Pflege mit Weitblick. Erfahrungen aus anderen Ländern

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Pflege mit Weitblick. Erfahrungen aus anderen Ländern
Das AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft
Spezial 3/2006
SPEZIAL
Impulse für eine Reform
Pflege mit Weitblick
+++ Erfahrungen aus anderen Ländern
Inhalt
Lese- & Webtipps
4
USA
Pflege ist Privatsache
Interview mit Heidi Nadolski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
7
Japan
Pflege nach Plan
von Cornelia Wanke und Änne Töpfer . . . . . . . . . . . .
14
Grossbritannien
Eine Frau für alle Fälle
von Arndt Striegler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
Deutschland
Im Heim zu Hause sein
von Cornelia Wanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
Projekt Eurofamcare
Was Familien leisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
AOK-Lösungen zur Pflegereform
Die Zukunft der Pflege sichern . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
Deutschland
»Mehr Anerkennung für die Angehörigen«
Interview mit Heike von Lützau-Hohlbein . . . . . . .
24
Luxemburg
Eine sichere Bank fürs Alter
von Fernando Ribeiro und Vibeke Walter . . . . . . . . . .
Finnland
Mit dem Pflege-Voucher auf Einkaufstour
Interview mit Hannele Häkkinen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
■ 5. Altenbericht der Bundesregierung
■ G. Igl, D. Schiemann, B. Gerte, J. Klose
■ www.dbfk.de Die Homepage des Deut-
(2005): »Potenziale des Alters in Wirtschaft
(2002): Qualität in der Pflege – Betreuung
schen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK)
und Gesellschaft«.
und Versorgung von pflegebedürftigen alten Menschen in der stationären und ambulanten Altenhilfe, Schattauer, Stuttgart.
■ Bundesministerium für Gesundheit:
Dritter Bericht über die Entwicklung der
Pflegeversicherung. Als PDF-Datei zum Herunterladen unter www.bmg.bund.de Der
Bericht gibt einen umfassenden Überblick
über die Situation der Pflegeversicherung
(Zahl der Leistungsbezieher, Auswirkungen
der Pflegeversicherung auf die Pflegeinfrastruktur und anderen Bereiche) in den Jahren 2001 bis 2003.
■ K. Jacobs, H. Drähter: Wer bezahlt die
Pflege? Beitrag in G+G »Gesundheit und
Gesellschaft« 9/2005, S. 22-29, als PDF-Datei
unter www.aok-bv.de
■ T. Klie: Wie viel Zeit in Pflege fließt,
Beitrag zum »Persönlichen Pflegebudget«
in G+G »Gesundheit und Gesellschaft«
12/2005, Seite 22
■ www.deutsche-alzheimer.de Homepage der Deutschen Alzheimer Gesellschaft
Alzheimer-Telefon: 01803 171017 (9 Cent/
Minute vom Festnetz)
■ www.dnqp.de Homepage des »Deut-
schen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in
der Pflege«. Das Deutsche Netzwerk ist ein
bundesweiter Zusammenschluss von Pflegefachleuten, die sich mit dem Thema Qualitätsentwicklung auseinandersetzen.
■ R. Borosch, H. Kesselheim: Leben ohne
■ www.dv-pflegewissenschaft.de Verein
Erinnerung, Konzept zur Versorgung von
zur Förderung der Pflegewissenschaft
Demenzkranken, Beitrag in G+G »Gesundheit und Gesellschaft« 2/2006, S. 24-30
■ B. Gerste, A. Schwinger, I. Rehbein
(2004): Qualitätssiegel und Zertifikate für
Pflegeeinrichtungen – Ein Marktüberblick,
Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO),
Bonn. In der Studie werden 14 Qualitätssiegel und Zertifikate für Pflegeeinrichtungen
vorgestellt.
■ www.aok-bv.de Homepage des AOKBundesverbandes, unter »Gesundheitsversorgung, Pflege« Informationen zur Pflegeversicherung und den Reformoptionen
■ www.aok-gesundheitspartner.de In-
formationen u. a. zu Apotheken, Arzt und
Praxis, Heilberufen, Hilfsmittelanbietern,
Krankenhaus, Pflege, Reha/Versorgung
■ G+G-Wissenschaft 4/2004 Schwer-
■ www.bmfsfj.de Homepage des Bundes-
punkt: Qualität in der Pflege, KomPart
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend
Verlag, die Aufsätze als PDF-Datei unter:
http://wido.de/ggw_jahrgang_2004.html
■ www.bmg.bund.de Homepage des
Bundesministeriums für Gesundheit
■ www.dza.de Das Deutsche Zentrum für
Altersfragen (DZA) ist ein Forschungs- und
Dokumentationsinstitut, das die Lebenslagen, Lebenssituationen und Lebensstile
älterer Menschen im gesellschafts- und sozialpolitischen Kontext untersucht.
■ www.kda.de Seit 40 Jahren entwickelt
das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA)
Konzepte und Modelle für die Altenhilfe,
fördert sie und hilft, sie in die Praxis umzusetzen.
■ www.pflegebudget.de Mehr zu einem
von den Spitzenverbänden der Pflegekassen geförderten Modellprojekt
Vo r w o r t
Rechtzeitig
Weichen stellen
Den Horizont erweitern: Der Blick über die Grenzen
gibt Impulse für die Pflege in Deutschland. Deren
Zukunft gilt es zu sichern – mit einer festen Finanzbasis und der Prävention von Alterskrankheiten.
Fotos: AOK-Mediendienst, Titelbild: ©taxi
D
eutschland vergreist«, »Die Pflegeversicherung steht vor dem Konkurs«: Solche oder
ähnliche Schlagzeilen erscheinen hierzulande immer öfter. Wir werden gefragt »Wohin
mit Oma?«, lesen vom »Methusalem-Komplott« und
beklagen den »demografischen Wandel«. Zweifels
ohne wird uns die Tatsache, dass wir Menschen immer länger aber nicht unbedingt gesünder leben, vor
große Herausforderungen stellen. Statt darüber aber
nur zu jammern, sollten wir uns fragen, wie wir dieser
Aufgabe begegnen können. Wie können wir erreichen, dass auch die heute Jungen im Alter gut versorgt werden? Was kann der Einzelne tun, um möglichst lange möglichst gesund zu leben? Und wie
garantieren wir ein Altern in Würde?
Es ist an der Zeit, die Weichen zu stellen: für eine
zukunftssichere Finanzierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung und für eine strukturelle
Verbesserung der pflegerischen Versorgung. Sowohl
die Pflege- als auch die Krankenversicherung brauchen ein dauerhaft festes finanzielles Fundament und
neue Impulse, was die Leistungen anbelangt. So sollten altersbedingte Krankheiten nicht nur früher diagnostiziert werden, wir sollten auch verstärkt unser
Augenmerk darauf lenken, Krankheiten im Alter zu
vermeiden. Wer in jungen Jahren gesundheitsbewusst
lebt, wird nicht nur älter, sondern bleibt auch länger
gesünder. Nur wenn Prävention, kurative Medizin
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
und Rehabilitation gut miteinander verzahnt sind,
werden mehr Menschen auch in hohem Alter noch
ein eigenständiges Leben führen können.
»Ein Land ist daran zu messen, wie es seine alten
Menschen behandelt«, lautet ein japanisches Sprichwort. Gerade im Hinblick auf die medizinische und
pflegerische Versorgung der älteren, multimorbiden
Menschen können wir noch viel von anderen Ländern lernen. Deshalb blicken wir in diesem G+GSpezial über die Grenzen: zum Beispiel nach Großbritannien, wo Gemeindeschwestern alte Menschen zu
Hause betreuen und zu den Finnen, die ihren Senioren ein möglichst unabhängiges Leben auch im Alter
ermöglichen wollen. Ein Einblick, wie andere Länder
mit dem demografischen Wandel umgehen. Ein
Überblick, wie professionelle Pflege im Ausland organisiert wird. Und viele neue Impulse für die großen
Herausforderungen, die wir alle zu meisten haben.
Dr. Hans Jürgen Ahrens
Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes
3
LUXEMBURG
Eine sichere Bank fürs Alter
Im Land der Finanzexperten steht die Pflege auf stabilem Fundament. Eine gesetzliche Pflegeversicherung, ähnlich dem deutschen Modell, kommt seit 1999 für die Kosten der Pflegebedürftigkeit auf.
Luxemburg investiert zudem in Prävention. Von Fernando Ribeiro und Vibeke Walter
gestricktes, gut zusammenarbeitendes
soziales Netz mit zahlreichen ambulanten und stationären Hilfs- und Pflegeeinrichtungen. Wie in vielen anderen
europäischen Ländern auch, wohnen die
Generationen zwar nicht mehr alle unter
einem Dach, jedoch leben die Angehörigen meist in der Nähe. So stehen
ältere Menschen in Luxemburg oft noch
in regelmäßigem Kontakt mit Kindern
und Enkelkindern. Durch die geringe
Distanz können Familienmitglieder eine
unterstützende Rolle in der Pflege spielen.
Der große Ausländeranteil in der luxemburgischen Bevölkerung (zur Zeit
liegt er bei rund 39 Prozent) und die hohen Gehälter, die viele Berufspendler
aus der Grenzregion anlocken, bestimmen auch die Personalsituation im Pflegebereich. Pflegenotstand gibt es in Luxemburg kaum. Jedoch müssen Pflegekräfte im Großherzogtum die luxemburgische Sprache (Eigenbezeichnung:
Lëtzebuergesch) beherrschen – das ist
gesetzlich vorgegeben.
Altenpolitik hat Konjunktur. Die demografische Entwicklung entspricht in
Luxemburg der in Deutschland: Die
Lebenserwartung steigt und damit wird
die Gesellschaft immer älter. Der Anteil
der über 65-jährigen liegt zur Zeit bei
18 Prozent, die Tendenz ist steigend.
Die ersten Überlegungen für eine effiziente Seniorenpolitik gehen auf das Jahr
1992 zurück. Damals formulierten sowohl das Gesundheits-, als auch das Familienministerium in einem nationalen
Programm für Senioren erstmals weiterführende Überlegungen für eine konstruktive Altenpolitik. Das Programm
enthielt sowohl Ansätze für einen akti4
ven, sinnvoll gestalteten Ruhestand als
auch konkrete Maßnahmen für die ambulante und stationären Pflege. Insbesondere sah das nationale Programm
vor, die bestehenden Strukturen zu verbessern und auszubauen sowie neue zu
errichten, um der veränderten Altersstruktur der Bevölkerung gerecht zu
werden. Eines der erklärten Ziele war,
ältere Menschen darin zu unterstützen,
so lange wie möglich in den eigenen vier
Wänden zu leben. Dazu sollten Dienstleistungen wie Hausnotrufdienst, Essen
auf Rädern, ambulante häusliche Hilfsund Pflegedienste, psychogeriatrische
Tagesstätten sowie altengerechte Wohnungen etabliert werden.
Diese Konzepte und Ziele sind auch
im Programm der jetzigen Regierung
verankert (seit 2004 regiert unter JeanClaude Juncker eine große Koalition
aus Christlich Sozialer Volkspartei und
der Luxemburgischen Sozialistischen
Arbeiterpartei). Seit 1992 wurden die
Konzepte gezielt weiter entwickelt und
qualitativ verbessert. Einige Dienstleistungen wurden ergänzt und Versorgungslücken geschlossen, beispielsweise
durch die Einführung einer häuslichen,
nächtlichen Betreuung oder das Angebot einer ambulanten Sterbebegleitung.
Pflegebedürftigkeit verhindern. In
Luxemburg leben 90 Prozent der über
65-jährigen Bürger selbstständig zu Hause. Mit steigendem Alter wächst allerdings die Wahrscheinlichkeit, nicht mehr
in der eigenen Wohnung ohne Hilfe zurechtzukommen. Die Politik für das
»Dritte Lebensalter« steht deshalb auf
zwei Säulen: Prävention und Pflege.
Durch die Förderung präventiver Maßnahmen will die Regierung dem EinzelGesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Foto: imagesource
G
enug Geld und kurze Wege:
Luxemburg bietet gute Voraussetzungen für einen zufriedenen Lebensabend. Das Lohnniveau der Erwerbstätigen in Luxemburg gehört zu den höchsten weltweit.
Entsprechend gehoben ist der Lebensstandard der Einwohner. Er wird nicht
zuletzt dadurch gehalten, dass sowohl
Löhne als auch Renten an den Lebenshaltungskostenindex gekoppelt sind und
regelmäßig angepasst werden.
Die meisten Luxemburger können
sich daher ausreichend Pflegedienstleistungen kaufen. Außerdem zählt Luxemburg zu den kleinsten Ländern Europas.
Die geringe Größe ermöglicht ein eng
Foto: imagesource
nen in seinen physischen und psychischen Fähigkeiten unterstützen, damit
er länger ein unabhängiges Leben
führen kann. So bestehen landesweit 14
so genannte Club Senior, die eine rüstig-aktive Klientel ansprechen sollen.
Mit dem gleichen Ziel arbeitet auch die
Seniorenakademie. Sie veranstaltet Kurse
unter anderem in den Bereichen Sport,
Gesundheit, Kreativität, Kultur, Sprachen und neue Medien. Die Seniorenclubs und die Seniorenakademie erhalten finanzielle Unterstützung von Staat
und Kommunen. Auf kommunaler
Ebene sind einige »Kommissionen für
das Dritte Alter« mit verschiedenen Angeboten sehr aktiv. Seit über 40 Jahren
arbeitet zudem die rund 20.000 Mitglieder zählende Vereinigung »Amicale
des personnes retraîtées, âgées ou solitaires asbl« (Amiperas). Diese Organisation hat es sich vor allem zur Aufgabe gemacht, alten Menschen aus ihrer Isolation zu helfen.
