daß Menschen an Hunger und Seuchen krepierten, gefoltert wurden und totgeprügelt, aufgeknüpft oder erschossen. akiƒ war ein halbes Jahr lang, von April bis Oktober 1944, Kommandant des Konzentrationslagers Jasenovac – jenes Schlachthofs des faschistischen UstaschaRegimes in Kroatien, in dem zwischen 1941 und 1945 mindestens 80 000 Menschen umgebracht wurden. Ein „Auschwitz des Balkans“ war Jasenovac nicht – hier wurde nicht industriell gemordet. In Jasenovac wurde Menschen der Schädel eingeschlagen, sie wurden aufgeschlitzt und bei lebendigem Leib verbrannt, weil sie Juden waren oder Serben oder kroatische Partisanen. akiƒ hört aufmerksam zu, als die Anklageschrift verlesen wird. Zweimal grinst er unbeholfen: Als ein Häftling sich erinnert, daß der Lagerkommandant es genossen habe, „in gutgeschnittener Uniform“ vor den Internierten zu „paradieren: adrett und geschniegelt“. Und als ein Augenzeuge schildert, wie akiƒ den Häftling Mile Bo∆koviƒ ermordet haben soll. Bo∆koviƒ, ein junger montenegrinischer Arzt und Mitglied der kommunisti- KZ-Opfer in Jasenovac (1945): Schlachthof der Ustascha d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 141 SIPA PRESS K R OAT I E N schen Partei, sollte mit 20 anderen Häftlingen wegen eines geplanten Fluchtversuchs gehenkt werden. Unter dem Galgen bat er, erschossen zu werden. „Doktor“, soll akiƒ laut Anklage gesagt haben, „ich respektiere Sie als Experten und als Menschen, und darum soll Ihnen die Ehre zuteil werden, nicht gehängt, sondern von mir persönlich erschossen zu werden.“ Dann „zog er seine Pistole und feuerte drei Schüsse auf Bo∆koviƒ ab, der auf den Rücken fiel“. „Ich bin stolz auf das, was ich getan habe“, hat akiƒ der Journalistin Aleksa Crnjakoviƒ erzählt. „Ich muß mich nicht schämen.“ Und dann hat er gejammert, irgend jemand habe schließlich „diese undankbare Aufgabe übernehmen müssen“. Und: „Wenn ich heute die Chance hätte, die gleiche Arbeit noch einmal zu übernehmen, würde ich nicht zögern.“ akiƒ war 19 Jahre alt, als am 10. April 1941 nach dem Einmarsch deutscher Truppen der „Poglavnik“ (Führer) Ante Paveliƒ den „Unabhängigen Staat Kroatien“ ausrief. Ein Marionettenregime von Hitlers und Mussolinis Gnaden, ausgestattet mit dem Segen katholischer Würdenträger. „Daß Gott hier selbst eingegriffen hat, ist offenbar“, verkündete der Erzbischof von Zagreb, Alojzije Stepinac, in einem Hirtenbrief. „Die ganze zivilisierte Welt kämpft gegen die Gefahren des Kommunismus.“ Daß das faschistische Ustascha-Regime die Erfüllung einer 900jährigen kroatischen Sehnsucht nach einem eigenen Staat war, davon ist Dinko akiƒ noch immer überzeugt. „Wir haben für unser Vaterland gekämpft. Ohne den ‚Unabhängigen Staat Kroatien‘ gäbe es auch das heutige Kroatien nicht.“ Mit dieser Ansicht steht akiƒ nicht allein: Nach dem 3:0-Sieg ihrer Fußballmannschaft gegen die Deutschen bei der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich zogen Jugendliche grölend über den Zagreber Jela‡iƒ-Platz und skandierten „Dinko akiƒ“; in Zagreb war eine Straße zeitweilig nach dem Ustascha-Führer Mile Budak benannt worden; Erzbischof Stepinac Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland Zeuge Klaiƒ*: Vor der Aussage gewarnt wurde vergangenen Herbst von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen. Am Tag des Prozeßauftakts verkündete schließlich Marijan Ramu∆ƒak, Präsident des obersten Gerichtshofs Kroatiens, die Partisanen hätten nach dem Krieg „schlimmere Verbrechen begangen“ als die Faschisten zuvor. Kein Wunder, daß akiƒ im RemetinecGefängnis mit seinem Schicksal hadert. „Er fühlt sich absolut unschuldig“, sagt sein Verteidiger Ivan Kern, 61. Kern bezeichnet sich als Antifaschisten und wurde dem angeblich mittellosen akiƒ als Pflichtverteidiger zur Seite gestellt. In den Nachkriegswirren schlug sich akiƒ mit Ustascha-Führer Paveliƒ in die Alpen durch, ehe er 1947 mit seiner Frau in Genua ein Schiff nach Argentinien bestieg. In der Nähe von Buenos Aires ließ sich das Paar nieder: Aus dem Schlächter Dinko akiƒ wurde der Textilhändler Ljubomir Bilanoviƒ. Lange Zeit ging alles gut, dann wurde akiƒ Opfer seiner Eitelkeit. Anfang der neunziger Jahre erschien er auf einem Veteranentreffen in Ustascha-Uniform. Im Fernsehen brüstete er sich mit seinen Taten. Doch erst im vorigen Jahr beantragte die kroatische Regierung auf internationalen Druck die Auslieferung Dinko akiƒs und später auch die seiner Frau Nada. „Darüber war akiƒ sehr erstaunt“, sagt ∏edo Prodanoviƒ. „Er glaubte tatsächlich, in Kroatien als Held empfangen zu werden.“ Das Verfahren gegen Nada akiƒ, die das Frauenlager Stara Gradi∆ka beaufsichtigt hatte, wurde eingestellt. Obwohl sie ihren Mann an Grausamkeiten bisweilen noch übertroffen haben soll, teilte die Staatsanwaltschaft im Februar mit, die Beweise gegen sie reichten nicht aus. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Jasenovac erinnert eine monumentale Betonrose an die Toten. Modrige Holzbohlen führen über das sumpfige Gelände an der Save. Bosnien ist nur 200 Meter entfernt. Vereinzelt sind die * Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Jasenovac. 144 GAMMA / STUDIO X F. HORVAT / SABA Balken, die zur Gedenkstätte führen, von Granattreffern aus dem Bosnienkrieg aufgerissen. Erst kürzlich haben kroatische Experten von Serben gelegte Minen entschärft. Nun kommt auch imo Klaiƒ wieder nach Jasenovac und legt Kränze für die ermordeten Kameraden nieder. 16 Jahre war der Kroate alt, als die Ustaschen ihn ins Lager steckten. An akiƒ kann er sich gut erinnern: wie der „in seinen glänzenden Stiefeln umherstolzierte“, an dessen Jähzorn, an die Angst, die alle Häftlinge vor ihm hatten. Ein Prahlhans in Uniform, der stolz herumerzählte, wie er den Schriftsteller Mihovil Mi∆kina erstochen hatte. „Wenn wir akiƒ nur sahen, gingen wir in Deckung.“ Klaiƒ hat vor dem Gericht in Zagreb gegen seinen einstigen Peiniger ausgesagt – auch wenn er zuvor deutlich gewarnt worden ist: „Ein Kroate belastet nicht einen anderen Kroaten.“ Neben seinem Wohnhaus in Zagreb hat jemand Ustascha-Parolen geschmiert. „Das ist normal in Kroatien“, sagt Klaiƒ und zuckt die Achseln. „Es ist paradox“, klagt Efraim Zuroff, Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem. „Franjo Tudjman hat damals KZ-Kommandant akiƒ, Ehefrau (um 1944) Tyrann mit dem Knabengesicht d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 gegen die Nazis als General der Partisanen gekämpft. Und heute ist er dafür verantwortlich, daß das Ustascha-Regime verherrlicht wird.“ Der kroatische Präsident scheut auch vor Treffen mit Veteranen des Faschistenstaats nicht zurück. Zuroff weiß: „Dies ist der letzte große Prozeß gegen einen KZ-Kommandanten. Es ist enorm wichtig, daß die Verhandlung in Kroatien selbst stattfindet. Das Land braucht einen Weckruf.“ Auch in Israel hat Zuroff recherchiert und Kontakt zu Überlebenden des Lagers aufgenommen. Einer derjenigen, die jetzt in Zagreb ausgesagt haben, ist Zdenko Schwartz. Er könnte für die Urteilsfindung einer der wichtigsten Zeugen werden. 44 lange Monate war Schwartz, 85, damals in Jasenovac und anderen Lagern. Er erinnert sich noch gut an das, was er „Schlachten“ nennt, beispielsweise an einen Mitgefangenen, der in „einem Kessel, der für Wäsche gedacht war, bei lebendigem Leib gekocht wurde“. Und er erinnert sich an akiƒ. „Sie hatten einen Wettbewerb: Wer schlachtet die meisten Menschen?“ erzählt Schwartz, der seit 1948 in Israel lebt. „Dann zogen sie mit Messern und Äxten umher und mordeten.“ Ein anderes „Spiel“ nannten sie „Jagd“. Eine Gruppe von Häftlingen, darunter Schwartz selbst, habe sich zur Belustigung ihrer Ustascha-Bewacher auf einem Platz aufstellen und im Kreis laufen müssen. Im ersten Stock der Kommandantur hätten sich akiƒ und drei weitere Ustaschen versammelt und mit Karabinern und Pistolen auf die Häftlinge geschossen. Nie werde er diesen Anblick vergessen. akiƒ, dieser Tyrann mit Knabengesicht, hinter dem offenen Fenster der Kommandantur. Das Gewehr auf die in panischer Angst im Kreis laufenden Gefangenen gerichtet. Doch trotz der Greueltaten – akiƒs Verteidiger Ivan Kern hält einen Freispruch seines Mandanten für möglich. „Ich würde nie das Ustascha-System verteidigen“, sagt der Advokat. „Aber alle Taten müssen meinem Mandanten einwandfrei nachgewiesen werden.“ Und das könnte schwierig werden. Schriftliche Dokumente gibt es kaum, und die Zeugen sind so alt, daß auf ihre Schilderungen der Vergangenheit nicht unbedingt Verlaß ist. Staatsanwalt Radovan antek ist überzeugt, daß akiƒ verurteilt wird. Seine Anklageschrift hält er für „gut begründet“, in der Zeit von April bis Oktober 1944 seien nachweislich mindestens „2401 Personen“ in Jasenovac ums Leben gekommen. Dafür sei akiƒ, der in seinem Schlußwort am vorigen Dienstag behauptete, Jasenovac sei zwar „kein Sanatorium, aber auch keine Folterkammer“ gewesen, als Lagerkommandant verantwortlich. Der greise Dinko akiƒ hört sich die Vorhaltung des Staatsanwalts mit unbewegter Miene an. Dann steht er auf und verkündet, er fühle sich „nicht schuldig. Mein Gewissen ist rein“. Thilo Thielke ACTION PRESS Videoübertragung des Papst-Besuchs in Mexiko: „Alles rein für die Reinen“ VA T I K A N Bedürfnisse des Herzens Papst Johannes Paul II. geißelt die Konsumbesessenheit der kapitalistischen Gesellschaft. Dabei scheffelt der Vatikan Millionen mit moderner Vermarktung. D ie Verkäuferin preist die Ware in routiniertem Italo-Englisch an. „Eine sehr günstige Gelegenheit, sehen Sie selbst“, sagt sie und dreht das Preisschildchen um. Da staunt das Touristenehepaar aus Amerika. Der goldschimmernde Ring, vorn noch mit 230 000 Lire ausgeschrieben, kostet auf der Rückseite schon 400 000. „Ja“, raunt die Schwarzhaarige verschwörerisch, „alles wird hier viel, viel teurer. Das Heilige Jahr 2000, wissen Sie, da gehen die Preise gewaltig hoch.“ Angetan von dem vermeintlichen Schnäppchen, zückt der Amerikaner die Visacard. Tausende von Besuchern packen im Kirchenstaat tagtäglich Kreditkarten und Scheine aus, denn der „Museumsshop“ des Vatikans, gleich neben der Sixtinischen Kapelle unter den Stanzen des Raffael, hat mit über tausend Artikeln auch für verwöhnte Kunden Ausgefallenes im Angebot: Halsketten mit Skarabäus (4500 Mark) oder mit Raffael-Grotesken (6500 Mark), bestickte Sofakissen (200 Mark), Kugelschreiber aus der Serie „Vatican Museums Collection Pen“ oder eine Michelangelo-Pietà in Gips, 41 Zentimeter groß und knapp 600 Mark teuer – ein gelungenes Beispiel für vatikanisches Merchandising. Die westliche „Kultur des Habens“, die „degenerierten Auswirkungen des Kapitalismus“ prangert Johannes Paul II. gern als Ursache für Ungerechtigkeit und Hunger in der Welt an. Während die einen existentielle Not litten, zürnt der Papst in schöner Regelmäßigkeit, frönten die anderen einer oberflächlichen „Konsumkultur“, wo doch weltliche Güter nie „die Bedürfnisse des Herzens“ befriedigten. Doch der Geldbedarf im Vatikan ist jetzt besonders groß. Sorgenvoll blicken die Kämmerer der Kurie dem Heiligen Jahr entgegen. Das religiöse Großereignis zwingt zu außerordentlichen Ausgaben; da gilt es, rechtzeitig vorzusorgen, um die Bilanzen im Lot zu halten – auch mit ungewöhnlichen Methoden. Gegen die vatikanischen Glaubensartikel nimmt sich das Fan-Sortiment des FC Bayern München geradezu Papst-CD dürftig aus: Der päpstliche Museumsshop ist das finale Kaufparadies für religiösen Kitsch. Bei den Devotionalienhändlern im Vatikanstaat hat das Jubeljahr 2000 längst begonnen: Öl, Wein, Kaffee, aufgewertet durch die Embleme des Heiligen Jahres, aber auch Brillen und Briefmarken, Uhren, Pfeifen und Brot werden an die Gläubigen gebracht. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Der letzte Schrei der Branche ist der „Rosenkranz des Dritten Jahrtausends“: 59 Kügelchen sind nicht mehr auf eine Schnur gereiht wie bei der Gebetskette, sondern rundum auf einen Träger im Telefonkartenformat gestanzt, je nach Geschmack und Geldbeutel aus Messing, Kupfer, Silber oder Gold. Auch der Papst habe schon eine Rosenkranz-Card, sagt der Hersteller, ein Mailänder Juwelier. Geschenkt natürlich, eine Sonderanfertigung mit Diamanten. Doch auch jenseits des augenfälligen Rummels ist die Symbiose von Kirche und Kapitalismus weit fortgeschritten. Sponsoring heißt das Codewort und meint ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Kapitalkräftige, oft international operierende Konzerne finanzieren Reisen des Papstes, die Restauration vatikanischer Kunst oder die Renovierung apostolischer Immobilien und dürfen dafür mit ihrer milden Gabe Werbung treiben. Da kommt allerhand zusammen. Zwölf Millionen Dollar zahlte etwa Nippon Television Network für die Restaurierung der Sixtinischen Kapelle und legte noch drei Millionen für die Museumsverwaltung obendrauf. Dafür durfte der Tokioter Fernsehsender die Werke der Kirchenkunst bis 1997 exklusiv vermarkten. Fünf Millionen Dollar für die PetersdomFassade spendierte der italienische Öl- und Gaskonzern Eni; mit zwei Millionen beteiligt sich der Stromerzeuger Enel an den Kosten für Beleuchtung und Belüftung der Nekropole unter Sankt Peter. Einen sechsstelligen D-Mark-Betrag war es dem schwäbischen Hersteller von Reinigungsmaschinen, Alfred Kärcher, wert, die 284 Säulen der Kolonnaden des Petersplatzes säubern zu lassen. Polaroid steht auf der Sponsorenliste des Vatikans, ebenso wie Telecom Italia, Citroën, Osram und Siemens. Und auch der Stuttgarter Daimler-Konzern weiß es zu schätzen, wenn der Heilige Vater Mercedes fährt. Die in aller Welt bekannten „Papamobile“ – umgebaute Geländewagen mit gläsernem Aufsatz – werden dem Papst selbstverständlich unentgeltlich überlassen. Die römische Zentralverwaltung der Weltkirche, zu der über eine Milliarde Menschen gehören, stellte mit ihren 2560 Beschäftigten an Effizienz und Motivation „die meisten Verwaltungsorganisationen der Erde in den Schatten“, urteilt der Bonner Wirtschaftshistoriker Hartmut Benz, Spezialist für das Finanzgebaren des Vatikans. Zur hohen Kunst gehört auch die Findigkeit beim Erschließen neuer Geldquellen. Eine Reihe kurialer Abteilungen pflegt Kontakte zu speziellen Förder- und Freundeskreisen, vor allem in den USA, die rund um die Welt Spenden für den Vatikan sam145 meln. Auch einen Großteil der Kosten für Karol Wojtylas apostolische Weltenbummelei tragen inzwischen Sponsoren in den besuchten Ländern. In Mexiko, dem bisherigen Höhepunkt der Vermarktung eines Papst-Besuchs, half Anfang des Jahres ein Pool von 25 offiziellen Geldgebern aus. Im Gegenzug durften die Firmen für ihre Handys, ihr Wasser oder ihre Cola-Dosen mit päpstlichen Motiven werben. Ein Hersteller von Kartoffelchips, Sabritas, hatte eine besonders hübsche Idee: Die Käufer seiner Knabbereien fanden zehn Sticker mit dem Foto von Johannes Paul II. und ein Bild der Jungfrau von Guadalupe in den Tüten. Dazu verkaufte Sabritas Sammelalben für die Sticker. Vom Verkaufserlös sollten 200000 Dollar für den Papst-Besuch verwandt werden. Viele Katholiken empfinden Unbehagen über die Allianz von Glauben und Kommerz. Darf sich ihr geistliches Oberhaupt von multinationalen Konzernen aushalten lassen? Und wie paßt die wertkonservative Zeitgeist-Kritik des Papstes mit dem unbekümmerten Surfen des Vatikans auf den Zeitgeist-Werbewellen zusammen? Theologisch-spitz fertigte der Erzbischof von Mexiko-Stadt, Kardinal Norberto Rivera, Kritiker ab: „Alles ist rein für die Reinen.“ Nicht nur Weltkonzerne, auch private Unternehmer kommen ins Geschäft mit dem Heiligen Stuhl. Ende 1996 zum Beispiel gründete der amerikanische CasinoBetreiber John J. Connelly eine Firma, die in den USA, Spanien und Österreich Repliken vatikanischer Kunstobjekte anbietet. Mit fünf Prozent der Verkaufsgewinne partizipiert die Museumsleitung, weitere fünf Prozent fließen in den Bau eines 132 Zimmer großen Gästehauses für den Vatikanstaat, 90 Prozent darf Connelly behalten. Ein prima Deal für beide Seiten. Zehn Prozent verspricht sich die römische Katholikenzentrale auch von einem 200-Millionen-Mark-Geschäft mit Sweatund T-Shirts, Overalls und Kaschmirpullovern. Daß es aber im Kapitalismus nicht immer ganz sauber zugeht, erleben die Chefkatholiken in Rom derzeit bei einem anderen Geschäft – das nun lange nicht so profitabel ausfällt wie gedacht. Ausschnitte aus päpstlichen Messen und anderen Auftritten wurden vor ein paar Wochen, musikalisch unterlegt, zu einer CD gemixt. Titel: „Abbà Pater“. Damit die Profis des japanischen Medienkonzerns Sony im höchsten Auftrag die Startauflage von einer Million auch zügig unter die Leute bringen können, werden die päpstlichen Songs markt- und szenegerecht per Videoclip beworben. Bis zu 20 Millionen Stück, so die Kalkulation der Vatikan-Manager, ließen sich von dem frommen Gesang verkaufen. Doch die Papst-Musik wurde binnen kurzem zum Top-Produkt der illegalen Raubkopierer in Palermo, Neapel und San Marino. Hans-Jürgen Schlamp d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Ausland RUSSLAND Wodka im Wasser In der erdrückenden Hitzewelle erfrischt ein Bad im Freien. Aber: 142 Moskauer Einwohner kamen dabei seit Mai ums Leben. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 P. KASSIN AP F rüher war alles besser. „Das Klima Moskaus ist unstreitig eines der gesündesten“, notierte im 18. Jahrhundert der deutsche Hauslehrer Johann Gottfried Richter. Sein Kollege Georg Reinbeck fand bald darauf die Sommermorgen dort „gemeiniglich frisch, die Hitze bei Tage oft drückend“. Beide Ostland-Fahrer hatten das typische Kontinentalklima erlebt: stabile Wetterperioden mit langen kalten Wintern und Jugendliche in Moskau: Flucht vor der Glut kurzen heißen Sommern. Doch nun hält die schlimmste Hitzewelle seit Stalins Todesjahr 1953 das Land im Griff. Seit über vier Wochen wölbt sich vom Finnischen Meerbusen bis zum Kaukasus ein gigantisches Hoch mit Dauertemperaturen um 30 Grad, kaum nächtlicher Abkühlung und aufgeheizten Luftschichten bis in zehn Kilometer Höhe. Von Archangelsk bis hinunter in die Steppen brennen die Wälder, und es ist noch nicht einmal Halbzeit der heißen Saison. Die Badende in der Moskwa: Schnaps und Strand Meteorologen befürchten einen Temperaturanstieg im Juli bis auf 40 der neuchristliche Oberbürgermeister Jurij Grad, ohne nennenswerte Niederschläge. Luschkow die Erlöserkirche wieder bauIn chronisch überfüllten Haftanstalten, en, welche dort 1931 geschleift worden war. etwa in St. Petersburg, sterben zwei HäftSo bleiben den Moskowitern auf der linge pro Tag an Herzversagen. Für die Flucht vor der Glut nur die stadtnahen Ge10 000 Insassen der Gefängnisse – die ei- wässer, von denen für die Zehn-Millionengentlich nur gut 3000 Platz bieten – reicht Metropole indes nur 17 als Badestellen ausdie Frischluft nicht, unbarmherzig brennt gewiesen und mit Rettungsstationen ausdie Sonne auf die Blechdächer. gestattet sind. Zu Zarenzeiten, als kaum In manchen Regionen verdorrt das Ge- ein Fünftel der heutigen Bevölkerung um treide auf dem Halm. Moskauer Agrar- den Kreml an der Moskwa siedelte, gab es bürokraten prüfen schon die Chancen für mehr als fünfmal so viele Orte öffentlichen US-Hilfe: Die Dürre könnte den Ernte- Plansch- und Schwimmvergnügens. ertrag unter 65 Millionen Tonnen drücken Verbotsschilder, mal mit schlechten sa– zuwenig für die Selbstversorgung. nitären Verhältnissen, mal mit tückischen Rund um Moskau geraten die Moore, in Wasserströmungen begründet, verlieren der Stadt selbst die Torfböden der Parks bei steigenden Temperaturen jede abdurch Selbstentzündung in Brand. Die zwi- schreckende Wirkung. Wo immer sich ein schen Beton und Asphalt gegrillten Haupt- Gewässer findet, wird nach Feierabend gestädter suchen verzweifelt Rettung am und badet und auch gleich das Bier oder der im Wasser, wo immer sie welches finden. Wodka vor Siedehitze bewahrt. Denn ohne Abkühlung bieten Teiche, Seen, Tümpel, geselligen Umtrunk und Imbiß, am liebnicht selten auch der abwässerverseuchte sten am offenen Feuer bereitet, gilt vielen Moskwa-Fluß. Denn Moskaus einziges Russen jede auch nur kurzzeitige Begroßes Freibad ist verschwunden: Es be- rührung mit der Natur als mißlungen. fand sich einst in der Baugrube des nie erDas hat fatale Folgen: In Moskau wurrichteten Palasts der Sowjets. Am Ort der den seit Mai dieses Jahres bereits 142 Wasauch winters genutzten Badeanstalt ließ serleichen geborgen, mehr als jede zweite von ihnen mit der lakonischen Feststellung im Polizeibericht: „Ertrunken in stark alkoholisiertem Zustand.“ Dabei wird die Zecherei von Amts wegen oft gnädig unterschlagen, um die Hinterbliebenen nicht um das Bestattungsgeld zu bringen, das bei normalen Unglücksfällen gezahlt wird. Rettungsschwimmer Pawel, 40, der den Moskwa-Strand am Silberwäldchen mit scharfem Blick und ohne funktionierendes Motorboot sichert: „Wer bei uns ertrinkt oder gerade noch in letzter Sekunde rausgeholt wird, ist besoffen – außer den Kindern.“ Kinder sind, wie Frauen, nur zu drei Prozent an den tödlichen Badeunfällen in Moskau beteiligt. Ihre Gefährdung nimmt allerdings zu, weil der Schwimmunterricht in russischen Schulen seit zehn Jahren vernachlässigt wird oder ausfällt: Nahmen 1989 noch fast alle Moskauer Grundschulen an einem Kurs teil, so tut dies heute nicht einmal mehr jede zweite. Ausgebildete Retter fehlen, sie sind technisch dürftig ausgerüstet und nur mit 700 Rubel im Monat (knapp 60 Mark) bezahlt. Bei einem 14jährigen, den jüngst ein Strudel in die Tiefe zog, kam die Hilfe nach zehn Minuten. Viel zu spät, sagt Pawel, in dessen Abschnitt das Unglück geschah. Wer bei der Sonnenhitze „Schnaps und Strand nicht trennen kann“, warnt Igor Koltunow vom Zentrum für prophylaktische Medizin, setzt sich mit jedem Schritt ins Wasser höherem Herzschlag-Risiko aus. Jetzt beginnen die Ferien. Gennadij Derjugin, Leiter einer Rettungsgesellschaft mit 17 Einsatzbrigaden, graut es vor den „unkontrollierbaren Strömen“ Erholungsuchender. Derjugin hat gelernt, daß seine Landsleute ihren Erfrischungsdrang nicht bremsen können: „Wo Wasser ist, geht der Russe baden.“ Mit Wodka oft für immer. Jörg R. Mettke 147 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Sport SPIEGEL-GESPRÄCH „Mama, ich bin ein mutiger Mann“ Der ukrainische Schwergewichtsweltmeister Witalij Klitschko über seine Angst im Ring, Muhammad Ali und Sportler in den Fängen der Mafia SPIEGEL: Herr Klitschko, Sie sehen gut aus Klitschko: Die Frage ist: wovor? Wer Angst davor hat, sich seinem Gegner zu stellen, der sollte besser zu Hause bleiben. Ich hatte eine viel schlimmere Angst. Es war die Angst, gegen Hide zu verlieren. Was wäre mir in dem Fall übriggeblieben? Wieder um die Europameisterschaft boxen? Das wären zehn Schritte zurück gewesen. Außerdem hatte ich in der Ukraine ein Versprechen gegeben: Ich bringe euch den Weltmeistergürtel nach Kiew. SPIEGEL: 200 000 Menschen haben den Kampf in Ihrer Heimatstadt auf einer Großbildleinwand verfolgt, Staatspräsident Leonid Kutschma hat Ihnen vergangene Woche einen Staatsempfang bereitet. Empfinden Sie eine patriotische Verantwortung? Klitschko: Patriot ist mir ein zu großes Wort. Ich will nur meinem Land helfen. SPIEGEL: Einer Ihrer Vorgänger, Muhammad Ali, hat gegen den Vietnamkrieg protestiert; ein aktueller Weltmeister, Evander Holyfield, predigt in der Kirche. Wie lautet denn Ihre Mission? Klitschko: Vergleichen Sie mich bitte nicht mit Ali, der einer der größten Menschen der Zeitgeschichte ist, ein überragendes Vorbild. Aber ich finde es in Ordnung, wenn mir nachgesagt wird, ich machte unser Land bekannter. Die Ukraine selbst schafft das nicht. Nach dem Ende der Sowjetunion ist wirtschaftlich und gesellschaftlich vieles noch mal bergab gegangen. Der Sport ist eine der wenigen Chancen, die Ukraine positiv in die Köpfe der Menschen zu bringen. Dem Stabhochspringer Sergej Bubka ist das auch gelungen. SPIEGEL: Mit Public Relations allein wird sich wenig ändern. Klitschko: Deshalb versuchen wir, Kontakte herzustellen, etwa zwischen deutschen Geschäftsleuten und Ukrainern. Unser Land hat ein unvorstellbares Potential, die Menschen wollen arbeiten. Mir tut mein Herz weh, wenn ich höre, daß bei Sieger Klitschko: „Amerika muß mein Ziel sein“ EMPICS – wenn man bedenkt, daß Sie vor wenigen Tagen gegen den Briten Herbie Hide um die Weltmeisterschaft gekämpft haben. Kein blauer Fleck, keine Schramme. Klitschko: Danke für das Kompliment, aber in 4 Minuten und 14 Sekunden konnte nicht soviel passieren. SPIEGEL: Bei Ihrem Gegner schon. Er ging k. o. – dabei standen die Wetten 4 : 1 gegen Sie. Wann wußten Sie, daß Sie den Titelverteidiger entthronen können? Klitschko: Als er in den Ring stieg, wußte ich es. SPIEGEL: Was hat Sie denn so sicher gemacht? Klitschko: Ich kann in den Augen meines Gegners lesen, wie hart der Kampf wird. Natürlich gibt es immer einen Rest an Ungewißheit, weil im Schwergewicht ein einziger Schlag entscheiden kann. Aber ich sah Hide an, daß er nervös war, nicht sehr selbstbewußt. Er hatte den Kampf schon vor der ersten Runde verloren. SPIEGEL: Sie selbst hatten keine Angst? 