Leseprobe - UVK Verlagsgesellschaft

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Leseprobe - UVK Verlagsgesellschaft
Einleitung
Sie heißen GEDICHTE.COM, E-STORIES, KURZGESCHICHTEN.DE oder LESELU1
PE und bieten Zugriff auf ein Korpus literarischer Texte von Privatpersonen,
das in diesem Umfang wohl nirgendwo anders öffentlich zugänglich ist. Die
Rede ist von Internet-Literaturplattformen, auf denen jeweils Tausende von
Nutzern in den vergangenen fünf bis zehn Jahren mehrere zehntausend Gedichte, Kurzgeschichten und andere literarische Texte veröffentlicht haben:
So haben auf LESELUPE über 3.700 Mitglieder seit 1998 bereits mehr als
50.000 Texte eingestellt, auf KURZGESCHICHTEN.DE sind es knapp 25.000
Texte von etwa 11.000 registrierten Mitgliedern seit 1999, auf GEDICHTE.COM haben über 20.000 Nutzer bereits mehr als 90.000 Texte innerhalb
der vergangenen neun Jahre veröffentlicht und auf E-STORIES kann man
sogar auf 120.000 Texte zugreifen, die knapp 9.000 Teilnehmer aus über 50
Ländern seit 1999 dort eingestellt haben. Dabei bleibt es nicht beim Veröffentlichen von literarischen Texten: Literaturplattformen dienen vor allem
auch dem Austausch der Teilnehmer über die dort eingestellten Texte, aber
auch über literarisches Schreiben im Allgemeinen. Die Beiträge im Rahmen
der so genannten Anschlusskommunikation (vgl. Kap. 1.3.2) sowie anderweitiger Kommunikation ('Off-Topic-Kommunikation', 2 vgl. Kap. 1.3.2) übersteigen die Zahl der Texte um ein Vielfaches: So finden sich auf LESELUPE
etwa 230.000 Beiträge, auf KURZGESCHICHTEN.DE haben die Mitglieder über
380.000 Beiträge eingestellt und auf GEDICHTE.COM sind es sogar mehr als
eine halbe Million Beiträge. 3
Literaturplattformen machen also, das kann hier konstatiert werden, einen
nicht unerheblichen Teil des Internet-Literaturbetriebs aus, und dieser ist
wiederum im 21. Jahrhundert aus dem allgemeinen Literaturbetrieb nicht
mehr wegzudenken. Im Gegenteil: Das Internet, genauer: das WWW 4 , hat in
1
Im Folgenden werden alle Websitenamen in Kapitälchen dargestellt; die jeweiligen URL finden
sich im Anhang (vgl. Anhang).
2
Fachbegriffe werden, im Folgenden jeweils ohne weiteren Hinweis, im Glossar erläutert
(vgl. Anhang).
3
Auf E-STORIES ist kein automatischer Zähler für die Beiträge vorhanden, so dass für diese
Plattform keine Beitragszahl ermittelt werden konnte.
4
Der Begriff 'Internet' umfasst verschiedene Dienste: Neben der E-Mail, verschiedenen
Newsgroups oder dem IRC (Internet Related Chat) zählt dazu auch das so genannte WWW
(World Wide Web), dem aufgrund seiner Größe und den Möglichkeiten der Vernetzung sowie
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Einleitung
den vergangenen 15 Jahren eine wichtige und dominante Position in allen
Bereichen des Literaturbetriebs eingenommen. Häufig ergänzt das OnlineMedium den 'traditionellen' Literaturbetrieb dabei lediglich, indem es als
zusätzliche Plattform für Literaturdistribution, -vermittlung und -rezeption
dient, genannt seien beispielsweise Verlagswebsites und Online-Buchhandel,
aber auch Feuilletonseiten innerhalb der Onlineauftritte der Tages- oder Wochenpresse oder digitalisierte Literatur, wie sie beispielsweise im PROJEKT
GUTENBERG zur Verfügung gestellt wird. 5 Diese Angebote können heute als
wichtiger Bestandteil des Literaturbetriebs erachtet werden, weil sie zur Beschleunigung des Informationsflusses und zur Ausweitung der Zugänglichkeit des Literaturbetriebs beitragen.