Stationäre Pflege ausbauen. Luxemburgs rüstige Rentner haben also vielfältige Gelegenheit, ihre Kraft und Fähigkeiten zu trainieren, um möglichst lange auf eigenen Beinen zu stehen. Doch
das Land stellt sich auch auf eine wachsende Zahl pflegebedürftiger älterer Menschen ein. In den vergangenen Jahren
stieg die Bettenzahl in den Alten- und
Pflegeheimen. 34 Altenheime (»Centres
intégrés pour personnes âgées«) und 15
Pflegeheime (»Maisons de soins«) mit
insgesamt 4.562 Betten bieten Platz für
7,15 Prozent der Bürger über 65 Jahre.
Zurzeit unterscheidet die Verwaltung
noch zwischen Pflegeheimmen und traditionellem Altenheimen. In der Praxis
wird de facto kaum noch ein Unterschied zu finden sein, da auch in Luxemburg das durchschnittliche Alter bei
Eintritt in eine solche Einrichtung mittlerweile bei 83 Jahren liegt. Auch der
Grad der Pflegebedürftigkeit von Heimbewohnern nimmt zu.
Um dem Bedarf der nächsten Jahre
gerecht zu werden, ist vorgesehen, zusätzliche Betten zu schaffen, teils in
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Neubauten, teils in erweiterten, bereits
bestehenden Häusern. Eine wesentliche
Herausforderung bleibt es weiterhin,
nicht nur neue Heimplätze bereitzustellen, sondern auch adäquate inhaltliche
Konzepte zu entwickeln. Dies betrifft
insbesondere die Betreuung von an
Demenz erkrankten Heimbewohnern,
sowie die Qualitätssicherung der Dienstleistungen in den Institutionen.
Die Pflegeversicherung zahlt. In der
Regel tragen Staat und Kommunen den
größten Teil der Kosten der stationären
Pflegeinfrastruktur. Die Pflege selbst wird
über die am 1. Januar 1999 – nach deutschem Muster – eingeführte gesetzliche
Pflegeversicherung finanziert. Alle Berufstätigen und alle Rentner zahlen einen Beitrag in Höhe von einem Prozent
ihrer Einkünfte (unter anderem Lohn,
Rente, Mieteinkünfte) und ihres Vermögens an die Pflegeversicherung. Die
Versicherten und ihre Familienmitglieder haben Anspruch auf Leistungen der
Pflegeversicherung im Falle einer Pflegebedürftigkeit. Die Krankenkasse übernimmt weiterhin alle Kosten, die mit der
Krankheit zusammenhängen. Die Pflegeversicherung trägt auch die Kosten für
Zahlen und Fakten
Landesfläche: 2.586 km2
Staatsform: parlamentarische Demokratie in Form einer konstitutionellen Erbmonarchie
Einwohner: 451.600 (davon Ausländer: 174.200)
In der Hauptstadt Luxembourg leben 83.832 Einwohner
Neugeborene pro 1.000 Einwohner: 11,8
Inflationsrate: 2 %
Monatlicher Mindest-Bruttolohn: 1.402,96 Euro
Durchschnittlicher Stundenlohn in der verarbeitenden Industrie: 13,49 Euro
Durchschnittlicher Monatslohn in der verarbeitenden Industrie: 4.089,95 Euro
Arbeitslosigkeit (2003): 3,7 %
13 % aller Beschäftigten arbeiteten 2003 bei Banken und Finanzdienstleistern
Einwohner je Arzt: 469
Quellen: www.gouvernement.lu und »Harenberg Aktuell 2005«, Meyers Lexikonverlag
5
LUXEMBURG
Einkommensabhängige Hilfe. Wer
die Kriterien des Pflegeversicherungsgesetzes (wie erwähnt, gehört dazu ein
Hilfebedarf von mindestens 3,5 Stunden/Woche für mindestens sechs Monate) nicht erfüllt und trotzdem Hilfe oder
Pflege benötigt, erhält auf Antrag Unterstützung vom Staat, wenn sein Einkommen unter 2.608 Euro monatlich
liegt (Grenzwert im Jahr 2005). Er zahlt
dann für die Pflegeleistungen einen von
seinem Einkommen abhängigen Betrag
(»Tarification sociale«), der unter dem
vollen Preis einer Pflegestunde liegt. Die
Differenz zu dem zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern ausgehandelten Preis für eine Pflegestunde
übernimmt der Staat. Im Jahr 2005 lag
der von Kassen und Pflegedienstleistern
vereinbarte Preis im ambulanten Bereich bei 49,98 Euro pro Stunde, im stationären Bereich bei 37,80 Euro.
6
Die Kosten der Unterbringung (Prix de
pension) in den Alten- und Pflegeheimen müssen vom Bewohner selbst aufgebracht werden. Der nationale Durchschnittpreis für die Unterbringung lag im
Jahr 2002 bei etwa 1.730 Euro im Monat. Für einkommensschwache Bürger
besteht die Möglichkeit einer finanziellen Unterstützung durch den nationalen Solidaritätsfonds.
Pflegestufen wie in
Deutschland gibt es in
Luxemburg nicht.
Heime stellten mehr Fachkräfte ein.
Ebenfalls seit1998 regelt das ASFT-Gesetz (Loi réglant les relations entre l’Etat
et les organisations oeuvrant dans les
domaines social, familial et thérapeutique) die Mindestanforderungen für
Einrichtungen und Dienstleister im
sozialen, familiären oder therapeutischem Bereich. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen umfassen sowohl personelle als auch bauliche Merkmale und
sind zum Teil vergleichbar mit dem
deutschen Heimgesetz. Erfüllt ein Betreiber von Pflegeeinrichtungen oder
Pflegediensten die Normen, erhält er
eine ministerielle Zulassung für das betreffende Tätigkeitsfeld. In der Regel
werden die Institutionen jährlich auf
die Einhaltung der gesetzlichen Mindestvorgaben überprüft.
Mit Einführung der Pflegeversicherung konnten viele Heime ihr Personal
aufstocken. Die Träger der Einrichtungen stellten vermehrt Fachkräfte wie Ergo- und Physiotherapeuten oder Psychologen ein. Heute besteht das Pflegepersonal in Alten- und Pflegeheimen vorwiegend aus diplomierten Krankenpflegern,
oft mit universitärer Zusatzausbildung
für die unterschiedlichen Leitungsebenen, Krankenpflegehelfern sowie Sozialund Familienhelfern. Eine Ausbildung
zum Altenpfleger gibt es in Luxemburg
nicht. Spezifisches Fachwissen eignen
sich Pflegekräfte entweder in Weiterbildungen an, oder sie absolvieren Fortbildungen zu pflegetheoretischen Ansätzen sowie zum Thema Sozialmanagement beim Fortbildungsinstitut des Service RBS (ein eingetragener Verein).
Seit Oktober 2002 bietet die Universität
Luxemburg außerdem einen dreijährigen Aufbaustudiengang zum Master en
Gérontologie an.
Die luxemburgische Pflegeversicherung hat sich in den sieben Jahren ihres
Bestehens bewährt. Hinsichtlich der
Leistungen, der Finanzierung und der
Evaluierung der Pflegebedürftigkeit
besteht derzeit kein Reformbedarf. Es
sind lediglich kleinere Änderungen
geplant, die vor allem zum Ausbau der
Prävention schwerer Pflegebedürftigkeit
beitragen sollen. In diesem Bereich will
Luxemburg weiterhin besondere Anstrengungen unternehmen. ■
Fernando Ribeiro ist Mitarbeiter im »Ministère
de la Famille et de l’Intégration« im Bereich
Altenpolitik.
Vibeke Walter ist Mitarbeiterin des Service
RBS Asbl (Fortbildungsinstitut und Seniorenakademie) in Luxemburg.
Mehr Infos: [email protected]
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Foto: agenda, Karin Desmarowitz
ambulante Pflegeleistungen und beteiligt sich an den Kosten, die bei der
Wohnraumanpassung entstehen (zum
Beispiel durch Einbau eines Treppenliftes).
Im Gegensatz zu Deutschland gibt es
im luxemburgischen System allerdings
keine Pflegestufen. Das Gesetz sieht vor,
dass für jeden Betroffenen Hilfen und
Leistungen individuell festgelegt werden, um so der individuellen Pflegebedürftigkeit Rechnung zu tragen. Die
Leistungen der Pflegeversicherung werden in Stunden berechnet: Das Minimum sind 3,5 Stunden, das Maximum
24,5 Stunden pro Woche für die Verrichtungen des täglichen Lebens (Körperpflege, Ernährung und Mobilität)
und für einen Mindestzeitraum von
sechs Monaten. Für Pflegeheimbewohner mit sehr großem Hilfebedarf können die Leistungen auf 31,5 Stunden erweitert werden. Ferner können stundenweise auch hauswirtschaftliche Hilfe
sowie andere unterstützende Maßnahmen bewilligt werden. Bei der häuslichen Pflege besteht ein Recht auf
Sach- oder aber auf Geldleistungen.
Beides kann auch kombiniert werden.
Hannele Häkkinen ist Gesundheitswissenschaftlerin und arbeitet in der
Sozial- und Gesundheitsabteilung
beim Verband der Städte, Gemeinden
und Regionen Finnlands.
FINNLAND
Mit dem Pflege-Voucher auf Einkaufstour
Die finnischen Kommunen geben Gutscheine aus, für die Pflegebedürftige Leistungen bei privaten
Anbietern ihrer Wahl erhalten. Das System soll den Wettbewerb ankurbeln und den Arbeitsmarkt
beleben. Ein Gespräch mit Hannele Häkkinen.
Wie ist die Pflege in Finnland gesetzlich
geregelt?
mune führt die Dienste selbst aus oder
kauft dann diesen Bedarf ein.
»In Finnland gibt es keine Pflegeversi-
Was bezahlt der Staat und wie hoch ist die
Eigenbeteiligung des Pflegebedürftigen?
cherung wie in Deutschland. Die Pflege
älterer Menschen fällt unter die allgemeinen Sozialgesetze und wird unter
Eigenbeteiligung der Pflegebedürftigen
aus Steuermitteln finanziert. Unser
Grundgesetz sieht vor, dass alle Menschen die gleichen Möglichkeiten haben
müssen, egal, wie alt oder krank sie
sind. Darauf basieren all unsere Regelungen zur Pflege.
Wer organisiert die Pflege in Finnland?
»Hier wird zwischen häuslicher und
stationärer Pflege unterschieden. Dazwischen gibt es das so genannte Service-Wohnen: Man wohnt in einem Service-Haus und bekommt die Dienste,
die man braucht entweder von der
Kommune oder einem Wohlfahrtsverband. In Finnland ist die Kommune
verantwortlich für die Pflege, auch für
das Angebot im Bereich der ambulanten
Pflege. Entweder ist die Kommune
selbst Träger der Pflegedienste, oder sie
kooperiert mit anderen Kommunen,
privaten Anbietern oder Wohlfahrtsverbänden und kauft bei diesen Partnern
die benötigten Dienstleistungen ein.
Wer bestimmt den Umfang der Pflege?
Foto: Marketta Kaunisto/privat
»Der Pflegebedürftige oder seine Angehörigen kontaktieren den Sozialdienst
der Kommune. Ein Vertreter des Sozialdienstes besucht den Pflegebedürftigen
und analysiert den Bedarf, zum Beispiel
Hilfe zum Waschen und Essen für eine
bestimmte Zeit an einer festgelegten
Zahl von Tagen pro Woche. Die KomGesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
»Der Staat gibt seinen Finanzierungsanteil an die Kommunen. Der Eigenanteil sind abhängig vom Einkommen
des Pflegebedürftigen – also Rente,
Mieteinkünfte und ähnliches – und von
der Zahl der Personen, die im Haushalt
leben. Derzeit müssen die Pflegebedürftigen für die ambulante Pflege im
Schnitt eine Eigenbeteiligung von bis zu
etwa fünfzehn Prozent ihres Netto-
»Die Differenz zwischen
Gutschein und tatsächlichen Kosten zahlen die
Senioren.«
einkommens leisten. An den Kosten der
stationären Pflege muss sich der Pflegebedürftige mit bis zu 80 Prozent seines
Nettoeinkommens beteiligen.
Was hat es mit dem Voucher-System auf
sich, das 2004 eingeführt wurde?
»Man wollte damit ein größeres Angebot an Dienstleistungen schaffen. Das
Ziel war, dass die Menschen so lange
wie möglich zu Hause gepflegt werden.
Zudem sollte der Kunde mehr Wahlmöglichkeiten bekommen. Das System
soll auch für mehr Wettbewerb unter
den Leistungserbringern sorgen. Wir
gehen davon aus, dass sich das VoucherSystem positiv auf den Arbeitsmarkt
auswirken und die Qualität und Wirt-
schaftlichkeit der Pflegedienstleistungen erhöhen wird. Vorbild war hier
Schweden, das schon positive Erfahrungen mit dem System gemacht hat.
Wie funktioniert das finnische VoucherSystem?