150 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Profiboxer Klitschko nach seinem K.-o.-Treffer uns Menschen verhungern. Oder wenn ich sehe, wie der Sport zugrunde geht. Ich habe zuletzt meine alte Sportschule besucht – da stehen dieselben Geräte herum wie vor 15 Jahren. Wir haben deshalb unsere politischen Kontakte genutzt und einen Fonds gegründet, der jungen Athleten unter die Arme greifen soll. SPIEGEL: Die meisten Profiboxer kommen aus unteren Schichten und nutzen den Sport zum sozialen Aufstieg. Wie kommt der Sohn eines sowjetischen Luftwaffenoberst zum Boxen? Klitschko: Ich habe als Kind immer in Kasernen gewohnt, oft waren wir nicht länger als ein Jahr am selben Ort. In Kirgisien, Kasachstan, Usbekistan, Rußland, Litauen und der Tschechoslowakei. Ich habe fast an jedem Stützpunkt einen neuen Sport angefangen. Im heutigen Tschechien kam dann ein Sportlehrer, der eine Boxsektion gründete. Da war ich zwölf Jahre. SPIEGEL: Ihre Mutter soll noch heute über Ihre körperliche Betätigung klagen. Klitschko: Wenn ich mit dicker Lippe und geschwollenen Augen vom Training kam, hat sie immer gefragt: „Witalij, willst du das wirklich machen?“ Ich habe geantwortet: BONGARTS Klitschko: Ja.Wenn sie vor der Wahl stehen: gegen Titelverteidiger Hide: „Er hatte den Kampf schon vor der ersten Runde verloren“ „Ja, Mama, denn ich bin ein mutiger Mann.“ Irgendwann haben meine Eltern begriffen, daß der Sport einen von den anderen Dingen abhält – von Alkohol, Drogen und dergleichen. SPIEGEL: Sport als Beförderer sittlicher Reife? Klitschko: Ich glaube, daß jedes Kind Vorbilder braucht. Für mich war das Muhammad Ali. Ein Problem in der Ukraine ist heute aber, daß die Jugendlichen die falschen Vorbilder präsentiert bekommen: Typen aus gewalttätigen Action-Filmen, die nur mit dicken Muskeln und Schießeisen durch die Welt ziehen. Diese kaputte Moral hat Hollywood zu uns exportiert. SPIEGEL: Einige Probleme Ihrer Heimat sind hausgemacht. Und immer wieder geraten Sportler in die Fänge der Mafia. Klitschko: Sehen Sie: Viele Sportler wissen nach der Karriere nicht, was sie machen sollen. Sie haben nur gelernt, eine Kugel zu stoßen, Gewichte zu heben oder mit einer Pistole zu schießen. Dann kommt die Mafia und sagt: Du brauchst nichts Neues zu lernen. Du mußt nur eines tun: zuschlagen, hart und ohne zu überlegen. SPIEGEL: Sie kennen solche Fälle? Witalij Klitschko H. MÜLLER-ELSNER / AGENTUR FOCUS gewann alle seiner bislang 25 Profikämpfe durch K. o. – mit seinem letzten Sieg holte er den Weltmeistertitel der WBO, einer der vier wichtigsten Weltboxverbände. Seit drei Jahren ist der Ukrainer, 27, beim Hamburger Boxstall Universum unter Vertrag. Sein Bruder Wladimir, 23, kämpft im September um die Schwergewichts-Europameisterschaft gegen Axel Schulz. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 arbeitslos oder ein lockeres Leben als Bodyguard, dann werden die meisten schwach. Neulich ist ein ehemaliger Olympiasieger ins Gefängnis gekommen. Er hatte sich in die falschen Kreise begeben. SPIEGEL: Die Mafia hat auch schon Athleten erpreßt. Einige Sportler sind deshalb ausgewandert. Sie wurden nie behelligt? Klitschko: Bis jetzt nicht. SPIEGEL: Weil Sie so groß sind? Klitschko: Ich glaube, es kommt auf den Menschen an. Nur ein schwacher Charakter gerät dort hinein. Außerdem bekäme man es immer mit zwei Klitschkos zu tun. SPIEGEL: Sie spielen auf Ihren jüngeren Bruder Wladimir an, dem ein noch größeres Talent nachgesagt wird als Ihnen. Wie wichtig ist es, daß Ihr Bruder bei Ihren Kämpfen in der Ringecke sekundiert? Klitschko: Ich sage Ihnen ganz klar: Ohne Wladimir wäre ich heute nicht Weltmeister. Durch ihn habe ich im Ring immer das Gefühl, daß da noch eine zusätzliche Kraft hinter mir steht. Und ich glaube auch, daß es für ihn sehr viel bedeutet, wenn er sich vor seinen Kämpfen mit mir in der Kabine warmschlagen kann. SPIEGEL: Viele Sportler aus der ehemaligen Sowjetunion, die in Deutschland als Profis angeheuert haben, bekamen Probleme, weil ihnen Geld und Ruhm zu Kopf stiegen.Wie haben Sie den Reizen widerstanden? Klitschko: Als ich noch in Kiew lebte, war ich schon Weltmeister im Kickboxen. Ich will damit sagen: Ich hatte ein schönes Auto, ich hatte Erfolg und war ein bißchen prominent. In Hamburg habe ich versucht, das gleiche Leben zu führen wie in Kiew. In jedem Land gibt es falsche Freunde. Man muß einfach lernen, selbst zu denken. SPIEGEL: Wie wichtig ist Ihnen, auch in Deutschland ein Idol zu werden? Klitschko: Popularität ist kein Ziel für mich. Sie ist das Resultat von guter Arbeit. SPIEGEL: Boxexperten bezeichnen Sie als typischen Vertreter der osteuropäischen Amateurboxschule. Trifft Sie das? Klitschko: Früher hat mich das getroffen. Ich weiß, daß ich kein klassischer Boxer bin. Ich habe Kampfsport gemacht, dadurch sind meine Bewegungen etwas unrhythmisch. Ich habe keine Supertechnik, ich kann keine Supershow bieten, aber ich kann gut kämpfen. SPIEGEL: Erklären Sie uns den Unterschied zwischen Witalij Klitschko und der deutschen Hoffnung Axel Schulz. Klitschko: Nehmen Sie bitte zwei Fotos, drucken Sie sie nebeneinander, und jeder Leser kann sich selbst ein Urteil bilden. SPIEGEL: Sie haben Schulz vorgeworfen, er traue sich keinen Kampf gegen Sie zu. Klitschko: Ich kenne Axel nicht persönlich. Ich habe gehört, daß er ein netter Mensch ist. Als Sportler fehlt ihm etwas Glück. SPIEGEL: Sie sind sich nie begegnet? Klitschko: Nach seinem Kampf gegen Julius Francis bin ich auf ihn zugegangen. Er hat151 te zwölf Runden geboxt, und das hatte Spuren hinterlassen in seinem Gesicht. Als er mich sah, hat er sich umgedreht und ist in eine andere Richtung gegangen. Das war der einzige Kontakt. SPIEGEL: Ihr Manager Klaus-Peter Kohl vergleicht Sie wegen Ihrer Schlagkraft mit Mike Tyson. Ehrt Sie das, wo Tyson doch ein verurteilter Vergewaltiger ist? Klitschko: Ich kann nicht sagen, ob der Vergleich gut oder schlecht ist. Fest steht: Tyson ist der größte Name im Boxsport. Seine Äußerungen sind oft dumm. Er wurde gefragt, ob er noch mal um die Weltmeisterschaft kämpfen wolle. Er antwortete: „Ich brauche keinen Titel. Meinetwegen ist der Madison Square Garden ausverkauft, selbst wenn ich da gar nicht boxen, sondern nur vor Publikum pinkeln würde.“ Das Schlimme daran ist: Wahrscheinlich hat er recht. SPIEGEL: Sie halten nicht viel von der amerikanischen Boxszene? Klitschko: Das Problem ist, daß es da einen Mann gibt, der Gegnern ins Ohr beißt und auf der Straße Leute umhaut. Damit ist man eigentlich nicht gesellschaftsfähig – aber die Menschen faszinieren solche Geschichten, also schreibt jeder darüber. Keiner schreibt über Weltmeister Holyfield: Der ist einfach ein netter Mensch … SPIEGEL: … und womöglich Ihr nächster Gegner. Werden Sie es wagen, in Amerika Ihren Titel zu verteidigen? Klitschko: Amerika muß mein Ziel sein. Ich möchte der absolute Weltmeister sein, der Stärkste. Dazu brauche ich noch mindestens den Weltmeistergürtel eines anderen Verbandes. Also muß ich gegen Lennox Lewis oder Evander Holyfield kämpfen. SPIEGEL: Wenn Sie nach Amerika gehen, werden Sie dort vermarktet werden als der Jugendtraining bei Ajax Cape Town: „Neue Form des Kolonialismus“ FUSSBALL Talente aus dem Township Die Jagd europäischer Spitzenclubs auf Nachwuchskicker wird immer aufwendiger: Ajax Amsterdam hat eine Filiale in Kapstadt eröffnet. Den besten Spielern winkt ein Profivertrag. H. MÜLLER-ELSNER / AGENTUR FOCUS S Klitschko, SPIEGEL-Redakteure* „Ich bin kein klassischer Boxer“ fiese Sowjet aus dem, wie es Ronald Reagan formulierte, „Reich des Bösen“. Ist Ihnen dieses Klischee egal? Klitschko: Das gehört zur Show. Ich kenne die Mechanismen: Es gibt jetzt ein großes Interesse. Ein Russe! Und alles Böse kommt aus Rußland. Ich bin das Beste, was dem amerikanischen Markt passieren konnte. SPIEGEL: Herr Klitschko, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. * Gerhard Pfeil und Alfred Weinzierl in Hamburg. 152 turmböen fegen über den Fußballplatz von Epping, und der kleine Mann im Tor ist schwer genervt. Nicht nur, daß der Wind in der Peripherie von Kapstadt jeden Schuß zum unberechenbaren Flatterball werden läßt. Am Spielfeldrand tigert auch noch die Frau Mutter hin und her und führt sich auf wie ein Banker beim Börsencrash. „Shit“, kreischt die dunkelhäutige Lady mit den bunten Perlen im Haar, als wieder ein Ball im Netz landet. Dann greift Sharon Dunkon zerknirscht zum Handy und klagt dem Gatten im Büro ihre Bedenken: „Der Junge ist gut, aber ich weiß nicht, ob er gut genug ist.“ Und das macht Mama jetzt ganz kirre. Die Nachbarn im noblen Viertel Camps Bay – meist Weiße, die lieber Golf oder Rugby spielen – spotten schon. Sie amüsieren sich, weil Mrs. Dunkon ihren Sohn neuerdings jeden Tag zum Torwarttraining chauffiert. Doch diese ahnungslose Mischpoke, sagt sie, werde sich noch wundern. „Irgendwann wird der Junge bei diesem berühmten Club aus Europa spielen, und dann halten alle die Schnauze.“ Im Kern ist diese Hoffnung berechtigt. Ajax Cape Town heißt der Verein, für dessen D-Jugend Steven, 11, das Tor hütet. Der Club, hervorgegangen aus der Fusion der d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Kapstadter Vereine Spurs und Seven Stars, existiert zwar erst seit einem Monat, gilt aber bereits jetzt als eines der ehrgeizigsten Projekte der Branche. Denn der Club am Kap dient einer der renommiertesten Adressen im Weltfußball als Talentschmiede: 51 Prozent hält Ajax Amsterdam. Mit dem Beteiligungskonzept treiben die Niederländer, Champions-League-Gewinner von 1995, die globale Fahndung nach veranlagtem Kickernachwuchs in eine neue Dimension: Holten die Proficlubs bislang junge Talente aus Afrika, Südamerika oder Asien zur weiteren Schulung nach Europa, beschreitet Ajax Amsterdam nun den umgekehrten Weg – und öffnet gleich dort Dependancen, wo die Fußballer der Zukunft aufwachsen. Die Holländer, die schon Anteile an dem belgischen Erstligisten Germinal Beerschot Antwerpen halten, bauen ihr koloniales Konzept munter aus: Unlängst verkündete der Ajax-Vorsitzende Michael van Praag die Übernahme des ghanaischen Vereins Ashanti Goldfields in der Hauptstadt Accra. In Mailand, Manchester und Madrid beobachtet man die Expansionslust mit leicht argwöhnischem Interesse: Zwar versuchen auch dort die Clubs über sogenannte Farmteams Zugriff auf den Spielermarkt ande- rer Kontinente zu bekommen; so bezog vorvergangene Woche auch Manchester United in Kapstadt Stellung und unterzeichnete ein Abkommen mit dem FC Fortuna Kapstadt. Meist reichen die Verbindungen aber nicht über gegenseitige Trainingsbesuche hinaus. Das Konzept von Ajax Amsterdam geht da viel weiter – der Club verpflanzt seine komplette Fußballkultur ans Kap der Guten Hoffnung. Die Liaison basiert auf einem Geben und Nehmen. Die Südafrikaner liefern die Talente, die Niederländer das Know-how, wie aus den Fußballern Profis gemacht werden – natürlich mit der Option, die besten Spieler nach Amsterdam zu holen. Damit die Ausbildung ganz im Sinne der Erfinder aus Europa verläuft, wurde dem Ableger die komplette Amsterdamer Fußballphilosophie übergestülpt. Für mehrere Wochen reisten holländische Trainer nach Kapstadt und weihten ihre Kollegen in die Lehre der berühmten „Ajax-Schule“ ein, eine auf Schnelligkeit und Spielintelligenz basierende Kickkunst. Jetzt rollt sowohl im jüngsten Nachwuchskader, bei den Achtjährigen, als auch bei den Männern der Ball nach dem Ajax-System. Die „Corporate Identity“ stützen die Initiatoren auch durch Details: Alle Mannschaften von Ajax Cape Town laufen in den rot-weißen Trikots des großen Bruders auf. Auf der Brust des Profi-Teams, das in der ersten Liga in Südafrika spielt und schon bald die Meisterschaft erringen soll, prangt sogar das Logo des Amsterdamer Hauptsponsors, einer weltweit operierenden Bank. Fachleute sehen in dem Fußball-Outsourcing durchaus ein Modell für die Zukunft: Erspart bleibt den Sportlern der Kulturschock, den junge Afrikaner oft erlei- den, wenn sie mit Geld und großen Versprechungen zum Fußballspielen nach Europa gelockt werden. Die „sanfte Heranführung“ in der Heimat, sagt Michael Reschke, Jugendleiter von Bayer Leverkusen, sei somit schon „aus pädagogischen Gründen“ die bessere Methode. Außerdem entspreche der Aufbau von Außenstellen der modernen Zeit. Reschke: „Wer im Fußball nicht global denkt, bleibt auf der Strecke.“ Inter Mailand und Leeds United arbeiten bereits an Stützpunkten in Südamerika; Paris Saint-Germain betreibt eine Fußball-Akademie in Burkina Faso. Mit ihrer neuen Strategie entziehen sich die Clubs vor allem aber einer Entwicklung, die zuletzt ein bedenkliches Maß angenommen hat: Denn ebenso wie um gestandene Profis, schachern die Fußballkonzerne neuerdings auch um minderjährige Balltreter, als handele es sich dabei um Preisgäule. Von „Kinderhandel“ raunte unlängst der Jugend-Sekretär des Deutschen Fuß- sischen Kaderschmiede Institut national du Football in Clairefontaine bedient und den 15jährigen Jérémie Aliadière verpflichtet hatte. Prompt sah die Grande Nation den Fortbestand ihrer Kickerkultur durch die angelsächsischen Späher-Attacken gefährdet. Erbost forderte die Zeitung „Le Figaro“, die Eliteschule vor weiteren „Raubzügen“ zu schützen. Nun brütet Sportministerin Marie-George Buffet, berühmt geworden wegen ihres rigorosen Vorgehens in Sachen Doping im Radsport, über einem entsprechenden Erlaß. Ganz ohne Widerstände ging auch die freundliche Übernahme am Kap nicht ab. Eine „neue Form des Kolonialismus“, wähnten örtliche Kommentatoren hinter dem Geschäft. Erst als Ajax Amsterdam zusagte, Südafrikas Bewerbung um die Weltmeisterschaft 2006 zu unterstützen, ebbte der Protest ab. Mittlerweile gilt die Zweigstelle der Holländer als Prestigeobjekt. Denn auf den Trainingsplätzen in Epping, wo einst der Deutsche Schäferhundverein den Vierbeinern Folgsamkeit beibrachte, herrscht Zucht und Ordnung. In Reih und Glied, wie ein Militär-Korps bei der Frühgymnastik, traben die Kicker der zehn Jugendjahrgänge zum Aufwärmen über das Geläuf. Auf Kommando bleiben die jungen Männer stehen, machen Liegestützen und schreien: „We are ready.“ Neulich begannen in Epping die Bauarbeiten für das neue Trainingszentrum. Zwei MillioFußballarena in Amsterdam: Kulturschock für junge Afrikaner nen Mark investiert ball-Bundes (DFB), Bernd Barutta, als dem Ajax Amsterdam in eine Schule, FitneßBundesligaclub Schalke 04 der 16jährige und Massageräume. Im Zentrum der imMoritz Volz abhanden gekommen war. Der portierten Fußballwelt steht allerdings Schüler hatte einen Fünfjahresvertrag mit die Kantine. Wenn die erst fertig ist, sagt Arsenal London abgeschlossen. „Solch Nachwuchs-Chefcoach Ian Towers, habe eine Offerte kann man nicht ablehnen“, er „ein Problem weniger“: Noch kollabiekommentierte Volz kühl. Er verdient jetzt ren ihm ab und an Schüler – wegen Unter36 000 Mark im Monat. ernährung. Für einen neuen Höhepunkt auf dem Towers, 59, war in den Sechzigern mal Teenie-Transfermarkt sorgte jüngst der Fußballprofi beim englischen ErstdiviFC Bayern. Zehn Millionen Mark bezahlte sionär FC Burnley, einmal spielte er im der Deutsche Meister für den 17 Jahre al- Europapokal beim Hamburger SV als ten Stürmer Roque Santa Cruz aus Para- Manndecker gegen Uwe Seeler („Ich bin guay. Wenn man erst in zwei Jahren an den tapfer hinterhergelaufen“). Seit 18 Jahren Südamerikaner herantrete, rechtfertigte ist der Mann mit dem schlohweißen Haar Club-Vize Karl-Heinz Rummenigge die In- in Südafrika als Trainer tätig. Er selbst bevestition, sei der Spieler um ein Vielfaches zeichnet sich auch als „Sozialarbeiter“. teurer – und nicht mehr bezahlbar. Denn sein Job bei Ajax Cape Town ist Die Vehemenz, mit der in den Jugend- nicht nur aus sportlicher Sicht eine Hermannschaften gewildert wird, sorgte zu- ausforderung. Unter 5000 Jugendlichen letzt gar für bilaterale Verstimmungen. und Kindern aus der ganzen Kapregion, Wiederum war es Arsenal London, das sich die zur Sichtung eingeladen waren, wurden ausgerechnet aus dem Fundus der franzö- jene 200 rausgepickt, die nun für den VerL. BAADER OSINSKI / PRISMA Sport d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 153 OSINSKI / PRISMA Sport Nachwuchsausbildung bei Ajax Cape Town: „Manche holen wir direkt aus der Wellblechhütte“ DPA ein spielen. 95 Prozent sind Schwarze, die der Deutsche von Ordnung, Struktur und meisten wohnen in den Townships Kap- System versteht.“ stadts. Da behält der ansonsten so weltgeKontakt zu den Eltern bekommen die wandte Champions-League-Finalist lieber Betreuer nur selten. „Wir stehen da wie die Lederhosen an – und kooperiert in der vor einer verschlossenen anderen Welt“, Region mit dem ASV Dachau oder 1860 sagt Towers. Nur bei den täglichen Fahrten Rosenheim. Und wenn die Scouts, die auf mit den Kleinbussen, mit denen die Spie- Honorarbasis für den Verein den Weltler abgeholt werden, öffnet sich der Blick Kickermarkt sondieren, dann doch mal eiauf die ärmlichen Zustände, unter denen nen Ballkünstler aus Afrika anbieten, ist viele leben: „Manche holen wir direkt aus für eine pflegliche Betreuung im vereinsder Wellblechhütte.“ eigenen Internat an der Säbener Straße geEines der hoffnungsvollsten Talente hat sorgt. So kam Samuel Kuffour als 16jähriAjax Cape Town schon verloren. Joshua, ger nach München und spielte sich ohne 15, fiel den Trainern auf, weil er sich mit Anpassungsschwierigkeiten in den verdem Ball schneller bewegen konnte als alle gangenen Jahren in die Profi-Elf. Mit seiner eher behutsamen Anwerbeanderen. Der schweigsame Junge aus Khayelitsha, einem der größten Kapstadter Town- praxis liegt der FC Bayern voll auf der Liships, erschien stets in Markenklamotten nie des DFB und des europäischen Verund mit mehreren Goldkettchen am Hand- bandes Uefa. Die Funktionäre sorgen sich um eine Überfremdung des gelenk zum Training. Als Joidentitätsstiftenden Kulturshua dann eine Woche unguts Fußball. In der Bundesentschuldigt fehlte, forschte liga stieg die Zahl der Profis Towers nach: Der Junge war mit ausländischem Paß binwegen Drogenhandels festnen vier Jahren von 91 auf genommen worden. 186; in etlichen Clubs liegt Umstände wie diese sind der Anteil fremdländischer es, die Wolfgang DremmKicker-Kunst bei mehr als ler, Nachwuchskoordinator 60 Prozent. beim FC Bayern, am AjaxUm den hiesigen NachModell zweifeln lassen. wuchs wieder konkurrenz„Eine Zweigstelle in Ägypfähig zu trimmen, will der ten kann ich mir nicht vorDFB nun einschreiten. stellen“, sagt der ehemalige Zukünftig sollen nur noch Nationalspieler. Schließlich jene Vereine die Bundesligasei der Afrikaner ja doch anLizenz erhalten, die spezielders: „Wenn er in seiner Heile Nachwuchsinternate fühmat ausgebildet wird, kann ren. Zudem gedenkt der Verer nicht verinnerlichen, was Jung-Profi Santa Cruz 154 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 band, spezielle Leistungszentren für deutsche Talente einzurichten. Auch in der Uefa-Zentrale in Zürich werden Globalisierungsprojekte wie jenes von Ajax Amsterdam mit Bauchgrimmen beobachtet. Zu viele Clubs haben inzwischen ihr nationales Kolorit aufgegeben. Als Manchester United das Champions-League-Finale gewann, wirkten dabei anfangs nur vier Engländer mit. In der Startaufstellung des FC Barcelona taucht mitunter kein Spanier mehr auf. Deshalb, so hätten es die Uefa-Funktionäre gern, soll per Gesetz geregelt sein, daß nur noch maximal fünf Fremdarbeiter auflaufen dürfen. Bei Ajax Amsterdam sieht man solchen Bestrebungen gelassen entgegen. Mit der Ausbildung in Afrika reagiert der Club lediglich auf eine niederländische Bestimmung, die verhindern soll, daß Profi-Vereine wahllos Spieler einführen: So müssen Kicker aus Nicht-EU-Staaten im Alter ab 18 Jahren mindestens 200 000 Mark, Profis ab dem 21. Lebensjahr mindestens 450 000 Mark pro Jahr verdienen. Die Vorarbeit in den afrikanischen Filialen soll mithin das Risiko mindern, sich einen teuren Flop auf die Lohnliste zu setzen. Bis der Ableger in Afrika Rendite abwirft, könnte es aber noch dauern. Zuletzt hatte es der Trainerstab um Ian Towers schon schwer genug damit, den potentiellen Profis Verhaltensweisen abzugewöhnen, die nicht europäischem Standard entsprechen. Einige Knaben weigerten sich beharrlich, den Nutzen einer Toilette anzuerkennen. Towers: „Die lassen einfach mitten auf dem Platz die Hose runter.“ Gerhard Pfeil Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Szene FOTOGRAFIE Historie des Augenblicks D FOTOS: B. KLEMM er Philosoph Theodor Adorno, der die Polizei gegen den wütenden Protest seiner Studenten zu Hilfe rief, Heinrich Böll auf dem Klappstuhl vor dem Atomraketenlager in Mutlangen, Wolf Biermann nach seinem legendären Konzert in Köln 1976 – drei szenische Schwarzweißfotografien, die längst zur Ikonografie der deutschen Nachkriegsgeschichte gehören. Wie auf zahllosen anderen Aufnahmen der Fotografin Barbara Klemm, 59, verbindet sich der Augenblick mit dem historischen Moment, aus dem heraus die Menschen noch Jahrzehnte später zum Betrachter zu sprechen scheinen. So sind viele ihrer Alltagsbilder und Porträts zu Allegorien gesellschaftlicher Zustände und Tendenzen geworden. Es ist deshalb kein Zufall, daß ihre meist in der „Frankfurter Allgemeinen“ erschienenen Fotografien zu idealen, beinah zeitlosen Illustrationen von Essays und Feuilletons wurden. Von Donnerstag dieser Woche an präsentiert nun das Deutsche Historische Museum zu Berlin eine umfangreiche Schau des Werks von Barbara Klemm unter dem Titel „Unsere Jahre – Bilder aus Deutschland 1968–1998“ im Kronprinzenpalais Unter den Linden (bis 5. Oktober). Klemm-Fotos (Bayreuth, 1977, Karl Lagerfeld und Claudia Schiffer im Museum MMK in Frankfurt, 1994) S P E K TA K E L Privates von Proust „Pikierte Begeisterung“ angsam süchtig sei er geworden, erzählt Reiner Speck. Während seines Medizinstudiums habe er die Werke von Marcel Proust gelesen, und bald wollte er einfach alles ganz genau wissen. So ist der Kölner Urologe, 58, zum wichtigsten Proust-Sammler Deutschlands geworden. Mit einem Symposion über den Autor „zwischen Belle Époque und Moderne“ präsentiert sich von diesem Donnerstag an Specks „Marcel Proust Gesellschaft“ im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe; dazu sind bis zum 29. August seine privaten Schätze zu sehen: Manuskriptblätter, die zum Teil erstmals im begleitenden Katalog veröffentlicht werden, über 40 Briefe, Widmungsexemplare und ein Schulheft des angehenden Romanciers. Sogar Zeichnungen sind dabei – keine Geniestreiche, aber Belege dafür, daß der Schöpfer des Prosa-Großbauwerks „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ auch graphisch ein gutes Raumgefühl hatte. Der Berliner Autor Thomas Kapielski, 47, über seine Erlebnisse beim IngeborgBachmann-Wettbewerb in Klagenfurt L SPIEGEL: Herr Kapielski, Sie haben beim Wettlesen in Klagenfurt mit einem Essay über die Reaktionen – oder vielmehr die Nichtreaktionen – von Verlagen auf Ihre schriftstellerischen Werke das Publikum entzückt und stürmischen Applaus bekommen, aber keinen Preis. Sind Sie enttäuscht? Kapielski: Ach was. Diese Auszeichnungen um den BachKapielski mann-Preis herum sind Trostpreise. Und der Hauptpreis ist eine Luftbestattung erster Klasse. SPIEGEL: Dabei aber ganz renommiert. Kapielski: Man erinnert sich doch überhaupt nicht an die Preisträger. Höchstens, daß sich Rainald Goetz dort mal peinlich in die Stirn geschnitten hat und daß ein böser Onkel später mal dumpf was vom Babyficken erzählt hat. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 SPIEGEL: Hatte man dieses Jahr Ihnen die Rolle des Amüsieronkels zugedacht? Kapielski: Die wußten nicht, was kommt. Aber ich! Die „FAZ“ hat den Essay abgedruckt, und ich bekomme körbeweise Fanpost. Der Coup ist gelungen. Mit einem dritten Preis dagegen hätten sie mir Schaden zugefügt, da hätte ich tüchtig reparieren müssen. SPIEGEL: Wie hat die Jury auf Sie reagiert? Kapielski: Mit pikierter Begeisterung. Die schienen mir etwas besorgt. Vielleicht fürchteten sie, ich würde hinterher einen ähnlichen Text über Klagenfurt schreiben. SPIEGEL: Was könnte darin vorkommen? Kapielski: Daß das kluge und nette Leute sind, die sich matt über die Runden quälen, wofür sie ordentlich Taschengeld bekommen und tüchtig gesendet werden. Zum Ausgleich pflegt man neckische Freizeitrituale. Sie fressen am Wörther See ihre Gutscheine ab und spielen Fußball gegen die Autoren. Dabei wäre Wattepusten angemessener. G. EGGENBERGER AU T O R E N 157 Szene KARRIEREN D ie Welt wird eng für einen, der im Knast sitzt. Auf den Rändern von Briefmarkenbögen hatte der Schauspieler Christof Wackernagel zu malen begonnen, nachdem er 1977 wegen Mitgliedschaft in der RAF verhaftet und später zu 15 Jahren Gefängnis verWackernagel, Wackernagelurteilt worden war: klitzekleine, stilistisch an Joan Miniatur „Das Tor Miró erinnernde Miniaturen. 1987 wurde Wackernagel zum Meer“, -Gemälde „Die vorzeitig entlassen, und auch in der Freiheit hat sich Allerweltsweisheit“ der Künstler den Tunnelblick für das Wesentliche bewahrt: „So wehre ich mich gegen die Beballerung mit großen, grellen Bildern, denen wir ausgesetzt sind.