In anderen Bereichen ergänzt der Internet-Literaturbetrieb den 'traditionellen' Literaturbetrieb aber auch mit innovativen Angeboten, die in dieser Form
außerhalb des Internet nicht existieren (könnten). Dazu zählt unter anderem
die so genannte Internetliteratur, 6 literarische Texte also, zu deren Konstitution spezifische Eigenschaften wie beispielsweise hypertextuelle Vernetztheit
(vgl. Kap. 1.3.1.3), Multimedialität/-codalität (vgl. Kap. 1.2.1.3), Interaktivität (vgl. Kap. 1.3.1.3) oder die Automatisierung von Prozessen
(vgl. Kap. 1.3.1.3) nötig sind: Hyperfictions 7 , kollaborative Schreibprojekte
(vgl. Kap. 1.3.1.4) oder computergesteuerte aleatorische Texte
der Multimedialität/ -codalität (vgl. auch Kap. 1.2.1.3), ein besonderer Stellenwert zukommt
(ausführlicher zu Internetdiensten/-anwendungen vgl. u.a. Döring 2003, 37ff.). Diese Dienste
bilden 'das Internet', sind aber prinzipiell jeweils eigenständige Systeme. Es handelt sich beim
Internet um "eine Datentechnik, auf deren Protokoll (IP) unterschiedliche Kommunikationsmodi
oder Medien basieren" (Beck 2003, 133). Obwohl es sich also um viele verschiedene und auch
unterschiedliche Anwendungen handelt, findet alltagssprachlich in der Regel eine Gleichsetzung
statt, d.h. es wird der Begriff 'Internet' verwandt, obwohl nur der Teilbereich des WWW gemeint
ist. Obwohl die Gleichsetzung der Begriffe 'Internet' und 'WWW' also im strengen Sinne nicht
korrekt ist, soll der besseren Lesbarkeit halber in dieser Arbeit der Begriff 'Internet' synonym für
den Dienst 'WWW' verwandt werden.
5
Seit 1994 werden im PROJEKT GUTENBERG Texte der deutschsprachigen Literatur, deren Copyright abgelaufen ist, von Freiwilligen digital verarbeitet und im Internet zugänglich gemacht.
Derzeitiger Umfang des Projekts: 20.000 Gedichte, 1.800 Märchen, 1.200 Fabeln, 3.500 Sagen
und 4.800 vollständige Romane, Erzählungen sowie Novellen (Stand: 4/2009).
6
Der Begriff 'Internetliteratur' (auch: 'Netzliteratur') wird in der Forschung in der Regel verwandt, um literarische Texte, deren Produktion, Präsentation und/oder Rezeption mediengebunden ist (vgl. auch Fußnote 8), von so genannter 'Literatur im Internet' (auch: 'Literatur im Netz')
zu differenzieren. Der Begriff 'Literatur im Internet' soll Texte bezeichnen, die im Prinzip nicht
mediengebunden sind und denen das Internet lediglich als zusätzliche Präsentationsplattform
dient (z.B. PROJEKT GUTENBERG). Vgl. hierzu u.a. Simanowski 2002; Gendolla/Schäfer 2001;
Heibach 2000; Köllerer 1999; Cramer 1999.
7
Der Begriff Hyperfiction umfasst literarische Texte, die mittels hypertextueller Vernetzung
konstruiert werden, vgl. ausführlicher Kap. 1.3.1.3.
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(vgl. Kap. 1.3.1.3). 8 Von großer Bedeutung sind aber eben auch internetbasierte Anwendungen, die den Nutzern eine Partizipation an literarischem
Handeln auf eine Art und Weise ermöglichen, die außerhalb des Internet
nicht oder nur mit größerem Aufwand durchführbar wäre, wie beispielsweise
auf Literaturplattformen (vgl. ausführlicher unten).