»Die Kommune kann selbst bestimmen, ob sie ein Voucher-System einführen will. Sie entscheidet auch über
die Höhe des Gutschein-Wertes für
Pflegedienstleistungen. Der Gutschein
wird nur für die Nutzung der privaten
Pflegedienste ausgegeben. Die Kommune bestimmt, welche Dienstleistungen
damit eingekauft werden – zum Beispiel
Hilfen für die Verrichtungen des täglichen Lebens: Waschen, An- und Auskleiden, Essen, sozialer Umgang oder
Transport. Die Dienste reichen den
Gutschein, den sie von ihrem pflegebedürftigen Kunden erhalten, bei der
Kommune ein und bekommen ihre
Leistungen bezahlt. Der Kunde muss
die Differenz zwischen Gutschein und
tatsächlichen Kosten tragen. Derzeit
diskutiert man in Finnland, ob das Voucher-System auch in der ambulanten
Krankenpflege brauchbar wäre.
Wer sichert die Qualität der
Dienstleistungen?
»Die Kommune muss die Anbieter von
Pflegedienstleistungen zulassen. Auch
hier ist es so, dass die Kommune selbst
bestimmt, welche Kriterien der Anbieter erfüllen muss. Die Kommune legt
den Pflegebedarf des Einzelnen fest und
regelt, wie der Voucher eingelöst werden
kann. Sie prüft auch, ob der Betreffende
überhaupt noch in der Lage ist, sich die
Leistungen selbst einzukaufen. ■
7
GROSSBRITANNIEN
Eine Frau für alle Fälle
W
enn Teresa Davis bei ihren Patienten klingelt,
wird sie meistens wie eine alte Freundin begrüßt.
Seit mehr als 20 Jahren arbeitet die 57-jährige
gelernte Krankenschwester bereits für den staatlichen britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS). Seit vier Jahren ist sie District Nurse. District Nurses sorgen in Großbritannien dafür, dass chronisch kranke
oder alte Menschen länger in den eigenen vier Wänden leben
können. »Ich besuche meine Patienten zu Hause, versorge sie
mit Medikamenten, kümmere mich um kleine Unpässlichkeiten«, beschreibt Teresa Davis ihre Arbeit. Auch der Klönschnack mit den Patienten gehört fest zum Arbeitsalltag britischer Gemeindeschwestern.
»Sister Teresa« wie sie von den meisten ihrer mehr als 200
Patienten liebevoll genannt wird, arbeitet in Nord-England,
in der alten Bergbaustadt Shiremoor (North Tyneside). Sie
und ihre Kolleginnen und Kollegen kümmern sich um Patienten, die Langzeitpflege benötigen, aber lieber in der eigenen Wohnung bleiben möchten als in einem Alten- oder
Pflegeheim zu leben. »Ich bin immer wieder überrascht, wie
fröhlich und positiv die Menschen trotz ihrer Krankheit
sind«, berichtet Teresa Davis. »Das ist für mich eine der
wichtigsten Berufserfahrungen überhaupt: zu sehen, wie Patienten mit schweren Erkrankungen wie Krebs oder Diabetes
umgehen und nicht aufgeben.«
Krankenschwestern verordnen Medikamente. An diesem regnerischen Dienstag steht für Teresa Davis zuerst ein
Hausbesuch bei Florence Brodie auf dem Programm. Die 80jährige Patientin hat Krebs. Es ist kurz nach zehn Uhr morgens und Schwester Teresa klingelt an dem kleinen Reihenhaus. Zwei Mülltonnen stehen vor dem Gartentor. Dienstags
ist in Shiremoor Müllabfuhr. Wie selbstverständlich trägt
Teresa Davis die beiden Tonnen in den Vorgarten zurück und
stellt sie ordentlich auf den dafür vorgesehenen Platz. Florence Brodie öffnet die Haustür und strahlt: »Vielen Dank,
Schwester Teresa. Die Müllmänner sollten das eigentlich machen, aber sie wissen ja, wie das heutzutage ist. Keiner nimmt
sich mehr Zeit.«
Schwester Teresa indessen hat es nicht eilig. Sie folgt der
alten Dame ins Wohnzimmer. Es folgt ein kurzes Gespräch.
Wie geht’s gesundheitlich? Was machen die Enkel? Haben Sie
Schmerzen? Waren Schlaf und Verdauung in Ordnung?
Dann misst Teresa Davis den Blutdruck ihrer Patientin,
schaut kurz in den Medizinschrank im Badezimmer um zu
sehen, ob noch alles da ist. »Ich brauche neue Schmerzmittel«, sagt Florence Brodie. Als District Nurse hat Teresa Davis
die Befugnis, Arzneien gegen Schmerzen und andere Medikamente zu verordnen. Das ist deshalb möglich, weil District
Nurses eng mit dem Hausarzt der Patienten zusammenarbeiten. Der Hausarzt bestimmt die Therapie, die Krankenschwester sorgt dafür, dass die nötigen Medikamente und
medizinischen Hilfsmittel zum Patienten kommen.
Großbritannien hat seit mehr als 50 Jahren ein auf dem
Primärarztsystem aufbauendes staatliches Gesundheitswesen.
Erster Anlaufpunkt für den Patienten ist also stets der Hausarzt. Allerdings sind die rund 31.000 staatlichen Hausärzte
seit Jahren permanent überlastet. Das soll sich ändern, indem
mehr Kompetenzen auf die krankenpflegerischen Berufe wie
die District Nurses verlagert werden. Das klappt laut britischer Krankenpflegergewerkschaft (Royal College of Nursing, RCN) sehr gut. Das Gewerkschaft vertritt die beruflichen Interessen von mehr als 300.000 NHS-Krankenschwestern und -pflegern.
Lokale Gesundheitsverwaltung zahlt ambulante Dienste.
Zweimal pro Woche schaut Teresa Davis bei ihren Patienten
vorbei. Für Florence Brodie gehören die Besuche zu den
8
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Foto: photothek.net
Mülltonnen wegräumen, Medikamente verschreiben, Gesellschaft leisten und Angehörige unterstützen:
Eine britische Gemeindeschwester übernimmt viele Aufgaben. Mit ihrer Unterstützung leben Pflegebedürftige länger in der eigenen Wohnung statt im Heim. Eine Reportage von Arndt Striegler
Foto: ©teamwork - text+foto
Highlights der Woche. »Schwester Teresa genießt mein volles
ist schwer«, räumt die Krankenschwester ein. Trotzdem liebe sie
Vertrauen und ihre Besuche bedeuten mir eine Menge. Ohne
ihren Beruf.
ihre Hilfe könnte ich bestimmt nicht länger alleine wohnen«,
Ärzte entlasten. Die Gesundheitspolitik der seit 1997 regiesagt die alte Dame. Die lokale Gesundheitsverwaltung der
renden Labour Party zielt darauf ab, den staatlichen Ärzten
Region North Tyneside bezahlt die ambulanten Dienste.
mehr Aufgaben abzunehmen und diese auf KrankenpflegeDafür werden jährlich zweistellige Millionenbeträge ausgegepersonal, Apotheker und andere Gesundheitsberufe zu überben. Doch in der Gesundheitsverwaltung weiß man, dass das
tragen. Das wird von den ärztlichen BerufsGeld, das für die District Nurses aufgeverbänden mit gemischten Gefühlen gesewendet wird, gut angelegt ist, spart es doch
hen. Einerseits befürchtet man einen Komlangfristige Krankenhaus- und Pflegeheim- Die Palliativmedizin gilt
petenzverlust. Andererseits wissen die Beaufenthalte.
als vorbildlich – auch
Teresa Davis besucht an einem normalen dank der District Nurses. rufsverbände, dass die große Arbeitslast ein
wichtiger Grund für die Unbeliebtheit des
Tag zwischen sechs und 18 Patienten. Wie
Arztberufes bei jungen Akademikern ist.
lange sie mit jedem Patienten verbringt,
Wer District Nurse werden will, muss zuvor eine Ausbilrichtet sich unter anderem nach der Schwere der Erkrankung.
dung zur Krankenschwester an einem staatlichen Kranken»Einige unheilbar kranke Patienten müssen täglich besucht
haus mit theoretischer Ausbildung am Royal College of Nurwerden und benötigen sehr viel Hilfe«, erzählt die Gemeindesing absoviert haben. Die zusätzliche Fachausbildung zur
schwester. Die britische Palliativmedizin gilt weltweit seit
District Nurse dauert in der Regel ein Jahr, kann aber auch
Jahrzehnten als vorbildlich. District Nurses spielen in der palauf zwei Jahre ausgedehnt werden, sollte die Bewerberin lieliativmedizinischen Patientenversorgung in Großbritannien
ber halbtags lernen wollen. In einer weiteren, drei- bis viereine zentrale Rolle. Häufig dauert die letzte Lebensphase
jährigen Ausbildung in einem Staatskrankenhaus und dem
eines unheilbar kranken Patienten ein bis zwei Jahre.
Royal College of Nursing können sich District Nurses zum
Während dieser Zeit ist die District Nurse oftmals die wichNurse Consultant qualifizieren. Nurse Consultants haben
tigste Bezugsperson für den Patienten. »Ich lerne meine Patienweitreichende Befugnisse und können teilweise einen Arzt erten sehr gut kennen. Vor allem die Betreuung von unheilbar
setzen.
kranken Patienten, für die es keine Hoffnung auf Heilung gibt,
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
9
GROSSBRITANNIEN
Arzt und Schwester erstellen den »Care Plan«. Für Teresa
Davis beginnt der Arbeitstag in der Regel morgens um 8.30
Uhr und endet um 17 Uhr. Die Krankenschwester muss
wegen ihres Alters jedoch keinen Nacht- oder Wochenenddienst mehr leisten. Allerdings sind District Nurses verpflichtet, Patienten grundsätzlich rund um die Uhr zu betreuen, sofern dies medizinisch notwendig ist. Dabei werden Patientenanfragen in zwei Kategorien eingeteilt: »eilig« (die Krankenschwester ist angehalten, innerhalb von zwei Stunden nach
dem Anruf beim Patienten zu sein) sowie »nicht eilig« (ein Besuch sollte innerhalb von 24 Stunden stattfinden).
Zahlreiche Gesundheitsverwaltungen des National Health
Service bieten ihren Patienten heute die Langzeitpflege durch
eine District Nurse an. Für Teresa David bedeutet das, dass sie
sich regelmäßig mit den Hausärzten ihrer Patienten austauscht und gemeinsam einen so genannten »Care Plan« aufstellt. Darin wird von Arzt und Krankenschwester festgelegt,
wie der Patient optimal versorgt werden kann. Diese Art der
ambulanten Langzeitpflege ist deutlich preiswerter als ein
langjähriger Heimaufenthalt. Außerdem haben Umfragen bei
Patienten ergeben, dass die große Mehrzahl lieber zuhause
von District Nurses versorgt werden wollen, als in einem Alten- oder Pflegeheim wohnen zu müssen.
Zahlen und Fakten
Landesfläche: 244.100 km2
Staatsform: Parlamentarische Monarchie
Einwohner: 59,3 Millionen
In der Hauptstadt London leben 7 Millionen Einwohner
Neugeborene pro 1.000 Einwohner (2003): 11,7
Zunahme der Zahl der über 65-Jährigen von 1971 bis 2003 um 28 %
Zunahme der Zahl der über 85-Jährigen von 1971 bis 2003 um 128 %
Inflationsrate (2003): 1,5 %
Arbeitslosigkeit (2003): 5,9 %
Einwohner je Arzt: 611
Quellen: www.statistics.gov.uk und »Harenberg Aktuell 2005«,
Meyers Lexikonverlag
Im gewohnten Umfeld bleiben. »Ein wichtiger Teil meiner
Arbeit besteht darin, den Angehörigen von Patienten Tipps zu
geben, wie sie meine Arbeit wirkungsvoll unterstützen können«, berichtet Teresa Davis. »Viele meiner Diabetes-Patienten werden von mir ambulant versorgt. Ich gebe den Hausärzten der Patienten zum Beispiel die neuesten Blutwerte durch.
Das hat für den Patienten den Vorteil, dass er nicht selbst in
die Arztpraxis gehen muss.«
Ein ähnliches ambulantes Versorgungsprinzip gibt es für
Krebspatienten. Auch hier ist die District Nurse befugt, Chemotherapie selbst vorzunehmen beziehungsweise den Patienten regelmäßig mit starken Schmerzmitteln wie Morphium zu
versorgen. Das erspart dem Patienten viele Krankenhausaufenthalte. Freilich: »Die meiste Zeit verbringe ich mit ganz gewöhnlichen und wenig spektakulären Dingen wie Fiebermessen, dem Wechseln von Verbänden und Ernährungsratschlägen«, so Teresa Davis. »Das ist genau wie in den meisten anderen Berufen auch. 90 Prozent ist Routine-Arbeit. Aber eben
diese Routine hilft meinen Patienten, damit sie einen weiteren
Tag relativ frei und unabhängig im gewohnten Umfeld bleiben können. Das ist schon ein sehr gutes Gefühl!« ■
Arndt Striegler ist freier Journalist, lebt in England und berichtet von
dort für verschiedene deutsche Zeitungen.
Kontakt: [email protected]
10
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Foto: photothek.net
Eine Altenpflegeausbildung wie in Deutschland gibt es in
Großbritannien dagegen nicht. Der Staat bietet lediglich
einen sechsmonatigen Schnellkurs für die Altenpflege an.
Wohltätige Organisationen, wie beispielsweise Age Concern,
vermitteln in Kursen rudimentäre Kenntnisse für die Altenpflege.