“ Seit er nicht mehr angewiesen ist auf einen Tuschkasten, sind die Formate größer geworden, und er schwelgt, wie nun eine Ausstellung seiner Bilder im Bayerischen Landesvermessungsamt in München (bis 27. Juli) belegt, in allen Schattierungen der Acrylfarbenpalette. Auch die Linien sind wilder geworden: „Die bewegen sich“, so Wackernagel, „halt nicht mehr in so engen Gittern.“ GOETHE-INSTITUTE Kino in Kürze Protestparty in Island SENATOR FILM D „Südsee“-Darsteller Knaup „Südsee, eigene Insel“. Das süße bürgerliche Leben kommt im deutschen Film selten gut weg, weil es im Generalverdacht des Spießertums steht, und auch dieses Lustspiel (Regie und Drehbuch: Thomas Bahmann) sucht sich ein paar bourgeoise Schießbudenfiguren aus, die es dann mühelos niederballern kann. Ein Ehepaar Anfang 40 samt aufsässiger Tochter will schicken Strandurlaub machen, aber Papa (Herbert Knaup) ist einem Anlagebetrüger aufgesessen: Geld futsch, Urlaub gestrichen. Weil das die Nachbarn nicht wissen sollen, versteckt sich die Familie im Keller ihres Einfamilienhauses. Mama (Andrea Sawatzki) zickt, Tochter (Alexandra Maria Lara) mault, irgendwann gehen ihnen die Vorräte aus – und dem Film die Ideen. Nach spätestens einer Stunde kriegt darum auch der Zuschauer einen Kellerkoller. Ausnahmsweise wäre ein US-Remake bei „Südsee“ heftig anzuraten: Mit einer Handvoll begabter Gagschreiber ließe sich aus der Ferienknast-Idee eine prima Farce machen. 158 FOTOS: M. FENGEL (o. li. und re.) P. HYMPENDAHL / DAS FOTOARCHIV Freiheit der Briefmarke d e r er Reykjaviker Schriftsteller und Übersetzer Arthur Bollason, 48, hat Bücher von Bernhard Schlink, Hans Magnus Enzensberger und Heinrich Heine ins Isländische übertragen – und erregt sich nun über einen „Bluff der Deutschen“ und eine üble „Augenwischerei“. Im März 1998 war in Reykjavik das einzige Goethe-Institut der Insel geschlossen worden. Das isländische Parlament protestierte, Studenten versenkten eine Goethe-Büste im Fjord vor Reykjavik – und so wurde im Oktober 1998 das erste „Goethe Zentrum – Partner des Goethe Instituts“ in der isländischen Hauptstadt eröffnet, formal ein isländischer Verein, der direkt vom Auswärtigen Amt 100 000 Mark im Jahr erhält. „Der Vorteil für Goethe“, sagt Zentrumsleiter Frank Albers, 31, „liegt darin, daß Bollason wir nun im Goethe-Haushalt nicht mehr vorkommen.“ Einige isländische Künstler wie Bollason sind trotzdem unzufrieden. Er hält die Ersatzlösung für eine billige „Ausflucht“ – und plant nun mit der „Germania-Gesellschaft zur Förderung kultureller Beziehungen zwischen Island und Deutschland“ ein eigenes großes Fest zum Goethe-Geburtstag ohne das Goethe-Zentrum. Dabei gilt das Albers-Haus in Reykjavik vielen deutschen Fachleuten mittlerweile als Modell. Wegen der drohenden Schließung mehrerer Goethe-Institute – der Etat soll im nächsten Jahr um fast 15 Millionen Mark gekürzt werden – werde „für Katmandu in Nepal etwas Ähnliches geplant“, berichtet Albers. Hilmar Hoffmann, der Präsident des Goethe-Instituts, sucht derzeit nach privaten Geldgebern: „Ich komme mir vor wie ein Hausierer. Ich werde zurücktreten, wenn ich weitere Institute schließen muß. Ich will nicht als Liquidator in die Kulturpolitik eingehen.“ s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Kultur U N T E R H A LT U N G Pop mit Sonnenschutzfaktor D klänge. Das so entstandene Pop-Kunstwerk „Everybody’s free (to wear sunscreen)“ wurde zur allseitigen Überraschung zunächst im Radio und dann in den amerikanischen Plattenläden ein Mega-Hit. Nun soll es auch den deutschen Popfans den Weg durch den Sommer weisen: Auf der Baz-Luhrmann-CD „Something for everybody“ wird das Sonnenschutz-Lied gemeinsam mit diversen neu arrangierten Soundtrackschlagern aus den Luhrmann-Erfolgsfilmen präsentiert: der öligste Popsong der Saison. CINETEXT ie USA sind das Wunderland der Banalitäten und der selbstgestrickten Lebensweisheiten – und so fiel es nicht weiter auf, als im Frühjahr 1997 die junge Journalistin Mary Schmich eine Kolumne in der „Chicago Tribune“ mit allerhand subtil schwachsinnigen bis sanft ironischen Lebensweisheiten füllte: Lies keine Schönheitsmagazine, verzehre viel Kalzium, entsorge alte Kontoauszüge, schütze dich vor der Strahlkraft der Sonne und allerlei mehr. Auf den verschlungenen Wegen des Cyber-Humors gelangte dieser Text ins Internet, wo ihn der australische Film- und Theaterregisseur Baz Luhrmann („Romeo & Julia“, „Strictly Ballroom“) entdeckte – und derart begeistert war, daß er sogleich einen Schauspieler als Sprecher anheuerte; unter die kuriose Gebrauchsanweisung zum Leben legte er ein paar melodische Elektronik- Luhrmann-Film „Romeo & Julia“ (1996) L I T E R AT U R Kosmischer Kauz W ar der lange Mann mit dem bohrenden Blick einfach ein Spinner, oder zählt er doch zu den literarischen Visionären der Moderne? Am liebsten wollte Jürgen von der Wense (1894 bis 1966) wohl beides sein: Guru und Kauz, Chronist des Kosmos und Aktionskünstler in einem. Kompromisse kannte er nicht, und darum hat der geborene Kosmopolit nie ein Buch vollendet und nie Geld verdient. Schon mit 17 Jahren schrieb er: „Den meisten Menschen fehlen Überraschungen.“ Die aber fand er, von wenigen Freunden finanziell über Wasser gehalten, unablässig: In Sprachen wie Chinesisch oder dem Indiodialekt der Bakairi, in entlegensten Ecken der Weltliteratur, bei langen Wanderungen oder beim Komponieren. Als ein paar seiner Vertonungen isländischer Lieder beim Avantgarde-Festival von Donaueschingen 1922 selbst die Neutöner verschreckten, erklärte Wense, er sei gar nicht vom Fach, sondern habe Flugtechnik und Astronomie studiert. Außerdem arbeite er an einer „Weltgeschichte des Wetters“ und plane einen „Erdbebenkatalog“. Es stimmte, wie fast alles, was er sonst noch von sich behauptet hat. Nur winzige Textproben gab es bislang von dem Eigenbrötler zu lesen, der Hunderte von Material-Mappen, Tagebücher und Tausende Briefe voll funkelnder Sprachbilder hinterließ. Jetzt aber hat sein treuer Nachlaßverwalter Dieter Heim endlich ein Kraftpaket aus vielen frühen Texten gepackt. Es zeigt eine der erstaunlichsten Aussteiger-Biographien des Jahrhunderts: einen Wünschelrutengänger des Geistes, an dem alle Spießbürgerlichkeit abperlte. Nächstes Jahr sollen im selben Verlag spätere Briefe des menschlichen Gesamtkunstwerks erscheinen. Jürgen von der Wense: „Geschichte einer Jugend. Tagebücher und Briefe“. Matthes & Seitz Verlag, München; 488 Seiten; 68 Mark. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Am Rande Die spinnen, die Finnen S o, so, kaum hat der Finne, das Greenhorn in der Europäischen Union, von Deutschland die EURatspräsidentschaft übernommen, schon wird er übermütig, beinah frech: Das Deutsche soll nicht mehr durchgängig offizielle Konferenzsprache sein, sagt er, dafür aber – neben Englisch und Französisch – Finnisch. Finnisch? Warum nicht gleich Lappländisch, die Sprache der Rentierzüchter, Wurzelesser und Waldläufer? Weiß Gott, hier überzieht der Finne ganz entschieden seinen notorischen Neutralitätsbonus. Aber auch Österreich, das andere EU-Spielzeugland, fordert unverhohlen das große Deutschland heraus. Fast wäre es den Palatschinken-Spachtlern nach der Abschiebung des Piefkes Peymann auch noch gelungen, Bodo Hombachs historische Mission auf dem Balkan zu torpedieren. Wie lange wird es dauern, bis Dänemark, Holland und Polen fordern, die Verkehrshinweise auf den deutschen Autobahnen viersprachig abzufassen? Wann wird die „Tagesschau“ gezwungen, griechische Untertitel zu zeigen? Droht hier eine neue Art der Finnlandisierung, der Zerrüttung der deutschen Alltagskultur? Müssen wir uns Sorgen machen um die Zukunft der Berliner Republik? Nein, denn die Antwort kommt aus tausend Boxen und einer Million Kehlen: Grmpfta-Uta-Grm-pfta-UtaGrmpfta-Uta-Grmpfta-Uta! Die Love Parade am kommenden Samstag in Berlin, das Hochamt der weltweiten Techno-Bewegung, wird eindrucksvoll demonstrieren, welche Bedeutung das Finnische als Medium zwischenmenschlicher Kommunikation hat. Zurück in die Dolmetscherkabinen. 159 D. REINARTZ / VISUM Kultur Grass-Aquarell zum Jahr 1989: In 13 Jahres-Kapiteln tritt der Meister persönlich an AU T O R E N Das ganze Säkulum: ein Quiz Der Schriftsteller Günter Grass schaut zurück auf „Mein Jahrhundert“: In 100 Jahresschritten gibt er ein teils autobiographisches, teils fiktives Panorama von Höhe- und Tiefpunkten. Das im voraus hochgelobte Werk gerät zur matten Geschichtsstunde. E s ist die Zeit für solche Bücher. Das Jahrhundert geht seinem Ende zu, die Bundesrepublik ist gerade 50 geworden, die Nato ebenfalls, die DDR hat nicht lange genug durchgehalten: runde Geburtstage, Jubiläen, wo man hinschaut. In solcher Zeit setzen sich die Verlagsleute gern zusammen, planen Sammelbände, Chroniken, Rück- und Überblicke, lassen von Herausgebern Beiträge bestellen und redigieren. Und manchmal kommt dabei ein wirklich gescheites Buch heraus. Das heißt dann zum Beispiel „Was die Republik bewegte“, Untertitel: „50 Zeitgenossen erinnern sich“, und wartet für das halbe Jahrhundert von 1949 bis 1998 pro Jahr mit einem Foto, einem Ereignis auf – dazu gibt jeweils eine Persönlichkeit ernst oder launig ihre Erinnerung oder Gedanken zum besten: ein vielstimmiges, mit Liebe ediertes Taschenbuch*. * Barbara Hoffmeister und Uwe Naumann (Hrsg.): „Was die Republik bewegte. 50 Zeitgenossen erinnern sich“. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek; 128 Seiten; 16,90 Mark. ** Günter Grass: „Mein Jahrhundert“. Steidl Verlag, Göttingen; 384 Seiten; 48 Mark. Ausgabe mit Aquarellen des Autors: 416 Seiten; 98 Mark. 160 Keine Frage, welches Ereignis da für das Jahr 1959 steht. Auf dem Foto ist ein junger Mann mit Schnauzbart zu sehen, dahinter an der Wand ein großer Stadtplan von Danzig. Dazu ein Beitrag des Verlegers Michael Krüger, der sich an den großen Augenblick erinnert, als er – ein Jugendlicher, der mit eigenen frühen Gedichten die Mädchen noch nicht beeindrucken kann – atemlos den druckfrischen Roman „Die Blechtrommel“ liest: „In diesem Moment, so dachte ich damals, waren Brecht, Benn und Thomas Mann wirklich gestorben.“ Der junge Mann auf dem Foto ist mittlerweile 71 Jahre alt, und immer noch hängt ihm der Welterfolg seines ersten Romans nach. Als Kandidat für den Nobelpreis ist er immer wieder einmal im Gespräch gewesen – auch in diesem Herbst dürfte sein Name erneut auf der Kandidatenliste stehen. Und wenn er die Auszeichnung dieses Mal tatsächlich erhalten sollte, was ihm (und der deutschen Literatur) von Herzen zu gönnen wäre, so könnte es gerade für diesen einen, seinen größten Roman sein. Ehrenrührig wäre das nicht: Auch Thomas d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Mann hat den Nobelpreis 1929 – mit 27 Jahren Verspätung – ausdrücklich und allein für die „Buddenbrooks“ erhalten. Günter Grass, der in den letzten Jahren immer seltener die Gunst der Kritik genießen durfte, dafür aber unbestritten der berühmteste deutsche Schriftsteller der Gegenwart und ein Publikumsliebling ist, war natürlich auch unter denen, die als mögliche Beiträger zum BundesrepublikBändchen eingeladen wurden. Doch er lehnte ab. Wahrscheinlich saß er damals, im Mai 1998, längst am eigenen Jubiläumsbuch. Nicht nur 50 Jahre sollte es umfassen, sondern, und das im Alleingang, gleich ein ganzes Jahrhundert, nämlich unser, nein: sein Jahrhundert. „Mein Jahrhundert“: So heißt tatsächlich, ohne falsche Scheu, das neue Grass-Werk, das in dieser Woche in die Buchhandlungen kommt**. „Mein Jahrhundert“: Das ist deutlich mehr als „Mein Jahr in der Niemandsbucht“, das Peter Handke 1994 beschrieben hat, oder – 100 Jahre zuvor – Fontanes „Meine Kinderjahre“. Mehr auch als „Mein Leben“, wie die Autobiographie des A. REISER / BILDERBERG / XXP / DER SPIEGEL Grass-Thema Mauerfall in Berlin (1989): „Bestimmt ein Kalter-Kriegs-Film“ (als Indien-Fahrer, Zeichner im deutschen Wald, Zeitgenosse des Mauerfalls) und noch zweimal gegen Ende des Säkulums – zuletzt beglückt vor dem Fernseher bei der Bundestagswahl 1998. Ein Memoirenwerk also? Ach, hätte er sich dazu durchgerungen! Gern würde man D. REINARTZ / VISUM altgedienten Grass-Kritikers Marcel ReichRanicki heißen wird, die ebenfalls noch in diesem Sommer erscheinen soll. Dem ist Grass nun zuvorgekommen: exakt 40 Jahre nach dem Erscheinen des eigenen Romandebüts – termin- und marketinggerecht zum Jahrhundertende. Der Titel „Mein Jahrhundert“ hat zudem einen Vorteil, der auch von vorauseilenden Lobesbeiträgen in der vergangenen Woche schon weidlich genutzt worden ist. Anspielungsreich und ohne rot zu werden wurde da vom „Jahrhundert-Grass“ („Die Zeit“) und vom „Jahrhundert-Buch“ („Die Woche“) gesprochen. Das Jahr 1959? Da steht Grass nicht zurück: Auch bei ihm rückt das Erscheinen der „Blechtrommel“, der Auftritt des trommelnden Oskar und seines Schöpfers ins Zentrum. Ein rührendes Bild: Im Herbst 1959 tanzt er mit Anna, seiner ersten Ehefrau, auf der Frankfurter Buchmesse, vergißt „in schneller Drehung“ für Momente die „Last des Schmökers“. Gemeinsam versucht das Ehepaar, die „Bodenhaftung“ nicht zu verlieren. Und hat doch schon die Ahnung: „Jetzt hört was auf, jetzt fängt was an, jetzt haben wir einen Namen.“ In insgesamt 13 von 100 Jahres-Kapiteln tritt der Meister persönlich an – einige Auftritte als Nebenfigur oder Ansprechpartner nicht mitgerechnet: Unverstellt und unverkleidet gibt sich Grass selbst das Wort, erzählt aus seinem Leben. Das erste Mal im Geburtsjahr 1927, dann wieder 1953 (als entfernter Zeuge des Juni-Aufstands), 1959 (als glücklicher Autor), 1965 (als Wahlhelfer der SPD: „Loblied auf Willy“), dann gleich dreimal hintereinander in den siebziger Jahren (als untreuer Ehemann und RAF-Skeptiker), viermal in den Achtzigern ein großes autobiographisches Buch, ein gelungenes Alterswerk anzeigen. Grass aber wollte mehr – und erreichte weniger. Es ist ein überraschend harmloses, fast idyllisches Jahrhundert, das er da aufblättert. Er verschweigt durchaus keine Greuel, keinen Massenmord, er nennt die Giftgasattacken im Ersten, die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg beim Namen, läßt Schergen und Opfer der Nazi-Lager zu Wort kommen, betrauert als Zeitgenosse eine Herointote und die Opfer von Ausländerhaß. Doch all das wird moderiert geboten, gefiltert durch den Blick oft recht beliebiger Zeugen. Und selbst die Kronzeugen wirken abgeklärt – wie etwa jene beiden Schriftsteller, die nach dem Willen von Grass die Kriegsjahre 1914 bis 1918 besprechen, und zwar im munteren Dialog Mitte der sechziger Jahre in Zürich: Ernst Jünger („In Stahlgewittern“) und Erich Maria Remarque („Im Westen nichts Neues“). Ein putziger Einfall und wenig plausibel. Der Bauplan von „Mein Jahrhundert“ ähnelt dem des kleinen BRD-Buchs: pro Jahr ein mehr oder weniger zentrales Ereignis, dargestellt von jeweils wechselnden Stimmen (wobei hier einige Jahre übergreifend ein und denselben Erzähler haben). Und statt der Fotos gibt es Aquarelle von des Dichters eigener Hand, bunte Bilder, die allerdings der großformatigen Luxusausgabe vorbehalten bleiben. Ob das eher von Vor- oder Nachteil ist, darüber Schriftsteller Grass: „Jetzt hört was auf, jetzt fängt was an, jetzt haben wir einen Namen“ d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 161 Kultur hat sich die Literaturkritik glücklicherweise kein Urteil anzumaßen. Grass nutzt in der Mehrzahl seiner 100 Jahresschritte und -abschnitte – sie umfassen in der Regel jeweils drei, vier Seiten – den Vorteil, den er als Erzähler hat: Er kann sich seine Zeitzeugen erfinden und sie so nah oder fern von den historischen Ereignissen postieren, wie es ihm beliebt. Was zu Beginn des Buches reichlich kompliziert in den Satz „Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen“ gekleidet wird, heißt nichts anderes, als daß der Autor neben dem eigenen Ich noch andere Ich-Erzähler gelten läßt, die allesamt seiner Phantasie entsprungen sind – mit Ausnahme jener wenigen historischen Figuren, denen er in diesem Reigen ebenfalls eine Stimme gibt: Der deutsche Kaiser (1911), der Spion Guillaume (1974) und die ehemalige Treuhand-Chefin Birgit Breuel (1994) dürfen nicht besonders überzeugende Monologe halten. Das Mosaik aus lauter Ich-Stimmen, die jeweils einen kurzen Auftritt haben, ist in der Literatur nicht neu: Gerold Späth nutzte es 1980 für seinen Roman „Commedia“ – dort sind es gut 200 Figuren, die zu Wort kommen (für das Manuskript erhielt der Autor 1979 den von Grass gestifteten Alfred-Döblin-Preis). Und anders als bei Grass brauchen die einzelnen Stimmen keine Rücksicht auf Jahreszahlen zu nehmen: Sie müssen nichts beweisen, nichts demonstrieren, haben kein Redeziel außer der Selbstdarstellung. Im Grass-Werk dagegen geht es zu wie bei Tratschke, der in der „Zeit“-Rätselecke fragt: „Wer war’s?“ Es ist weniger literarische Faszination als quizgeübte Neugier, die den Leser von Abschnitt zu Abschnitt treibt: Welches Ereignis wird der Autor für das folgende Jahr ins Blickfeld rücken? Aus welcher Perspektive läßt er 1923, 1933, 1962 erzählen? Grass versteht sich ganz zweifellos auf das, was Zeitungsleute „gute Mischung“ nennen – nicht immer nur das Erwartete, gelegentlich ein Seiteneinstieg, eine kleine Überraschung, eine neue Perspektive, ein Randaspekt, mal ganz nah am historischen Geschehen, dann wieder etwas aus Wohnküche, aus Kinderladen und Altersheim. Doch es sind Sprechpuppen, die da auftreten, Marionetten, flüchtig mit individueller Duftnote bestäubt. Das beginnt 1900, naheliegend, in der Ferne: mit dem Boxeraufstand in China, dargestellt von einem namenlosen deutschen Soldaten, der dabei war. Und so quer durch das deutsche Geschichtsbuch des 20. Jahrhunderts: die beiden Weltkriege, dazwischen die Inflation (1923), das Millionenheer der Arbeitslosen (1932), dann die „Ernennung“ Hitlers (1933) und die Olympischen Spiele (1936), später die Trümmer- frauen bei der Arbeit (1946), der Juni-Aufstand (1953), das deutsche Fräuleinwunder (1958), der Eichmann- (1962) und der Auschwitz-Prozeß (1964). Die siebziger Jahre folgen mit Brandts Warschauer Kniefall und RAF-Terror, die achtziger mit Falklandkrieg, Tschernobyl – und natürlich der Wende: Erzählt wird vom Blick eines DDR-Bekannten auf den Fernseher, wo „offenbar ein Film lief, nach dessen Handlung junge Leute auf die Mauer kletterten, rittlings auf deren oberem Wulst saßen und die Grenzpolizei diesem Vergnügen tatenlos zuschaute“. Kommentar: „Bestimmt ein Kalter-Kriegs-Film.“ Schließlich die neunziger mit Golfkrieg, Stasi-Geschichten, Ausländerhaß und Love Parade. Am Ende, 1999, steht die Hoffnung, daß aus dem Krieg „da unten“ nicht schon wieder einer „überall“ werde. „Mein Jahrhundert“? Das stellt sich bei der Lektüre zunehmend als bloßes Etikett, als pure Behauptung heraus. Am Ende kommt weder das Zeitmosaik noch das Autobiographische zu eigenem Recht. Mehr noch als Martin Walser in seinem Roman „Ein springender Brunnen“ (1998) weicht Grass der Selbstdarstellung aus, auch und besonders was seine Kinder- und Jugendjahre im Deutschland der Nazis betrifft. Gibt es aus Danzig nichts mehr zu erzählen? Nichts über die Vorfahren zu Be- DPA Autor Grass (r.), Politiker Schröder, Brandt (1985): Loblied auf Willy ginn des Jahrhunderts, über die Eltern, Freunde, über erste Verliebtheiten? Nicht nur Fontanes Kinderjahre sind von Interesse, auch die von Grass wären es. Doch merkwürdig: Er hat – anders als Thomas Mann, als Max Frisch oder Christa Wolf – für die gerade im 20. Jahrhundert so vielfältig erprobten autobiographischen Textformen nie einen unverkrampften Ton gefunden, von Eleganz gar nicht zu reden. Über sein Leben als Mann schweigt er sich auch in diesem neuen Buch weitgehend aus. Nur andeutungsweise kommt das Scheitern der ersten Ehe ins Bild, tritt seine heutige Frau Ute als Retterin aus mancherlei Verstrickung auf. Am weitesten vor wagt er sich noch bei der Beschreibung einer gemeinsamen Italien-Fahrt mit den drei Töchtern (von drei verschiedenen Frauen, wie er dann immerhin erwähnt): „Alle drei waren auf Perugias steilen Treppen, in Assisi und Orvieto bergauf um ihren Vater besorgt, dessen Beine den Raucher bei jedem Schritt an während Jahrzehnten verwehten Qualm erinnerten.“ In dieser Szene stört auch die stilistische Steifbeinigkeit nicht: Sie paßt zu der sympathischen Unbeholfenheit, die Grass hier an den Tag legt. Mehr von solchen Bildern voller Staunen, Glück und Wärme hätten dem GrassJahrhundert Farbe und Stimmigkeit gegeben, so aber bleibt alles ein recht beliebiger Bilderbogen, der seine Leser nicht überfordert: Das alles ist, von Jahr zu Jahr, gefällig dargeboten. Das Säkulum scheint überschaubar – und wie im Radioquiz, bei dem der Zuhörer am Rundfunkgerät die Antworten auch gewußt hätte, stellt sich ein behagliches Gefühl ein. „Sein Jahrhundert kann man nicht verändern“, schrieb Goethe vor gut 200 Jahren, im Sommer 1798, an Schiller, „aber man kann sich dagegen stellen und glückliche Wirkungen vorbereiten.“ Vielleicht hat Günter Grass genau das gewollt. Gelungen ist es ihm nicht. Volker Hage Kultur FOTOS: CHRISTIE’S Gemälde, das im Auktionskatalog bei 2,4 Millionen Mark rangiert, erwartet Christie’s ein doppelt so hohes Gebot. „Alle Objekte“, schwärmt Alexander Hope, Altmeisterexperte bei Christie’s, „sind von einmaliger Qualität.“ Eine sensationelle Auktion; nicht nur wegen der Vielzahl an Ausnahmestücken, sondern auch wegen der bizarren Historie der Kollektion: Sie war den Rothschilds von den Nazis geraubt worden. Zurück bekamen sie ihren Kunstbesitz erst vor wenigen Monaten – aus der Obhut des österreichischen Staates, der die Herausgabe lange verschleppte. Früh hatten die Rothschilds Hitlers besonderen Neid entfacht. Immerhin regierte der Clan, einst im jüdischen Ghetto in Frankfurt zu Hause, von Wien, Paris und London über ein mächtiges Banken- und Industrieimperium. Sofort nach dem Anschluß Österreichs im März 1938 suchte die Gestapo nach der Familie. Louis Rothschild, Enkel Anselms und Chef des österreichischen Zweiges, hatte sich im Gegensatz zu seinem Bruder Alphonse zu spät zur Flucht entschlossen: Am Flughafen wartete die SS. Einen Tag später brachte sie ihn aus seiner Residenz in einen Gefängniskeller. Zwar kam er ein Jahr später frei – aber nicht mehr in den Besitz der Familiensammlung. Die war längst einkassiert. Nach 1945 zog es die Familie nicht wieder ins eben noch Hitler-devote Österreich zurück. Die Nachkriegsrepublik aber wollte die exquisite NS-Beute lange nicht herausrücken. Kurzerhand verhängten die Behörden eine Exportsperre; die wertvoll- Teniers-Porträt (1653)*: „Objekte von einmaliger Qualität“ KUNSTMARKT Ausverkauf der Luxusbeute Das Auktionshaus Christie’s versteigert in dieser Woche eine der größten Privatsammlungen der Welt: die einst von Hitler geraubten Kunstschätze der Wiener Rothschilds. D ie Galerie gehörte zu den bestbestückten ihrer Zeit. Meisterwerke von Tizian, Veronese, Rubens und van Dyck kleben dutzendweise an den hohen Wänden. Mitten im Saal posiert der stolze Besitzer der protzigen Bilderparade: der Habsburger Kaisersohn Leopold Wilhelm. 1653 hat der flämische Maler David Teniers den adeligen Kunstfreund samt seiner feudalen Kollektion porträtiert. Rund 200 Jahre später, 1859, begeisterte sich ein anderer Kunstnarr für das hochrangige Bilder-Gemälde: Der jüdische Wiener Bankier Anselm Rothschild, Mitglied einer der reichsten Familien der Welt, konnte es sich leisten, das berühmte Bild prompt zu kaufen. Auf dem Kunstmarkt tauchte das Barockgemälde seither nie wieder auf. Am kommenden Donnerstag jedoch, nach genau 140 Jahren, kommt das prominente Werk erneut in den Handel. Christie’s in London versteigert das Teniers-Bild und mit ihm über 220 weitere hochkarätige Pretiosen, mit denen Anselm 164 Rothschild, nach ihm seine Söhne und Enkel in nobler Familientradition ihre prunkvollen Wiener Paläste dekorierten. Zum Verkauf stehen Kommoden aus Versailles, Renaissanceschalen aus Italien, elfenbeinverzierte Gitarren, reliefgeschmückte Schwerter und wissenschaftliches Gerät – wie das vergoldete Rokokomikroskop, durch das womöglich schon die vielseitige Königsmätresse Madame de Pompadour blinzelte. Als kunsthistorisches Schmuckstück gilt das samtumhüllte flämische Stundenbuch mit leuchtenden Miniaturen von 1505. Es ist die größte Privatsammlung, die je im auktionsumtriebigen Großbritannien versteigert wurde. Auf neun Millionen Mark wird das Luxusgebetbuch, auf mehr als 60 Millionen Mark die gesamte Sammlung taxiert. Der Erlös der Versteigerung dürfte aber weit höher ausfallen. Allein für das Teniers* Der habsburgische Erzherzog Leopold Wilhelm (vorn) in der Erzherzoglichen Galerie in Brüssel. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Kuppelsaal des Auktionshauses drängeln. „So viele Kunden wie noch nie“ wollen allerdings anonym per Telefon mitbieten. „Auf keinen Fall“ wird Wilfried Seipel, Direktor des Kunsthistorischen Museums in Wien, zur Auktion reisen.Wer will schon, fragt der Museumschef, den Preis durch bloße Anwesenheit in die Höhe treiben? Gerade Seipel würde trotz seines kargen Etats gern zugreifen: Die Rückgabe der edlen Rothschild-Objekte hat in seinem Haus große Lücken hinterlassen. Und die Wiener Bestände schrumpfen weiter: Das Kunsthistorische Museum und die Graphische Sammlung Albertina, entschied das RückgabeGremium, müssen ein Renaissancebild von Gentile Bellini,Aquarelle des Biedermeiermalers Moritz von Schwind und Zeichnungen des Expressionisten Egon Schiele an Nachkommen des Sammlers Erich Lederer abtreten. An die Familie des Industriellen Ferdinand Bloch-Bauer, vor dem Krieg ein gepriesener Mäzen, gehen 16 Grafiken des Wiener Jugendstilkünstlers Gustav Klimt und 19 Porzellanarbeiten zurück. Fünf Klimt-Gemälde sollen dagegen in der Österreichischen Galerie hängen bleiben: BlochBauers Gattin Adele, 1925 verstorben, hatte sie dem Museum vermacht. Daß die meisten Bilder erst von den Nazis eingezogen wurden – H. SYKES sten Kunstschätze wurden als Ausfuhrsteuer eingezogen und dreist den staatlichen Museen einverleibt. Dort blieben sie auch, als Bettina Looram, heute 75jährige Tochter von Alphonse Rothschild, in den siebziger Jahren doch aus dem US-Exil zurückkehrte. Das Wiener Kunsthistorische Museum schmückte sich weiter mit Gemälden des Barockmeisters Frans Hals, das Museum für angewandte Kunst mit dem Rasierpinsel des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. Erst Ende 1998 entschloß sich das österreichische Parlament – auf das einsame Drängen der Kulturministerin Elisabeth Gehrer hin – zu später Reue. Ein Rückgabe-Gesetz wurde erlassen und eine Kommission eingesetzt. Die forderte die widerspenstigen Museumsdirektoren im Februar 1999 auf, etwa 25o Werke an die Rothschilds retour zu schicken. Die Erben – Bettina Looram, eine Nichte und ein Neffe – überließen dem einst so gierigen Kunsthistorischen Museum ein Gemälde von Hyacinthe Rigaud. Die restliche Sammlung, einigten sie sich, sollte bis auf etwa 30 Objekte versteigert werden. „Wir haben einfach nicht mehr den geeigneten Rahmen, so wertvolle Kunst zu beherbergen“, sagt Bettina Looram. Für die Erben war es „ein schwerer Entschluß“, für Christie’s ein Glücksfall. Nicht nur Konkurrent Sotheby’s hatte nach der exklusiven Kollektion geschielt. „Alle Auktionshäuser auf der Welt“, so Christie’s-Direktorin Elizabeth Lane, „wollten diesen Auftrag.“ Schließlich, freut man sich in London, prüfe derzeit „jeder ernst zu nehmende Sammler“ sein Budget. Über 200 Interessenten werden sich am Donnerstag im Lane, Hope mit Stundenbuch „Alle wollten diesen Auftrag“ Kulturministerium verzichtete „tief bewegt“ auf ein Monet-Gemälde aus jüdischem Besitz. Der Louvre mußte erst per Gerichtsbeschluß angewiesen werden, den Erben eines italienischen Diplomaten fünf Gemälde auszuhändigen: Sie waren während der deutschen Besatzungszeit 1941 verscherbelt worden. In Deutschland erstritt der Anwalt einer jüdischen Familie 1998 ein Stilleben Lovis Corinths aus dem Städtischen Museum in Braunschweig – eine klammheimliche Aktion. Als die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin vor wenigen Wochen offiziell verkündete, eine Van-Gogh-Zeichnung und ein Bild des Symbolisten Hans von Marées abzutreten, wurde dieses seltene Vorpreschen einer staatlichen Institution als bahnbrechender Schritt gefeiert. Wenige Tage später gab die Kunsthalle Emden, 1986 von der „Stern“-Legende Henri Nannen eröffnet, ein Gemälde des Expressionisten Otto Mueller frei. Nannen Rokokomikroskop (um 1750) hatte das Aktbild „Knabe vor zwei stenachdem ihr Mann emigriert war –, befand henden und einem sitzenden Mädchen“ 1979 bei einem Londoner Kunsthändler gedie Kommission für unverdächtig. Auch andere Länder üben sich nur zö- kauft. Was er nicht wußte: Einst gehörte es gerlich in der Restitution von NS-Diebes- dem jüdischen Rechtsanwalt Ismar Littgut. Diskret gab zum Beispiel das Rotter- mann. Nun wurde das Bild Littmanns damer Museum Boijmans Van Beuningen Tochter Ruth Haller überreicht. Es ist das einzige Werk, das sie in Empden Erben der französischen Sammlerfamilie Schloss in diesem Jahr ein Gemälde fang nehmen konnte – das Inventar ihres Dirck van Delens zurück. Das französische Vaters zählt Tausende von Gemälden und Grafiken auf. Immerhin: Haller hat in anderen Sammlungen weitere Bilder aufgespürt, über zwei Werke wird verhandelt. Auch Ruth Haller, „in einem Haus voller Bilder“ aufgewachsen, wird das MuellerGemälde wohl bald wieder verkaufen. Würde sie es behalten, sagt sie, müßte sie die anderen Erben abfinden. Eine teure Angelegenheit. Ihr Vater habe die Expressionisten bewundert, als sie noch nicht berühmt waren. Heute, weiß die Erbin, sind die einst verspotteten Bilder kaum zu bezahlen. Schwert (um 1550), Kommode aus Versailles (1778), Schale (1527): Die Herausgabe wurde verschleppt Ulrike Knöfel d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 165 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Gewaltfilme „Matrix“, „Ich weiß noch immer, was du letzten Sommer getan hast“: Wer trägt die Verantwortung im Geschäft mit H O L LY W O O D Krieg den Kino-Killern Machen Mord und Totschlag im Film Minderjährige zu kaltblütigen Verbrechern? Ja, glauben immer mehr Amerikaner – und offenbar auch ihr Präsident: Bill Clinton läßt jetzt die Werbepraktiken Hollywoods untersuchen. Die Filmbranche reagiert verunsichert und empört. 168 die unbestreitbare Verbindung zwischen der Gewalt in den Medien und ihrer Auswirkung auf das Verhalten von Kindern nicht länger ignorieren.“ Hinter Clintons vorsichtiger Formulierung steckt eine Kampfansage: Hollywood, pack deine Knarren weg – oder wir schießen zurück! Seit dem Massaker von Littleton am 20. April, als zwei Teenager zwölf High-SchoolMitschüler und einen Lehrer ermordeten und sich anschließend mit Kopfschüssen selbst töteten, tobt in den USA eine neue Diskussion über Gewaltdarstellungen in den Medien. Offenbar hatten sich die beiden Killer vor ihrer Tat monatelang mit martialischen Computerspielen, Gewaltfilmen und Haß-Musik in Stimmung gebracht. Nach einer jüngeren Umfrage des US-Meinungsforschungsinstituts Gallup glauben 73 Prozent aller Amerikaner, Film und Fernsehen seien zumindest mitverantwortlich für Gewaltausbrüche von Teenagern. Von solchen Zahlen beeindruckt, beauftragte Clinton die amerikanische Handelskommission * Am 22. April bei einer Diskussion mit Schülern über das HighSchool-Massaker von Littleton. d e r s p i e g e l und das Justizministerium, das Marketing für brutale Filme, Musik und Computerspiele zu untersuchen. Die Kommission soll unter anderem ermitteln, ob die Entertainment-Branche gegen ihre eigenen Altersfreigabe-Regeln verstößt – indem sie etwa einen Film als „für Kinder nicht geeignet“ einstuft, aber dennoch dafür bei Minderjährigen Werbung macht. In eineinhalb Jahren sollen erste Ergebnisse vorliegen. Obwohl Clinton lediglich von einer „Untersuchung“ spricht, hat er die Kommission mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet: Sie hat das Recht, interne Marketing-Analysen der Unterhaltungskonzerne, vertrauliche Geschäfts- AP S ie hatten sich ein paarmal „Natural Born Killers“ angesehen, sie hatten LSD geschluckt, sie hatten zu Hause einen Revolver herumliegen – und so zogen Sarah Edmondson, 18, und Benjamin Darras, 19, aus Muskogee im US-Bundesstaat Oklahoma eines Tages im März 1995 los und setzten ihrem Lieblingsfilm ihr ganz persönliches Denkmal. Darras hielt einem Farmer die Waffe vors Gesicht und drückte ab; der Mann war sofort tot. Edmondson, Tochter eines Richters und Nichte des Generalstaatsanwalts von Oklahoma, schoß eine Verkäuferin zum Krüppel. Darras droht wegen des Verbrechens die Todesstrafe, Edmondson wurde zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt. Derzeit hat ein US-Gericht in Amite, Louisiana, darüber zu befinden, ob noch einer Person eine Mitschuld am Amoklauf der beiden Jugendlichen zukommt: dem Regisseur von „Natural Born Killers“, Oliver Stone, 52. Die Angehörigen der mittlerweile verstorbenen Verkäuferin haben ihn auf 20 Millionen Dollar Schadensersatz verklagt. Es ist nicht nur dieser Fall allein, der in Amerikas Unterhaltungsindustrie derzeit für Unruhe sorgt. Neben diversen Juristen beschäftigt sich nun auch die Regierung in Washington mit der Frage, wer wofür Verantwortung trägt im Geschäft mit Killerkino und PC-Gemetzel. Anfang Juni erklärte US-Präsident Bill Clinton: „Wir können Gewaltgegner Clinton*: Hollywood, pack deine Knarren weg 2 7 / 1 9 9 9 FOTOS: WARNER BROS. ( li.); COLUMBIA TRI-STAR (re.) „Killing Mrs. Tingle“ in „Teaching Mrs. Tingle“. Ein Teenager-Drama mit dem flotten Stabreim „Sugar and Spice and Semiautomatics“ („Zucker, Scharfes und halbautomatische Waffen“) kochten die Macher zu „Sugar and Spice“ ein. Und eine Komödie mit Ellen Barkin hatte plötzlich gar keinen Namen mehr: Nach einem neuen Titel für „Crime and Punishment in High School“ wird noch gesucht. Nicht immer genügt solche Marketing-Kosmetik: Disney verabschiedete sich von dem PriesterThriller „Dogma“, nachLeinwandmassakern und Computer-Gemetzel? dem die katholische Kirpost und darüber hinaus private E-Mails che protestiert hatte; der Film, in dem sich zwei von Matt Damon und Ben Affleck gezu filzen. In Hollywood, wo man mit blutrünstiger spielte Gangster im Blut suhlen, soll jetzt Actionware in den vergangenen Jahren neu geschnitten werden, „und natürlich Milliardenumsätze machte, reagiert man wird dabei an Littleton gedacht“, sagt Reauf Clintons Pläne verunsichert bis ent- gisseur Kevin Smith. Auch Martin Scorsesetzt. Denn mag Clintons Untersuchung se muß für sein neues Projekt „Gangs of die Steuerzahler „ungefähr eine Million New York“ das Drehbuch ändern: Bitte Dollar“ kosten, wie die „New York Times“ weniger Gewalt, verlangten die Disneyvorrechnete – „sie wird die Untersuchten Bosse. Und wenn man den deutschen Hollywood-Regisseur Roland Emmerich („Inviele Millionen mehr kosten“. Entsprechend sind die Reaktionen. Hol- dependence Day“) auf das Thema anlywood werde „zum Sündenbock ge- spricht, zitiert er seine Mutter: „Roland, macht“, klagt etwa Edgar Bronfman Jr., das war schon ziemlich extrem“, habe die Chef des Seagram-Konzerns, dem das Uni- seinen Rübe-ab-Reißer „Universal Soldier“ versal-Studio gehört. „Wenn die Leute auf- von 1992 kritisiert. So einen gewalttätigen gewühlt sind, suchen sie jemanden, dem Film wolle er „nie wieder drehen“. Ansonsten schiebt die Branche den sie die Schuld dafür geben können“, meint der Präsident der Motion Picture Associa- Image-Ärger vor sich her – im wörtlichen tion, Jack Valenti. Und Gerald Levin, als Sinn: Sony verlegte den Starttermin des Boß von Time Warner zuständig für das Terroristen-Krimis „Arlington Road“ um „Natural Born Killers“-Studio Warner Bro- zwei Monate nach hinten; Fox will das Bothers, kritisiert Washingtons Unfähigkeit, xer-Drama „Fight Club“ jetzt erst im Herbst herausbringen; CBS verzichtete den Verkauf von Waffen einzuschränken. Erster Erfolg des Lobbyisten-Gezeters: vorläufig auf die Mafia-Serie „Falcone“. Das Gesetzesvorhaben, all diejenigen Und Warner Brothers nahm die letzte Foljuristisch zu belangen, die Kinder und ge von „Buffy – Im Bann der Dämonen“ Jugendliche durch Filme oder andere fürs erste aus dem Programm – sie zeigte Medien Gewaltdarstellungen aussetzen, ausgerechnet ein High-School-Abschlußwurde im US-Repräsentantenhaus abge- fest, das mit einer Gewaltorgie endet. Auf schmettert; nur 146 Parlamentarier waren diese Episode müssen die TV-Zuschauer jetzt bis zum Spätsommer warten. dafür, 282 dagegen. Angesichts der tagtäglichen Exzesse Trotzdem zeigt die Gewaltdebatte Wirkung: Vergangene Woche trat in den USA wirkt die neue Sensibilität der Entertainein Gesetz in Kraft, das zunächst für die mentchefs allerdings wie ein makabrer Hälfte aller Fernsehgeräte (und von näch- Witz: Rund 40 000 Kino- und TV-Morde stem Jahr an für jeden neuproduzierten und 200 000 andere Gewaltszenen sieht jeApparat) den Einbau eines Anti-Gewalt- der Durchschnittsamerikaner bis zu seiChips vorschreibt – durch einen Knopf- nem 18. Geburtstag. Allein das „Natural druck sollen Eltern künftig alle nicht kin- Born Killers“-Amok-Pärchen bringt in 120 dertauglichen Sendungen sperren können. Minuten 52 Leute zur Strecke. Weltweit soll „Natural Born Killers“, eiMehrere der Brutalität verdächtige Kinound Fernsehfilme wurden gestoppt oder ner der erfolgreichsten Filme der Kinosaiwerden zumindest überarbeitet. Die Er- son 1994/95, für mindestens zehn reale folgs-Produktionsfirma Miramax („Shake- Mordserien die Vorlage geliefert haben. speare in Love“) änderte den Titel des Films Steckt also in jedem Kinobesucher ein pod e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 tentieller „Natural Born Killer“? Erzeugt die Zurschaustellung von Gewalt nahezu zwangsläufig echte Gewalt? Die Diskussion um solche Fragen ist weit älter als das Kino. Schon in der Antike hatte der Philosoph Platon die düsteren Dramen seiner Zeitgenossen als gemeingefährlich kritisiert. Sein Kollege Aristoteles hielt dagegen, die blutrünstigen klassischen Tragödien dienten der seelischen Reinigung („Katharsis“) der Zuschauer. Über die Richtigkeit der einen oder der anderen (oder gar beider) Thesen streiten die Wissenschaftler bis heute. Kindern müsse man „aggressive Phantasien“ zugestehen, um „feindselige Gefühle stellvertretend ausleben zu können“, forderte etwa der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim (1903 bis 1990). Eine Gefahr seien Gewaltdarstellungen nur für „von Haus aus ernstlich gestörte Kinder“. Mit Fragen der Wirkung medialer Gewalt müssen sich längst auch deutsche Gerichte befassen. So hatte das Landgericht Passau im sogenannten Zombie-Prozeß über die Tat des 14jährigen Christian zu befinden. Der Junge hatte sich über Jahre fast täglich diverse Gewaltvideos angesehen, die ihm ein Onkel besorgt hatte. Im März 1996 spielte Christian dann eine Szene nach: Maskiert wie sein Vorbild „Jason“ aus dem indizierten Horror-Schocker „Freitag, der 13. – Ein neuer Anfang“, verletzte er eine 69jährige Nachbarin mit einem Buschmesser und spaltete seiner Kusine, 10, mit einer Axt den Schädel. Das Mädchen schwebte tagelang in Lebensgefahr. Die Tat, stellten die Richter fest, sei „wesentlich durch den Konsum von Horror-Videos beeinflußt“ worden. Junge Leute begriffen das Leben zunehmend als Bühne, auf der sie eine oder mehrere Rollen spielten, behauptet Horst Opaschowski. 3000 Jugendliche hat der Freizeitforscher für seine Studie über die „Kinder der Medienrevolution“ befragt und dabei eine wachsende „Lust an der Selbstinszenierung“ entdeckt – in Einzelfällen offenbar auch mit Maske und Messer. „So gut wie jeder schreibt hier an seinem Lebensdrehbuch“, meint auch der amerikanische Kulturhistoriker Neal Gabler; „Das Leben, ein Film. Die Eroberung der Wirklichkeit durch das Entertainment“ hat er konsequenterweise sein neuestes Buch genannt (Berlin Verlag, Berlin; 320 Seiten; 39,80 Mark). Gabler zufolge war es kein Zufall, daß die jugendlichen Amokläufer von Littleton „Filme als Muster für ihre Untaten“ benutzt hätten: Die beiden hätten genau gewußt, „wieviel dann über sie berichtet werden würde“. Dagegen argumentiert man in Hollywood, Gewalt habe im Kino die „Funktion eines legitimen Irrsinns“, so der Horrorfilm-Regisseur Wes Craven („Scream“). Quentin Tarantino („Pulp Fiction“) drückt es deutlicher aus: „Kino und Gewalt gehören zusammen. Es ist nun mal interessan169 Kultur Triumph der Zoten und Idioten Während Politiker, Eltern und Filmindustrie um Gewalt im Kino streiten, hat Hollywood die Lust am Ordinären entdeckt. D derhosensex-Hallodris der Siebziger wie Intellektuelle wirken. Gerade erst hat die weit unterhalb der Debilitätsschwelle angesiedelte James-Bond-Parodie „Austin Powers – The Spy Who Shagged Me“ locker die edlen Jedi-Ritter aus dem jüngsten „Star Wars“-Spektakel vom ersten Platz der US-Kinocharts gekegelt: Zu den humoristischen Glanzlichtern des Films gehören Durchfall-Cocktails und Wüstenspringmäuse, die aus einem menschlichen Hinterteil plumpsen. Mit Fäkalwitzen und Pinkelwettbewerben brilliert „South Park“, der Kinofilm zur erfolgreichen TVZeichentrick-Serie und laut „New York Times“ der „rüdeste, krudeste und ekelhafteste Film seit Jahren“. Fast harmlos im Vergleich zu den „South Park“-Kapriolen wirkt es da, wenn der Held des Teenie-Leinwandwerks „American Pie“ einen ofenwarmen Kuchen in erstaunlicher Weise zur Triebabfuhr benutzt. „Die Unterscheidung von klugem oder dummem Humor hat für mich keine „Austin Powers“-Autor Myers (l.): „Nichts ist zu blöd“ Bedeutung. Nichts ist zu blöd, solange es nur lustig folgsfilm der Gebrüder Peter und Bob- ist“, sagt der Kanadier Mike Myers, Auby Farrelly, der unter anderem auch ein tor und Hauptdarsteller von „Austin im Reißverschluß verheddertes männ- Powers“ und ein Meister in der modiliches Genital präsentierte, vor allem schen Kunst des Groben. All jenen, die sich wundern über die aber in Hollywood dem Trash-Humor erstaunliche Toleranz der amerikanieine breite Schneise schlug. Denn seit „Verrückt nach Mary“ fal- schen Sittenwächter gegenüber der neulen im amerikanischen Filmgeschäft, al- en Lust am Ordinären und über die ler notorischen Prüderie zum Trotz, die großzügigen Altersfreigaben für die akletzten Geschmacksbarrieren – zum Ju- tuellen Trash-Werke, halten Branchenbel jener Autoren, die ihre zotigsten kenner entgegen, daß im derzeit oft deDrehbücher jahrelang in der untersten fizitären Filmgeschäft kein Zensor den Spielverderber geben wolle.Was erlaubt Schublade versteckt hatten. Der Farrelly-Film, so befand die Lon- ist und was nicht, ist mitunter selbst den doner „Sunday Times“, markiere ei- Filmemachern ein Rätsel. Peter Farrelnen „gigantischen Schritt auf dem Pfad ly jedenfalls kann den ganzen Wirbel zur totalen Verblödung Hollywoods“; um die Erweiterung der Geschmacksund tatsächlich sieht es so aus, als sei- grenzen nicht verstehen: „Die Englänen die neuen Stars im US-Kino Typen der sind schon mit Monty Python sehr vom Schlage des Schauspielers Adam viel weiter gegangen. Was Humor beSandler, gegen den selbst die deutschen trifft, ist Amerika noch ein EntwickBallermänner der Neunziger und Le- lungsland.“ Christoph Dallach KINOWELT er etwas nervöse junge Held hat eben noch im Badezimmer masturbiert, nun öffnet er dem Mädchen, mit dem er ausgehen will, die Tür – und die Schöne bestaunt das „Haargel“ an seinem Ohr: ein Höhepunkt zeitgenössischen Humors? Fest steht, daß sich weltweit Millionen von Kinobesuchern über diesen Scherz mitunter hysterisch amüsierten. „Verrückt nach Mary“ hieß der Er- 170 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Gewaltvorbild „Natural Born Killers (1994): ter zu sehen, wenn ein Auto explodiert, als wenn es geparkt wird.“ Offenbar war das schon in den frühen Tagen des Kinos so. „Einbruch, Giftmischerei, Brandstiftung, Bombenattentate, Wahnsinn, Ehebruch, Verführung, Verbrecherkneipen und Hochgericht sind der eigentliche Stoff des Kinos“, schrieb der Kritiker Julius Bab – anno 1912. Ob „Dr. Mabuse“ (1922; Regie: Fritz Lang), „Scarface“ (1932; Howard Hawks) oder „Die sieben Samurai“ (1954; Akira Kurosawa), ob „The Wild Bunch“ (1969; Sam Peckinpah), „Terminator“ (1984; James Cameron) oder „Reservoir Dogs“ (1991; Quentin Tarantino): Mord und Totschlag haben in der Filmgeschichte eine lange Tradition. Zu nennenswerter Zensur in Hollywood kam es wegen angeblicher oder tatsächlicher gewaltverherrlichender Tendenzen nie – die richtete sich allein gegen die sittenverderbende Darstellung (oder auch nur Andeutung) geschlechtlicher Handlungen. In den zwanziger Jahren ereiferten sich puritanische Moralwächter derart über nackte Haut und eindeutige Leinwandposen, daß Hollywood 1930 detaillierte Benimmregeln erließ: Der sogenannte Hays’ Code legte fest, was gezeigt werden durfte und vor allem, was nicht. So sind in den Schlafzimmern von Hollywood-Filmen bis in die fünfziger Jahre immer nur zwei Einzelbetten zu sehen; Doppelbetten hätten die Phantasie des Publikums womöglich zu sehr auf Touren gebracht und blieben deshalb lange verboten. Bis heute, so belegte zuletzt der Streit um Adrian Lynes läppische „Lolita“-Neuverfilmung, sind Nacktheit und Sex auf der Leinwand in den USA häufig Anlaß dafür, daß Filme nicht für Minderjährige freigegeben werden und Millionen potentieller Kinobesucher deshalb ausgesperrt bleiben – blutigste Gewalt-Movies passieren dagegen anstandslos die Altersfreigabe-Ausschüsse der Motion Picture Association. „Ich verstehe das nicht“, klagt der Produzent Irwin Winkler („Rocky“), „man darf zwar zeigen, wie einer Frau die Brust abgeschnitten wird. Aber wehe, STILLS / STUDIO X man zeigt ihre Brustwarze.“ Die Beurteilung von Gewalt sei eben sehr subjektiv, sagt Hollywood-Lobbyist Valenti, Sex dagegen „einfacher zu definieren“. Und gern zitiert Valenti anerkannte Kunstwerke für seine Strategie: „Sind ,Schindlers Liste‘ oder ,Der Soldat James Ryan‘ zu gewalttätig?“ Clintons Kommission soll nun auch die Vorschauen auf ihr GewaltLegitimer Irrsinn? Kaliber untersuchen. „Ziel jeder Vorschau ist es, so viele Teenager wie möglich in die Kinos zu holen“, definiert ein altgedienter Marketing-Mann seinen Beruf, „und dazu muß man soviel Gewalt und Sex wie möglich in die zweieinhalb Minuten pressen.“ Denn anders als die Filme selbst werden die Vorschauen, wenn überhaupt, nur lasch kontrolliert. So läuft ein Werbefilm für den gewaltreichen Krimi „The Mod Squad“ schon mal vor dem Trickfilm „Rugrats“, den selbst Sechsjährige sehen dürfen. Auch mit der Einlaßkontrolle nahmen es die US-Kinobetreiber bislang nicht so genau. Wer einmal drin war im Kino – und sei es mit einer Karte für einen Kinderfilm –, konnte sich den Vorführsaal selbst aussuchen, weil an dessen Tür niemand mehr aufpaßte. Seit Mitte Juni herrscht für Minderjährige allerdings Ausweispflicht – eine erste Reaktion auf die Littleton-Debatte. In den meisten deutschen Kinos wird dagegen vergleichsweise streng kontrolliert. Selbst in Begleitung seiner Eltern darf kein 15jähriger etwa die Cyber-Ballerorgie „Matrix“ („ab 16“) sehen. „Das Jugendschutzgesetz gibt uns recht“, sagt Cinemaxx-Pressesprecher Thomas Schulz. Inwieweit Filme „geeignet sind, das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen einer bestimmten Altersgruppe zu beeinträchtigen“, entscheidet in Deutschland die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) in Wiesbaden. Bis zu 500 Spielfilme werden dort pro Jahr gesichtet und bewertet, außerdem Kurzfilme und Vorschauen. „Die Sensibilität gegenüber Gewaltdarstellungen ist größer geworden“, sagt der FSK-Prüfer Folker Hönge. Doch verfügen seiner Ansicht nach auch Kinder heute über genug Medienerfahrung, um beispielsweise „den irrealen Charakter“ eines DebilSchockers wie „Die Mumie“ („ab 12“) zu erkennen. „,Ab 14‘ wäre hier wohl angemessener gewesen“, glaubt Hönge, aber diese Kennzeichnung gibt es in Deutschland nicht. Und wie ein Film auf jeden einzelnen wirke, lasse sich sowieso nicht vorhersagen: „Wir leisten hier“, sagt Hönge, „Vermutungsarbeit.“ Martin Wolf d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur POP Sexy, cool und verrückt Nach ihrem Welterfolg mußte die US-Girlband TLC Konkurs anmelden. Nun gelang dem Trio mit der CD „Fan Mail“ ein spektakuläres Comeback. 174 BMG ARIOLA ARISTA A n der Peachtree Street von Atlanta, der Straße zwischen Downtown und dem Yuppie-Viertel Buckhead, zeigt eine Lichtertafel die aktuelle Einwohnerzahl der Stadt an. Sie steigt schnell, so schnell sogar, daß einige der Glühbirnen das Tempo nicht mithielten und durchgebrannt sind. Aus den Lichterresten läßt sich ein Stand von 3 278 424 erahnen. Atlanta ist eine der am schnellsten wachsenden Städte der USA. Die Arbeitslosigkeit liegt quasi bei Null, Internet-Firmen wie MindSpring expandieren, und Plattenproduzenten machen die Stadt zum Musikzentrum der Südstaaten. Der bekannteste Exportartikel von Atlanta ist Coca-Cola, dann kommt das Programm von CNN. An dritter Stelle steht die Popgruppe TLC. Vor sieben Jahren brachten die drei schwarzen Südstaaten-Schönheiten Tionne „T-Boz“ Watkins, Lisa „Left Eye“ Lopes und Rozonda „Chilli“ Thomas ihr Debütalbum heraus. „Ooooooohhh … On the TLC Tip“ wurde dreimillionenmal verkauft. Berühmt wurden die drei 1994 mit „CrazySexyCool“, einer elegant-temperamentvollen Mischung aus Rap und Rhythm & Blues: Weltweit 14 Millionen verkaufte Platten, zwei Grammys – TLC wurde das erfolgreichste Frauentrio aller Zeiten. Dann folgte der Absturz: Streit mit Management, Plattenfirma und Produzenten, und im Sommer 1995 meldete TLC Bankrott an. Nun feiert die Gruppe ein spektakuläres Comeback: Ihre CD „Fan Mail“ hat Chancen auf neue Superlative. 6,2 Millionen Stück sind schon verkauft, in Deutschland kam die Single „No Scrubs“ auf Platz vier der Hitparade. Im August erscheint mit „Unpretty“ die zweite Single. Mit „Scrubs“ sind Kerle gemeint, die sich von Mama die Klamotten waschen lassen und den Tag damit verdödeln, aus dem Seitenfenster des Autos zu lehnen und Frauen hinterherzurufen. Solche Männer hätten keinen Job und müßten daher den Wagen sogar noch von ihrem besten Freund leihen, schimpfen TLC und kommen in dem Lied zu dem Schluß: „I don’t want no scrub.