Berliner - Campagne Première
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Berliner - Campagne Première
21 Berliner Zeitung · Nummer 131 · Dienstag, 9. Juni 2009 .............................................................................................................................................................................................................................................................. .................................................. Berlin-Planer: Kunst Die Linie, das zügellose Wesen T E R M I N E ❖ D I E N S TA G , 9 . 6 . Jürgen Gerhard, Maler, Grafiker aus Hohen Neuendorf bei Berlin, einst an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst Burger- und Tübke-Schüler, gibt einen Überblick seines Schaffens: minimalistische Porträts, Radierungen, spontane Figurenstudien, sensible Landschaften. Eröffnung 18.30 Uhr, DegewoRemise, Pankgrafenstr. 1 (Pankow), bis 15. 7., Di–Fr 12–18 Uhr. Zeichnend-schreibende Studenten in der Galerie im Turm 1 3 . 6 . Gilbert & George, das symbiotische Künstlerpaar aus Großbritannien, gibt ein Gastspiel in Berlin. Eine Art Markenzeichen der Fotografen, Maler und bekennenden Schwulen ist ihr total gleiches Outfit. Sie lehnen es ab, ihre Aktionskunst vom alltäglichen Leben zu trennen und beharren darauf, dass all ihre Aktivitäten Kunst ist. Das Paar betrachtet sich als Lebende Skulptur. „Jack Freak“ überschreiben sie ihre neuen Bilder. Eröffnung mit einer Talkrunde 16 Uhr in der Galerie Arndt & Partner, Invalidenstr. 50-51 (Tierg.). Bis 18. 9. Di–Sa 11–18 Uhr. G A L E R I E L E O. C O P P I Ulrike Hahns Farbholzschnitt „Frau am Fenster“, 2009, steht im Blickpunkt ihrer figürlichen poetischen Bilder in der Galerie Leo.Coppi. Eröffnung am 10. Juni, 19 Uhr, Auguststr. 83 (Mitte) Bis 1. 8., Di–Sa 12–18 Uhr. F R E I TA G , 1 2 . 6 . Mit Light Space überraschen Christoph Dahlhausen und Dittmar Krüger – Kunst aus Licht und Farben ergibt Universelles. Eröffnung 19 Uhr, Galerie Weißer Elefant, Auguststr. 21 (Mitte). Bis 18. 7., Di–Sa 13–19 Uhr. R UTHE Z Das Tier als Modell, das Schwein als Liebe, dies ist ein höchst komischer Titel für eine Kunstausstellung. Eine dazu, die auf die Heftseiten von „Prolog 4“ passt und sehr spannend und amüsant zu werden verspricht. Eröffnung 18 Uhr, Galerie Parterre, Danziger Str. 101, (Prenzl. Berg) bis 21. 6., tgl. 14–20 Uhr. S O N N A B E N D , ganz aus dem Augenblick entstanden, lebt nur in der Kürze eines eichnen. Die Disziplin ist kei- Traumes, ist zögerlich, dann wieder neswegs nur eine Domäne der mutig gesetzt: Weich auf Hart, FlieKünstler. Und Schreiben? Das tut ßendes auf Statisches. Zeichnen ohnehin jeder, ders’ gelernt hat. Ob- und Schreiben sind Geschwister wohl das individuelle „Schönschrei- auch im horizontalen Drehrollenben“ ja mehr und mehr über die bild von Gracja Birmes. Jeden Tag Tastatur in den Computer wandert, war da etwas, das gezeichnet und sich zum sachlichen, perfekt ge- notiert werden wollte, groteske normten Schriftbild verwandelt Großstadtszenen, sich überlagernund damit das Prinzip Kopf-Hand de, verschachtelte Architekturen, einen technoiden, allerdings auch Verkehr, Straße, Mensch. Nach beiden Richtungen gezeichnet und gesehr bequemen Umweg erfährt. „Zeichen und Schreiben“ ist eine schrieben – vom Betrachter ganz originelle Ausstellung von 22 Bild- nah gelesen, ist diese witzige Arbeit hauerstudenten der Kunsthoch- ein Sinnbild des Sich-Erinnerns. Einen – seinen?