Eine britische District Nurse verdient durchschnittlich
zwischen 36.000 bis 39.000 Euro brutto im Jahr. Verfügt die
District Nurse über die genannten Zusatzqualifikationen und
wird zu einem Nurse Consultant befördert, so kann das Jahresgehalt auf umgerechnet bis zu 76.000 Euro steigen.
Grundsätzlich gilt: Je länger die Pflegekraft im Beruf ist, desto
besser verdient sie. Allerdings fehlen in Großbritannien seit
Jahren qualifizierte Pflegekräfte. Das hat das Londoner Gesundheitsministerium wiederholt dazu veranlasst, im Ausland
Pflegekräfte anzuwerben. Dieses Vorgehen ist umstritten, da
viele der neu in Großbritannien arbeitenden Pflegekräfte aus
ärmeren Ländern kommen, die nicht einmal für ihren eigenen
Bedarf genug qualifiziertes Gesundheitspersonal haben.
EUROPA
Was Familien leisten
Prozent aller Betreuungsbedürftigen zeigen Verhaltenauffälligkeiten. Der Betreuungsaufwand liegt bei durchschnittlich
45,6 Stunden pro Woche. Nicht einmal
ein Drittel der betreuenden Angehörigen hatten in den sechs Monaten vor der
Befragung einen Unterstützungsdienst
in Anspruch genommen. Jedoch hatten
94 Prozent der Pflegebedürftigen mindestens einen Gesundheits- oder Sozialdienst zur Hilfe. In allen Ländern erachten pflegende Angehörige Informationen über die Verfügbarkeit von Hilfen
und Diensten als besonders wichtig.
Sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern: Das betrachten
viele als familiäre Aufgabe. EUROFAMCARE, ein von der Europäischen Union gefördertes Forschungsprojekt, untersuchte Belastungen
und Bedürfnisse pflegender Angehöriger in Deutschland, Griechenland, Italien, Polen, Schweden und dem Vereinigten Königreich.
D
azu befragten die Forscher in
den Jahren 2004 und 2005
5.923 Frauen und Männer,
die sich selbst als Hauptbetreuungsperson eines 65-jährigen oder
älteren Familienmitglieds definieren.
Erste Ergebnisse der Befragung liegen
nun vor. Die pflegebedürftigen Familienmitglieder sind durchschnittlich 80
Jahre, die sie betreuenden Verwandten
55 Jahre alt. 80 Prozent der Befragten
nennen körperliche Einschränkungen
als Hauptbetreuungsgrund. Weniger als
elf Prozent der Befragten geben kognitive Beeinträchtigungen als Hauptursache
an, obgleich die Pflegenden in 46 Prozent aller Fälle von Gedächtnisproblemen ihrer Angehörigen berichten. 34
Mehr Infos: Dr. Hanneli Döhner, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für
Medizin-Soziologie, Sozialgerontologie
[email protected]
www.uke.uni-hamburg.de/eurofamcare
Europa altert: Die Zukunft gehört den Senioren
Auf je 100 Einwohner im Alter von 15 bis 64 Jahren kommen so viele Ältere*
2005
Italien
Griechenland
Deutschland
Belgien
Schweden
Schweiz
Spanien
Frankreich
Österreich
Portugal
Finnland
Lettland
Estland
Großbritannien
Dänemark
Litauen
Slowenien
Ungarn
Niederlande
Tschechien
Luxemburg
Polen
Irland
Slowakei
* 65 Jahre und älter
Türkei
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
29
28
28
27
27
26
25
25
24
24
24
24
24
24
23
23
22
22
21
20
20
18
17
16
9
Prognose für 2040
63
54
50
47
47
58
57
45
54
46
45
44
42
38
45
40
53
40
44
47
34
37
32
36
22
Quelle: Globus,
nach statistischen
Angaben des Verbands Deutscher
Rentenversicherungsträger und der
Vereinten Nationen
11
Heidi Nadolski ist Diplom-Volkswirtin und lebte von 2000 bis
2005 in den USA, von wo aus
sie unter anderem für die Weltbank und die Kassenärztliche
Bundesvereinigung arbeitete.
USA
Pflege ist Privatsache
Alt werden im Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Dafür müssen Amerikaner selbst gut
vorsorgen. Denn für die Kosten von Pflegebedürftigkeit kommt der Staat nur mit Einschränkungen auf. Heidi Nadolski erläutert, welche Hilfen es gibt.
»Die Amerikaner tragen ihre Pflegekosten größtenteils selbst. Über 80 Prozent
aller Pflegebedürftigen leben zu Hause,
wo sie meist – nämlich zu fast 80 Prozent – nicht von bezahltem Personal,
sondern von Familienangehörigen versorgt werden. Die Kosten für ein Jahr
im Pflegeheim variieren zwischen
40.000 und 80.000 Dollar. Das lässt
alle Ersparnisse schnell schmelzen. Zur
Versicherung des Pflegerisikos bietet der
private Versicherungsmarkt spezielle Langzeitpflegeversicherungen, »long-term-care-
insurances«, an. Der Staat kommt über die
Krankenversicherung Medicaid für die
Pflegeleistungen der Armen auf. Bei der
Einschätzung der Pflegebedürftigkeit
wird unterschieden zwischen instrumentellen Aktivitäten des täglichen
Lebens (instrumentel activities of daily
living) wie Einkaufen gehen, Haus rei-
»40 Prozent der älteren
Pflegebedürftigen in
den USA gelten als
arm.«
nigen, finanzielle Verantwortlichkeit
und Aktivitäten des täglichen Lebens
(acitvities of daily living) wie Aufstehen,
Essen, Anziehen, körperliche Reinigung. Sowohl die meisten privaten als
auch die staatliche Versicherung leisten
erst Hilfe, wenn mindestens zwei Aktivitäten des täglichen Lebens nicht mehr
ausgeübt werden können.
Was und für wen zahlt Medicaid?
»Die Armen-Krankenversicherung Medicaid kommt in eingeschränkter Form
für Pflegekosten auf. Medicaid ist ein
Programm dessen Finanzierung sich der
Bund und die Bundesstaaten teilen. Organisation und Ausgestaltung obliegen
den einzelnen Staaten. Daher sind die
Regelungen, ab wann und in welcher
Form Hilfen gewährt werden, sehr unterschiedlich. 40 Prozent der älteren
Pflegebedürftigen gelten als arm. Sie
hatten im Jahre 2005 weniger als
14.355 Dollar zur Verfügung. Doch um
12
in eine Medicaid-Einrichtung aufgenommen zu werden oder finanzielle
Hilfe für häusliche Pflege zu erhalten,
muss ein Leistungsberechtigter noch
weniger Geld haben: Eine alleinstehende
Person muss vorher alle Mittel bis auf
2.000 Dollar verbraucht haben. Dabei
werden eine kleine Wohnung, ein Auto
und zukünftige Beerdigungskosten
nicht angerechnet. Zwei von drei Pflegebedürftigen in einem Pflegeheim bekommen Zuschüsse von Medicaid. Diese Kosten machen den größten Teil der
Medicaid-Ausgaben insgesamt aus und
sind eine enorme Belastung für die
Bundesstaaten.
Für welche Kosten kommt Medicare auf?
»Medicare ist das staatliche Programm
zur Gesundheitsversorgung der über
65-Jährigen und ausgewählter anderer
Gruppen, wie beispielsweise Dialysepatienten. Im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt übernimmt Medicare die Kosten für die notwendige medizinische Versorgung zu Hause, allerdings nur bis zu 35 Stunden pro Woche
und das nur für 100 Tage. Ansonsten
zahlt Medicare bei der häuslichen Pflege
in eingeschränkter Form medizinische
Hilfen von geschultem Fachpersonal,
aber keine Hilfen zum täglichen Leben.
Viele Rentner können die hohen Arzneimittelrechnungen nicht bezahlen. Deshalb
gibt es dafür jetzt eine Zusatzversicherung. Wie sieht sie aus?
»Im November 2003 verabschiedete
der Kongress eine Medicare-GesundGesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Fotos: photothek.net; privat
Wie wird die Langzeitpflege in den USA
finanziert?
3,5%
Im Jahr 2000 waren etwa
9,5 Millionen US-Amerikaner (rund 3,5 % der
Bevölkerung) auf Pflege
angewiesen.
Gut die Hälfte der Pflegebedürftigen wurden als
stark pflegebedürftig eingeschätzt. Der größte Teil aller
Pflegebedürftigen, 83 % im
Jahre 2004, lebt zu Hause. Im Jahr 1997
lebten 1,5 Millionen Amerikaner über
65 Jahren in Pflegeheimen.
53%
53 Prozent aller
Pflegebedürftigen sind
über 65 Jahre alt.
Der Anteil der über 65-Jährigen an
der Gesamtbevölkerung beträgt rund
zwölf Prozent (35,9 Millionen).
83%
Und welche Kosten deckt die Arzneimittelversicherung ab?
Die Arzneimittelversicherung, als dritte
Säule neben den Leistungen im ambulanten und dem stationären Sektor eingeführt, ist freiwillig. Gegen einen monatlichen Beitrag von anfangs durchschnittlich 35 Dollar können MedicareVersicherte Hilfen beziehen. Entweder
unterzeichnen sie eine zusätzliche Arzneimittelversicherung mit Medicare
oder sie wählen eine private Versicherung, die Medicare-Leistungen anbietet. Das System ist aber lückenhaft: So
erhält der Versicherte beispielsweise keine Hilfen bei den ersten 250 ausgegebeGesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Die Vereinigten Staaten setzen stärker als
andere westliche Staaten in der Pflege auf
Eigenverantwortung – warum?
»In den USA besteht generell ein großes
27
Millionen
Die US-Regierung schätzt,
dass sich die Zahl von Pflegebedürftigen,
die auf bezahlte professionelle Hilfe
angewiesen sind, zwischen 2000 und
2050 verdoppeln wird: von derzeit
15 auf 27 Millionen.
Quelle: www.census.gov und www.hhs.gov
heitsreform, die als Hauptbestandteil
eine Arzneimittelversicherung für Rentner eingeführt hat. Die Reform brachte
den Senioren aber nicht nur die ersehnten Hilfen bei Medikamentenkosten,
sondern veränderte das System auch
strukturell und öffnete es für die Privatwirtschaft. Die Einführung der Arzneimittelversicherung ab 2006 ist der
größte und ausgabenträchtigste Posten
der Medicare-Reform und soll nach
neuesten Berechnungen bis zum Jahr
2014 etwa 1,1 Billionen Dollar kosten.
heimen, allerdings nur in Einrichtungen, die mit den HMOs zusammenarbeiten. Langzeitpflege wird von Medicare-HMOs nicht bezahlt.
nen Dollar, sowie bei Ausgaben zwischen 2.250 und 5.100 Dollar. Allerdings konnten Senioren bereits seit
2004 für circa 30 Dollar eine Arzneimittelkarte (discount card) erwerben,
die pro Rezept Ersparnisse von 15 bis
25 Prozent bringt. Die Kartenbesitzer
verpflichten sich jedoch, auf Wahlmöglichkeiten bei Medikamenten zu verzichten und bekommen unter anderem
Generika statt Originalpräparate. Jeder
Pharmakonzern, der daran interessiert
ist, mit Medicare zusammen eine Medicare-Discountkarte herauszugeben,
muss für 200 Medikamentenkategorien
jeweils mindestens eine Preisreduktion
anbieten. Die Medicare-Discountkarte
war als Soforthilfe gedacht und sollte
die Zeit bis zur Arzneimittelversicherung im Jahre 2006 überbrücken.
Welche Rolle spielen die Health-Maintainance-Organizations (HMOs) bei der
Pflege älterer Menschen?
»Einige Medicare-Versicherte beziehen
ihre Leistungen nicht direkt über Medicare, sondern über eine MedicareHMO, also private Managed-Care-Anbieter. Diese HMOs bezahlen zum Teil
den kurzfristigen Aufenthalt in Pflege-
Interesse daran, ein eigenverantwortliches und unabhängiges Leben zu führen.
Die Industrie entwickelt Hilfen, die es
Menschen mit Behinderungen erlauben, ein eigenständiges Leben zu führen
oder die die Pflege zu Hause ermöglichen. Dazu gehören nicht nur Technologien wie spezielle Aufzüge, um auch
mit Gehbehinderung in höhere Stockwerke zu gelangen, sondern beispielsweise auch häusliche Sicherheitssysteme, über die alleinlebende Behinderte
regelmäßige Kontakte mit der Außenwelt pflegen können und im Notfall
schnell Hilfe erhalten. Auch nutzen in
den USA Senioren das Internet sehr
stark, zum Beispiel um Lebensmittel zu
bestellen und ihren Arzt zu kontaktieren. Allgemein ist in Amerika das Klima
sehr behindertenfreundlich. Öffentliche
Einrichtungen und Kaufhäuser sind
meistens behindertengerecht gebaut.