Noch zu Beginn des neuen Jahrtausends nahmen sich die Literaturschaffenden im Internet als deutlich abseits vom "großen, renommierten Literaturbetrieb" 9 arbeitend wahr und auch der 'traditionelle' Literaturbetrieb setzte
sich noch nicht tiefgreifend mit den Prozessen literarischen Handelns im
Internet auseinander. 10 Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt jedoch,
wie stark sich der Literaturbetrieb im Internet inzwischen mit dem 'traditionellen' Literaturbetrieb verschränkt hat: So gibt es kaum einen Verlag, eine
Literatur-Institution, eine Zeitschrift oder einen Autor, der/die heute keine
Internetpräsenz hat, Print-Literatur wird in digitalisierter Form im Internet
zur Verfügung gestellt, Neuerscheinungen werden in Online-Zeitschriften
oder in Weblogs rezensiert und auf Literatur-Websites finden sich Informationen zum kulturellen Leben. Darüber hinaus erfolgt inzwischen auch ein
nennenswerter Teil des Buchumsatzes über das Internet. 11 Umgekehrt ist
Internetliteratur bzw. Literatur im Internet zuweilen so erfolgreich, dass sie
ihren Weg auch in ein gedrucktes Medium findet 12 oder zum Gegenstand der
8
Gegenstand der Hypertext-/ Hyperfiction-Forschung ist vor allem der Aspekt der "Medienechtheit" (Simanowski 7/2000, 3), die Frage also, ob es sich um (literarische) Texte handelt, die – in
ihrer Produktion und Präsentation sowie ihrer Rezeption – auf rechnergestützte Medien angewiesen sind (vgl. u.a. Schäfer 2004, 11ff.), deren "ästhetische Existenzvoraussetzung" also "unabdingbar mit der Maschine Computer verknüpft ist" (Daiber 2002, 96). Auch Gendolla/Schäfer
fordern die Konzentration auf eine "spezifische, ausschließlich oder zumindest ganz besonders in
diesen Medienkopplungen mögliche" Form der Literatur (Gendolla/Schäfer 2001, 77). Die
Forschung tendiert hier zu einer eher kategorialen Definition, die aber nur unzureichend auf die
Medienrealität anwendbar ist. Viele Texte der deutschsprachigen Internetliteratur weisen beispielsweise fast ausschließlich das Merkmal der Hypertextualität auf; gerade dieses muss jedoch
als schwächstes Merkmal für eine Feststellung von Mediengebundenheit erachtet werden, da
sich ein Hypertext bei einer relativ geringen Verweiskomplexität auch auf Papier ausgedruckt
rezipieren ließe (wie auch die 'Vorläufer' des Hypertextes zeigen, vgl. Kap. 1.3.1.3). Auch die
Integration verschiedener Medien setzt nicht zwangsläufig Mediengebundenheit voraus, da sich
Schrift und Bild beispielsweise ebenfalls auf Papier produzieren und rezipieren lassen.
9
Ortmann 2001, 3.
10
Vgl. u.a. Ortmann 2001, 3.
11
Der Direktvertrieb der Verlage an den Endkunden sowie der Versandbuchhandel über das
Internet machen über 30% des Umsatzes des deutschen Buchmarkts aus, vgl. Börsenverein des
deutschen Buchhandels, vgl. www.boersenverein.de/de/portal/Wirtschaftszahlen/158286
(2.12.2009).
12
Beispielsweise Rainald Götz' Online-Tagebuch "Abfall für alle", das 1999 bei Suhrkamp
veröffentlicht wurde, sowie das von Thomas Hettche initiierte Mitschreibeprojekt "Null", das der
DuMont-Verlag 2000 als Lose-Blatt-Sammlung druckte.