“ Thomas sagt: „Ich will nur noch Männer mit Geld.“ In der Macho-Welt von Pop und Rap kann eine solche Provokation nicht ohne TLC-Sängerinnen Thomas (u.), Watkins, Lopes: Vorliebe für Männer mit Geld Antwort bleiben – und so verhöhnen die HipHopper „Sporty Thievz“ nun Frauen in einem Song als „ No Pigeons“: Diese verplemperten ihr Leben mit Shopping und täuschten mit geliehenen Markenschuhen Reichtum vor. „Es hat mich überrascht, wie sauer die Jungs waren“, sagt Thomas. Und Watkins erklärt: „Beleidigt ist nur, wer sich gemeint fühlt.“ Wegen ihrer Frechheit und Schlagfertigkeit galten TLC, die sich am Anfang ihrer Karriere Kondome anhefteten, schon als Inbegriff der „Girl Power“, lange bevor die Spice Girls in England loslegten. „Wir stellen klar“, sagt Watkins, „wie Frauen die Dinge sehen. Vielleicht verstehen Männer uns dann besser.“ So raten TLC in „Silly Ho“ den weiblichen Fans vom Sex bei der ersten Verabredung ab; im forscheren „I’m good at being bad“ verlangen die Pop-Amazonen einen „crunk tight nigga“ mit einem Riesengenital von „ten inch or bigga“. Erfunden wurde das TLC-Konzept 1991 von der cleveren Managerin Perri Reid. Watkins, Lopes und Thomas unterschrieben einen Vertrag, der Reid die Hälfte der Einnahmen garantierte; die Plattenfirma ihres Ehemanns Antonio brachte das Album heraus. Trotz 17 Millionen verkaufter Platten meldeten TLC Konkurs an und erklärten, 3,5 Millionen Dollar Schulden zu haben (auch Antonio Reids anderer Superstar Toni Braxton mußte 1998 Bankrott erklären). Alle Einnahmen waren auf dem Weg zu den drei Frauen versickert – die Rechnungen dagegen kamen an. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Die Pause zwischen dem Album „CrazySexyCool“ und „Fan Mail“ füllten die TLC-Mädels mit Skandalen und Horrormeldungen. Thomas wurde von Perri Reid beschuldigt, mit Antonio Reid geschlafen zu haben, und wurde dann von Reids Kumpel, dem TLC-Songwriter und Produzenten schwanger. Watkins sprach über die Schrecken ihrer Sichelzellen-Anämie und schrieb über die Schmerzen einen Gedichtband, der im November erscheinen soll. Die TLC-Rapperin Lopes hat sich als Rebellin profiliert. Am 9. Juni 1994 entbrannte ein heftiger Streit zwischen ihr und ihrem damaligen Freund Andre Rison, einem Star des Football-Teams Atlanta Falcons. Lopes betrank sich, warf seine Turnschuhsammlung in die Badewanne und zündete sie an. Das Haus brannte ab. Lopes wurde zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt, machte eine Therapie und mußte 527 000 Dollar an die Versicherung bezahlen. Nach einer weiteren Auseinandersetzung mit Rison ritzte sie sich das Wort „Hate“ in den Unterarm – die Beziehung zerbrach, die Narben blieben. Vom neuen, vor wenigen Wochen engagierten TLC-Manager Bill Diggins, der zuvor auch die isländische Pop-Exzentrikerin Björk betreute, heißt es, er habe die wilden Girls aus Atlanta fürs erste gezähmt. Selbst Lopes erregt derzeit nur durch eine esoterische Nummernlehre Aufsehen: „Ich bin an einem 27. geboren“, sagt sie, „2 und 7 sind 9 – und 10 ist Gott. Also ist mein Lebensweg der, der am nächsten bei Gott ist.“ Marianne Wellershoff Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite diesem Sinne ist auch seine „Penthouse“-Äußerung zu verstehen. Auf die Frage, ob er sich dem Auftrag, die Kirche neu zu errichten, entziehen würde, sagt er: „Dann würde ich lange, lange weglaufen. Das mache ich nämlich immer, wenn er was von mir will. Ich kenne mich ja. Aber dieFliegt Talker Fliege? Der Bayerische ser Gangster da oben läuft hinter Rundfunk will ihn wegen mir her. Und dann schlägt er so Gotteslästerung verjagen, die ARD lange auf meine Seele und meinen Körper, bis ich irgendwann zögert: Der Pastor bringt Quote. keinen anderen Ausweg mehr weiß, als ihm zu folgen.“ er zuviel medienphilosophische Schließlich vertraut Fliege der Bücher liest, dem scheint die SaMünchnerin Cleo Kretschmer – che klar: Der mögliche Hinauseiner glühenden Verehrerin –, die wurf des Talk-Pastors Jürgen Fliege („FAZ“: das Interview führte, noch sexu„Der Prayboy“) ist die geilste Selbstinszeelle Weisheiten an: „Wenn man nierung des Fernsehens seit Jahren, eine mit seiner Partnerin oder seinem Soap aus der Seife der Seifensieder selbst. Partner onaniert, guck mal, guck Schon die Besetzungsliste besticht: Hier mal, dann kann das ein hohes Fliege, der in seinen Sendungen Anstand Vergnügen sein.“ predigt und hintenrum in Sex-Magazinen Für Bayern-Programmchef Gott lästert und die Onanie feiert. Dort Pfarrer Fliege: Intimes Verhältnis zum Schöpfer Fuchs, aufgescheucht durch die Gerhard Fuchs, Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks und als Moderator ein evangelischer Vikar in der Schlange vor Berichte, war das kein Vergnügen. „Die des ARD-„Presseclubs“ für rollendes R der Kasse, um seine Benzinrechnung zu jüngsten Äußerungen von Herrn Fliege in und feste Haltung bekannt, in der Rolle bezahlen. Er linste – auch Kirchenleute diversen Interviews sind keine Basis für des Aufpassers. sind schließlich Männer – seinem Vorder- eine Vertragsverlängerung.“ Fuchs geriert In der Mitten schließlich Günter Struve, mann über die Schulter, der gerade in der sich gern als gestrenger Saubermann. Den der Quoten-Fouché des Ersten, als neutra- Juni-Ausgabe des Nackt-Magazins „Pent- wegen Kokainbesitzes verurteilten Sänger und Schauspieler Konstantin Wecker entler Obmann, der am 12. Juli zusammen mit house“ blätterte. seinen ARD-Kollegen das Urteil über FlieDer Gottesjungmann gewahrte unter fernte er 1998 aus einem BR-Filmprojekt. Mit sich selbst ist Fuchs nicht so streng. ge sprechen wird. Der Titel der Soap: nacktem Fleisch plötzlich den Gott-sei-beiuns: Jürgen Fliege im Interview. Trotz einer allgemeinen Dienstanweisung Mit dem Magazin stürmte der des BR-Intendanten, sich im LandtagsVikar, berichtet das „Sonntags- wahlkampf neutral zu verhalten, posierte blatt“, zu Wolfgang Baake, 48. Fuchs zusammen mit seiner Frau EleonoDer ist Geschäftsführer der evan- re („Lo“) Grabmair auf einem Wahlplakat. gelikalen Publizisten und verfolgt Die CSU-Frau, die in München den Vorsitz als Sprachrohr konservativer Pro- des Tierschutzvereins verloren hatte, konntestanten schon lange den te die Unterstützung ihres Mannes gut gebrauchen. Nach bajuwarischer Lesart durfSchwarmgeist Fliege. Mit den Fliege-Äußerungen aus te Fuchs trotz Wahlkampfs auch weiterhin „Penthouse“ ließ sich Stimmung den „Presseclub“ moderieren, schließlich machen. Aus dem Zusammen- kandidiere er nicht. Der populistische Vorstoß wider Fliege hang gerissen, verdichtete man eine Passage zur Gotteslästerung: schmeckt jedoch ARD-Programmdirektor Fliege nenne den Höchsten „den Struve nicht. Allerdings weniger aus moGangster da oben“. Der sattsam ralisch-theologischen, sondern aus Quobekannte ZDF-Moderator Peter tengründen: Immerhin ist Fliege ein „mittHahne, der jede Woche in einer lerer Goalgetter“ (Struve). Er sammelt am Talkmaster Fliege: Theologischer Brausekopf „BamS“-Kolumne fundamentale Nachmittag – vor ihm herrscht bei Tierfil„Sankt Jürgen – wird Gott den verlorenen Gewißheiten predigt, empörte sich so- men Zuschauerdürre – seit fünf Jahren für die ARD ein Volk von durchschnittlich 1,3 gleich: „So nicht, Herr Pfarrer“. Prayboy retten?“ Tatsächlich ist das, was der Fern- Millionen Sehern zusammen, was einem Kein Wunder, daß TV-Schalk Harald Schmidt, dem die ganze Welt ein Bild- sehpfarrer in „Penthouse“ von sich gibt, Marktanteil von über 14 Prozent entschirm ist, sich den Stoff nicht entgehen typischer Fliege-Sermon, mit dem er schon spricht. Und das gegen Hans Meiser. Ohne läßt: Er hat eine satirische Aktion zur Ret- seit Jahren die Öffentlichkeit traktiert. Gott ein überzeugendes Gegenkonzept werden tung Flieges gestartet und ihn zum Liebling gilt dem theologischen Brausekopf nicht die ARD-Gewaltigen nicht so einfach den als ferne Gestalt und elaborierte Kunst- Daumen über dem Pfarrer senken. des Monats Juli erklärt. Fliege (Motto „Passen Sie gut auf sich Die Wirklichkeit sieht allerdings nicht figur. Dem unverbesserlichen Gnostiso puppenlustig aus. Die Vorgänge um Flie- ker offenbart sich der Herr in Zaube- auf“) übt sich indessen in Bußfertigge sind eine ziemlich trübe Angelegenheit, rei, Astrologie und all den Sphären, von de- keit. Vergangenen Dienstag meldete er eine mediale Schmierenkomödie, in der nen sich die Schulweisheit nichts träumen sich kleinlaut bei Struve und bat um Verzeihung. Wenn ihm der „Gangster da die Bigotterie die Hauptrolle spielt. läßt. Alles begann, so hat das „Sonntagsblatt“ Fliege unterhält deshalb mit seinem oben“ nicht hilft, kann ihm wohl keiner recherchiert, in einer Tankstelle. Dort stand Schöpfer ein intimes Verhältnis – und in helfen. Nikolaus von Festenberg TA L K M A S T E R Intim mit dem Gangster R. BABIRAD / PEOPLE PICTURE H. A. FRIEDRICHS / AGENTUR HAMANN W 178 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Kultur L I T E R AT U R „Einfach nur erzählen“ Ihre Helden entstammen den unteren Schichten und schlagen sich mit dumpfem Katholizismus, Armut, hochfliegenden Plänen und dem Wechselspiel der Gefühle herum: Maeve Binchy ist Irlands erfolgreichste Autorin, „Ein Haus in Irland“ heißt ihr neues Buch. PWE * Mit Saffron Burrows, Geraldine O’Rawe, Minnie Driver. ** Maeve Binchy: „Ein Haus in Irland“. Aus dem Englischen von Christa Prummer-Lehmair und anderen. Verlag Droemer Knaur, München; 672 Seiten; 39,90 Mark. „Ich bin einfach nur eine vorbeikommen, wollen sie Geschichtenerzählerin. Man nicht glauben, daß eine dermuß das tun, was man am art reiche Frau in einem so besten kann“, sagt sie selbstkleinen Haus lebt. vergnügt. Keiner lese ihre Aber warum sollte sie umBücher wegen stilistischer ziehen? Hier lebt sie gern mit Raffinessen, sie schreibe ihrem Gatten, einem „wahnicht so poetisch wie Doris ren Sweetie“, wie sie versiLessing oder so gerissen wie chert, er schreibt Kinder- und Nick Hornby oder Elmore Kochbücher, sieht immer nur Leonard, zwei Autoren, die das Gute im Menschen und, sie derzeit besonders liebt. na klar, seufzt sie, manchmal „Keinen Booker-Preis für sei es schon hart, mit solch Maeve“, sagt sie und lacht einem Heiligen zu leben. abermals. Sie lacht über- Schriftstellerin Binchy In Dalkey sind ihre Romahaupt viel. Denn das Leben ne entstanden, deren Thema hat seine komischen Seiten, bei aller Tra- Familiensinn, Freundschaft und vor allem gik. Und irische Tragik ist vielleicht be- die Liebe ist, in ihren vielen Ausprägungen. sonders komisch. Binchy kennt und beschreibt all die roBinchy, die am liebsten Maeve genannt mantischen Anfangs-Verzückungen, die wird, ist warmherzig, witzig und lebens- späteren Enttäuschungen, Verletzungen klug, robust an Magen und Gemüt, eine und Abnutzungserscheinungen, die einer temperamentvolle Person ohne Allüren, großen Liebe widerfahren können, weil die sich selbst schlicht als dick bezeichnet: das Leben nun mal nicht so überzuckert ist, „Ich würde selbst in der Wüste Kalahari ge- wie man das mit 20 glaubt, und weil Fraunug zu essen finden.“ en meist allzu geduldig darauf hoffen, daß Sie und ihr Mann Gordon Snell leben in ihr Partner sich ändert – eine Hoffnung, Dalkey im Süden von Dublin, in einem die, glaubt man Binchys Romanen, sich so Haus, das vollgestopft ist mit Büchern. In gut wie nie erfüllen wird. der Nachbarschaft leben Stars wie Tina Ihre Heldinnen müssen also Plagen erTurner und Bono, Sänger der Rockgruppe dulden und fallen dabei meistens über ein U2, und wenn amerikanische Touristen weiteres Exemplar der männlichen GatL. WHITE PHOTOGRAPHY D ie Iren, rothaarig und sommersprossig, sitzen gern im Pub, schauen auf den nicht enden wollenden Regen, trinken Guinness oder Whiskey und sorgen lautstark dafür, daß das einheimische Liedgut nicht in Vergessenheit gerät. Alles Quatsch. Die Irin Ria jedenfalls ist schwarzhaarig wie eine Italienerin, hat blaue Augen, und der charmante Danny, in den sie sich Herz über Kopf verliebt, widmet sich energisch Immobiliengeschäften. Heirat, der Kauf eines schönen alten Hauses in Dublin, zwei wohlgeratene Kinder, viele Freunde, die täglich hereinschneien – ein Leben wie aus dem Bilderbuch. Und natürlich muß so ein Leben aus den Fugen geraten – in diesem Fall passiert es, als Danny seiner Frau Ria gesteht, seine junge Geliebte erwarte ein Kind, und er wolle die Scheidung. Ria, gutmütig wie ein Schaf, hat nichts gemerkt von der Untreue ihres Mannes und will nun für einige Wochen außer Landes gehen, weit weg, um den Schock zu verarbeiten. Sie tauscht ihr Haus mit einer Marilyn Vine aus New England, die, ebenfalls traumatisiert, ihrer gewohnten Umgebung entkommen will. Tja, die arme Ria ist naiv; „sie glaubt, wenn sie ein guter Mensch ist, werde das Leben gut zu ihr sein“, sagt die irische Autorin Maeve Binchy, 59, über ihre Heldin. Was für ein Unsinn! Sie kennt eine Menge guter Menschen, die ein schwieriges Leben haben, und umgekehrt gilt auch: „Schlechte Menschen können ziemlich glücklich sein.“ Um Liebe, Lebenslügen, Intrigen, Schicksalsschläge und Mut geht es in Maeve Binchys Büchern, um die Stimme des Herzens, die manchmal auch in die Irre führt, um Reifeprüfungen, von denen das Leben genug bereithält. „Ein Haus in Irland“ ist der 14. Roman der Erzählerin Binchy, zuverlässig auf nahezu sämtlichen Bestsellerlisten vertreten, wie alle anderen Bücher vorher auch**. Ihre Werke werden in nahezu 30 Sprachen übersetzt, sie ist Irlands erfolgreichste Autorin, was sie mit Stolz erfüllt, auch wenn sie weiß, daß sie an berühmte irische Dichter wie William Butler Yeats, George Bernard Shaw und James Joyce nicht heranreicht. Verfilmung des Binchy-Romans „Circle of Friends“ (1995)*: Lauter liebenswerte Verlierer d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 179 Kultur tung, das ihnen alsbald hilfreich zur Seite steht. Denn ein Leben so ganz ohne Männer, das findet Maeve doch zu traurig. „Cosy“ nennen manche Kritiker ihre Bücher, „als wollte ich meine Leser vor dem Kaminfeuer in gutmütiger Betulichkeit an meinen großen Busen drücken“. Diese Einschätzung ärgert sie. Zu Recht: Denn ihre Romane sind weit mehr als herzbewegende Liebesschmonzetten, es sind wunderbar altmodische, feinfühlige Erzählwerke, voller Überraschungen. Sie hegt eine Nostalgie für die Nestwärme von damals – aber wer tut das nicht? –, und ihr gelingen kluge, präzise Charakterporträts von Menschen, die der unteren Mittelschicht oder der Arbeiterklasse entstammen und sich recht und schlecht durchs Leben wurschteln. Wie sie das machen, das ist mit Witz, Phantasie und Herzenswärme erzählt und illustriert gleichzeitig realistisch die Entwicklung Irlands. In „Circle of Friends“ etwa, erfolgreich verfilmt von Pat O’Connor, schildert Binchy äußerst genau den dumpfen Katholizismus im Irland der fünfziger Jahre, in „Die irische Signora“ beschreibt sie einen Haufen scheuer, liebenswerter Verlierer, die allmählich auf die Beine kommen, in „Der grüne See“ geht es wiederum um den Einfluß der Kirche, um Familiengeheimnisse und eine komplizierte MutterTochter-Beziehung. Mit ihrem neuen Buch ist Binchy im aufstrebenden Irland der neunziger Jahre angekommen. Lange Zeit widmete sie sich den Sechzigern, getreu dem Motto: „Schreib über das, was du gut kennst.“ Sie wuchs mit zwei Schwestern und einem Bruder auf, in Dalkey, damals ein Ort mit einem Fischladen und einem Pub. Sie wurde von liebevollen Eltern tolerant erzogen. Doch bei aller Toleranz, sagt sie, über viele Dinge sprach man nicht. Sex, Schwangerschaft, Abtreibung und die Unausweichlichkeit des Todes waren tabu. Jungfräulichkeit war eine große Sache in dieser Zeit, und Schulnonnen erzählten der jungen Maeve, daß die Freuden der Ehe sich für Frauen in Grenzen hielten – dafür habe Gott ihnen dankenswerterweise die Kraft gegeben, Männer und ihre Begierden erfolgreich abzuwehren. „Ich beendete die Schule und mußte feststellen, daß da nicht halb so viele männliche Begierden abzuwehren waren wie angekündigt“, sagt Maeve trocken. Sie studierte Französisch und Geschichte, unterrichtete in verschiedenen Schulen und reiste durch die Welt. Von einem Kibbuz-Aufenthalt in Israel schrieb sie begeisterte Briefe nach Hause. Die Reiseskizzen fand ihr Vater so unterhaltsam, daß er sie zur Zeitung brachte. Zwei der Berichte wurden gedruckt, und Maeve sah eine publizistische Karriere vor sich. „Ich hielt mich für Somerset Maugham“, sagt sie. Leider zeigte sich bald, daß unpersönliche Themen ihr nicht lagen, daß sie nur gut 180 d e r war, wenn sie schrieb, wie sie redete – schnoddrig, unverblümt, subjektiv. Während sie ihren Ruf als Kolumnistin festigte, verguckte sie sich in immer die falschen Männer, nämlich in verheiratete Filous. Bis sie, von der „Irish Times“ nach London entsandt, Gordon kennenlernte; der war überzeugter Junggeselle und eben- s p i e g e l Bestseller Belletristik 1 (1) John Irving Witwe für ein Jahr Diogenes; 49,90 Mark 2 (4) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 3 (2) Henning Mankell Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark 4 (3) John Grisham Der Verrat Hoffmann und Campe; 44,90 Mark 5 (5) Walter Moers Die 131/2 Leben des Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark 6 (6) Marianne Fredriksson Simon W. Krüger; 39,80 Mark 7 (7) Maeve Binchy Ein Haus in Irland Droemer; 39,90 Mark 8 (8) John le Carré Single & Single Kiepenheuer & Witsch; 45 Mark 9 (9) Minette Walters Wellenbrecher Goldmann; 44,90 Mark 10 (10) P. D. James Was gut und böse ist Droemer; 39,90 Mark 11 (11) Tom Clancy Operation Rainbow Heyne; 49,80 Mark 12 (15) Donna Leon Sanft entschlafen Diogenes; 39 Mark Eine attraktive sizilianische Ex-Nonne und fünf unerwartete Todesfälle 13 (13) Paulo Coelho Der Alchimist Diogenes; 32 Mark 14 (12) David Guterson Östlich der Berge Berlin; 39,80 Mark 15 (14) Cees Nooteboom Allerseelen Suhrkamp; 48 Mark 2 7 / 1 9 9 9 falls Journalist. Maeve verliebte sich in ihn, wollte ihm jedoch keinesfalls auf die Nerven gehen. Sie war fremd in der Stadt und sprach auf der Suche nach Freunden Leute an, die mit ihr auf den Bus warteten. Die Briten reagierten befremdet. „Irgendwann kam ich dahinter, daß sie mich einfach für nicht ganz dicht hielten.“ Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Sachbücher 1 (1) Waris Dirie Wüstenblume Schneekluth; 39,80 Mark 2 (3) Sigrid Damm Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark Thomas Mann nannte die Dichtergattin – ziemlich brutal – „ein schönes Stück Fleisch“ 3 (2) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark 4 (4) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark 5 (5) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 6 (6) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 7 (7) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark 8 (10) Guido Knopp Kanzler – Die Mächtigen der Republik C. Bertelsmann; 46,90 Mark 9 (9) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität Rowohlt Berlin; 39,80 Mark 10 (8) Jon Krakauer In eisige Höhen Malik; 39,80 Mark 11 (12) Jon Krakauer Auf den Gipfeln der Welt Malik; 39,80 Mark 12 (11) Gary Kinder Das Goldschiff Malik; 39,80 Mark 13 (14) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark 14 (13) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch Berlin; 39,80 Mark 15 (15) Monty Roberts Shy Boy Lübbe; 49,80 Mark d e r So wurde es zunächst nichts mit neuen Freunden, und Maeve begann, abends Kurzgeschichten zu schreiben. Und hat seither mit dem Schreiben nicht mehr aufgehört. Morgens um sieben setzt sie sich im Dachgeschoß ihres Hauses an den Schreibtisch, neben Gordon, der ein weiteres Koch- oder Kinderbuch verfaßt. In stiller Eintracht arbeiten beide vor sich hin, und gegen Mittag macht Maeve dann Schluß. Jeder ihrer dicken Schmöker – kaum einer unter 600 Seiten – ist nach rund sieben Monaten fertig, den Rest der Zeit widmet sie sich seiner Vermarktung. So geriet sie eines Tages in die populäre französische Literatursendung „Apostrophes“, wo sie mit anderen Autoren über Liebe in der Literatur parlieren sollte. Sie saß erwartungsfroh bereit, als der Moderator sich schroff an sie wandte und fragte: „Maeve Binchy, wie lautet Ihre Lebensphilosophie?“ Die Frage hatte mit dem ursprünglich verabredeten Thema nichts zu tun. Vor Hunderttausenden Fernsehzuschauern gibt man nicht gern den stotternden Volltrottel. Binchy vertraute ihrem Instinkt und sagte: „Ich glaube, das Leben ist wie ein Kartenspiel. Was immer du auf der Hand hast, mußt du ausspielen. Andere Karten kriegst du nicht.“ Die Literaturkollegen nickten ergriffen und murmelten: „Oui, oui, c’est juste.“ Sie lacht wieder, aber der Zynismus des Moderators, sagt sie, habe ihr überhaupt nicht gefallen. Überhaupt mag sie Zynismus nicht, ebensowenig wie rigorose Verurteilung von Menschen, weder in ihren Büchern noch im Leben, wo natürlich, wie sie weiß, nicht immer nur milde Herzensgüte waltet. Doch muß man sich im Fernsehen verheizen lassen? Nein. In der Nacht nach der „Apostrophes“-Sendung nahm sie den ersten Flug nach Dublin. Überhaupt das Reisen. Es ist beschwerlicher geworden. Und ist es nicht bedauerlich, daß das wirkliche Alter dem gefühlten Alter so gar nicht entspricht? „Ich fühle mich innerlich wie 25“, sagt Maeve, „aber meine Hüften sind leider 59 Jahre alt.“ Buchmessen meidet sie, wenn sie kann – deutsche Messen auch schon deshalb, weil sie nur drei deutsche Worte kenne: Büstenhalter, Strumpfhosen, Reisefieber: „That doesn’t make a good conversation.“ Also bleibt sie lieber zu Hause und widmet sich ihrem nächsten Buch. Im Leben wie im Roman ist ihr Blick auf die Welt wach und optimistisch, und sie registriert erfreut, daß Frauen Männern gegenüber nicht mehr willfährig sind „wie nickende Hunde“, sondern Karriere machen, ohne Schuldgefühle Sex haben und sich, bis auf einige bedauernswerte Ausnahmen, keineswegs mehr als arme Opfer stilisieren. Verantwortung für das eigene Dasein übernehmen hält Binchy für wichtig. „Wenn meine Bücher überhaupt eine Message haben, dann diese.“ Angela Gatterburg s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 181 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Prisma MEDIKAMENTE ARCHÄOLOGIE Aufregung um Aspirin Doppelpunkte im Karst M D er künstlerische Ausdruck ist sparsam, geradezu minimalistisch: Zwei Reihen von Doppelpunkten zeigt die wohl älteste Höhlenmalerei Deutschlands, angefertigt vor 13000 Jahren.Archäologen der Universität Tübingen wollen ihren Sensationsfund am Montag dieser Woche der Öffentlichkeit vorstellen. Endeckt hatten sie das handtellergroße Fragment schon letztes Jahr in der Hohle-Fels-Höhle auf der Schwäbischen Alb. Der Karst dieser Gegend ist reich an Höhlen, in denen eiszeitliche Jäger und Sammler Schutz suchten. Sie hinterließen neben einer Unmenge von Tierknochen auch Pretiosen wie Elfenbeinfiguren von Mammut und Wildpferd sowie eine 30 000 Jahre alte Flöte aus Schwanenknochen. Felszeichnungen allerdings hatten die Forscher in mehr als hundert Jahren Grabungsarbeit bislang nicht geborgen. Das nun entdeckte bemalte Stück Stein war vermutlich Teil eines größeren Gemäldes, das im Laufe der Zeit von der Höhlenwand gebröselt ist. Fundort Hohle-Fels-Höhle DPA it der Botschaft „Aspirin et al. können töten“ schreckte vorletzte Woche die Nachrichtenagentur Reuters die Bevölkerung auf. Der Bericht basiert auf einer Untersuchung des USMediziners Michael Wolfe von der Boston University School of Medicine über die Nebenwirkungen von „nichtsteroidalen Antirheumatika“ (englisches Kürzel: NSAID). Diese Präparate würden jährlich bei etwa 170 000 US-Bürgern Magengeschwüre verursachen, 16 000 der Betroffenen, so Wolfes Hochrechnung, würden an den Folgen sterben. Nach amerikanischem Sprachgebrauch werden alle NSAID bündig Aspirin genannt, weil einige von ihnen den Wirkstoff Acetylsalicylsäure enthalten – die Grundsubstanz des deutschen Pharmaklassikers Aspirin. Die von Wolfe mit Hilfe der US-Arthritis-Datenbank errechneten Nebenwirkungen beruhen allerdings auf Berichten von Rheumakranken, denen über lange Zeiträume NSAID in hoher Dosierung verabreicht worden waren. Von der Aspirin-Einnahme für die Behandlung von Kopf- AIDS Infektionsrate halbiert Arzneimitteltest mit Aspirin schmerzen und Migräne oder zur Vorbeugung gegen Herzinfarkt und Schlaganfall, versichert der Aspirin-Hersteller, die Leverkusener Bayer AG, gehe „zum Glück keine Gefahr aus“. Im Vergleich zu anderen Ländern nähmen die Deutschen Aspirin „eher zurückhaltend“ ein: Sie konsumieren pro Kopf und Jahr etwa acht Tabletten. Mehr als zehnmal soviel nehmen beispielsweise die Argentinier ein, die es auf einen Pro-KopfVerbrauch von 90 Aspirin bringen. Weltmeister sind die USA, wo jeder Bürger 119 Aspirin pro Jahr schluckt. chwule Männer in der Aids-Hochburg New York haben in den vergangenen 15 Jahren ihre sexuellen Verhaltensweisen deutlich geändert – unmittelbare Folge: Die Anzahl der mit dem Aids-Erreger HIV infizierten Männer ist drastisch gesunken. Dies geht aus den Ergebnissen der weltweit bislang umfangreichsten Untersuchung über Sexualpraktiken und gesundheitliches Befinden von sexuell aktiven Schwulen hervor. 