Das ermöglicht Menschen mit Behinderungen eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. ■
Zahlen und Fakten
Staatsform: Präsidiale Bundesrepublik
Einwohner: 294 Millionen
In der Hauptstadt Washington leben
572.000 Einwohner
Neugeborene pro 1.000 Einwohner (2002): 13,9
Zunahme der Zahl der über 65-Jährigen von
1993 bis 2003 um 9,5 %
Inflationsrate (2003): 2,3 %
Arbeitslosigkeit (2003): 6,0 %
Einwohner je Arzt: 381
Quellen: www.aoa.gov, www.firstgov.gov und
»Harenberg Aktuell 2005«, Meyers Lexikonverlag
13
JAPAN
Pflege nach Plan
Wie in Deutschland – und doch anders: Japan führte vor wenigen Jahren die Pflegeversicherung
ein und will damit vor allem die Familien entlasten. Zu den japanischen Besonderheiten gehört das
Care-Management, das die Pflege koordiniert. Von Cornelia Wanke und Änne Töpfer *
Das zahlt die japanische Pflegeversicherung
Anfang 2005 versicherte die
japanische Pflegeversicherung rund 25 Millionen über
65-Jährige. Rund vier Millionen Japaner wurden als hilfeoder pflegebedürftig eingestuft, darunter mehr als
doppelt so viele Frauen wie
Männer. Nahezu o,7 Millionen
galten als hilfebedürftig,
etwa 1,3 Millionen Versicherte waren in Pflegestufe I eingestuft. Rund eine halbe Millionen Japaner waren schwer pflegebedürftig und der Pflegestufe V zugeordnet. Im Januar 2005
erhielten rund 3,2 Millionen Versicherte Leistungen aus der
Pflegeversicherung, darunter 2,46 Millionen Versicherte
ambulante Leistungen und 0,77 Millionen Versicherte stationäre Leistungen. Die Ausgaben der japanischen Pflegeversicherung beliefen sich von April 2005 bis März 2006 auf umgerechnet rund 42 Milliarden Euro (Hochrechnung). Damit haben
sich die Ausgaben der Pflegeversicherung seit ihrer Gründung
im Jahr 2000 fast verdoppelt.
Quelle: Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt, Tokyo, Japan
14
Pflegeversicherung (PVG) trat am 1. April 2000 in Kraft. Die
Zahl der Nutzer der ambulanten Pflege und der ambulanten
Dienste stieg seitdem sprunghaft an. Doch immer noch gibt
es Lücken und weiteren Reformbedarf. Deshalb wurde im
Juni 2005 ein Änderungsgesetz zum Pflegeversicherungsgesetz erlassen, das am 1. April 2006 in Kraft tritt (siehe unten).
Gemeinden stehen im Zentrum der Pflegeversicherung.
Das derzeitige Pflegeversicherungsgesetz zielt darauf ab, dass
Menschen, die körperlich oder/und psychisch pflegebedürftig
sind, soweit wie möglich ein selbstständiges Leben führen
können. Dazu sind ihnen die notwendigen Leistungen im Gesundheitswesen, die notwendige medizinische Behandlung
sowie soziale Dienste zu gewähren (Paragraf 1 PVG).
Für die Bereitstellung dieser Leistungen sind in Japan die
Gemeinden zuständig. Sie unterscheiden sich hinsichtlich
Einwohnerzahl, Versichertenstruktur und finanzieller Ausstattung jedoch erheblich. Weil viele Gemeinden gar nicht
fähig wären, die Versorgung ihrer pflegebedürftigen Einwohner allein sicherzustellen, können sie sich zu Ortsverbänden
zusammenschließen. Die Gemeinden werden von den Präfekturen – den staatlichen Mittelbehörden – unterstützt. Diese
lassen die Leistungserbringer zu und richten Beschwerdestellen ein. Der Staat fördert die Pflegeeinrichtungen lediglich
und soll für eine reibungslose Inanspruchnahme sorgen. Im
Gesetz ist vorgeschrieben, dass Pflegeversicherung und gesetzliche Krankenversicherung zusammenarbeiten und dass die
Versicherten eine gewisse Eigenverantwortung tragen.
In Japan sind die Gemeinden aber nicht nur für die Bereitstellung der Pflegeleistungen verantwortlich, sondern sie sind
auch Träger der Pflegeversicherung und der Volkskrankenversicherung für die über 75-Jährigen.
Alle über 40 können sich versichern. Der in der Pflegeversicherung versicherte Personenkreis umfasst zum einen Menschen ab 65 Jahren mit Wohnsitz in Japan, unabhängig von
Einkommen und Staatszugehörigkeit. Die zweite Gruppe
umfasst alle gesetzlich Krankenversicherten sowie deren Mitversicherte zwischen 40 und 64 Jahren. Die erste Gruppe bekommt von ihrer Gemeinde ohne Aufforderung einen Versichertenausweis zugeschickt. Letztere müssen bei Bedarf einen
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Foto: © Mark Henley / PANOS / VISUM
D
ie Pflege alter Menschen galt in Japan lange Zeit als
Aufgabe der Familie. Deshalb regelte das Wohlfahrtsgesetz von 1963 lediglich die Pflege für Arme
und Alleinstehende – für sie gab es Heime. Familien
empfanden es als Schande, auf öffentliche Hilfe für pflegebedürftige Angehörige angewiesen zu sein, denn für Japaner ist
das ein Ausdruck von Versagen und Kaltherzigkeit. Wenn
Familien sich nicht in der Lage sahen, selbst die Pflege zu
übernehmen, brachten sie ihre Verwandten eher in spezielle
private Krankenhäuser als in die öffentlichen Pflegeheime.
Um die Belastung der Familien und der gesetzlichen Krankenversicherung zu verringern, baute Japan dann Ende der
neunziger Jahre innerhalb kurzer Zeit die Infrastruktur für die
häusliche Pflege aus. Zu diesem Zweck wurde eine Pflegeversicherung nach deutschem Vorbild geschaffen. Das Gesetz zur
Ausweis beantragen. Bei der Inanspruchnahme von Leistungen der Pflegeversicherung wird zwischen Hilfebedürftigen
und Pflegebedürftigen nach dem Änderungsgesetz 2005
unterschieden. Pflegebedürftig sind Menschen, die wegen
einer physischen oder psychischen Behinderung für die Verrichtungen des täglichen Lebens ständig Hilfe benötigen.
Hilfebedürftig sind Menschen, bei denen die Gefahr besteht,
dass sie pflegebedürftig werden. Wenn die betroffene Person
zudem zwischen 40 und 64 Jahren alt ist, wird vorausgesetzt,
dass ihre Hilfe- oder Pflegebedürftigkeit durch eine altersbedingte Krankheit verursacht wurde. Welche Krankheiten dazu
gehören, ist in einem Ministerialerlass aufgeführt.
Foto: © Avenue Images
79 Fragen beantworten. Leistungen der Pflegeversicherung
muss der Versicherte bei der Gemeinde beantragen. In einer
zweistufigen Begutachtung stellen die Verantwortlichen fest,
ob der Versicherte pflegebedürftig ist und ordnen ihm eine
Pflegestufe zu. Dazu besucht entweder ein Angestellter der
Gemeinde oder ein von ihr beauftragter Care-Manager (siehe
Kasten »Das Care-Management«), der nach dem Änderungsgesetz 2005 nur unter bestimmten Bedingungen dazu zugelassen wird, den Versicherten. Dieser begutachtet den körperlichen und seelischen Zustand des Antragstellers sowie dessen
häusliche Umgebung. Zudem füllt er gemeinsam mit ihm einen Bogen mit 79 Fragen aus. Dort werden auch Besonderheiten (z. B. Demenzerkrankung) eingetragen. Der Fragebogen
wird mittels standardisierter Software ausgewertet. Außerdem
wird der Hausarzt des Antragsstellers befragt. Beide Gutachten
werden einer Kommission bei der Gemeinde zugesandt. Deren
Mitglieder (u. a. Ärzte, Heimleiter und Krankenschwestern)
entscheiden dann über Pflege- und Hilfebedürftigkeit sowie
darüber, welcher der fünf Pflegestufen der Versicherte zugeordnet wird. Wer nur wenig Unterstützung benötigt, wird in Japan
als »hilfebedürftig« eingestuft und erhält ebenfalls Leistungen
aus der Pflegeversicherung. Die Hilfebedürftigen werden nach
dem Änderungsgesetz 2005 zwei Stufen zugeordnet und können nicht mehr nur hauswirtschaftliche Hilfen, sondern auch
Leistungen zur Vorbeugung der Pflegebedürftigkeit erhalten.
Zur Stufe II gehören viele Pflegebedürftige der bisherigen
Pflegestufe I. Um weiter Leistungen zu erhalten, muss ein
Pflege- oder Hilfebdürftiger alle zwölf Monate einen Erneuerungsantrag stellen.
Was zu den ambulanten Leistungen gehört. Wie in
Deutschland wird auch in Japan zwischen stationärer und
häuslicher Pflege unterschieden. Zu den häuslichen Leistungen zählen ambulante Pflege und hauswirtschaftliche Versorgung, ambulante Krankenpflege und ambulante Rehabilitation (Physiotherapie, Beschäftigungstherapie und andere) sowie
Tages- und Kurzzeitpflege. Auch die Versorgung in Wohngemeinschaften für Demenz-Patienten gehört dazu. Außerdem
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Das Care-Management
Eine Besonderheit der
japanischen Pflegeversicherung ist das CareManagement. Voraussetzung für die Zulassung als Care-Manager
ist eine Ausbildung in
einem Pflege- oder
Gesundheitsberuf wie
Arzt, Apotheker, Krankenschwester, Sozialarbeiter und Altenpfleger sowie Heilmasseur und Hilfsmittelhändler, mindestens fünf Jahre Berufserfahrung, eine Prüfung und die Teilnahme an einem Vorbereitungskurs. Wichtigste Aufgabe eines Care-Managers ist die
Aufstellung von Pflegeplänen. Jeder Empfänger von ambulanten Pflegeleistungen erhält einen Pflegeplan, den der CareManager unter Berücksichtigung des Budgets der jeweiligen
Pflegestufe aufstellt. Die Pflegepläne können jederzeit in
Absprache mit dem Pflegebedürftigen und dessen Angehörigen angepasst werden. Spätestens nach sechs Monaten
werden die Pläne überprüft. Der Care-Manager koordiniert im
ambulanten Bereich die Leistungserbringer, die sich an der
Pflege seines Klienten beteiligen. Um die Pflegequalität zu
sichern und zu verbessern, ist die Kompetenz des Care-Managers sehr wichtig. Die aktuelle Pflegereform enthält daher
Vorschriften zur Prüfung des Care-Managers, sowie zu seinen
Aufgaben und Pflichten.
zahlt die Pflegeversicherung Zuschüsse beim Hilfsmittelkauf
oder beim Wohnungsumbau. Bei den häuslichen Leistungen
müssen die Versicherten einen Eigenanteil von zehn Prozent
der Kosten tragen. Zudem müssen sie einen Vertrag mit einer
Einrichtung zum Care-Management schließen. Diese stellt
ihnen einen Care-Manager zur Seite, der sie hinsichtlich der
Zusammenstellung der Leistungen berät, einen Pflegeplan
aufstellt und dessen Einhaltung kontrolliert. Diese Einrichtung wickelt aber auch die Vergütung der Leistungserbringer
ab. Versicherte, die keinen Vertrag mit solch einer Einrichtung
schließen, müssen die Gesamtkosten für die Leistungen vorschießen, können sich aber anschließend 90 Prozent der Summe von der Gemeinde erstatten lassen.
Die japanische Pflegeversicherung gewährt lediglich Sachund Dienstleistungen und zahlt keine Geldleistungen an die
Versicherten aus. Mit einem Pflegegeld, wie in Deutschland
üblich, fürchtete man in Japan, den sozialen Druck auf Töchter und Schwiegertöchter von Pflegebedürftigen zu erhöhen.
Diese könnten sich dann noch stärker in der Pflicht fühlen,
die Pflege ihrer Angehörigen selbst zu übernehmen.
15
JAPAN
2001 musste ein Pflegebedürftiger, der in Pflegestufe IV eingestuft und in einem Altenpflegeheim lebte, etwa 400 Euro
monatlich selbst aufbringen. Ähnliche Eigenanteile trugen die
Pflegebedürftigen jedoch auch in der ambulanten Pflege. Daher bestand kaum ein finanzieller Anreiz, möglichst lange zu
Hause zu bleiben. 2003 wurden die Leistungen zur stationären
Pflege reduziert und nach der Änderungsgesetz 2005 nochmals
gesenkt. Ab Oktober 2005 muss ein Pflegebedürftiger umgerechnet mehr als 740 Euro zahlen, wenn er in einem Einzelzimmer wohnt.
Stufen
Zeitaufwand für Pflege (Minuten)
Hilfebedürftige
25 – 30
Pflegebedürftige
Stufe 1
30 – 50
Stufe 2
50 – 70
Stufe 3
70 – 90
Stufe 4
90 – 110
Stufe 5
110 und mehr
Stationäre Pflege ist relativ preiswert. Zu den stationären
Leistungen zählen das Aufstellen eines Pflegeplans durch Pflegereform fördert die Prävention. Da auch in Japan die
einen bei einer stationären Einrichtung angestellten Care-Ma- Zahl der Alten und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in
nager, Unterkunft, Verpflegung, Betreuung und Krankenpfle- naher Zukunft stark zunehmen wird, steht die Pflegeversicherung hinsichtlich ihrer Finanzierung und ihge. Die Versicherten können diese Leistunrer Leistungen unter Reformdruck. Die im
gen nur in bestimmten Einrichtungen erhalSeine Angehörigen
April 2006 in Kraft tretende Reform enthält
ten: in Altenpflegeheimen, Krankenpflegeals Schwerpunkte unter anderem die Veränheimen sowie in Spezialkliniken und Abteiins Heim zu geben,
derung der Präventionsleistungen, Verändelungen von Krankenhäusern mit Pflegebetgilt als kaltherzig.
rungen in der Kostenübernahme für stationäten zur langfristigen medizinischen Behandre Leistungen mit dem Ziel, die ambulante
lung unheilbar kranker älterer Menschen. In
Krankenpflegeheimen erhalten aus dem Krankenhaus entlas- Pflege zu stärken, die Einführung von Qualitätsprüfungen,
sene Patienten Rehabilitation, damit sie wieder zu Hause le- eine Veränderung der Beitragsstufen und Änderungen bei den
Staatszuschüssen für die Infrastruktur der Präfekturen.
ben können.