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'traditionellen' Forschungsliteratur wird. 13 Zu beobachten ist, dass Internetangebote in 'traditionellen' Medien beworben werden (beispielsweise Fernsehwerbung für Online-Auktionshäuser oder Printwerbung für HörbuchWebsites) oder Medien-Preise erhalten. 14 Mit großer Regelmäßigkeit nutzen
darüber hinaus (etablierte sowie angehende) Autoren das Internet als Experimentierfeld und 'Sprungbrett' für spätere Publikationen. 15
Es lassen sich also gewisse Abhängigkeitsverhältnisse zwischen dem Literaturbetrieb 'innerhalb' und 'außerhalb' des Internet beobachten, die deutlich
machen, dass der Internet-Literaturbetrieb zwar eine Ergänzung und Erweiterung zum 'traditionellen' Literaturbetrieb bildet, letztlich aber nicht eigenständig und losgelöst von diesem funktionieren kann (und auch nicht soll):
Der 'traditionelle' Literaturbetrieb kann nicht mehr auf den InternetLiteraturbetrieb verzichten, weil dieser zu einer wichtigen Vermittlungs- und
Distributionsinstanz geworden ist. Umgekehrt hat, wie das in Übergangsphasen fast immer der Fall ist, das ältere Medium, also das gedruckte und veröffentlichte Werk, allen (technischen und sozialen) Möglichkeiten zum Trotz,
für den Leser (wie auch für den Autor) immer noch einen höheren Stellenwert als das nachfolgende Medium, also der Bildschirm-Text. 16 Das zeigt
sich auch bei der Untersuchung von Literaturplattformen: Von vielen Nutzern werden sie als unkomplizierte und problemlos zugängliche 'literarische
Spielwiese' genutzt, nicht selten aber nur als Zwischenstation auf dem Weg
zu einer Publikation im 'traditionellen' Literaturbetrieb verstanden
(vgl. Kap. 3.4). Wie realistisch diese Vorstellung tatsächlich ist, sei zunächst
dahingestellt.
Was aber sind Literaturplattformen genau? Verorten lassen sich Literaturplattformen zunächst im so genannten 'Social Web' 17 bzw. Web 2.0. 18 Der
13
Beispielsweise Suter 1999; Suter/Böhler 1999.
So beispielsweise der Grimme Online Award, der 2005 erstmals auch in der Kategorie 'Kultur
und Unterhaltung' verliehen wurde. 2005 wurde der Preis LYRIKLINE-ORG – POESIE LESEN UND
HÖREN, einem Projekt der Literaturwerkstatt Berlin, zugesprochen; 2008 erhielten den Preis zum
einen das Musikmagazin INTRO und zum anderen LITERATURPORT, eine Website der Region
Berlin/Brandenburg, auf der Informationen zu Literatur und Autoren aus der Region zu finden
sind (vgl. www.grimme-institut.de/html/index.php?id=783#c6, 2.12.2009).
15
Ein Beispiel ist etwa die Preisträgerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2006, Kathrin Passig,
die zuvor als Autorin noch nicht in Erscheinung getreten war und ausschließlich im Internet
geschrieben hatte (vgl. Staun 2006). Aber auch 'etablierte' Autoren nutzen zunehmend diese
Möglichkeit, wie z.B. Stephen King, der seinen Roman "Riding the bullet" im Jahr 2000 vorab
als E-Book im Internet zur Verfügung stellte, oder auch Elfriede Jelinek, die 2007 ihren Roman
"Neid" kapitelweise zum kostenlosen Herunterladen auf ihrer Homepage einstellte.
16
Studien zum Lesen von literarischen Texten am Bildschirm zeigen, dass das Lesen am Bildschirm in physischer wie psychischer Hinsicht häufig als unangenehmer empfunden wird,
vgl. u.a. Boesken 2001, S. 131ff.
17
Vgl. Ebersbach et al. 2008.
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Begriff des Social Web fasst verschiedene Anwendungen des Internet zusammen, deren Schwerpunkte v.a. auf Kommunikation, Austausch von Wissen, Informationen oder Daten, auf Kontaktaufbau und Beziehungspflege
sowie auf Kollaboration liegen. Allen diesen Anwendungen ist eigen, dass sie
von der Partizipation vieler Nutzer leben, die aktiv zur Generierung von Inhalten beitragen ('user-generated content'). Dem Begriff liegt das Verständnis
zugrunde, dass das Internet nicht länger vornehmlich rezeptiv als reines Informationsmedium (Nachrichten, Auskunft) genutzt wird, in dem eine Masse
von Nutzern auf die von einer deutlich geringeren Zahl von Produzenten und
Distribuenten auf Servern zur Verfügung gestellten Informationen, Daten und
Wissen abrufen ('one-to-many', vgl. Kap. 1.2.1.3). Das Social Web wird
vielmehr als ein 'Mitmach-Netz' 19 verstanden, das die User für eigene produktive bzw. kreative Zwecke nutzen (können). 20 Auch wenn das Internet
immer schon als Kommunikationsmedium genutzt wurde, 21 kann man doch
erst mit dem Aufkommen von Foren, Wikis, Weblogs, Bild-/ VideoCommunities (FLICKR, YOUTUBE) oder sozialen Netzwerken, 22 wie beispielsweise FACEBOOK, MYSPACE STAYFRIENDS oder XING, von einer
Durchsetzung der aktiven Nutzerpartizipation in Teilen des Internet sprechen. 23
Auch Literaturplattformen ermöglichen die aktive Partizipation aller Nutzer: Sie bieten nicht nur Raum für die Veröffentlichung von literarischen
18
Zum Begriff 'Web 2.0' vgl. O'Reilly 2005.