7650 schwule und bisexuelle Männer (Durchschnittsalter: 34,5 Jahre) haben im vergangenen Jahr einen 20 Punkte umfassenden Fragenkatalog beantwortet. Die Auswertung der zum Christopher Street Day am vorletzten Sonntag veröffentlichten Umfrage zeigt, daß in New York die HIV-Infektionsrate unter den etwa 370 000 Schwulen derzeit bei 14,3 Prozent liegt; vor 15 Jahren war noch mehr als jeder dritte Schwulen-Parade in New York AP P. GINTER / BILDERBERG S infiziert gewesen. Daß die in New York betriebenen Aufklärungsmaßnahmen offenbar greifen, belegen die Hinweise auf die Bereitschaft der Betroffenen, sich einem HIV-Test zu unterziehen (90 Prozent) sowie die SaferSex-Praktiken: 1985 hatten nur 34 Prozent beim ersten analen Geschlechtsverkehr ein Kondom benutzt; die jetzt vorliegende Befragung weist eine Quote von 78 Prozent auf. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 185 Prisma Computer MIKROCOMPUTER Schnelle Billigrechner E ine goldene Regel im Computergeschäft lautet: Jede technische Verbesserung wird sogleich von noch komplizierteren Programmen aufgezehrt. Mit ihrem „iToaster“ will die US-Firma Microworkz jetzt aus der HardwareHochrüstung aussteigen. Die schwarze Box, jüngst auf der PC Expo in New York vorgestellt, kostet lediglich 199 Dollar und begnügt sich mit der Technik von gestern: einem mittelschnellen AU T O T E C H N I K Elektronischer Beifahrer S vom Massachusetts Institute of Technology haben ein Computersystem gebaut, das angeblich mit einer Trefferquote von bis zu 95 Prozent die Absichten von Autofahrern vorhersehen kann. Sensoren am Lenkrad, dem Gas- und Bremspedal zeichnen fortlaufend die individuellen Gewohnheiten des jeweiligen Fahrers auf: Beschleunigung plus leichtes Steuern nach links könnte beispielsweise bedeuten, daß der Mann am Steuer einen Überholvorgang vorhat. Nach einer 20minütigen Trainingsphase „weiß“ der elektronische Beifahrer bis zu zehn Sekunden im voraus, was der Fahrer am Lenker beabsichtigt. Das System ist als Ergänzung zu anderen experimentellen Fahrhilfen wie Abstandsradar und Spurautomatik gedacht. H. MAU / AUTO BILD ie sagen das Wetter voraus, extrapolieren die Börsenkurse, und jetzt sollen Rechner auch noch menschliches Verhalten erahnen. Andrew Liu vom Autobauer Nissan und Alex Pentland PC von Microworkz Autofahrer auf der Überholspur Meldung gegebenenfalls als „unpassend“ bemängelt. Doch auch gänzlich unverdächtige Schreiben gelangen versehentlich auf die schwarze Liste. Zum Beispiel versteht der Bloomberg-Zensor den deutschen Maschinenbaukonzern er US-Finanzdienstleister BloomFAG (englisch für „Schwuchtel“) Kugelberg führt derzeit ein absurdes Beifischer als Schwuchtel-Kugelfischer. spiel amerikanischer Sittenstrenge vor. Um den Vokabel-Wächter zu überlisten, Wer auf einem Bloombergverwenden die Broker Terminal versucht, seinen und Trader inzwischen pejorative Wörter aus anBörsenfrust mit derben deren Sprachen. Das Worten per E-Mail in die deutsche „Nupsi“ für Welt zu senden, erlebt eine Brustwarze ist bei den Überraschung. Tief im InBörsianern ebenso beliebt neren des Bloomberg-Mailwie indonesische Flüche Rechners arbeitet ein elekund russische Umschreitronischer Wächter, der bungen für Geschlechtsnach anstößigen Kraftausverkehr. Wall-Street-Broker drücken fahndet und die NETZE Sittenpolizei im MailVerkehr Pentium-Prozessor, einer nach heutigen Maßstäben kleinen Festplatte (2,1 Gigabyte) und einem mageren Hauptspeicher. Entscheidend für die dennoch hohe Arbeitsgeschwindigkeit ist das genügsame Betriebssystem. Nicht Microsofts umfangreiches Windows oder Apples Mac OS steuern die Grundfunktionen des Billigrechners, sondern eine Mischung aus den alternativen, besonders schnellen Betriebssystemen Linux und BeOS. Standardsoftware wie Textverarbeitung und Internetbrowser wurde eigens für den „iToaster“ angepaßt. Nur mit der Produktion der Geräte hat Microworkz noch Schwierigkeiten: In den ersten zwei Monaten ab Mitte Juli sollen nur 10 000 Stück ausgeliefert werden. TA S C H E N R E C H N E R Hilfe gegen Tippfehler I m Mathematik- und Physikunterricht verschlang das Rechnen selbst nie die meiste Zeit. Es war der Zahlendreher oder das fehlerhaft gesetzte Komma, die immer wieder zum falschen Ergebnis führten. Mit sogenannten D.A.L.-Taschenrechnern von Sharp können solche Flüchtigkeitsfehler jetzt leichter entdeckt und korrigiert werden. Die Rechenmaschinen zeigen auf dem Display nicht nur die berechneten Zwischenergebnisse an; in einer zweiten Zeile sind zugleich alle nacheinander ausgeführten Rechenoperationen ablesbar. Bei einem Flüchtigkeitsfehler oder um in die eingetippte Formel unterschiedliche Zahlenwerte einzusetzen, läßt sich jede Eingabe nachträglich verändern. Die volle Kontrolle über Cosinus und Tangens kostet in der Luxusversion rund 46 Mark. AP 186 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 K. BERNSTEIN / DER SPIEGEL D D.A.L.-Rechner von Sharp Werbeseite Werbeseite Wissenschaft MEDIZIN Bioboom in der Karibik Mehr als eine Milliarde Dollar hat Kuba in den vergangenen Jahren für Bioforschung und Arzneiproduktion ausgegeben. Tausende von Touristen kommen in den CastroStaat, um sich ärztlich behandeln zu lassen. P Spezialkliniken, von ihrer Drogensucht loszukommen. Diese Entwicklung angestoßen hatte Fidel Castro mit einem beschwörenden Aufruf, der noch heute als Motto in den Eingangshallen vieler Institute und Kliniken, Schulen und Universitäten zu finden ist: „Kubas Zukunft kann nur in der Zukunft seiner Wissenschaft begründet sein“, hatte Castro kurz nach der geglückten Revolution verkündet. Weggefährte Ché Guevara machte den Anfang; er gründete 1964 ein Institut zur Erforschung der Zuckerrohrverwertung. Nun, vier Jahrzehnte später, scheint die damals großspurig klingende Vision des Staatschefs ein Stück kubanischer Realität geworden zu sein. Sie schlägt sich zum einen nieder in der kostenlosen medizinischen Betreuung der kubanischen Bevölkerung. Um deren Wohl kümmern sich derzeit mehr als 62 000 Mediziner. Die Ärztedichte ist damit fast doppelt so hoch wie in Deutschland. Die Erfolge sind meßbar: Die Säuglingssterblichkeit in Kuba – sie lag vor der Revolution bei 66 Todesfällen je 1000 Neugeborenen – sank auf eine Rate von 9, die niedrigste aller Länder Lateinamerikas. Zugleich stieg die Lebenserwartung der Kubaner beträchtlich; sie liegt heute bei 75,6 Jahren, vor der Revolution betrug sie etwa 60 Jahre. Masern, Tuberkulose und Polio wurden durch obligatorische Schutzimpfungen praktisch ausgerottet; im nächsten Jahr werden alle Kubaner unter 20 Jahren auch gegen die Folgen von Hepatitis B immunisiert sein. Den Impfstoff liefert die staatliche Pharmafabrik Biopreparados in Bejucal bei Havanna. Als Fidel Castro 1960 dem Tabak- und Zuckerstaat den langen Marsch durch die Labors verordnete, „hatten wir zwar Wissenschaftler, aber keine Wissenschaft“ nach westlichem Maßstab, erinnert sich Pedro FOTOS: S. CREUTZMANN / ZEITENSPIEGEL S. CREUTZMANN / ZEITENSPIEGEL / PICTURE PRESS wöhnlichen Erfolg Kubas. hilipp Schaller, 19, sitzt Der karibische Inselstaat auf einem schlichten nimmt sich geradezu Holzbett sozialistiwie eine wissenschaftliche schen Zuschnitts. Sein KranGroßmacht aus: kenlager steht im Zimmer π Kubanische Forscher 606 eines beigefarbenen entwickelten den derzeit Neubaus im Zentrum von einzig wirksamen ImpfHavanna. stoff gegen eine Form Die Augäpfel des jungen der HirnhautentzünMannes aus dem bayeridung, Meningitis B. schen Haimhausen sind verπ In 38 wissenschaftlichen quollen, die Augen zu SchlitEinrichtungen in einem zen verengt. Schaller erholt Außenbezirk Havannas sich von einer Operation, beschäftigen sich rund mit der kubanische Chirur1400 Wissenschaftler mit gen sein Augenleiden lindern der Herstellung und Erwollen, das als unheilbar gilt Staatschef Castro probung neuer Medikaund zur Erblindung führt. mente, darunter Dutzende von AntiÄrzte in den Industrienationen haKrebsmitteln. Auch experimentieren die ben den Kampf gegen diesen sogenannForscher mit gentechnisch veränderten ten Tunnelblick, bei dem die Sehnerven Tieren und Pflanzen. nach und nach absterben, praktisch aufgegeben. Sie beschränken sich zumeist π Tausende von Patienten, auch aus westlichen Industrieländern, kommen jedes darauf, die genetischen Ursachen der Jahr nach Kuba zur Behandlung typi„Retinopathia pigmentosa“ (RP) zu erscher Alterskrankheiten wie etwa Alzgründen. Bei ihm, so Schaller, hätten die heimer und Parkinson oder versuchen in Ärzte in Deutschland „die Krankheit erst erkannt, als ich 15 war, und dann eine Brille nach der andern verschrieben – gebracht hat’s nichts“. Mit der Karibik-Insel bringt der westliche Wohlstandsbürger Rum und Zigarren, sozialistische Mangelwirtschaft und unbelehrbare Kommunisten in Verbindung. Ausgerechnet in Kuba entwickelten Augenärzte der Klinik „Camilo Cienfuegos“ eine Operationstechnik für RP-Patienten. „Wir können das Leiden auch nicht heilen“, räumt die Chirurgin Maritza Herrera Mora ein, doch durch den Eingriff werde die Erblindung zumindest hinausgeschoben: „eine Gnadenfrist“. Zwar beurteilen europäische und US-Augenspezialisten das neue Verfahren zumeist skeptisch. Doch die Patienten schreckt das nicht. Schon über 10 000 RP-Kranke aus Kuba und anderen Ländern haben sich bei den karibischen Ärzten unters Messer begeben, davon etwa 80 aus Deutschland. Die Augenoperationen sind ein besonders schillerndes Beispiel für den unge- Forschungszentrum CIGB, Impfstoffherstellung im Staatsbetrieb Biopreparados (bei Havanna): 188 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Augenpatient Schaller bei der Untersuchung in der Klinik „Camilo Cienfuegos“ (in Havanna): Erblindung verzögert? Kouri vom Tropeninstitut in Havanna. Um die Vorgaben des in die Medizin vernarrten Máximo Líder wahr werden zu lassen, wurden die Lehrpläne reformiert. Die Universitäten konzentrierten sich fortan auf die Lehre naturwissenschaftlicher Disziplinen. Tausende von Studenten gingen in den sechziger und siebziger Jahren zur Fortbildung ins Ausland. „Die meisten kamen als Experten ihrer jeweiligen Fachgebiete zurück“, sagt der Biologe Pedro López Saura, der sich in Belgien, Österreich und Frankreich weitergebildet hat. „Kubas Zukunft liegt in seiner Wissenschaft“ Ins Ausland waren Kubas Wissenschaftler mit der Vorgabe gereist, sich auf Therapien und Techniken zu konzentrieren, die dem heutigen Elf-Millionen-Einwohner-Volk zugute kommen könnten. Der Ansatz hatte Erfolg, wie die Gesundheitsstatistiken bestätigen. Daß derlei Fortschritte in der übrigen wissenschaftlichen Welt kaum zur Kenntnis genommen wurden, „daran tragen wir selbst zweifellos die Hauptschuld“, gesteht Biologe López freimütig ein. Denn nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland hatten die kubanischen Wissenschaftler ein Gebot vernachlässigt, das die Welt der Wissenschaft beherrscht: „Publish or perish“ – „Veröffentliche oder geh unter“. Vor allem der „Schreibfaulheit kubanischer Wissenschaftler“, aber auch „einer gewissen Arroganz westlicher Wissenschaftsmedien“, schreibt es López zu, daß „kaum jemand weiß, was wir auf dem Feld von Medizin und Biotechnologie in den letzten Jahren geleistet haben“. Woher kam das Geld für das kubanische Medizin-Wunder? Als sich 1991 die Sowjetunion, Kubas Geldgeber, auflöste, stürzte der CastroStaat tief ins Wirtschaftschaos. Es mangelte an Nahrungsmitteln, die Öllieferungen blieben aus, die landwirtschaftliche Produktion fiel rapide ab, weil Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel knapp wurden. Devisen sollten künftig die Touristen bringen, für die Castro zunehmend d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Kubas Strände öffnete und Luxushotels hochziehen ließ. Einen Großteil der Einnahmen aus dem Tourismusbetrieb investierte der Altrevoluzzer jedoch nicht wie andere Alleinherrscher in Rüstungsgüter, Schnellstraßen oder Staudämme. Statt dessen gab Kuba in den vergangenen Jahren über eine Milliarde Dollar für das Ziel aus, den Staat auf biotechnologischem Gebiet an die Erste Welt heranzuführen. Die Zwischenbilanz ist erstaunlich. In viertelstündiger Lada-Schnellfahrt aus dem Zentrum über die „Quinta“, Havannas palmenbestandene Park Avenue, ist der „Polo Científico del Oeste“ erreichbar. Umgeben von alten Residenzen der Zuckerbarone und Mafiabosse, inmitten von Tabak- und Maisfeldern, sind in dem „Wissenschaftszentrum“ biotechnologische Forschungsund pharmazeutische Produktionsstätten konzentriert, Arbeitsplatz von 12 000 Chemikern, Medizinern und Molekularbiologen, Laboranten und Hilfskräften. Die Mitarbeiter dieser Wissenschaftsstadt erreichen ihre klimatisierten Labors per Zubringerbus. Für Frühstück, Mittagund Abendessen zahlen sie pro Tag einen Peso (umgerechnet: acht Pfennig), sie erhalten Schuh- und Kleidungsgeld sowie „Mittel zur persönlichen Körperpflege“ (López). Mit 400 Pesos Monatssalär (33 Mark) gehören sie zu Kubas Spitzenverdienern, promovierte Wissenschaftler erhalten ein Aufgeld von 125 Pesos. Von der in Havanna sonst allgegenwärtigen Mangelwirtschaft ist in der Wissen189 Wissenschaft schaftsstadt kaum etwas zu erahnen. Dort stehen Elektronenmikroskope, Massenspektrometer und Laserkanonen, summen Zentrifugen und klicken Computertomographen. Stereotaktische Gehirnoperationen sind hier Routine. „Sämtliche Geräte“ – Importe aus Japan, den Niederlanden, Deutschland oder Italien – gehörten zur „Spitzentechnologie und sind betriebsbereit“, versichert Eduardo Alvarez, Neurologe am Centro Internacional de Restauracíon Neurológica (Ciren). Die Klinik (Motto: „Ein Zentrum der Liebe und Hoffnung“) hat sich auf die Behandlung von Parkinson- und Epilepsiepatienten, von spastischen Erkrankungen, Hirntumoren und anderen Nervenleiden spezialisiert. Eine Reha-Klinik ist angeschlossen. Herzstück der Biomedizin-Stätte ist das neunstöckige Centro de Ingeniería Genética y Biotecnología (CIGB), zu dessen Mitbegründern der Biologe López zählt. Wie nahezu alle anderen Institute ist auch das CIGB zugleich Forschungs-, Entwicklungsund Produktionsstätte. Die CIGB-Produktpalette umfaßt zum Beispiel mehrere Typen von Interferonen, die zur Behandlung spezieller Krebserkrankungen getestet werden sollen, und das Mittel Streptokinase zur Behandlung von Herzinfarkten. In den Laborkesseln des CIGB entstand der weltweit einzig wirksame Impfstoff gegen den Befall durch eine Rinderzecke. In einem Seitenflügel des achten Stocks hat die Biologin Rebecca Martínez, 30, das neueste Produkt des Instituts aus einem unbepflanzten Aquarium gekescht: einen Tilapia. Dem Buntbarsch wurde ein weiteres Wachstumsgen eingepflanzt, nun wächst er doppelt so schnell wie seine unveränderten Artgenossen. 30 Tonnen dieser Buntbarsche hat das Team um Rebecca Martínez voriges Jahr gezüchtet. Eine Woche lang haben die kubanischen Fischforscher ihr Produkt auch versuchsweise verzehrt. Martínez: „Es war sehr lecker.“ Nebenwirkungen verspürten die Testesser nicht, auch die medizinischen Untersuchungen waren ohne Befund. Trotzdem wurden, mangels behördlicher Zulassung, die Restbestände verbrannt. Die Biologin möchte dies jedoch nur als Sicherheitsmaßnahme verstanden wissen: „Der dicke Fisch ist marktreif“, beteuert sie. Schon in den nächsten Wochen werde der Züchtung voraussichtlich die biologische Unbedenklichkeit attestiert. US-amerikanische Besucher zeigen sich fast durchweg angetan. „Eindrucksvoll“ und „sehr dynamisch“, urteilte beispielsweise der Nobelpreisträger Harold Varmus, Direktor der amerikanischen National In- stitutes of Health. Einige von Kubas Pharmafabriken gehörten „neben den britischen und US-amerikanischen zu den besten der Welt“, bestätigte James Larrick vom kalifornischen Palo Alto Institute for Molecular Medicine. Solche Lobsprüche verstellen den kubanischen Wissenschaftlern nicht den Blick für die Realität. Trotz des Exportwerts kubanischer Medikamente und Medizingeräte von über 100 Millionen Dollar „werden wir auf dem Weltmarkt so schnell keine Rolle spielen“, räumt CIGB-Biologe López ein. „Dort müssen wir nicht nur gegen 25 Pharma-Multis antreten, sondern zudem gegen das Embargo.“ Die Auswirkung der US-amerikanischen Blockadepolitik zeigt sich beispielhaft am Impfstoff gegen Meningitis B. Das weltweit einzig wirksame Präparat gegen die bei zwölf Prozent der Betroffenen tödlich verlaufende Krankheit war bereits Mitte der achtziger Jahre am kubanischen Finlay-Institut entwickelt worden. In zwölf Ländern, darunter – neben Kuba – Brasilien, Kolumbien und Argentinien, wurde der Impfstoff inzwischen eingesetzt. Die Erfolgsraten lagen zwischen 74 und 83 Prozent. Da nach Angabe der amerikanischen Meningitis-Expertin Nancy Rosenstein jedes Jahr allein in den USA 120 Menschen zu Opfern der Meningitis B werden, „wäre es wünschenswert, wenn wir einen effektiven Impfstoff hätten“. Ein Lieferant stünde auch bereit: Der britische Arzneimittelhersteller SmithKline Beecham will das kubanische Vakzin in seinen belgischen Labors testen und seine Wirksamkeit, wenn möglich, verbessern. Dazu wird es vorerst nicht kommen. Die Laboranlage in Belgien gehört einer US-amerikanischen Tochterfirma des britischen Multis, und die ist an die Embargo-Vorschriften gebunden. Anzeichen für eine Lockerung der 37jährigen totalen Blockadepolitik sind derzeit Biologin Martínez mit Gen-Fisch: Leckeres Testessen nicht erkennbar. Havannas Ankündigung, von den Vereinigten Staa- mittlerweile „strikt nach internationalen ten Schadensersatz in Höhe von 181,1 Maßstäben aus“, sagt López. Milliarden Dollar für die „AggressionspoDas werde nicht zuletzt beim Reizthema litik der vergangenen 40 Jahre“ zu for- wissenschaftliche Publizierung deutlich: dern, dürfte die Lage politisch eher ver- „Kann ein CIGB-Forscher pro Jahr nicht schärfen. wenigstens eine Arbeit in einem anerFür den Fall, daß die USA das Relikt des kannten Wissenschaftsmagazin plazieren, Kalten Krieges dennoch abschütteln soll- kriegt er Schwierigkeiten mit seinem Boß.“ ten, glauben sich die Kubaner gut vorbeUnterdes erlebt der staatliche Medizinreitet. Damit die wissenschaftliche Welt Tourismus einen Wachstumsboom. Für die Kubas Forschung und ihre Ergebnisse ge- ärztliche Versorgung der Touristen in den bührend zur Kenntnis nimmt, richten die Ferienhotels an den Stränden von Varadekubanischen Wissenschaftler ihre Arbeit ro ist die Firma Servimed verantwortlich. Vom eigentlichen Unternehmensziel kündet ein Prospekt, der auf 50 Seiten medizinische Dienstleistungen anbietet. Sie reichen vom dreistündigen normalen MedizinCheck (235 US-Dollar) über die eingehende Untersuchung der „männlichen SexualSchwäche“ bei viertägigem Klinikaufenthalt zum Preis von 1425 US-Dollar bis hin zur Hornhauttransplantation, die einschließlich zwei Wochen Krankenhausaufenthalt 5720 Dollar kostet. Als weiteres Angebot enthält der Servimed-Katalog die Drogenentzugsbehandlung. Für den Versuch, mit Hilfe kubanischer Spezialisten in drei Monaten von Kokain, Alkohol oder Heroin loszukommen, muß ein Suchtkranker insgesamt 15 485 US-Dollar zahlen. Die 55 Therapieplätze sind fast das ganze Jahr ausgebucht. Von dem regen Gesundheitstourismus profitiert auch die kubanische Bevölkerung. Rund 30 Millionen Dollar nahm der Staatsbetrieb im vergangenen Jahr ein – über die Hälfte davon wurde verwendet, um die kostenlose medizinische Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Rainer Paul C. KETTLER Tierschützer-Demonstration (in Schwerin): „Haben Sie Mitleid mit der armen Kreatur!“ TIERSCHUTZ „Sündenfall der Menschheit“ Macht Karlsruhe der Batteriehaltung von Hühnern ein Ende? Im Kampf um die Befreiung der Legehennen wird jetzt das Urteil gefällt. 192 deutschen Batterien ihr Dasein fristen. Auch in diesem Verfahren hatte Schindler keinen leichten Stand: Da der Tierschutz nicht im Grundgesetz verankert ist, läßt sich ein verfassungsrechtliches Verbot der massenhaften Käfighaltung nicht ohne weiteres herleiten. Schon 1990 strengte die nordrhein-westfälische Landesregierung die verfassungsrechtliche Überprüfung der „Hennenhaltungsverordnung“ an, die den Legebatterien der Agrarindustrie als Rechtsgrundlage dient. Widerpart ist die (mittlerweile gleichfalls rot-grüne) Bundesregierung. Wenig Anklang fanden bisher alle Appelle an die Verbraucher, lieber weniger, dafür aber „Bio-Eier“ zu kaufen. Doch die Konsumenten allein könnten das Elend ohnehin nicht beenden. Die Lebensmittelindustrie, die 50 Prozent der von deutschen Hühnern gelegten Eier abnimmt, greift fast nur zur billigeren Batterieware. Entgegen allen Beteuerungen von Bundeslandwirtschaftsminister KarlHeinz Funke ist auch vom europäischen Gesetzgeber kein Heil zu erwarten. Ausgerechnet Funke schwächte als Vorsitzender des EU-Agrarministerrats einen Entwurf der EU-Kommission für eine C. WICKLER / ZEITENSPIEGEL D as kann doch nicht gesetzmäßig sein“, sagte sich Wolfgang Schindler, 53, als er vor 20 Jahren zum erstenmal sah, wie es in den schummrigen und dreckstarrenden Hühnerpferchen zuging – „in einem Land, das sich rühmt, das beste Tierschutzgesetz der Welt zu besitzen.“ Seither ficht der Rechtsanwalt mit nüchterner Besessenheit und finanziellem Engagement seinen Befreiungskampf für das geschundene Federvieh. Daß die Batteriehaltung unrechtmäßig ist, versuchte er über die Beschwerde einer Ökobäuerin zu klären, die einen Käfigeierproduzenten wegen Wettbewerbsvorteils verklagt hatte. Auf eigene Kosten zog Schindler mit dieser Klage vor das Landgericht München, danach zum Oberlandesgericht und schließlich zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe – vergebens. Jetzt hat ihn sein Feldzug gegen den Hühnerknast wieder nach Karlsruhe geführt, diesmal als Bevollmächtigten der nordrhein-westfälischen Umwelt- und Landwirtschaftsministerin Bärbel Höhn. Am Dienstag dieser Woche verkündet das Bundesverfassungsgericht sein Urteil, das über die Lebensumstände von 43 Millionen Legehennen entscheiden wird, die in Anwalt Schindler d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 neue Richtlinie ab: Auf seinen Vorschlag hin verständigte sich der EU-Rat Mitte Juni auf eine neue „Richtlinie zum Schutz der Legehennen“, die bis Ende 2002 alles beim alten beläßt. Erst ab 2003 verpflichtet die Vorschrift alle EU-Mitgliedstaaten, den Hühnern mehr Platz zuzugestehen – etwa die Fläche eines Bierdeckels zusätzlich. Ab 2013 sollen nur noch modifizierte Käfige erlaubt sein, mit einer Sitzstange, Gemeinschaftsnest und insgesamt 750 Quadratzentimeter Platz pro Huhn. Auch in solchen „mit allerlei Firlefanz versehenen Behältnissen“, zwei Finger breiter als ein DIN-A-4-Blatt, „lassen sich Hühner niemals artgerecht unterbringen, wie es europäisches Recht vorschreibt“, kritisiert Anwalt Schindler. Deshalb hofft er auf ein Machtwort aus Karlsruhe. Rechtliche Angriffspunkte bietet die 1987 in aller Eile erlassene Hennenhaltungsverordnung hinlänglich: Vor Erlaß der Verordnung hätte der damals zuständige Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle (CSU) eine „Tierschutzkommission“ anhören sollen, doch die wurde erst gegründet, als die Verordnung schon abgefaßt war. Kiechle begründete die Laxheit der Verordnung damit, daß es nicht möglich gewesen sei, über die damaligen europäischen Richtlinien hinauszugehen – dabei stellen diese nach der Feststellung des Europäischen Gerichtshofs nur Mindestforderungen dar. Zudem stützt sich die Verordnung ausgerechnet auf das deutsche Tierschutzgesetz, das klare Maßstäbe setzt: Der Besitzer muß die Tiere „verhaltensgerecht unterbringen“ und darf „die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, daß ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden“. Daß „die derzeitige Käfighaltung den Tatbestand der Tierquälerei in hohem Ausmaß erfüllt“, hatten die Geflügel- und Verhaltensforscher Paul Leyhausen, Glarita Martin und Jürgen Nicolai, beauftragt vom Wissenschaft 72 Prozent von der Käfigmisere „bedrückt“, 87 Prozent würden ein Verbot der Batterien begrüßen. Die eindeutige Deklaration als „KäfigEi“ könnte Fabrikprodukte von den „BioEiern“ (Marktanteil: sechs Prozent) unterscheiden helfen. Doch Deutschlands Großproduzenten, die ihre Unternehmen undurchsichtig verschachteln, täuschen auf ihren Packungen Hühnerglück in ländlicher Idylle vor. „Die Verbraucher kaufen keine Gutshof- oder Heidegold-Eier, wie uns die Kartons vorsäuseln, sondern Industrieware“, sagt Andreas Krug, Landwirtschaftsexperte beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland. Manche der Hühner-Multis, beispielsweise die „Eifrisch“-Farm in Neukirchen bei Chemnitz, kerkern über eine Million Hennen in vollautomatisierten Fabrikhallen ein. Nicht auf heimelige Markennamen, sondern auf die Herkunft aus artgerechter „Freilandhaltung“ sowie auf die Tierschutz-Aufdrucke im Deckel des Kartons sollten die Eieresser achten und Ware der Öko-Landbauverbände bevorzugen, sagen die Kritiker. So schwierig die rechtliche Abwägung sein mochte, so klar waren die Freiland-Hühner: Kennzeichnung für Käfig-Eier? Emotionen des Publikums in KarlsEinen mutigen Alleingang hat die ruhe zu vernehmen. Nach knapp fünfSchweiz, nach einer Volksabstimmung stündiger Debatte brach es aus einer Zuhö1978, erfolgreich hinter sich gebracht: rerin heraus: „Haben Sie Mitleid mit dieTrotz billigerer Importe kaufen mehr als 70 ser armen Kreatur“, rief sie den Richtern Prozent der Schweizer Verbraucher Eier zu, „die Hühner können sich doch nicht aus den landeseigenen Volieren, in denen wehren.