Die Reform sieht vor, verschiedene Leistungen für HilfebeVersicherte, die stationär gepflegt werden, müssen – wie in
der ambulanten Pflege – einen Eigenanteil von zehn Prozent dürfige und Pflegebedürftige der Stufe I abzuschaffen oder
tragen und einen vom Einkommen abhängigen Betrag für umzuformen. Hintergrund: Private Anbieter haben zum
Unterkunft und Verpflegung zahlen. Unter Umständen müs- Zwecke der Gewinnmaximierung die Leistungsanträge der
sen sie auch anteilig für die Investitionskosten der Einrichtun- Versicherten auf dieser Stufe stark gefördert, die Ausgaben
schossen in die Höhe. Dafür werden nun verschiedene
gen aufkommen.
16
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Foto: © Andreas Koerner/unlike by STOCK4B
Die Pflegestufen (bis 31. März 2006)
Finanzierung aus mehreren Quellen. Die Kosten für die
Leistungen der Pflegeversicherung werden jeweils zur Hälfte
über Beiträge und öffentliche Zuschüsse gedeckt. 12,5 Prozent der Kosten tragen die Gemeinden und die Präfekturen,
weitere 25 Prozent der Staat. Fünf Prozent der Staatsbeteiligung bleiben in der Anpassungskasse, die die unterschiedliche
Risikostruktur der Gemeinden (Zahl der über 65-Jährigen
und Einkommen) ausgleicht. Diese fünf Prozent müssen
durch die Systemänderung des Staatszuschusses ab April 2006
die Präfekturen tragen. Die verbleibenden 50 Prozent der Leistungen werden aus den Beiträgen der Versicherten finanziert.
Von dieser Hälfte stammen etwa 19 Prozent aus den Beiträgen
der über 64-Jährigen und 31 Prozent von den jüngeren Versicherten (40- bis 64-Jährige). Die Beiträge der Versicherten ab
65 Jahre werden von den Gemeinden nach dem Einkommen
gestaffelt festgelegt und nicht prozentual erhoben. Die Versicherten zwischen 40 Jahren und 65 Jahren zahlen einen Zuschlag zum prozentual berechneten Krankenversicherungsbeitrag. Daraus finanziert jeder Krankenversicherungsträger seinen Teil der Umlage an die Pflegeversicherung.
I N TE RV I E W
»Wir müssen die Ausgaben für Pflege senken«
Was hat sich in der japanischen Pflegeversicherung bewährt?
Miyoko Motozawa: Das Care-Management ist sicherlich ein wichtiges und bewährtes Element der japanischen Pflegeversicherung. Wenn der Care-Manager fähig und zuverlässig ist, kann er die
alten und pflegebedürftigen Menschen
sinnvoll unterstützen, damit sie sich im
vielfältigen Angebot der Pflegedienstleistungen zurechtzufinden. Die vom
Care-Manager in Absprache mit den
Pflegebedürftigen und deren Angehörigen aufgestellten Pflegepläne helfen,
den individuellen Pflege- und Hilfebedarf besser zu berücksichtigen. Ferner
können die Care-Manager, wenn sie
richtig arbeiten, dazu beitragen, Ausgaben zu sparen. Die mit dem aktuellen
Änderungsgesetz zur Pflegeversicherung
eingeführten Vorbeugungsmaßnahmen
könnten in Zukunft ebenfalls Gutes be-
Mit welchen Problemen hat die japanische
Pflegeversicherung zu kämpfen?
»Ich meine, zu den Hauptproblemen
gehören die Vorurteile in Bezug auf die
Altenpflege. Mit der Einführung der
Pflegeversicherung hat man es zumindest geschafft, dass die Japaner offen
über die Altenpflege sprechen und
Pflegeleistungen ohne Scheu in Anspruch nehmen. Die aktuelle Pflegereform hat vor allem zum Ziel, die Ausgaben für Pflege zu senken. Momentan
lässt sich aber noch nicht abschätzen, ob
die Ansätze der Reform wirklich greifen.
Wie können die Probleme in Zukunft gelöst
werden?
Foto: privat
Präventionsleistungen neu eingeführt. Zu den präventiven
Leistungen gehören beispielsweise Gymnastik zum Muskelaufbau, Ernährungsberatung und Programme zur Förderung
der Kommunikation und gesellschaftlichen Teilhabe. Die
Voraussetzungen für den Anspruch werden strenger: Hilfeund Pflegebedürftige erhalten die Präventionsleistungen nur,
wenn erwartet werden kann, dass ihre Selbständigkeit mit diesen Leistungen erhalten oder gefördert wird.
Aufbau regionaler Hilfezentren. Für die über 65-jährigen
Versicherten sieht die Pflegereform so genannte Regionalhilfeleistungen vor. Diese Leistungen ähneln den Leistungen der
Gesundheitspflege für die Älteren, die bisher von den Krankenversicherungsträgern sowie dem Staat, den Präfekturen
udn den Gemeinden getragen wurden: Gesundheitsschulung,
Gesundheitsberatung und Gesundheitsuntersuchung. Sowohl
die neuen Präventionsleistungen als auch die Regionalhilfeleistungen werden nur nach einem Pflegeplan gewährt,
den ein Care-Manager eines der neu gegründeten regionalen
Hilfezentren (so genannte »Regionaltotalhilfezentren«, jeweils
für 20.000 bis 30.000 Einwohnern zuständig) erstellt. Die
regionalen Hilfezentren sollen neben der Erstellung der Pflegepläne für die Präventionsleistungen weitere wichtige Aufgaben übernehmen: die Beratung von Care-Managern in
schwierigen Fällen, die Beratung von Demenz-Patienten und
ihren Angehörigen und die Erstellung von Pflegeplänen für
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Professorin
Dr. Miyoko
Motozawa,
Institut für Sozialwissenschaften
der Universität
Tsukuba, Japan
wirken, wenn das Konzept wie geplant
funktioniert. Im Idealfall hilft die
Prävention, schwere Pflegebedürftigkeit
zu verhindern oder aufzuschieben.
»Niemand hat eine Patentlösung parat.
Wir können die Erfahrungen aus dem
Ausland nutzen, wie bei der aktuellen
Reform. In Zukunft wird man sicher
die niedrigen Pflegestufen abschaffen
müssen. Ferner muss man möglicherweise die Altersgrenze der Versicherten
in der ersten Gruppe – heute die über
65-Jährigen – erhöhen. In jedem Fall
muss man weiterhin versuchen, die Ausgaben der Pflegeversicherung zu senken.
die ambulante Pflege von Menschen mit Behinderungen. Die
Arbeit der regionalen Hilfezentren soll dazu beitragen, die
Leistungskosten der Pflegeversicherung zu senken und die
Pflegequalität zu erhöhen. ■
* Dieser Beitrag beruht auf den Veröffentlichungen »Die Probleme der japanischen Pflegeversicherung« und »Kommunale Sozialpolitik in der japanischen alternden Gesellschaft« von Professorin Dr. Miyoko Motozawa
vom Institut für Sozialwissenschaften der Universität Tsukuba, Japan
(siehe Interview). Kontakt: [email protected]
Zahlen und Fakten
Landesfläche: 377.801 km2
Staatsform: Parlamentarische Monarchie
Einwohner: 127,7 Millionen
in der Hauptstadt Tokio leben 11,8 Millionen Einwohner
Neugeborene pro 1.000 Einwohner (2002): 9,2
Inflationsrate (2003): -0,2 %
Arbeitslosigkeit (2003): 5,3 %
Einwohner je Arzt: 610
Quellen: http://portal.stat.go.jp/PubStat/topE.html und
»Harenberg Aktuell 2005«, Meyers Lexikonverlag
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DEUTSCHLAND
Im Heim zu Hause sein
Fast jeder will in den eigenen vier Wänden alt werden. Dennoch ziehen viele Senioren irgendwann
ins Heim, weil sie beispielsweise wegen einer Demenz Hilfe benötigen. Was Pflegeeinrichtungen tun,
damit sich ihre Bewohner wohlfühlen, berichtet Cornelia Wanke am Beispiel des Sophienhofs.
schon unter diesen Umständen seinen
Lebensabend im Pflegeheim verbringen? Mit diesem Vorurteil kämpfen
auch die Mitarbeiter der Wohnanlage
Sophienhof. Doch wer die Einrichtung
in Niederzier bei Düren im Rheinland
besucht, nimmt ganz andere Eindrücke
mit nach Hause.
Die Gewohnheiten berücksichtigen.
Burga Kuchem lädt zum Rundgang
durch den Sophienhof ein – und wird
an jeder Ecke des Flures freundlich gegrüßt. Ein Schwätzchen hier, ein paar
Streicheleinheiten da – nur Frau Schneider huscht an der Pflegedienstleiterin vorbei: »Junge Frau – heut hab’ ich keine
Zeit für Sie, ich muss noch was arbeiten«,
sagt die grauhaarige alte Dame. Offene
Türen, helle Räume, lautes Lachen. »Wir
sind hier sehr bewohnerorientiert«, sagt
Pflegedienstleiterin Burga Kuchem, die
seit einem Jahr im Sophienhof arbeitet.
Und sie hat erfahren, dass es so leicht ist,
»diese Menschen glücklich zu machen,
wenn man ihnen nur zuhört«.
Zum Beispiel Frau Schneider (Name
von der Redaktion geändert): Die immer
noch rüstige Frau wird jeden Tag um
Punkt 17 Uhr ganz unruhig. »Wir haben uns also Gedanken gemacht, mit
ihr gesprochen und herausgefunden,
dass ihr Mann 40 Jahre lang um diese
Uhrzeit von der Arbeit nach Hause
kam«, erzählt die Pflegedienstleiterin.
»Da musste das Essen auf dem Tisch
stehen.« Im Sophienhof versucht man
nicht, die demenzkranke Frau in diesem
Drang zu bremsen, sondern bestärkt sie
noch: Frau Schneider darf nun immer
um diese Uhrzeit den Tisch für ihre
Mitbewohnerinnen decken. Im Fachjargon nenne man das »integrative Validation« – den Menschen mit all seinen
Gewohnheiten und Eigenheiten annehmen und schätzen. »Im Sophienhof
wird kein Demenzkranker fixiert«, erzählt Burga Kuchem. Darauf sei man
ganz besonders stolz. Die Kranken werden in den Tagesablauf eingebunden,
nicht ausgegrenzt. Hier arbeiten die
Schwestern nicht hinter Glas, hier sind
die alten Menschen keine Zimmernummern, hier leben Persönlichkeiten.
Mit Klingel und Briefkasten. »Eheleute Klaus und Agnes Barnacky« steht
auf einem hübsch verzierten Klingelschild. Neben der Zimmernummer 204
lächelt uns ein Familienfoto an, an den
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Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Fotos: Jürgen Schulzki
E
s riecht nach Kaffee, auf der Anrichte locken leckere Kuchen,
die Tische sind mit duftig-bunten Sommersträußen dekoriert.
Hier halten zwei ältere Damen einen
kleinen Plausch. Dort liest eine jüngere
Frau die Infos am »schwarzen Brett«.
Ein paar Meter weiter vertreiben sich
ein paar Herren die Zeit beim Gesellschaftsspiel. Hätte man die Hinweisschilder nicht gelesen, so wähnte man
sich in einem Hotel und keineswegs in
einem Seniorenheim.
»Im Sophienhof würde ich auch gerne alt werden«, hat ein Kollege gesagt.
Und dafür skeptische Blicke geerntet.
Pflegenotstand, schlecht ausgebildetes
oder zu wenig Pflegepersonal, triste
Räumlichkeiten, Langeweile. Wer will
Fotos: Jürgen Schulzki
Eingangstüren hängen Briefkästen. »Das
hat nicht nur den Vorteil, dass sich die
Bewohner hier ein Stück weit zuhause
fühlen«, sagt Burga Kuchem, »sie finden
sich auch besser im Haus zurecht.«
Agnes Barnacky sitzt häkelnd auf
ihrer Eckbank. An der Wand hängen
Fotos von prachtvollen Blumengärten
und lachenden Menschen. Dutzende
von Eulen gucken von Bettdecken,
Zinntellern und Stickbildern. »Ich liebe
diese Tiere«, erzählt Frau Barnacky und
verrät den Grund: Ihr Mann hatte ihr
vor langer Zeit eine kleine PorzellanEule als Urlaubsandenken geschenkt.