Ebersbach et al. 2008, 11. Vgl. auch Eigner et al. 2003.
20
Unterstützt wurde der Ausbau des Social Web u.a. durch vereinfachte Software: Seit 2007 gibt
es einen offenen Programmierstandard für Soziale Netzwerke (OpenSocial), vgl. Fisch/Gscheidle
7/2008, 357.
21
Ebersbach et al. 2008 weisen darauf hin, dass das Internet bereits seit den 1960er Jahren zu
Kommunikationszwecken genutzt wurde (PLATO, ARPANET, ...), allerdings waren die Nutzerkreise hier noch relativ beschränkt. Spätere Kommunikationsmöglichkeiten wie E-Mail, Mailinglisten oder Chats waren zwar bereits einem größeren Nutzerkreis zugänglich, können aber
letztlich aufgrund ihrer eingeschränkten Öffentlichkeit bzw. ihrer fehlenden Speicherung (Chats)
nicht mit den Anwendungen verglichen werden, die unter dem Begriff des Social Web subsumiert werden (vgl. Ebersbach et al. 2008, 15f.).
22
Soziale Netzwerke dienen dem Aufbau von Beziehungen im virtuellen Raum sowohl zu eher
privaten (z.B. FACEBOOK) wie vornehmlich beruflichen Netzwerken (z.B. XING).
23
Vor allem die sozialen Netzwerke erleben sprunghaften Zuwachs: Alleine FACEBOOK verzeichnet zwischen Ende Januar 2009 und April 2009 einen Zuwachs um 40 Millionen Nutzer;
insgesamt haben sich bis April 2009 200 Millionen Nutzer registriert, vgl. u.a.
www.facebook.com/fcebook?ref=pf (1.5.09); Diez 2009. Die meisten anderen Angebote des
Social Web sind zwar stark frequentiert, allerdings übersteigt hier die Zahl der passiven Nutzer
die Zahl der aktiven Nutzer (noch). So konstatieren Fisch/Gscheidle, nur 35% aller Internetnutzer seien daran interessiert, selbst auch Inhalte zu produzieren (vgl. Fisch/Gscheidle 7/2008,
356f.). In der Regel dies jüngere Internetnutzer (14-29 Jahre), vgl. ebd., 358.
19
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Texten, sondern auch für den Austausch über eigene und fremde Texte mit
anderen Teilnehmern. Literaturplattformen vereinen alle Bereiche literarischen Handelns in einem einzelnen Internetauftritt: Jeder Nutzer kann Textproduzent, Leser, 'Verleger' und Kritiker gleichermaßen sein. Behnken et al.
konstatieren, dass in den letzten Jahrzehnten insgesamt eine Zunahme der
Zahl derjenigen zu beobachten ist, die an Lese- und Schreibpraxen teilhaben. 24 Allerdings stehen sich im Literaturbetrieb außerhalb des Internet "de
facto zwei getrennte Gruppen gegenüber (...), die kleine Elite der (professionellen) Autoren und die breite Masse der (nicht professionellen) Leserschaft". 25 Auf Internet-Literaturplattformen kann eine solche Trennung von
Schreib- und Lesetätigkeit hingegen – zumindest theoretisch – aufgehoben
werden. Und wenn Walter Benjamin formuliert, der "Lesende [sei] jederzeit
bereit ein Schreibender zu werden", 26 dann kann man sagen, dass Literaturplattformen einen geeigneten Rahmen für die Umsetzung dieses Prozesses
bilden.