– alten Schulschule Weißensee geworden. Die Blätter und Objekte, große und klei- tisch brachte Daniel Mecklenburg ne, schwarz-weiße und farbige, sind als Raumkunst in die Galerie. Die in der Friedrichshainer Galerie im Tischplatte trägt aufregend rätselTurm zu sehen – ein Kunstort, der hafte Krakeleien. Auf einem eingelassenen Bildschirm sich seit vielen Jahren bewegen sich Bilder, mit Verve sehr spezielDas eine wie das Zeichen, Kürzel mit len, mit Vorliebe auch andere sichert angeschlossenem Außenseiterthemen Kopfhörer. Die Interdes Kulturbetriebes Spuren und aktion mit dem Publiwidmet. Nun ist das Daten – die Linie, kum klappt: ZeichZeichnen längst keine das Notat. nen-Schreiben-HöKunst am Rande mehr, ren. Es sind Spuren eher im Fokus, nimmt aus Kindertagen. Erman nur die derzeitige Großschau zur Disziplin in der Aka- innerung in Bild und Schrift. Silvia Lorenz zeichnet-schreibt demie der Künste. Hier aber, im Turm, geht es nicht aus Linien und Flecken dunkle, brüum Klassisches, sondern um ganz chige Landschaften; sie hat Papier junge Arbeiten, bei denen die Gren- zerschnitten, gerissen, verklebt. Was zen zwischen Zeichnen und Schrei- so herb und abstrakt anmutet, ist ben verschwimmen. Das eine wie wohl doch aus der Erregung entstandas andere sichert Spuren und den, Lust, Wut, Zorn. Undeutliche Vorstellungen geistern übers Papier, Daten – die Linie, das Notat. Das Zeichnen-Schreiben, wie werden allmählich konkret. Aber unDavid Harten es in fünf schlicht ge- wirsch wird korrigiert, überzeichnet. rahmten und vertikal an die Wand „Die Wirklichkeit ist dünn wie gebrachten Blättern vorführt, imi- Papier“, nennt die junge Künstlerin tiert am wenigsten die Welt. Im ihr papiernes Stück Poesie. Dies alles ist nur eine kleine Ausschier abstrakten Stakkato der grauschwarzen zügellosen Linien und wahl aus 22 Positionen. Mehr unter Strichbündel ist die Interpretation der Empfehlung: Geh hin und lies. von Geschautem, Erlebtem, Gedachten auf poetisch schöne Weise erotisch und diffus. Galerie im Turm: „Zeichnen und Wer schreibt, der liest, das ist Schreiben“, 22 Bildhauerstudenten der wohl die These von Thomas Korn, Kunsthochschule Weißensee. Frankfursein paradiesisch-höllenhaftes Fi- ter Tor 1 (Friedrichshain) Bis 26. Juni, gurenchaos auf dem Papier scheint Di–So 14–20 Uhr. VON I NGEBORG C H A M PA G N E P R E M I È R E Szene aus dem Video, das vom Verschwinden erzählt:„The Majorana Experiment“. Das Majorana Experiment Der Schweizer Marco Poloni in der Galerie Campagne Première VON G T HEA H EROLD äbe es Hinweise für Galeriebesucher, wie man die jeweils aktuelle Ausstellung im richtigen Maß und Modus verdaut, müsste diesmal auf dem Beipackzettel stehen: Setzen Sie sich hin! Stühle und Bank stehen aus gutem Grunde da. Wir sehen in einer großformatigen Videoarbeit in der Galerie Campagne Première die Figur von Ettore Majorana, einem Physikgenie aus Italien. Der Wissenschaftler lebte Anfang des letzten Jahrhunderts und starb im Jahr 1938. Es hieß, Majorana sei unter absolut mysteriösen Umständen bei einer Bootstour von Palermo nach Neapel verschwunden. Weil seine Leiche nie gefunden wurde, und somit niemals zu belegen war, wie er wirklich zu Tode kam, birgt seine Lebensgeschichte bis heute Stoff für gewagte Spekulationen. Lange glaubte man, der junge Physiker selbst hätte sein Verschwinden mit voller Absicht inszeniert, weil er Konflikte um die praktische Anwendung seiner nuklearen Forschungsergebnisse fürchtete. Auch in einer Novelle von Leonardo Sciascia, 1975, ging es um das spektakulär stille „Verschwinden des Ettore Majorana“. Dieser Text und die dramatische Lebensgeschichte wurden