Seither hat sie über 500 Exemplare gesammelt. Die haben zwar nicht alle in
ihrem Zimmer im Sophienhof Platz –
aber immerhin: »Schwester Gisela hat
gesagt, ich kann so viele mitbringen,
wie ich will.« Agnes Barnacky fühlt sich
sichtlich wohl im Sophienhof. Auch,
wenn ihr die Entscheidung, in ein Pflegeheim zu ziehen, gar nicht leicht gefallen sei. Da waren doch das Haus, der
Garten, die Tiere. »Aber irgendwann
ging es nicht mehr«, erzählt sie mit trauriger Stimme. Als sie selbst krank wurde, hatte sie keine Kraft mehr, ihren
Mann zu pflegen. Also suchte sie Hilfe,
fand sie jedoch nicht sofort: »Entweder
konnten die Einrichtungen meinen
sterbenskranken Mann nicht aufnehmen, oder sie hatten kein gemeinsames
Zimmer für Ehepaare«, erzählt Agnes
Barnacky. Und sie hatte ihrem Mann ja
versprochen: »Wo du hingehst, will auch
ich hingehen...«
Biographie, stellen uns die Frage, was
ihn umtreibt und welche Dinge er vor
seinem Tod noch in Ordnung bringen
möchte«, sagt Gerda Graf.
Der krebskranke Herr Gärtner zum
Beispiel (Name von der Redaktion geändert) hat seine Familie verloren – weil er
es nicht lassen konnte, immer wieder
zur Flasche zu greifen. Im Sophienhof
fand Herr Gärtner ein neues Zuhause.
Dort entdeckte er sein Talent zum Bas-
Demenzkranke nicht
festbinden, sondern
einbinden.
teln und Heimwerken. Nun schraubt er,
dübelt und sägt. Und am Ende eines
Tages sieht er, was er geschafft hat – und
hat dabei auch ein Stück seiner Vergangenheit aufgearbeitet. Heute steht Herr
Gärtner stolz vor einem selbstgezimmerten Vogelhäuschen und erzählt von
früher: Er habe auf dem Bau gearbeitet,
sei oft auf Montage und kaum zu Hause
gewesen. Er habe sich viel zu wenig Zeit
für seine Familie genommen. »Ich bin
froh, dass sich die Menschen hier so gut
um mich kümmern.« Und er freut sich:
»Ab und zu kommen mich sogar meine
Geschwister besuchen.«
Das Tabu Sterben ansprechen. Um
solch eine umfassende Betreuung leisten
zu können, werden die Mitarbeiter –
von der Pflegekraft bis zum Küchenpersonal – ganz besonders geschult. Zum
Beispiel in Psychologie und Rollenspielen. Ein Programmpunkt lautet: »Was
würde ich tun, wenn ich nur noch 24
Stunden zu leben hätte?« Dass der Tod
kein Tabu, sondern Thema im Sophienhof ist, dafür hat sich Gerda Graf stark
gemacht. Seit neun Jahren arbeitet die
Geschäftsführerin des Sophienhofs zusätzlich ehrenamtlich für die Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz. Was sie umtreibt? »Ich will dem Sterben Leben
geben.«
Gleich beim Einzug in den Sophienhof werden die zukünftigen Bewohner
gefragt, wie sie sterben wollen. Das verblüffe die meisten, nehme aber oft auch
großen Druck von ihnen, erzählt Gerda
Die Lebensgeschichte betrachten.
»Holde« heißt das Konzept, das Geschäftsführerin Gerda Graf im Sophienhof eingeführt hat. Holde steht für:
Hospiz, Lebenswelten, Demenz. »Wir
versuchen, die Menschen, die hierher
kommen, in ihrer Ganzheit zu betrachten«. Dabei gehe es nicht nur darum,
was der Körper braucht, sondern auch
um die Spiritualität und Religiosität
jedes Einzelnen. »Wir betrachten seine
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
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DEUTSCHLAND
Das Mögliche erreichen. Schmerztherapie, Palliative-Care, Sterbebegleitung: »Wir versuchen, diese letzte
Lebensphase so zu gestalten, dass sie für
alle aushaltbar ist«, sagt Gerda Graf. Der
größte Wunsch der Geschäftsführerin
Weg dahin ist noch weit, weiß Gerda
Graf. Doch sie geht ihn energisch weiter. »Das Unmögliche versuchen, damit
wir das Mögliche erreichen«, heißt deshalb die Devise im Sophienhof. Und
vieles lässt sich auch schon mit einfachen Mitteln machen.
ist es denn auch, »betreutes Wohnen
vom Einzug in den Sophienhof bis zum
Sterben anbieten zu können.« Denn die
Menschen sollen so lange wie möglich
ein selbstständiges Leben führen können – davon träumt sie. Und davon,
dass es irgendwann einmal eine funktionierende palliativmedizinische Versorgung in ganz Deutschland gibt. Der
Leben im Sophienhof
Die Wohnanlage Sophienhof wurde von
der Sophienstiftung 1997 gebaut. Das
Ehepaar Sophie und Viktor Schroeder
hatte diese Stiftung gegründet, um die
Lebenssituation alter Menschen zu verbessern. Im Sophienhof finden 88 alte
und pflegebedürftige Menschen ein
Zuhause, zudem gibt es 109 betreute
Wohneinheiten. Diese befinden sich in
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mehreren, um das Alten- und Pflegeheim gruppierten Gebäuden in Niederzier sowie in Düren-Birkesdorf. Konzept
des Sophienhofs ist es, das Altern und
die alten Menschen anzunehmen.
Deshalb werden viele Veranstaltungen
gemeinsam mit und für Menschen aus
der Umgebung angeboten. Zudem
können sich die Bewohner an zahlreichen Aktivitäten beteiligen: Yoga-Kurse,
Kinoabende, Vorträge zur gesunden
Ernährung, Konzertreihen, Andachten.
Und jeden Sonntag tauschen sich Jung
und Alt, Bewohner und Angehörige,
Freunde und Mitarbeiter beim Brunch
aus. www.wohnanlage-sophienhof.de
Der Kochtag ist ein Highlight. Speziell für die demenzkranken Bewohner
des Heimes haben die Mitarbeiter beispielsweise einen Klangraum eingerichet. Sie haben auf einer Couch bunte
Kissen drapiert, die Fenster und Decken
des Zimmers mit schönen Stoffen dekoriert und einen Rekorder aufgestellt, aus
dem sanfte, beruhigende Musik erklingt. »Hierher können sich die Menschen zurückziehen, wenn sie Ruhe
brauchen, wenn es ihnen im Zimmer zu
einsam und auf den Gängen zu laut ist«,
erzählt Burga Kuchem. So wurden die
bei Kindern beliebten Kuschelecken
zum Stressabbau für Demenzkranke
neu entdeckt.
Ähnlich heilsam wirkt das gemeinsame Kochen. Wer erinnert sich nicht
an die Düfte aus Großmutters Küche?
Ein Highlight für die Bewohner des
Sophienhofs ist deshalb der Kochtag.
Einmal pro Woche wird auf den Stationen in einer kleinen, mobilen Küche
gerührt, gebacken und gebrutzelt.
»Allein die Gerüche sind ein riesengroßes Erlebnis«, sagt Burga Kuchem.
Vor allem die bettlägerigen Menschen
schätzen dieses Ereignis: »Hm, Bratkartoffeln, Käsekuchen und Kaffee.«
Düfte wecken Erinnerungen, beruhigen, geben das Gefühl von Nähe und
Vertrautheit.
»Wir lassen uns einfach auf die Bedürfnisse unserer Bewohner ein«, hat
Gerda Graf gesagt. Gute Pflege, weiß
man im Sophienhof, kann manchmal so
einfach sein. ■
Cornelia Wanke ist Referentin für Verbandspolitik beim AOK-Bundesverband.
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Fotos: Jürgen Schulzki
Graf. »Denn wer redet schon gerne mit
seinen Nächsten über das Abschiednehmen? Weil wir aber nicht diese ganz
intime Nähe zu den Menschen haben,
können wir mit ihnen leichter über den
Tod und das Sterben reden.« Ganz klar,
dass das Sophienhof-Team dann auch
alles daran setzt, dass die Wünsche für
die letzte Lebensphase erfüllt werden können – eine Aufgabe, die den Mitarbeitern
manchmal viel abverlangt.
»Rund um die Uhr und mitten in der
Nacht, als mein Mann im Sterben lag,
waren die Schwestern bei uns«, erzählt
Agnes Barnacky. Die Pflegekräfte begleiteten das Ehepaar bei dem schweren
Schritt des Abschiednehmens – und
Agnes Barnacky später auch bei ganz
praktischen Dingen im Zusammenhang
mit der Beerdigung. Noch heute fährt
eine der Schwestern die Witwe zum
Friedhof in der Heimatgemeinde und
kümmert sich um sie.
AOK-LÖSUNGEN
Die Zukunft der Pflege sichern
Seit gut zehn Jahren gibt es die deutsche Pflegeversicherung – höchste Zeit für Weiterentwicklungen bei den Leistungen und in der Finanzierung. Die AOK hat ihre Lösungsvorschläge
zur Pflegereform bereits vorgelegt.
K
schen. Wenn es gelingt, den Pflegebedarf in dieser Phase zu
verringern, wird sich die Finanzierungsproblematik deutlich
entschärfen. Um dies zu erreichen, müssen die Chancen von
präventiven und rehabilitativen Ansätzen besser als bisher
genutzt werden.
Die Chancen der Prävention nutzen. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den nächsten Jahrzehnten deutlich ansteigen. Aufgrund sich verändernder Familienstrukturen nimmt
der Bedarf an professioneller und ehrenamtlicher Pflege
weiter zu. In welchem Umfang der Pflegebedarf wachsen
wird, hängt entscheidend vom medizinischen Fortschritt und
der Prävention ab. Derzeit entsteht Pflegebedarf im
Wesentlichen in den letzten drei Lebensjahren eines Men-
Den Pflegebegriff überarbeiten. Die Leistungsseite der
Pflegeversicherung weist Mängel auf. Sie resultieren insbesondere aus den gesetzlichen Steuerungsinstrumenten. Der Gesetzgeber hat den Begriff der Pflegebedürftigkeit sehr eng an
Defizite bei den Verrichtungen des täglichen Lebens geknüpft. Diese somatische Betrachtung trägt der tatsächlichen
Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen zum
Teil unzulänglich Rechnung. Daran hat auch die Leistungserweiterung für die demenziell Erkrankten nur wenig geändert. Außerdem wurden die wesentlichen Leistungen der Pflegeversicherung – das Pflegegeld und die Sachleistungen im
ambulanten Bereich sowie die Zuschüsse zur stationären Pflege – auf der Basis der Kostensituation von 1992 budgetiert.
Diese Budgets sind seit Einführung der Pflegeversicherung
omplexe Strukturen der Altenhilfe, der Pflegeversicherung, Sozialhilfe und Krankenversicherung gewährleisten in Deutschland eine qualitätsorientierte
Pflege und Versorgung pflegebedürftiger Menschen.
Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und eines der
wichtigsten sozial- und gesellschaftspolitischen Handlungsfelder. Die Pflegeversicherung hat der Pflege zahlreiche Entwicklungsimpulse gegeben. Der Pflegesektor ist ein Wachstumsmarkt. Er ist offensichtlich – trotz der Klagen der Pflegeverbände über zu geringe Vergütungen – auch für private Investoren sehr attraktiv.
Was die Pflegeversicherung finanziert
Foto: Falko Siewert
Zurzeit erhalten in Deutschland etwa zwei Millionen
Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung. Fast
1,4 Millionen der Leistungsbezieher leben in der eigenen
Wohnung. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes
stieg die Zahl der Pflegebedürftigen im Zeitraum zwischen
2001 und 2003 um 37.000 (1,8 Prozent).
Die Pflegeversicherung finanziert den Pflegemarkt mit
mehr als 18 Milliarden Euro jährlich. Davon entfällt etwa
die Hälfte der Leistungen auf die 600.000 pflegebedürftigen Bewohner von Pflegeheimen. Die Pflegebedürftigkeit
hängt vom Alter ab: Während bei den 70- bis 75-Jährigen
jeder Zwanzigste pflegebedürftig war, benötigten unter
den 90- bis 95-Jährigen 61 Prozent Pflege. Menschen aus
benachteiligten sozialen Schichten werden eher
pflegebedürftig.
Quelle: nach Pflegestatistik 2003
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
21
AOK-LÖSUNGEN
das Leben und Arbeiten in einer älter werdenden Gesellschaft
eingebunden werden. Ein solches Konzept muss unter anderem das Wohnen, die Stadtentwicklung, den Arbeitsmarkt
und die Verkehrsplanung einschließen und ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dabei müssen Generationengerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Leistungsgerechtigkeit beachtet
werden.
Der Ansatz »ambulant vor stationär« muss konsequent geReformen für Leistungen und Finanzen. Die Einnahmen- stärkt werden. Dazu müssen alternative Versorgungsangebote
und die Ausgabenentwicklung der Pflegeversicherung laufen in der ambulanten Pflegeinfrastruktur wie zum Beispiel Hausseit dem Jahr 2001 auseinander. Ursachen sind insbesondere gemeinschaften und zugehende Dienste ausgebaut werden.
die schlechte konjunkturelle Entwicklung
Diese sind durch kompatible Leistungsanund Änderungen bei den Beitragsbemessprüche und Anreizstrukturen zu flankieren.