Untersucht werden soll in dieser Arbeit, wie Literaturplattformen konstruiert
und strukturiert sind und wie sie genutzt werden, welche Möglichkeiten literarischen Handelns sie also bieten. Der erste Teil der Arbeit widmet sich den
Grundlagen literarischen Handelns sowie der Vorstellung des Untersuchungsgegenstands. Der zweite Teil der Arbeit befasst sich dann mit der
Konstruktion, Wahrnehmung und Nutzung von Literaturplattformen. Untersucht werden die drei zentralen Komponenten literarischen Handelns auf
Literaturplattformen: der Raum, in dem das Handeln stattfindet, das Individuum, das (aus bestimmten Bedürfnissen/Motiven heraus und mit bestimmten Absichten) handelt sowie die sozialen Beziehungen, die aus gemeinsamem literarischem Handeln entstehen bzw. auf denen gemeinsames literarisches Handeln gründet.
Im ersten Kapitel liegt das besondere Augenmerk vor allem auf den spezifischen (technischen und sozialen) Eigenschaften literarischen Handelns im
Internet. Von Interesse ist zunächst die computervermittelte Kommunikation,
die gewissermaßen die essentielle Grundlage bildet: Sie trägt zur Beschleunigung des Austausches bei, sie ermöglicht eine zeit- und ortsunabhängige, und
damit flexible Teilnahme, sie schafft aber auch neue (technische und soziale)
Abhängigkeiten und produziert nicht zuletzt auch 'Datenmüll'. Sie gilt auf24
Behnken et al. 1997, 19. Sie führen dies auf eine Verbreitung und Verallgemeinerung der
Bildungslaufbahnen zurück, aber auch auf die Abschwächung der Verbindlichkeit und Autorität
des klassischen literarischen Kanons, weshalb ein größerer "Dispositionsspielraum" (ebd.) von
Lesen und Schreiben gegeben sei.
25
Behnken et al. 1997, 18.
26
Benjamin 1996 [1936], 29.
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grund der überwiegenden Textbasiertheit als ent-emotionalisiert, gleichzeitig
wird in ihr aber auch die Möglichkeit zur Egalisierung der Kommunikationssituation im Sinne einer Überwindung von Stigma gesehen. Die automatische
Dokumentation von Kommunikation ist ein wichtiger Aspekt für literarisches
Handeln: Sie trägt zur Sichtbarmachung von bereits erfolgten Vermittlungsund Arbeitsprozessen bei und bildet damit eine wichtige Grundlage dafür,
dass jeder Nutzer jederzeit und unabhängig von seinem Standort an literarischem Handeln teilnehmen kann.
Von Interesse sind weiterhin die Handelnden bzw. ihre virtuelle Identität:
Internetnutzer sind zunächst einmal nicht sichtbar, können sich also gegenseitig nicht sehen (oder hören), sondern lediglich 'lesen'. Dieser Umstand wird
zuweilen als positiv erachtet, weil er die Möglichkeit des anonymen Handelns bietet, in der Regel wird die Nichtsichtbarkeit aber eher als beeinträchtigend empfunden, weshalb in der Konstruktion einer virtuellen Identität, also
in der Selbstdarstellung der Nutzer, ein wichtiger Aspekt der computervermittelten Kommunikation bzw. von literarischem Handeln gesehen wird. Im
Anschluss an Überlegungen zu Partizipationsmöglichkeiten, die sich dem
Nutzer im Cyberspace bieten, wird eben dieser virtuelle Raum genauer betrachtet: Mit der Konstitution von virtuellen 'Treffpunkten', wie beispielsweise Foren, Chats oder auch Literaturplattformen, werden Räume geschaffen,
denen trotz ihrer Verortung im virtuellen Raum eine gewisse Materialität
eignet, weil sie als gemeinsam genutzte 'dritte Räume' zwischen den Standorten der Nutzer wahrgenommen werden ('shared spaces'). Unterstützt wird
diese Wahrnehmung auch durch die Etablierung von Räumlichkeitsmetaphern (Datenautobahn, Chaträume, Foren, ...). Die Schaffung virtueller Räume erleichtert die Orientierung im 'enträumlichten' und unübersichtlichen
Internet, weil sie eine Anlaufstelle bieten und zudem Vertrautheit schaffen.
Abschließend wird das Phänomen 'Literaturplattform' dann im Kontext des
Internet-Literaturbetriebs verortet und auf seine Struktur hin untersucht.