“ Doch Mitleid ist keine juristische Katedie Legehennen auffliegen, scharren, ihr Gefieder putzen und im Sand baden gorie. Nur wenn die Richter einen Verstoß gegen verfassungsrechtliche Vorgaben festkönnen. Auch die deutschen Verbraucher, das stellen, hat der Kampf der Tierschützer ließ Anwalt Schindler 1998 durch Infas- zum Ziel geführt. Meinungsforscher ermitteln, fühlen sich zu Dietmar Hipp, Renate Nimtz-Köster formen gefunden hat“: Mit diesem Spruch, mit dem sich Funke 1995, damals niedersächsischer Landwirtschaftsminister, für die Abschaffung der Legebatterien eingesetzt hatte, konfrontierten nun Tierschützer bei einer Mahnwache bis zum Tag der Urteilsverkündung die Karlsruher Richter. Jetzt, als Minister eines rot-grünen Kabinetts, hat Funke im Hühnerstreit die Seiten gewechselt. In der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht warnten Funkes Vertreter vor den Gefahren eines „nationalen Alleingangs“, der deutsche Eierproduzenten gegenüber der ausländischen Konkurrenz benachteiligen könnte. S. SONNTAG / PICTURE POINT damaligen Bundeslandwirtschaftsministerium, schon 1974 in einem Gutachten bestätigt: In den übereinander gestapelten Drahtgehäusen der Hühnerfabriken seien „nahezu alle angeborenen Verhaltensweisen beeinträchtigt und verändert“, ein „hohes Maß an Streß“ verursache bei den Tieren „erhebliches Leiden“. Auch die deutschen Gerichte hatten die Käfighaltung überwiegend als grundsätzlich strafbare Tierquälerei bewertet – bis Kiechle 1987 mit der Hennenhaltungsverordnung die kriminelle Praxis legalisierte. Die flugfähigen, scharrfreudigen Bodenvögel vegetieren in fensterlosen Flachbauten auf einer Drahtfläche dahin, die mit 450 Quadratzentimetern kleiner ist als eine Druckseite im SPIEGEL. Zu viert ins enge Verhau gezwängt, steigen sie beim Kampf um den Platz am Futtertrog übereinander und aufeinander, werfen sich hoch und stürzen kreischend ab, Verletzungen und Knochenbrüche sind die Folge. In Frustration und Erschöpfung endet auch der angeborene Drang, zur Eiablage ein geschütztes Nest zu finden oder in Sand und Staub zu baden. Immer wieder versuchen die Hennen in panischer Angst durch die Gitterstäbe zu entkommen, sie picken und reißen am Gefieder ihrer Artgenossen. Damit die aufgeregten Tiere einander nicht zu Tode hacken, werden ihnen vielfach die Schnäbel „kupiert“. Nur ständiges Dämmerlicht verhindert massenhaften „Kannibalismus“. Die Fertigkost vom Fließband wird, wie der belgische DioxinSkandal deutlich machte, oftmals mit Fett von schmuddeliger Herkunft angereichert. So lassen sich 300 Eier aus einem Tier herauspressen, statt der etwa 150 Eier, die ein Huhn noch in den fünfziger Jahren im Laufe seines Lebens produzierte. „Ich halte es für einen Sündenfall der Menschheit, daß sie solche Tierhaltungs- Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite nicht nur durch Hepatitis-A-Viren und Hepatitis-B-Viren verursacht werden können, sondern auch durch einen weiteren, unbekannten Erreger. Doch erst vor zehn Jahren gelang es japanischen Forschern, nachdem sie einen Liter Patientenblut durch ihre Analysegeräte geschleust hatten, die äußeFast eine Million Deutsche sind re Gestalt des rätselhaften Virus mit Hepatitis C infiziert. Forscher sichtbar zu machen – auf dem haben die lebensgefährlichen Bildschirm ihres Elektronenmikroskops erschien eine verErreger jetzt im Labor gezüchtet – schwommene, stachelige Kugel. kommt bald ein Impfstoff? Wie das HCV im Detail aussieht, wissen die Virologen allerdings bis eder dritte weiß nicht, wie und wann heute nicht. er sich angesteckt hat. Beim Sex? Im Noch nicht einmal die AufPiercing-Studio? Durch Gebrauch eiklärung des Laienvolks ist den ner fremden Zahnbürste? Experten bislang hinreichend „Diese Unsicherheit müßte jedem Virogelungen. „Die Kenntnisse in logen und Hygieniker eigentlich den Schlaf der Bevölkerung sind minirauben“, sagt der SPD-Gesundheitspolitimal“, klagt Gesundheitspolitiker ker Horst Schmidbauer. Schmidbauer, „selbst viele Ärzte Rund 800 000 Deutsche sind mit dem gewissen kaum um die HCV-Gefährlichsten aller Gelbsucht-Erreger infifahr.“ ziert – 20mal mehr als mit dem Aids-ErreDas Tückische an der Krankger. Und viele Betroffene ahnen gar nichts heit: Weil die meisten der Infidavon. Denn lange Zeit, oft ein Leben lang, Virologen Lohmann, Bartenschlager zierten gar nicht wissen, daß sie verhalten sich die Hepatitis-C-Viren (HCV) „Einfach nur Glück gehabt?“ den Erreger in sich tragen, könruhig. Allenfalls fühlen sich die Infizierten anfangs ein wenig müde und leicht fiebrig. Hepatitis-C-Erreger hatten sie aus der ver- nen sie jahrelang ungewollt andere MenWenn die Viren aber nach einigen Jahren klumpten Leber eines Zirrhose-Patienten schen anstecken, etwa beim Geschlechtsrichtig losschlagen, kann es zu Leberent- isoliert, der dem Tod nur knapp durch eine verkehr. Viele erfahren erst von der Infektion, zündungen, zur häufig tödlich verlaufen- Leber-Transplantation entgangen war. den Zirrhose und zum Leberzellkrebs „Vielleicht haben wir einfach nur Glück wenn sich nach einigen Jahren ihre Leber kommen. Medikamente wirken nur bei ei- gehabt“, spekuliert Bartenschlager, „und entzündet. Bei jedem dritten Erkrankten nem kleinen Teil der Patienten. Auch einen durch Zufall besonders widerstandsfähige kommt es schließlich zur Zirrhose: Aus dem Organ wird ein narbiger Klotz, der Impfstoff gegen den Leber-Killer gibt es Exemplare erwischt.“ noch nicht. Zwar haben die Mainzer Forscher vor- das Blut nicht mehr reinigen kann. GiftNun sind Forscher im Kampf gegen die erst nur eine unvollständige Version der stoffe verseuchen den Körper und verneunheimliche Krankheit einen wichtigen Hepatitis-C-Erreger kultiviert; doch ihre beln das Gehirn. Am Ende stehen häufig Schritt vorangekommen. Den Mainzer Vi- Labor-Viren verfügen über die wichtigsten Delirium und Tod. Therapien gegen Hepatitis C beschränrologen Volker Lohmann und Ralf Barten- Bestandteile, die sie zur Vermehrung schlager ist es erstmals gelungen, so be- benötigen. „Wir können das Virus an- ken sich bislang darauf, die körpereigene richteten sie letzte Woche im amerikani- nähernd so gut wie im menschlichen Abwehr der Betroffenen zu stärken. Beschen Wissenschaftsmagazin „Science“, Körper studieren“, erläutert Barten- sonders das Eiweiß Interferon alpha regt die Killerzellen des Immunsystems dazu eine verstümmelte Form des HCV im La- schlager. bor zu züchten. Bisher ist das HCV nur wenig erforscht. an, die Viren zu bekämpfen. Gerade mal „Endlich lassen sich neue Wege zur Be- Zwar stellte sich schon in den siebziger bei jedem vierten Patienten hat diese Behandlung erproben“, freut sich Barten- Jahren heraus, daß Leberentzündungen handlung eine heilsame Wirkung. Mit dem neuen Viren-Mittel Ribavirin, seit schlager, Leiter des HCV-ForMai in Deutschland auf dem schungsprojekts. Auch die EntDunkle Wege Infektionsquellen der Hepatitis C Markt, scheinen die Ärzte immerwicklung der Schluckimpfung gehin jedem zweiten HCV-Infiziergen Kinderlähmung sei erst mögten helfen zu können. lich gewesen, nachdem sich das Bis zur Entwicklung eines Polio-Virus im Reagenzglas kultiVirus-Modell Impfstoffs wird es wohl noch eine vieren ließ. Infektionsursache 44% Weile dauern. „Wir haben nur den Schon seit Jahren bemühen unbekannt Anfang gemacht“, räumt Virologe sich weltweit Viren-Forscher in Bartenschlager ein. Die meiste Arihren Labors, die Hepatitis-Cbeit liegt noch vor uns.“ Erreger in Kulturschalen zu verFixer-Besteck 38 % Das Hauptproblem besteht darmehren. Doch bislang gingen Geschlechtsin, daß in jedem Patienten ein Zoo die Viren außerhalb des menschverkehr von Hepatitis-C-Erregern lebt. lichen Körpers stets rasch zu10 % Bluttransfusionen, Kaum ein Virus gleicht dem angrunde. Blutprodukte 4% deren. Bartenschlager: „Wenn wir So richtig erklären können die 2 % NadelstichverletzunQuelle: Centers for Pech haben, landen wir in einer Mainzer Forscher nicht, weshalb Disease Control gen, Schnittwunden and Prevention, ähnlichen Sackgasse wie bei nun ausgerechnet ihre Killer-ViAtlanta, USA 1 % Sonstige 1 % Künstliche Niere Aids.“ ren überlebten. Das Erbgut der Christina Berndt SEUCHEN Stachelige Kugeln G A M M A /S T U D I O X B. BOSTELMANN / ARGUM J 196 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Ikonen einer verlorenen Welt“ Dino-Forscher Paul Sereno über den Siegeszug der Saurier, die Jagd nach Fossilien der Urzeit-Giganten und den Fortschritt in der Evolution L. PSIHOYOS / MATRIX / AG. FOCUS SPIEGEL: Professor Sereno, praktisch jeder Zehnjährige hat heute seinen Lieblingssaurier. Haben Sie auch einen? Sereno: Na klar: immer den, an dem ich gerade arbeite. Im Moment graben wir einen riesigen Sauropoden in Afrika aus, fast 20 Meter lang. Bis wir den völlig freigelegt haben, bis wir ihn richtig vor uns sehen, ist er der Interessanteste. Aber über all die Jahre betrachtet liegt mir wohl der Eoraptor am meisten am Herzen. SPIEGEL: Warum gerade er? Sereno: Weil es der älteste aller uns bekannten Dinos ist – eine Art Urvater, der vor gut 220 Millionen Jahren lebte. Wir haben gerade erst ein zweites Skelett dieser Art aufgespürt, in Argentinien. Bei dem ersten Exemplar fehlte die Schwanzspitze, jetzt haben wir wirklich alle Knochen, so daß wir ihn ganz rekonstruieren können. Das Gespräch führten die Redakteure Marco Evers und Johann Grolle. 198 SPIEGEL: Wie sah dieser Urdino denn aus? Sereno: Er war nicht größer als ein Hund: etwa einen Meter lang und vielleicht hüfthoch. Er hatte einen langen, dünnen Schwanz, er lief auf seinen Hinterbeinen, und er war sehr schnell … SPIEGEL: … wie schnell ist sehr schnell? Sereno: Mit einem Hund hätte er wohl mithalten können. Als Räuber war er sicher so gefährlich wie ein Dobermann. SPIEGEL: Was machte ihn gefährlich? Sereno ist Paläontologe an der University of Chicago. Seit 15 Jahren gräbt er in der Mongolei, in den Anden und in der Sahara nach Saurier-Knochen. Am Beispiel der Urzeitriesen will Sereno, 41, die generelle Marschrichtung der Evolution ergründen – wie auch den Ursprung der letzten lebenden DinoAbkömmlinge: der Vögel. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Sereno: Vor allem seine Klauen. Er hatte kräftige Finger und einen Daumen, mit dem er effizient zupacken und seine Beute aufschlitzen konnte. SPIEGEL: Hinter welcher Beute war er her? Sereno: Wahrscheinlich machte er Jagd auf Therapsiden, säugetierähnliche Reptilien, aus deren Reihen später wir Säuger hervorgegangen sind. SPIEGEL: Die Dinos stammen also von Räubern ab? Sereno: Höchstwahrscheinlich. Erst später wurden einige von ihnen zu Pflanzenfressern – übrigens ein ganz typischer Vorgang: Immer wieder sind Vegetarier aus Raubtieren hervorgegangen, fast nie ist es umgekehrt. SPIEGEL: Warum? Sereno: Das Fressen von Pflanzen erfordert mehr Spezialisierung: ganz bestimmte Zähne und eine spezielle Verdauung. Wer diese Anpassungen einmal gemacht hat, wechselt nicht wieder zur Lebensweise als Fleischfresser zurück. Ein typisches * Parasaurolophus, ein Verwandter der Hadrosaurier; der Kopfschmuck diente der Balz oder Rivalenkämpfen. 225 TRIAS JURA KREIDE TERTIÄR Beispiel aus der Gegenwart die Vielfalt viel geringer. Und bis die Giist der Koala: Er ernährt sich ganten aus „Jurassic Park“ auftraten, dauvon Eukalyptus, aber seine erte es viele, viele Jahrmillionen. Vorfahren fraßen Fleisch. SPIEGEL: Warum ließen sich die Dinosaurier soviel Zeit? SPIEGEL: Hatte der Eoraptor herausragende Fähigkeiten, Sereno: Wahrscheinlich, weil die Säugetiere die eine Zukunft als Weltmit gerade einmal mausgroßen Kreaturen herrscher erwarten ließen? an den Start traten, der erste Dino war hingegen so groß wie ein Hund. Und große Sereno: Nein, absolut nicht. Tiere wandeln sich langsamer, es fällt ihnen Wenn wir heute auf die Dischwerer, sich an neue Lebensstile anzunos zurückblicken, scheinen Saurierherde (Gemälde)*: „Sie quakten und gurrten“ passen. Die Primaten zum Beispiel ersie uns mächtige Kreaturen zu sein. Deshalb suchen wir nach irgend- Sereno: Zumindest sehr ähnlich. Zweimal oberten die Bäume, als sie noch sehr klein welchen Eigenschaften, die sie anderen Tie- passierte dasselbe, nämlich ein Mas- waren. Erst viel später traten große Formen ren überlegen machten. Ich bin jedoch sensterben. Der Siegeszug der Dinos war wie die Gorillas oder wir selbst auf. Nur so überzeugt: Es gibt nichts, was den Eoraptor so zufällig wie das Aufblühen der Säuge- kann ich mir erklären, daß Dinos nie auf die Bäume kletterten, nie die Meere erzum geborenen Sieger gemacht hätte. tiere 150 Millionen Jahre später. SPIEGEL: Immerhin hatten zwei Erfolgsmo- SPIEGEL: Die Machtergreifung der Säuge- oberten und nie Höhlen buddelten. delle der Evolution einiges gemein: Ur- tiere ging allerdings schneller vor sich. SPIEGEL: Das heißt: Größe ist sogar eher mensch wie Urdino liefen auf zwei Beinen, Sereno: Es ist sehr interessant, beide Vor- ein Nachteil? und beide hatten einen beweglichen Dau- gänge zu vergleichen. Die Säugetiere brei- Sereno: In gewissem Sinne, ja. Besonders men, der ihnen das Greifen ermöglichte. teten sich in der Tat unglaublich schnell deutlich wird das bei der Entwicklung der Sereno: Purer Zufall, sonst nichts. Wir lau- aus, und sie entwickelten eine enorme Viel- Vögel, dem Ausnahmefall unter den Dinofen auf zwei Beinen und haben Daumen, falt: Schon bald hatten sie die Ozeane, die sauriern. Nur bei ihnen nahm die Körperdeshalb glauben wir, das müsse etwas ganz Flüsse, die Baumkronen besiedelt. 15 Mil- größe ab. Und prompt entwickelten sich – Tolles sein. Die großen Sauropoden zum lionen Jahre nach dem Untergang der Di- noch vor dem Untergang der anderen DiBeispiel haben beide Eigenschaften im nos gab es bereits alle wichtigen Ordnun- nos – schwimmende und tauchende Arten. Laufe der Evolution verloren. Und hat es gen: Nagetiere, Fledermäuse, Wale – alles SPIEGEL: Welche Eigenschaften machen war schon da. Bei den Dinos hingegen war heutige Tauben oder Flamingos zu Dinos? ihnen geschadet? SPIEGEL: Ein Biologe, der sich vor 220 Millionen Jahren auf die Erde verirrt hätte, vor Millionen Jahren 0 hätte dem Eoraptor keinerlei Beachtung geschenkt? Sereno: Nein. Mit den Säugetieren war es übrigens auch nicht anders. Sie lebten rund 25 100 Millionen Jahre lang als mausgroße Kreaturen. Ihr großes Hirn und ihr kompliziertes Gebiß hatten sie von Anfang an – das also, was man für ihren Erfolg ver50 VÖGEL SÄUGETIERE antwortlich macht. Dann verschwanden die Saurier, und plötzlich vermehrten sich die Säuger explosionsartig, einfach weil Massenaussterben sie übriggeblieben waren – ein Roulette75 Spiel. SPIEGEL: Wenn nicht ihre Überlegenheit, TheroSchichtwechsel was war dann die Ursache für die plötzlipoden Wie Katastrophen die che Entfaltung der Dinosaurier? Ornithischier (RaubEvolution anheizten Sereno: Nichts als Glück. Katastrophen – 100 (Pflanzenfresser) saurier) Klimaschocks, Meteoriteneinschläge, ge150 Millionen Jahre lang waltige Vulkanausbrüche – haben ihre Vorherrschten die Saurier gänger dahingerafft. Zufällig waren die Diauf Erden. Globale Kata125 nosaurier zur Stelle und füllten den nunstrophen läuteten ihren mehr freien ökologischen Raum aus. Es Aufstieg ein und ihren scheint eines der Grundphänomene der Fall. Erst nach ihrem UnEvolution zu sein: Nur Katastrophen köntergang konnten sich die Sauro150 nen Freiraum schaffen für die Entfaltung bis dahin mausgroßen poden neuer Formen. Ist eine Tiergruppe erst Säugetiere in fast allen (PflanzenArchaeopteryx einmal zum dominanten Pflanzen- oder Lebensräumen ausbreifresser) ten. Die Dinosaurier leFleischfresser aufgestiegen, dann ist es für ben bis heute in Gestalt andere sehr schwierig, sie aus dieser Rolle 175 der Vögel fort. zu verdrängen. Es ist wie in der Politik: Wer einmal an der Macht ist, den kriegt D I N O SAU R I E R man nicht so leicht wieder weg. Ursäuger SPIEGEL: Für Sie sind die Ereignisse am An- 200 fang und am Ende der Dino-Ära genau Massenaussterben analog? d e r Eoraptor – von Sereno entdeckter Urdinosaurier s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 THERAPSIDEN (säugetierähnliche Reptilien) 199 L. PSIHOYOS / MATRIX / AGENTUR FOCUS H. LARSSON / MATRIX / AGENTUR FOCUS digkeit entstanden oder aus Sereno: Oh, es gibt fast nichts Absicht. Aber so ist es nicht. an einer Taube – mit Ausnahme Wir sind nichts als eine kleine der Flugfähigkeit und der daFranse in der Geschichte des mit verbundenen Anpassungen Lebens. –, was nicht schon bei Dinosauriern zu finden wäre. Wir SPIEGEL: Sie haben bisher über wissen inzwischen, daß die Vöein Dutzend neuer Saurierarten gel sogar die Federn von ihren ausgegraben. Wo werden Sie Saurier-Ahnen geerbt haben. künftig buddeln? Die Hohlknochen finden sich Sereno: In Afrika – da gibt es sogar schon beim Eoraptor. noch ungeheuer viel zu entNoch frappierender ist die Ähndecken. Wir haben zum Beilichkeit bei den Eiern: Amphispiel in Niger den Suchomimus bien und Reptilien legen viele tenerensis gefunden, einen Saukleine Eier und verlassen den rier, der offenbar alles tat, um Ablageplatz sofort wieder. Vöwie ein Krokodil auszusehen. gel und Saurier legen wenige Afrika ist wirklich ungewöhngroße Eier in ein Nest und brülich: Wenn du dort auf ein Sketen sie aus. Vögel stammen dilett stößt, kannst du dir schon rekt von den Dinosauriern ab, einmal einen Namen ausdendas steht völlig außer Frage. ken. Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um etwas SPIEGEL: Müssen wir daraus Neues. schließen, daß die Dinos sangen wie Nachtigallen? SPIEGEL: Wann gehen Sie wieder hin? Sereno: Sie konnten sicher nicht wie die Singvögel trillern. Aber Sereno: Nächstes Jahr. Nach Niquaken, kreischen oder gurren ger und vielleicht auch in einikonnten sie wahrscheinlich. Ich ge Nachbarländer. glaube nicht, daß sie gebrüllt Sereno bei Grabung in Marokko: „Wir profitieren von Kriegen“ SPIEGEL: Zum Graben ist das haben, wie in „Jurassic Park“, nicht die angenehmste Gegend. aber Krach gemacht haben sie Sereno: Kriege sind ein Probestimmt. blem. Wir haben in Algerien gesucht, als es dort sehr gefährlich SPIEGEL: Und das Erfolgsrezept war. Auch in Niger war die der Vögel bestand sozusagen Situation heikel, im April wurdarin, sich zurückzuentwickeln de der Präsident ermordet. Li– zurück zu kleineren Körpern? byen taut langsam auf, es ist Sereno: Genau. Ihre Geschichschon fast ein freundliches te zeigt uns im übrigen, wie unLand. Im übrigen profitieren vorhersehbar und ungerichtet wir auch von Kriegen: Wo die Evolution ist: Vögel haben Chaos herrscht, müssen wir angefangen mit großen Gehirnicht fürchten, daß uns Plünnen. Sie kommunizierten mit derer zuvorkommen. Hilfe vielfältigster Geräusche. Sie hatten Daumen, sie liefen SPIEGEL: Diese Einstellung war auf zwei Beinen – alles genau es wohl, die Ihnen den Beinawie wir. Und was ist aus ihnen Schädel des Ursauriers Eoraptor: „Gefährlich wie ein Dobermann“ men „Indiana Jones der Paläongeworden? Menschen? Nein, sie tologie“ eingetragen hat? wurden zu Vögeln. Ihre Daumen benutzten Bande untereinander. Ein Indiz dafür ist ihr Sereno: Ich mag Abenteuer, ich mag entlesie nicht zum Greifen. Ihre Gehirne haben Kopfschmuck, der wohl bei der Balz oder gene Regionen und das Wüstenleben. Die sie nicht benutzt, um Gedichte zu schrei- bei Rivalenkämpfen eine Funktion hatte. Kulturen dort, der Sand, die Landschaft: Es ben. Und trotz ihres komplizierten Sozial- SPIEGEL: Das müßte sie doch im Überle- ist faszinierend. lebens haben sie die Welt nicht erobert. SPIEGEL: Wie findet man da ein Skelett? benskampf weit vorangebracht haben. SPIEGEL: Warum schrumpften andere Di- Sereno: Nicht unbedingt. Tiere mit großem Sereno: Um Tonnen von versteinertem Manos nicht, wenn es so viele neue Möglich- Hirn oder hohen sozialen Fähigkeiten sind terial auszugraben, das irgendwo mitten in keiten erschließt? nicht zwangsläufig die erfolgreichsten. Die der Wüste versteckt ist, braucht man vor alSereno: Es war einfach schwierig, sich ge- Krokodile haben auch die Dinos überlebt lem eine gute Logistik: Wie kriegst du gen die Säugetiere zu behaupten. Die Welt – trotz ihrer kleinen Gehirne. Die erfolg- genügend Wasser dorthin, wie kannst du der Kleintiere war besetzt. Einzig der Weg reichsten aller Kreaturen sind sogar die schwere Funde abtransportieren? Und das allereinfachsten: die Bakterien. Sie waren wichtigste ist natürlich ein Team, das körin die Luft stand noch offen. SPIEGEL: Haben sich die Dinosaurier im immer die vielfältigsten, und sie werden perlich und mental absolut fit ist. Wir lauLaufe ihres Daseins verbessert? Wuchs ihr es immer bleiben. Und Hirne haben sie fen Meilen, Meilen und Meilen, meist bei Hirn, oder entwickelten sie soziale Eigen- gar nicht. Wir Menschen halten uns stets einer Hitze von 40 Grad. für das Ende der Evolution und suchen SPIEGEL: Woher wissen Sie, welches Stück schaften? Sereno: An generelle Trends glaube ich nach einer Erklärung für unsere Existenz. Wüste sich für die Dino-Jagd eignet? nicht, es gibt höchstens eine Tendenz zu Wir suchen nach Fortschritt in der Evolu- Sereno: Erst mal gehe ich in die Bibliomehr Artenvielfalt. Bei ganz wenigen Di- tion – aber wir finden keinen. Ich glaube, thek. Zu Kolonialzeiten wurden diese Lännos, den Hadrosauriern zum Beispiel, wir sind nur ein Zufall der Geschichte. der genau untersucht. Es gibt geologische wuchs das Hirn. Sie hatten unter den Di- Das möchten wir nicht gern wahrhaben. Karten, die für ganz Afrika angeben, wo nos wahrscheinlich die stärksten sozialen Wir Menschen wären gern aus Notwen- sich Ablagerungen aus der Dino-Zeit be200 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 finden. Im Land selbst bringt einen das Mühe nicht gemacht. Er verkauft jeden bygruppe. So schön die Popularität von Dinatürlich noch nicht sehr weit: Manche Knochen und jeden Zahn einzeln. Nie- nosauriern sein mag, sie hat auch furchtDino-Gebiete sind so groß wie Deutsch- mand weiß, wie viele wertvolle Fossilien bare Schattenseiten. land. Um die Suche dann einzugrenzen, le- auf diese Weise schon vernichtet wurden. SPIEGEL: Können Sie sich erklären, weshalb sen wir alles, was je von Geologen und SPIEGEL: Was kostet ein Zahn? Dinos so beliebt sind? anderen Forschern über die Gegend ge- Sereno: 40 oder 50 Dollar bringt er in Sereno: Für die Öffentlichkeit repräsentieschrieben wurde. Viele bekannte Fund- Tucson auf dem Saurier-Basar. Die Ge- ren sie den Inbegriff des Mysteriösen, weil stellen liegen in der Nähe der Oasen, weil winnspannen sind so hoch wie im Dro- sie so beeindruckend aussahen und weil sie Forscher sich dort mit Wasser versorgten genhandel: 1000 Prozent sind für Zwi- verschwunden sind. Dinos sind sozusagen und mit Einheimischen redeten. Aber die schenhändler leicht zu verdienen. Die Ikonen einer verlorenen Welt: Die Vorstelbesten Fundstellen liegen natürlich weit Plünderer selbst bekommen nur Pfennige, lung, wie das Leben wäre, wenn sie noch unweg davon, einsam in der Wüste. Da muß aber dafür verlassen sie ihre Schafherde, ter uns wären, ist für viele sehr aufregend. man suchen. gehen in die Wüste und scheuen kein Risi- SPIEGEL: Läßt sich aus dem Studium der SPIEGEL: Wie lange dauert die Saurier-Jagd? ko. Mindestens zehn von ihnen haben sich Dino-Evolution die Zukunft der MenschSereno: Zu zehnt haben wir das letztemal in den letzten zwei Jahren selbst lebendig heit erahnen? 