Immer mehr Pflegesungsgrundlagen durch den Gesetzgeber
Die AOK schlägt vor, das Verhältnis von
(Absenkung der Beitragszahlungen für ArGeld- und Sachleistungen kostenneutral neu
bedürftige brauchen
beitslose und aus der gesetzlichen Rentenverzu justieren. Bestandsschutzregelungen könSozialhilfe.
sicherung). Ohne diese so genannten Vernen verhindern, dass es zu einer Niveauabschiebebahnhöfe wären die Einnahmensenkung kommt. Zur Stärkung der ambuprobleme der Pflegeversicherung wesentlich geringer. Nach lanten Pflege muss die ehrenamtliche Laienpflege ausgebaut
Berechnungen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) und stärker anerkannt werden, zum Beispiel durch Schulung
werden die finanziellen Rücklagen der Pflegeversicherung der Ehrenamtlichen und deren hauptamtliche Unterstützung.
noch bis in das Jahr 2008 ausreichen. Dabei sind bereits die Die Finanzierung dieser Weiterentwicklung der ehrenamtliEinnahmen einbezogen, die sich nach Berechnungen des Ge- chen Hilfe und Betreuung ist eine Gemeinschaftsaufgabe von
sundheitsministeriums aus dem Kinder-Berücksichtigungsge- Kommunen und Pflegekassen.
setz (ab 2005) ergeben. Angesichts der demografischen Entwicklung ist allerdings keine dauerhafte Beitragssatzstabilität Die Pflegequalität erhalten und verbessern. Die Pflegein der sozialen Pflegeversicherung zu erwarten. Reformbedarf reform muss die Qualität der Pflege erhalten und verbessern.
besteht also gleichermaßen auf der Finanzierungs- und auf der Seit Bestehen der Pflegeversicherung sind deren Leistungen
Leistungsseite. Zentral ist die Weiterentwicklung der Qualität nicht an die allgemeine Preis- und Einkommensentwicklung
angepasst worden. Den dadurch eingetretenen Wertverlust
der pflegerischen Versorgung.
der Pflegeleistungen können viele alte Menschen nicht mit
Die ambulante Pflege stärken. Eine Reform der Pflegever- eigenen Mitteln ausgleichen. Zudem gehen einige Pflegeeinsicherung sollte aus Sicht der AOK in ein Gesamtkonzept für richtungen dazu über, die Qualität ihrer Leistungen abzusenken, um den finanziellen Möglichkeiten ihrer Kunden Rechnung zu tragen. Folgekosten durch Pflegemängel sind dabei
nicht auszuschließen. Aus all diesen Gründen müssen die
Pflegeleistungen in regelmäßigen Abständen im Hinblick auf
die eingeforderte Pflegequalität überprüft werden Darüber
hinaus sollte die starre Statik der Leistungen, die sich aus der
Aufteilung in die drei Pflegestufen ergibt, aufgebrochen
werden.
Die derzeit in Modellprojekten erprobten »Personenbezogenen Pflegebudgets« (mehr dazu: siehe Lesetipps auf Seite 2
und im Internet unter www.pflegebudget.de) würden aus heutiger Sicht mehr Wahlmöglichkeiten für die Pflegebedürftigen
und eine verbesserte Passgenauigkeit der Leistungen bringen.
Ihre Einführung muss jedoch mit einer Qualitätssicherung
und mit Vergütungsvereinbarungen durch die Pflegekassen
einhergehen.
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Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
Foto: Hartmut Schwarzebach/argus
1995/96 nicht mehr angepasst worden. Die Kluft zwischen
den Preisen der Pflegeeinrichtungen und den Leistungen der
Pflegeversicherung wird damit größer. Die Zahl der Pflegebedürftigen, die auf Sozialhilfe angewiesen ist, nimmt zu. Es ist
unbestreitbar, dass Reformen in diesen beiden zentralen
Feldern allein mit den laufenden Finanzmitteln nicht zu
finanzieren sind.
Fotos: Caro Fotoagentur/Stefan Trappe; images.de, Berlin
Prävention verzögert und mindert Pflegebedürftigkeit. für die Finanzierung der Behandlungspflege in Heimen auf
Mit der Veränderung der Altersstruktur in der Bevölkerung die GKV würde zu einer neuen Schnittstelle führen, falsche
und der gestiegenen Lebenserwartung sind Prävention und Anreize setzen und eine künstliche Aufteilung von zusamGesundheitsförderung im Alter von zentraler Bedeutung. Sie menhängenden Pflegemaßnahmen nach sich ziehen. Die Bekönnen einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung, Verzöge- troffenen müssten dies als lebensfremd empfinden. Zudem
rung oder Minderung von Pflegebedürftigkeit leisten.
würde eine solche gespaltene Leistungszuständigkeit die guten
Immer noch hakt es in der Kommunikation zwischen Steuerungsansätze der Pflegeversicherung konterkarieren und
stationärer und ambulanter Versorgung. Die
der unwirtschaftlichen Leistungserbringung
Überleitungspflege beziehungsweise ein EntVorschub leisten.
Die aktivierende
lassungsmanagement im Krankenhaus und
Messlatte für Finanzreform. Die Reformbei den Pflegekassen angesiedelte Case-MaPflege kann den
diskussionen
und -vorschläge zur Ausgestalnager helfen, die bestehenden SchnittstellenErfolg der Rehabilitung der Finanzierung der sozialen Pflegeverprobleme zu lösen. Die AOK macht entspretation sichern.
sicherung finden im Spannungsfeld der Dechende, beispielhafte Angebote.
batte um die Lohnzusatzkosten, der SicherRehabilitation in der Pflegeversicherung. Die Leistungen stellung eines Grundsicherungsniveaus bei Pflegebedürftigder geriatrischen Rehabilitation gehören in die Pflegeversiche- keit und vor dem Hintergrund der Diskussionen um Fragen
rung. Die derzeitige Zuständigkeit der gesetzlichen Kranken- der Generationengerechtigkeit statt. Die AOK wird die verversicherung (GKV) für die geriatrische Rehabilitation führt schiedenen Modelle zur Finanzierungsreform der Pflege unter
zu Fehlanreizen, die verhindern, dass das Rehabilitationspo- Berücksichtigung folgender Kriterien beurteilen:
tenzial voll ausgeschöpft werden kann. Die institutionelle
Ausrichtung der Rehabilitation bietet zu wenig Möglichkei- • Ein regelmäßiger Mittelzufluss zur Finanzierung von
ten, das breite Spektrum der aktivierenden Pflege durch PflePflegeleistungen muss gesichert sein.
gefachkräfte zu nutzen. Für eine durchgreifende Verminde- • Sicherstellung einer nachhaltigen Finanzierung.
rung und Vermeidung von Pflegebedürftigkeit muss die • Die zunehmenden Finanzierungslasten sollten »gleichRehabilitation der Älteren aber verstärkt werden.
mäßiger« auf die Generationen verteilt werden.
• Nachhaltigkeit in der Finanzierung muss eine armutsverPflege in die integrierte Versorgung einbeziehen. Die
meidendes Absicherungsniveau sicherstellen. Ein »schleiGKV hat mit der integrierten Versorgung ein Instrument erchender« Substanzverlust einer Pflegeversicherung würde
halten, um die Gesundheitsversorgung wirtschaftlich und bebei Bürgern und Beitragszahlern Akzeptanz verlieren.
darfsgerecht zu gestalten. In der Praxis zeigt sich häufig, dass • Die Lohnzusatzkosten sollen nicht weiter steigen.
derartige Versorgungsformen ohne Einbeziehung der Pflege- • Die Finanzierung der Absicherung des Pflegerisikos soll
versicherung unvollständig sind. Daher ist es erforderlich, die
auch in Zukunft sozialverträglich ausgestaltet sein.
Voraussetzungen zu schaffen, dass sich die Pflegekassen verPersonen mit geringen Einkommen dürfen finanziell nicht
traglich an der integrierten Versorgung beteiligen können.
überfordert werden (ökonomische Leistungsfähigkeit).
Die Behandlungspflege im Heim muss in der Leistungs- • Für die Umsetzung der Reformen müssen unbürokratische
zuständigkeit der Pflegeversicherung bleiben. Die dazu im
Lösungen gefunden werden. ■
Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung vorgesehene
Lösung ist daher richtig. Eine Verlagerung der Zuständigkeit
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang
23
Heike von Lützau-Hohlbein ist
Vorsitzende der Deutschen Alzheimer
Gesellschaft.
INTERVIEW
»Mehr Anerkennung für die Angehörigen«
Vom Bedarf ausgehen: Pflegebedürftige wünschen sich Zuwendung, Angehörige wollen Anerkennung
und Unterstützung, Pflegekräfte brauchen mehr Flexibilität – Ansätze für die nächste Pflegereform,
wie Heike von Lützau-Hohlbein erläutert.
»Wir können viel lernen, wenn wir
über die Grenzen schauen. Die Niederlande zeigen uns zum Beispiel, wie eine
bedarfsorientierte Pflege aussehen kann.
Ich denke da an das personenbezogene
Pflegebudget, das unsere Nachbarn
1998 eingeführt haben – mit all den
Problemen, die sich dabei auch ergeben.
Wir können lernen, wie sich die strikte
Trennung zwischen ambulant und stationär überwinden lässt. Ein weiteres
gutes Beispiel liefert uns Dänemark, wo
schon seit einigen Jahren keine Pflegeund Altenheime mehr gebaut werden
und stattdessen Wohngemeinschaften
entstehen. Dort wird das Prinzip ambulant vor stationär also längst gelebt.
Was wünschen Sie sich für eine Reform
der Pflegeversicherung?
»Wir müssen weg von der zeitorientierten, hin zu einer personenorientierten
Pflege kommen. Denkbar wäre zum
Beispiel, die Pflegekräfte pauschal zu
bezahlen, sodass jede Pflegekraft selbst
entscheiden kann, für welchen Pflegebedürftigen sie wieviel Zeit aufwendet.
Auch sollten wir den Dokumentationsaufwand reduzieren. Damit hätten Pflegekräfte wieder mehr Zeit für eine persönliche Beziehung zu den Pflegebedürftigen. Zudem brauchen wir flexiblere Versorgungsmöglichkeiten und
eine Pflege, die alte Menschen nicht ausgrenzt, sondern sie so lange wie möglich
am normalen gesellschaftlichen Leben
teilhaben lässt.
Spezial ist eine Verlagsbeilage von G+G
Impressum: Gesundheit und Gesellschaft,
Kortrijker Str. 1, 53177 Bonn
Wie muss die Pflegereform aussehen,
damit Demenzkranke besser versorgt
werden?
»Zuerst müssen wir die Voraussetzungen für eine möglichst frühe Diagnose
der Krankheit schaffen. Man könnte
zum Beispiel eine »Vorsorgeuntersuchung Demenz« für ältere Menschen
einführen. Altersbedingte Krankheiten
müssen in Aus- und Fortbildung der
Mediziner stärker berücksichtigt sein.
Wichtig ist aber auch, mehr Wert auf
die Prävention zu legen. Den Menschen
muss klar werden, dass sie schon in jungen Jahren die Weichen dafür stellen,
wie gesund sie im Alter sind. Was die
Behandlung von Demenzkranken anbelangt, müssen wir die Versorgung ausbauen. Von den etwa eine Million Demenzkranken leben hierzulande schätzungsweise zwei Drittel im häuslichen
Umfeld. Wir brauchen mehr professionelle Pflegekräfte für die ambulante
Versorgung von Demenz-Patienten.
Nicht zuletzt müssen wir auch die Forschung im Bereich der altersbedingten
Krankheiten vorantreiben und die Versorgungsforschung ausbauen.
Was muss geschehen, um die Angehörigen
von Demenzkranken zu entlasten?
»Ich stelle ganz oft fest, dass es die Anerkennung ist, der Zuspruch, den die
Angehörigen brauchen. Oft wird ihre
Arbeit vom Bekanntenkreis nicht gewürdigt – auch weil viele Menschen zu
wenig über die Krankheit Demenz und
das Altern im Allgemeinen wissen wollen. Deshalb ist es wichtig, dass wir die
Redaktion: Cornelia Wanke (AOK-Bundesverband),
Änne Töpfer (KomPart Verlag)
Art Direction: Beatrice Hofmann (KomPart Verlag)
Grafik: Britta Paulich
Öffentlichkeit besser über das Thema
Demenz informieren. Die Deutsche
Alzheimer Gesellschaft hat dazu zum
Beispiel gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium einen Kampagne
gestartet. Neben besseren Informationen brauchen pflegende Angehörige
aber auch professionelle Unterstützung,
damit sie die Möglichkeit haben, selbst
wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Deswegen sollten Tagesbetreuung und Kurzzeitpflege ausgebaut
werden. Auch eine Stärkung der ehrenamtlichen Pflege und den Ausbau von
Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige halte ich für sinnvoll.
Und wer soll das bezahlen?
»Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe. Das heißt, wir werden mehr
Geld für die solidarische Finanzierung
der Pflege ausgeben müssen. Es wird
aber auch nötig sein, dass jeder Einzelne
für sich selbst vorsorgt. Da müssen wir
alle umdenken. ■
Die Alzheimer Gesellschaft
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft ist
der bundesweite Dachverband der
Alzheimer-Organisationen. Die regionalen Gruppen leben durch überwiegend
ehrenamtliche Mitarbeit. Zu den Zielen
der Alzheimer Gesellschaft gehört unter
anderem, die Öffentlichkeit über die
Alzheimer Krankheit und andere Demenzerkrankungen aufzuklären sowie
sozialpolitische Initiativen anzuregen.
Mehr Infos: www.deutsche-alzheimer.de
Verantwortlich: Abteilung Pflege und Stabsbereich
Politik des AOK-Bundesverbandes
Stand: Februar 2006
Foto: privat
Was kann Deutschland in der Pflege vom
Ausland lernen?

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