Im zweiten Kapitel wird der Gegenstand der Untersuchung vorgestellt:
Neben einer Analyse der ausgewählten Literaturplattformen erfolgt eine
Auswertung der soziodemographischen Daten der Nutzer und ein Überblick
über die von den Literaturplattformnutzern verfassten Texte. N.B.: Auch
wenn es gewissermaßen in der Natur von Netzinhalten liegt, dass sie sich
permanent verändern, soll dennoch an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit bei Veröffentlichung
derselben nicht mehr dem Zustand zum Zeitpunkt der Erhebung entspricht,
v.a. weil einige der untersuchten Literaturplattformen inzwischen nicht mehr
existieren: Zwei hatten bereits bei Einreichung der Arbeit ihren Betrieb eingestellt (vgl. ausführlicher Kap. 5.3.1), eine weitere Plattform wurde kurz vor
der Veröffentlichung der Arbeit offline gestellt.
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Im dritten Kapitel werden die ausgewählten Literaturplattformen zunächst hinsichtlich ihrer Verortung im Internet untersucht: Sie werden als
'shared spaces' verstanden, die sich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit
bewegen. Einerseits bilden sich hier Gruppierungen aus, die sich nach außen
hin abgrenzen, um gemeinsam über Literatur zu sprechen und an Texten zu
arbeiten, gleichzeitig sind sie aber auch offen für neue Teilnehmer und können damit als öffentlich erachtet werden. Literaturplattformen sind gewissermaßen Mikro-Öffentlichkeiten, die für ihre Nutzer unterschiedliche Funktionen erfüllen (können): Sie können als Bühne und Galerie genutzt werden,
aber auch als Treffpunkt und Werkstatt. Während letztere eher mit etwas
Geschlossenem und Privatem assoziiert werden, setzen sowohl eine Bühne
als auch eine Galerie eine gewisse Öffentlichkeit voraus. Die untersuchten
Plattformen entwickeln dabei unterschiedliche Schwerpunkte und können
entsprechend eher als Arbeits- oder Freizeitplattformen verstanden werden.
Im vierten Kapitel sollen Literaturplattformen zunächst in ihrer Funktion
als Bühne und Galerie untersucht werden: Die Teilnehmer nutzen die Plattformen, um sich selbst darzustellen (virtuelle Identität), vor allem aber, um
ihre literarischen Texte zu präsentieren. Dabei interessiert nicht nur, wie sich
die Nutzer selbst inszenieren, sondern vor allem, welche Erwartungen sie an
literarisches Handeln auf Literaturplattformen haben. Untersucht wird also,
warum Schreibende gerade Literaturplattformen wählen: Neben bekannten
Schreibmotiven (u.a. Selbsterfahrung, Verarbeitung, Aufmerksamkeit) lassen
sich hier vor allem 'dialogische' Schreibmotive konstatieren, die auf Austausch und Zusammenarbeit mit anderen Nutzern zielen.
Der Wunsch nach Austausch und Zusammenarbeit wird im fünften Kapitel aufgegriffen: Die Literaturplattformen sollen abschließend in ihrer Funktion als Treffpunkt und Werkstatt untersucht werden. Von Interesse ist also,
welche Formen sozialer Beziehung zwischen den Literaturplattformnutzern
entstehen und welchen Bedingungen sie unterliegen, aber auch, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Literaturplattformen funktionieren
können. Dazu zählen neben wechselseitiger und regelmäßiger Kommunikation vor allem auch die Binnenstrukturierung sowie die Frage des Zugehörigkeitsgefühls. Die in dieser Arbeit untersuchten Literaturplattformen lassen
sich in dieser Hinsicht jedoch nicht eindeutig kategorisieren: Die Bandbreite
reicht von der Wahrnehmung der Plattform als unverbindliche Interessengemeinschaft oder Schreib-Werkstatt bis hin zu fester Arbeitsgruppe oder gar
'Internetfamilie'. Ob die Konzepte jeweils funktionieren, hängt (fast) immer
davon ab, ob sich die Wünsche, Forderungen und das Nutzungsverhalten
aller Teilnehmenden in Einklang bringen lassen.
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