nun zum thematischen Hintergrund für Polonis aktuelle Einzelausstellung. Vor allem die darin präsentierten filmischen Arbeiten funktionieren bestens und sorgen für stilistische Aufladung und Spannung. Der große, aufwendig gedrehte neue Film dauert 46 Minuten. Der alte Filmstreifen im Nachbarraum ist nach gera- de nur vier Minuten vorbei.Das Video des Schweizers entfaltet sich – perfekt gemacht – in der aktuell sehr angesagten Manier wie „bewegte Malerei“ vor unseren Augen. Langsame Schwenks, monochromatische Effekte und dazu die technische Delikatesse, die bei einer konzentrierten Kamerafahrt mit Parallel-Perspektive entstand. Eine Doppelkamera filmt, zeitlich um Nuancen versetzt, immer wieder zwei Räume: Schiffskabine und Hotelzimmer. Poloni zelebriert die Wiederholung des scheinbar immer Gleichen im offensichtlich doch Veränderten: Ein Mann im Bett, rauchend, lesend, schweigend, allein. Oder stehend vor den Bullaugen der Schiffkabine. Bis sich am Ende nur noch Spuren finden; Majorana selbst ist einfach weg. Nach dem High-Definition-Video mit Sound begegnet uns im anderen Galerieraum ein Stummfilm auf 16-mm-Color. Hier rasselt allein nur ein alter Schul-Projektor. Doch schon die Geschichte dieser Filmspule ist wild und abenteuerlich. Sie beginnt in Teheran und findet sich aufgeschrieben in einer ausführlichen Notiz an der Galeriewand. Der Filmstreifen selbst dauert ganze vier Minuten. Auch hier sieht man einen Mann, gekleidet im Stil der Dreißigerjahre, an Bord eines Schiffes auf See. Eine Person, die seltsam frappierende Ähnlichkeiten mit jenem Majorana aus dem Video hat. Die Identität der Person bleibt ungeklärt und in der Schwebe; die Filmspule selbst trägt authentische Spuren eines Verschwindens. Man hatte diese offensichtlich über Bord gegangene Kassette irgendwann wieder aus dem Wasser gefischt. Auch davon sind vor allem die Spuren zu sehen: Wasserschlieren, Salzreste, Kratzer und Blindstellen auf dem Filmträger. Das alles führt zu Unschärfen aller Art als Folge chemischer Reaktionen, also zu einem Verwirrspiel. Der Künstler gab dieser Arbeit den zutreffenden Titel „the sea rejected me“ (Das Meer spuckte mich wieder aus). Auch im dritten Raum dieser reizvoll inszenierten Ausstellung dreht es sich um die heute so wichtige Frage nach der Glaubwürdigkeit von Medien. Darum, wie sich Fakt und Fiktion unterscheiden lassen, wo sie sich doch so oft mischen. Der Medienkünstler Marco Poloni thematisierte den Problemstoff schon seit Jahren immer wieder in konzeptuellen Fotografien. Authentische Aufnahmen und sinnkräftige Zufallsmotive mischt er zu einem rätselhaften Tableau seiner computerbearbeiteten „archival pigment prints“. Der prächtige Spielplatz für Spekulationen reicht thematisch von der Ölkrise bis zum Terroranschlag am elften September 2001 in New York. Insgesamt ist Poloni dank seiner historischen Bild-Forschungen eine brandaktuelle Ausstellung gelungen, sich mit einem der wichtigsten Probleme unserer Gegenwart befasst: Mit dem Verschwinden von immer gültigen Sicherheiten im verwirrenden Spiegelprisma einer immer mehr digitalisierten Welt. Campagne Première, Chausseestraße 116 (Mitte). Bis 20. Juni, Di–Fr 14–18/Sa 10–20 Uhr. Zeichnend schreiben, schreibend zeichnen: Silvia Lorenz setzt Linien und Flecken zu brüchigen Landschaften oder Baustellen, das Papier ist zerschnitten, gerissen, verklebt. KUNSTHOCHSCHULE WEISSENSEE/ GALERIE IM TURM Montag: Unter wegs | Dienstag: Kunst | Mittwoch: Pop | Donnerstag: Nachtleben | Freitag: Geschmackssache | Sonnabend: Schönes Wochenende