40 Tage lang gesucht, bis wir einen guten begraben: Sie buddeln auf der Suche nach Sereno: Die Dinos sagen uns: Es gibt kein Fund machten. Wir haben in dieser Zeit Knochen eine Höhle, die sie aber mangels Ziel. Arten haben einen Ursprung, eine Leetwa 160 Quadratkilometer abgesucht. Wir Holz nicht abstützen können. Manchmal bensspanne und einen Tod. Die Durchfangen mit einem GPS-Empfänger an, ein bricht sie dann über ihnen zusammen. schnittsart, ob Dino oder Säugetier, lebt Areal zu kartieren. So kriegen wir langsam ein Gefühl für die Gegend. SPIEGEL: Liegen die Saurier herum wie ausgebleichte Rindergebeine? Sereno: Genau, sie liegen herum. Im optimalen Fall ragen nur ganz kleine Knochen aus dem Geröll. Dann ist der Rest des Skeletts begraben und daher gut erhalten. Wenn man große Knochen sieht, sind sie meist völlig verwittert. SPIEGEL: Wieviel kostet so eine Expedition? Sereno: Ich bezahle kein Mitglied des Teams. Auf diese Weise sparen wir Geld und kriegen nur hochmotivierte Leute. Manche von ihnen kündigen ihren Job, um mitfahren zu können. Für eine große Expedition mit 20 Leuten habe ich 225 000 Dollar bezahlt. In vier Monaten haben wir 25 Tonnen Dino-Kno- Dino-Nachfahren Flamingos: „Selbst ihre Federn stammen von den Sauriern ab“ chen gesammelt und sie nach Chicago gebracht. Ich glaube, das macht SPIEGEL: In den USA können Ausgräber zwischen drei und fünf Millionen Jahre, aber uns keiner nach. weit mehr verdienen. Kürzlich wurde dort ich bezweifle, daß wir es soweit schaffen. SPIEGEL: Das Saurier-Sammeln ist zum ein Tyrannosaurus für 8,4 Millionen Dollar Wir sollten uns nicht brüsten, der Gipfel großen Geschäft geworden. Fürchten Sie ersteigert. der Evolution zu sein, sondern uns daran die Konkurrenz von Privatsammlern? Sereno: Ja, nur mit Hilfe von Firmen wie freuen, eine Art Freak der Natur zu ein. So Sereno: Der Fossilienhandel ist längst glo- McDonald’s und Disney konnte das Field etwas wie uns wird die Evolution nie wiebal. Viele Schwarzmarkt-Fossilien kommen Museum in Chicago ihn kaufen. Diese Art der hervorbringen. Daß wir irgendwann aus China. Unzählige Fundstellen sind von Big Business macht uns sehr zu schaf- aussterben werden, ist nicht ungewöhnlich. schon zerstört, vor allem in Marokko: In fen. Seit bekannt wurde, wieviel so ein Ungewöhnlich ist nur, daß wir so viele anden letzten zwei, drei Jahren sind dort die Saurier wert sein kann, lassen die meisten dere Arten mit in unser Grab nehmen. Wir meisten Dino-Fundstellen geplündert wor- Landbesitzer im Westen der USA keinen haben schon heute ein gewaltiges Artenden, um die Knochen nach Europa oder in Forscher mehr auf ihr Land. Weite Teile sterben verursacht, eine fast planetarische von South Dakota zum Beispiel sind ganz Katastrophe. die USA zu verkaufen. SPIEGEL: Kommen auf diese Weise nicht in der Hand privater Sammler. Die Land- SPIEGEL: Auf Katastrophen und Artenstereigentümer kriegen 15 bis 20 Prozent von ben folgt, wie Sie sagen, die Blüte anderer auch bedeutende Funde ans Licht? Sereno: Nein, sie werden zerstört und sind allem, was die Sammler finden. Eigentlich Lebewesen. Welche Tiergruppe wäre ein für die Wissenschaft verloren. Wir haben in müßten Fossilien zu öffentlichem Eigen- Kandidat dafür? Niger einen Schädel gefunden, der in 300 tum erklärt werden, auch wenn sie jemand Sereno: Wer weiß, vielleicht kommen die Einzelteilen über große Entfernungen ver- in seinem Garten gefunden hat. Aber es Krokodile aus den Flüssen und übernehstreut war und zum Teil tief in der Erde gibt kein derartiges Gesetz, und es wird men die Welt. steckte. Jetzt ist er vollständig zusammen- auch keines geben: Dazu sind die privaten SPIEGEL: Professor Sereno, wir danken Ihgesetzt. Ein Plünderer hätte sich diese Sammler bereits eine zu einflußreiche Lob- nen für dieses Gespräch. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 201 MARQUEZ / SILVESTRIS Wissenschaft Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SERVICE Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Fragen zu SPIEGEL-Artikeln Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken: Deutschland, Österreich, Schweiz: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] übriges Ausland: New York Times Syndication Sales, Paris Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 E-Mail: [email protected] Abonnenten-Service SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Reise/Umzug/Ersatzheft Telefon: (040) 411488 Auskunft zum Abonnement Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 E-Mail: [email protected] Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern, Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 E-Mail: [email protected] Abonnement für Blinde Deutsche Blindenstudienanstalt e. 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Broder, Gisela Friedrichsen, Norbert F. Pötzl, Bruno Schrep W I R T S C H A F T Leitung: Armin Mahler, Gabor Steingart. Redaktion: Dr. Hermann Bott, Konstantin von Hammerstein, Dietmar Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexander Jung, Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter Bölke A U S L A N D Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Dr. Romain Leick, Fritjof Meyer, Erich Wiedemann. Redaktion: Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, Siegesmund von Ilsemann, Claus Christian Malzahn, Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, Dr. Stefan Simons, Helene Zuber. Autoren, Reporter: Dr. Erich Follath, Carlos Widmann W I S S E N S C H A F T U N D T E C H N I K Leitung: Johann Grolle, Olaf Stampf; Jürgen Petermann. Redaktion: Dr. Harro Albrecht, Marco Evers, Dr. Renate Nimtz-Köster, Rainer Paul, Alexandra Rigos, Matthias Schulz, Dr. Jürgen Scriba, Christian Wüst. 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(005521) 2751204, Fax 5426583 R O M Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) 6797522, Fax 6797768 S A N F R A N C I S C O Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 S I N G A P U R Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. (0065) 4677120, Fax 4675012 T O K I O Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 WA R S C H A U Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Tel. (004822) 8251045, Fax 8258474 WA S H I N G T O N Michaela Schießl, 1202 National Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 W I E N Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) 5331732, Fax 5331732-10 D O K U M E N T A T I O N Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; JörgHinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra LudwigSidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp, Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe V E R L A G S L E I T U N G Fried von Bismarck M Ä R K T E U N D E R L Ö S E Werner E. Klatten G E S C H Ä F T S F Ü H R U N G Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 Chronik SAMSTAG, 26. 6. FRIEDEN Jugoslawien hebt den Kriegs- zustand auf. AUSZEICHNUNG Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas nimmt in Stuttgart den Theodor-Heuss-Preis entgegen. BREMEN Der Landesparteitag der SPD stimmt dem Koalitionsvertrag mit der CDU zu. SONNTAG, 27. 6. KONZERT 60 000 Besucher bejubeln Michael Jackson beim Benefiz-Auftritt in München. Weil sich eine Brücke zu schnell auf die Bühne senkt, muß der King of Pop anschließend mit Schürfwunden ins Krankenhaus. SPRENGSTOFF 20 Menschen werden bei einem Bombenattentat vor einer Gaststätte in Merseburg verletzt. POLIZEI Zwei Zivilbeamte erschießen in einem Hotel im thüringischen Heldrungen einen Wanderurlauber. Eine Hotelangestellte hat den Touristen irrtümlich für einen gesuchten Mörder gehalten. MONTAG, 28. 6. KOSOVO Das Uno-Flüchtlingshilfswerk beginnt mit der organisierten Rückführung vertriebener Albaner. BÖRSE Am ersten Handelstag legt die neue T-Aktie der Telekom gut zwei Prozent zu. DIENSTAG, 29. 6. URTEIL Ein türkisches Staatssicherheitsge- richt auf Imrali verhängt die Todesstrafe gegen Kurden-Führer Abdullah Öcalan. NOMINIERUNG Die Regierungschefs der EU einigen sich in Rio auf den deutschen Feierabend: Nach dem letzten Match seiner Karriere – dem 3:6, 2:6, 3:6 gegen Patrick Rafter – verabschiedete sich Tennisidol Boris Becker in Wimbledon von seinen Fans. 26. Juni bis 2. Juli SPIEGEL TV Kanzleramtsminister Bodo Hombach als künftigen Koordinator für das Stabilisierungsprogramm auf dem Balkan. MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 AUSSTIEG Der deutsche EU-Kommissar Stau über den Wolken – das programmierte Chaos im Flugverkehr Martin Bangemann, zuständig für Industrie und Telekommunikation, teilt Kommissionspräsident Santer mit, er wolle sein Amt frühestmöglich niederlegen. Er wechselt in den Vorstand des spanischen Telefonkonzerns Telefónica. SPIEGEL TV REPORTAGE MITTWOCH, 30. 6. HANDEL Tausende Menschen gehen zum letztenmal auf Butterfahrt. Die EU hat die Duty-free-Regelung abgeschafft. RICHTUNGSSTREIT 40 Vertreter des linken Parteiflügels legen ein Gegenpapier zu den Liberalismus-Thesen 40 anderer Jungpolitiker der Grünen vor. DONNERSTAG, 1. 7. ABSCHIED Auf der letzten Bonner Bun- destagssitzung vor dem Parlamentsumzug nach Berlin wird Bundespräsident Johannes Rau vereidigt. UNGLÜCK Beim Absturz einer Seilbahn in den französischen Alpen kommen alle 20 Insassen ums Leben. Flughafen Frankfurt SPIEGEL TV Verspätungen bei Charter- und Linienflügen, genervte Passagiere, Mehrkosten von etlichen hundert Millionen Mark: Zu Beginn der Feriensaison steht die europäische Luftfahrt kurz vor dem Kollaps. Hauptgrund: Noch immer fehlt ein einheitliches Flugsicherungssystem. DONNERSTAG 22.05 – 23.00 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA Hummer für Deutschland – wie die Republik mit Luxus-Lebensmitteln versorgt wird FREITAG, 2. 7. BOYKOTT Weil Deutsch als Arbeitssprache nicht zugelassen ist, findet das erste informelle Ratstreffen unter finnischer EUPräsidentschaft, eine Sitzung der Industrieminister in Oulu, ohne Vertreter Deutschlands und Österreichs statt. LITERATUR Der Georg-Büchner-Preis, entscheidet die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, geht an den badischen Schriftsteller Arnold Stadler. Luxusobjekt Hummer SPIEGEL TV Hunderte Tonnen Schalentiere, Gänseleber, Kaviar und Edelfische werden jede Woche in deutsche Gourmet-Restaurants geliefert. Das Geschäft mit den verderblichen Genußmitteln ist ein Wettlauf gegen die Zeit. SAMSTAG VOX SPIEGEL TV SPECIAL Entfällt SONNTAG 22.30 – 23.20 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN AP Mehr Umzug wagen – der Bundestag und die Love Parade erobern Berlin; Endstation Bahnhofsplatz – Todesserie unter obdachlosen Jugendlichen in Augsburg; Tempokontrolle per Satellit – kommt die elektronische Zwangsbremse fürs Auto? 205 Register Courage, Libussa, Maria Stuart, Cleopatra, die Irre von Chaillot. Hilde Krahl starb vergangenen Montag in Wien. Gestorben Siegfried Lowitz, 84. In Deutschland war er nur noch „Der Alte“, so hieß die ZDFKrimiserie, in der Lowitz neun Jahre lang die Hauptrolle spielte. In Indien, Ghana und Uganda, 3 von 60 Ländern, in die die Serie verkauft wurde, hieß „Der Alte“ „The Old Fox“, denn bei allem Ingrimm ließ er stets Schalk und leise Menschenliebe durchblitzen. Rückblickend schätzte Lowitz immer seine Theaterarbeit höher als seine Fernsehrollen. In den fünfziger und sechziger Jahren hatte er an den Münchner Kammerspielen, am Bayerischen Staatsschauspiel und bei den Salzburger Festspielen die Klassiker zwischen Shakespeare und Beckett rauf und runter gespielt. Siegfried Lowitz starb am 27. Juni in München. Mario Puzo, 78. Seine Mutter hatte ihm ei- Georgios Papadopoulos, 80. Im April 1967 putschte sich eine rechtsgerichtete Obristen-Troika in Athen an die Macht; Leitfigur war der aus dem peloponnesischen Dorf Achaia stammende Geheimdienstler und Berufssoldat Papadopoulos. Griechenland gleiche einem „kranken Mann“, diagnostizierte er und verordnete fatale Medizin: Bespitzelung, Folter und Ausbürgerung Tausender Regimegegner, Zensur „ungriechischen“ Kultur- und Gedankenguts. Papadopoulos rief die Republik aus und übernahm das Amt des Ministerpräsidenten sowie das Verteidigungsministerium. Doch schon Ende 1973 entmachteten ihn rivalisierende Offiziere. 1975, nach Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie, wurde er wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Die zu lebenslänglich abgemilderte Strafe saß Papadopoulos, unbeugsam und selbstgerecht, im Zuchthaus in Piräus ab, bis er vor drei Jahren in ein Athener Hospital verlegt wurde. Dort starb Georgios Papadopoulos am 27. Juni an Krebs. Ji≤í Pelikán, 76. Unter seiner Leitung entstand während des Prager Frühlings 1968 aus dem Tschechoslowakischen Staatsfernsehen, dem damaligen Regierungssprachrohr, ein freies Meinungsforum. Das war das Ende einer ansehnlichen Karriere des einst begeisterten Kommunisten: 1939 der illegalen KP beigetreten, wegen aktiven antifaschistischen Widerstands von der Gestapo inhaftiert, in den fünfziger Jahren Studentenfunktionär, Parlamentarier, Präsident des internationalen Studentenverbands. Nach der russischen Okkupation im August 1968 mußte er ins Exil – nach Italien. Dort schloß sich der Schriftsteller und Intellektuelle bald der Sozialistischen Partei an und wurde Europaparlamentarier (1979 bis 1989). Ji≤í Pelikán starb am 26. Juni in Rom. te sie in einer Filmszene – Nacht mit Fliegeralarm – den Text sprechen: „Wie schön die Nacht ist!“ Hilde Krahl, der Ufa-Star, weigerte sich standhaft; ihr Mann und Regisseur, Wolfgang Liebeneiner, mußte passen. Diese Standhaftigkeit trug die Österreicherin mit der slawischen „Nachtseele“ durch ihre Kunst und ihr Leben. Im Film, vom „Postmeister“ (1940, mit Heinrich George) bis zum „Glas Wasser“ (1960, mit Gustaf Gründgens), schrieb sie Geschichte.Auf den Bühnen, von der Wiener Burg bis zu den Hamburger Kammerspielen, spielte sie die klassischen starken Frauen und Monster, Medea, Mutter 206 d e r INTERFOTO Hilde Krahl, 82. Kurz vor Kriegsende soll- Joshua Nkomo, 82. Der simbabwische Politiker war der einzige der hafterprobten Gründungsväter des britisch geprägten Afrika wie Kaunda, Nyerere, Banda, der nicht später Präsident seines Landes wurde. Denn nicht er gewann erwartungsgemäß die Wahl, als das ehemalige Rhodesien 1980 unabhängig wurde, sondern Robert Mugabe, der ihn mit dem Innenministerium betraute, später aber der Verschwörung bezichtigte. 1990 kam es zu einer Versöhnung zwischen den Rivalen. Der schwergewichtige „Umdala“, der Alte Mann, wurde Vizepräsident ohne Einfluß und ließ seine Haßtiraden auf Weiße und „Kapitalisten“ los. Joshua Nkomo starb vergangenen Donnerstag in Harare. s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 GREEK PHOTO AGENCY DPA nen Rat gegeben: „Bleib zu Hause. Draußen passieren nur schlechte Dinge.“ Aber Mario Puzo, den Sohn eines italienischen Gleisarbeiters, faszinierten die Straßen von New York. Er nahm Gelegenheitsjobs an, leitete ein Armee-Depot, und 1950 begann er zu schreiben. Sein Thema wurde die Unterwelt, seine größte Schöpfung wurde „The Godfather“, der Pate. Für die Drehbücher von Francis Ford Coppolas Paten-Trilogie gewann Puzo zwei Oscars. Mario Puzo starb vergangenen Freitag auf Long Island an Herzversagen. Werbeseite Werbeseite P. O’CONNOR Personalien Jonathan Aitken, 56, wegen Team „Linda McCartney“, McCartney (4. v. r.) Sir Paul McCartney, 57, Ex-Beatle, Komponist und Sänger („The Lovely Linda“), hält die Erinnerung an seine jüngst verstorbene Frau aufrecht – mit einem Rennradler-Team namens „Linda McCartney“. Sir Paul hofft sogar, so weiß „Highlife“, das Bordmagazin von British Airways zu berichten, auf den Start seiner Mannschaft bei der Tour de France im Jahre 2001. Vorsorglich hat er seinen 14 Pedaltretern absolutes Fleischverbot erteilt, und Drogenabstinenz ist selbstverständlich. Mit dem Bekenntnis seiner Radler zum Vegetariertum will Sir Paul einerseits seine verstor- bene Frau ehren, die Vegetarierin war, andererseits beweisen, daß Gemüse-Esser keineswegs Weicheier sind. Die Rennfahrer waren allesamt bis zur Vertragsunterzeichnung keine Fleischverächter. Vorausschauend droht denn auch der TeamManager und frühere Tourde-France-Teilnehmer Sean Yates bei Rückfälligkeit mit rücksichtslosem Durchgreifen: „Wer dabei erwischt wird, wie er gerade aus einem McDonald’s kommt, kriegt einen Tritt in den Hintern.“ Meineids und Irreführung der Justiz zu einer 18monatigen Haftstrafe verurteilter ehemaliger Staatssekretär des britischen Finanzministeriums, überzeugte nicht als Gefängnis-Verseschmied. Im Versuch, Oscar Wildes bestürzenden Aufschrei „Ballade vom Zuchthaus zu Reading“ nachzuahmen, schrieb Aitken, einst einer der wohlhabendsten Männer des britischen Parlaments, für die Zeitschrift „The Spectator“ eine elf Verse lange „Ballade vom Gefängnis zu Belmarsh“. Dort geht es bukolisch zu. Vögel, Bäume, Blumen bevölkern die Verse: „Dieser Garten kennt weder Handschellen noch Ketten/ Weder Susana Alves, 20, brasilianische Moderatorin, brachte einem Zweig der brasiliani- FOTOS: J. MARTINS / PULSAR IMAGEN schen TV-Unterhaltung höchste Einschaltquoten. Bis zu zehn Millionen Zuschauer ließen sich zeitweilig von der mit dem Künstlernamen „Tiazinha“ (portugiesisch für Tantchen) auftretenden Dominatrix – mit Zorro-Maske, in Straps und Stilettos samt Reitgerte – vor die Schirme locken. Der Clou der Quizsendung, denn darum handelte es sich, war, daß Tantchen die Probanden mit der Peitsche züchtigte, wenn sie eine der trivialen Fragen falsch beantworteten. Auch ihre Nachfolgerin in der Sado-MasoShow erfreut jung und alt. Feiticeira, 20, die Zauberin, eine Art Scheherazade mit Schleier vor dem Gesicht und wohltrainierter Muskulatur im Mini-Bikini, stellte die Sache allerdings auf den Kopf. Jetzt wird in der Quizshow nicht mehr geschlagen, jede richtige Antwort wird belohnt – mit einem Kuß, einer kleinen Massage oder mit der Erlaubnis, aus Feiticeiras Bauchnabel gesüßte Kondensmilch schlürfen zu dürfen. Brasilianische TV-Show mit Moderatorin Feiticeira, Vorgängerin Alves alias „Tiazinha“ 208 d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9 der Wärter Geschrei, noch Befehle und Gewalt/ Nur Gottes Schönheit lebt und herrscht/ Zu sehen durch des Zellengitters Prisma.“ Der mit Preisen ausgezeichnete Dichter Sean O’Brien würdigte „Spectator“-Titel im „Guardian“ den Erguß im poetischen Stil des gestrauchelten Politikers. Man hätte die Sache mit dem Meineid, wonach Aitken geschworen hatte, nie auf Kosten saudischer Geschäftsleute im Pariser Hotel „Ritz“ gezecht zu haben, außergerichtlich beilegen sollen: „Hätte Aitken nicht gemußt ins Gefängnis/ Hätten wir nicht zu lesen gehabt diesen Scheiß.“ Jacques Chirac, 66, französischer Staatspräsident, scheiterte mit einer privaten humanitären Mission an der legendären Redelust des kubanischen Diktators Fidel Ca- J. DOPKEEN / NYT PICTURES stro, 72. Als der Herr des Elysée letzte Wo- bahn an – und bat NRW-Finanzminister che beim Gipfeltreffen der 48 Staats- und Heinz Schleußer (SPD) um Hilfe beim BeRegierungschefs der Europäischen Union rufseinstieg. und Lateinamerikas in Rio de Janeiro den ewigen Revolutionär beiseite nahm, um Charles Dent, im Jahre 1994 gestorbener ihm wohlwollend („Ich war immer gegen amerikanischer Pilot der United Airlines, die Isolierung Kubas“) wegen sich wieder Kunstsammler und Hobby-Bildhauer, hinhäufender Menschenrechtsverletzungen terließ der Stadt Mailand ein prachtvolles auf der Rum-Insel ins Gewissen zu reden, kam er gegen dessen verbale Sturzbäche einfach nicht an. Nach mehreren fruchtlosen Redeansätzen des Franzosen – Chirac: „Eine Konversation konnte man das wirklich nicht nennen“ – beendete schließlich ein Protokollbeamter die Situation, indem er die beiden Politiker in die Plenarsitzung zurückbugsierte. Der französische Präsident grinsend zu Journalisten: „Gerettet durch Gong.“ Pferde-Skulptur nach Da-Vinci-Skizze Roland Appel, 45, Fraktionschef der Grü- Geschenk. In einer Zeitschrift hatte Dent von Leonardo da Vincis Traum gelesen, ein mehr als sieben Meter hohes Pferd aus Bronze zu gießen. In diesen Tagen ist die nie realisierte Vision vom größten PferdeStandbild der damaligen Welt, von der nur eine briefmarkengroße Skizze da Vincis existiert, in seinen dreidimensionalen Proportionen Realität geworden. Eine von Dent ins Leben gerufene Stiftung stellte, fünf Jahre nach seinem Tod, die 15 Tonnen schwere Skulptur, ein stolz paradierendes Bronze-Roß, in der Nähe von New York dem staunenden Volk vor. „Eine Hommage an die Renaissance“, verkündete der Verwalter der mit sechs Millionen Dollar gut bestückten Dent-Foundation. „Atemberaubend“, urteilte die „New York Times“. Das Riesenroß wird nun, in sieben Teile zerlegt, an seinen Bestimmungsort, einen Kulturpark in Mailand, verschickt. nen im Düsseldorfer Landtag, ist auf Jobsuche. Nachdem seine Ex-Kollegin Gisela Nacken den gutdotierten Posten der Baudezernentin in Aachen erhielt, will auch Appel außerhalb des Landesparlaments Karriere machen. Allerdings bemühte er sich vergeblich um das Amt des Bonner Polizeipräsidenten. Abgesehen von Appels ungewöhnlichem Outfit – meist lila Hosen und Rockerjacke – fehlt ihm dazu die nötige Qualifikation. Der Ex-Liberale – von 1979 bis 1983 war er stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungdemokraten – kann zwar ein extrem langes Studium von Jura, Philosophie und Politischen Wissenschaften (laut Landtagshandbuch 30 Semester) aufweisen, hat aber keinen passenden Abschluß geschafft. Nach dieser Abfuhr strebt Appel jetzt die Banker-Lauf- AP Michael Steiner, 49, außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Gerhard Schröder, mußte sich ungebührlicher Behandlung erwehren. Auf dem europäischlateinamerikanischen Gipfel vergangene Woche in Rio de Janeiro folgte Steiner seinem Kanzler in die Veranstaltungshalle. Weil er jedoch keine Akkreditierung vorzeigen konnte, wurde er von den Sicherheitskräften gestoppt. Der Diplomat protestierte so lautstark, daß ihn die Polizei des Veranstaltungsortes verwies. „Die gesamte Eröffnungsveranstaltung habe ich verpaßt“, monierte der Schröder-Berater hinterher: „Aber diese Muskelprotze waren einfach stärker als ich.“ Appel 209 Hohlspiegel Rückspiegel Aus einer Werbung der Firma Samsonite: „Eine Wildgans verliert auf ihrem alljährlichen Zug die Hälfte ihres Körpergewichts. Bei Ihnen muß das nicht so sein.“ Zitate Aus der „Leipziger Volkszeitung“: „Etwa 100 000 Tote starben an dem extremen Klima, an Hunger oder Krankheiten.“ Aus dem „Haller Tagblatt“ Aus dem Buch „Fallbeispiele ISO 9001“: „Wenn Personen oder Berufsgruppen im Maskulinum erwähnt werden, sind sie je nach Anwendungsfall sowohl als Femininum als auch als Maskulinum aufzufassen.“ Aus dem Info-Blatt des „Globus“-Warenhauses in Zell-Barl Aus der „Bild“-Zeitung über Stonehenge: „Erst im 17. Jahrhundert interpretierten Historiker den Bau als Druidentempel. Seitdem ist er ihr Wallfahrtsort.“ Aus dem Magazin der „Süddeutschen Zeitung“: „Die nächstbeste Blondine, die in Cohns Büro spaziert kam, war Marilyn Novak, eine schüchterne, kräftig gebaute Zwanzigjährige aus Chicago, ohne jede Schauspielerfahrung, aber mit einem atemberaubenden Gesicht. Cohn schlug sofort zu.“ Aus der „Stuttgarter Zeitung“ Aus „NRW Justiz intern“: „Mehr als 200 von insgesamt rund 1000 Staatsanwältinnen und Staatsanwälten in NRW sind inzwischen Frauen.“ Aus den „Dresdner Neuesten Nachrichten“: „Die 86jährige ist 70 Jahre alt, 1,58 Meter groß, von zierlicher Gestalt und hat graue, kurze, glatte Haare.“ 210 Die „Süddeutsche Zeitung“ zum SPIEGEL-Gespräch mit Bischof Karl Lehmann über die Zukunft der Schwangeren-Beratung und den auf dem Beratungsschein vorgesehenen Zusatz, wonach diese Bescheinigung „nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet“ werden kann. „Kirche – ,Das kann der Papst gar nicht‘“ (Nr. 26/1999): Was aber geschieht, wenn unser Gebet nicht erhört wird und der Staat unsere als unwirksam deklarierten Scheine wirklich auch unwirksam macht, indem er sie als ungültig ansieht und so der Frau im Sinne des Papstes den kirchlichen Zugang zur Abtreibung versperrt? Dann wird geklagt! Denn schließlich hat Lehmann dem Papstbrief eine Interpretation gegeben, die, wie er im SPIEGEL mit verblüffender Selbstgewißheit ausführt, „die Angst“ unbegründet sein läßt, „der Schein könnte unwirksam sein und gar nichts taugen“.Taugen wofür? Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß der Schein nicht zu einem „Schein anderer Art“ (Lehmann) geworden, sondern derselbe geblieben ist, dann hat ihn der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz nun selbst geliefert. Keine Angst, ruft er in die Gesellschaft hinein, unser Schein taugt weiter als Tor zur straffreien Abtreibung. Die Kirche wird notfalls den Rechtsweg beschreiten, damit dies so bleibt. Das klare Zeugnis für den unbedingten Lebensschutz gebietet es so. Schließlich geht es allein darum, „daß wir unser eigenes Profil der Beratung innerhalb des Systems schärfen“.Wem die Kirche nun als eine gespaltene Persönlichkeit erscheint, der muß sich von Lehmann daran erinnern lassen, daß es im Dekonstruktivismus nun einmal kein handelndes, verantwortliches Subjekt gibt. In dieser Sicht ist auch die Kirche kein Fels, sondern nur ein Text, in dem unendlich viele Stimmen reden. Die „Kölnische Rundschau“ zum SPIEGEL-Interview mit Rolf Wolfshohl über Doping, Jan Ullrich und die Tour de France „Radrennen – ,Verführer in Weiß‘“ (Nr. 26/1999): Der Schock saß tief bei Artur Tabat. Die Lektüre des SPIEGEL vom gestrigen Montag hatte den Organisator von „Rund um Köln“ kräftig getroffen. „Ich distanziere mich von diesen Äußerungen. Das hätte er zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen dürfen. Er ist ein anständiger Kerl.Aber er hat nicht an die Konsequenzen gedacht, das ist schade“, kommentierte Tabat das Interview mit Rolf Wolfshohl. Unverblümt, wie es seine Art ist, nimmt der Sportliche Leiter des Kölner Klassikers in dem Nachrichtenmagazin Stellung. Er erneuert seine harsche Kritik an der Saisonplanung des Teams Telekom und insbesondere an Jan Ullrich. d e r s p i e g e l 2 7 / 1 9 9 9