Professor Dr. Günter Ewald, Bochum: „Nahtoderfahrungen

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Professor Dr. Günter Ewald, Bochum: „Nahtoderfahrungen
Nahtoderfahrungen
Referat von Professor Dr. Günter Ewald am 15. September 2008 in der JohannesGutenberg-Schule Gernsheim
Wenn von Nahtoderlebnissen die Rede sein soll, dann ist eine Erklärung des Begriffes dringend geboten. Denn das Wort selbst kann so verstanden werden, dass es um
Sterbeerfahrungen der verschiedensten Art geht. Das ist aber nicht der Fall. Beispielsweise gehören szenische Halluzinationen mit oft schreckhaften Erlebnissen und
verzerrenden Bildern nicht in den Kreis unserer Betrachtungen. Was wir hier - in Übersetzung des englischen „near-death experience" - als Nahtoderfahrung bezeichnen, ist ein Extremerlebnis mit bestimmten Kennzeichen, häufig ausgelöst durch Unfall, im Koma oder durch psychologische Todesnähe. Es kann aber auch bei Tiefenmeditation oder spontan auftreten; nach neueren Untersuchungen ist das sogar häufiger der Fall als in Todesnähe. Es geht also nicht um ein Krankheitsphänomen, sondern um eine „gesunde" Tiefenerfahrung, die vermutlich in jedem Menschen als Möglichkeit schlummert, aber nur unter außerordentlichen Bedingungen oder selten spontan in Erscheinung tritt. Denkbar ist, dass es am Ende des Lebens bei jedem Menschen eine Rolle spielt.
Seit der amerikanische Philosoph und Mediziner Raimond Moody 1975 seinen WeltBestseller „Leben nach dem Tod" herausgebracht hat, ist eine breite Öffentlichkeit
auf das Nahtod-Phänomen aufmerksam geworden. Man findet es aber in der Weltliteratur seit Urzeiten, wenn auch in anderer Terminologie. Demnach ist es keine Erscheinung westlicher Zivilisation oder ein modisch-exotisches Phänomen. Nahtoderfahrungen stellen eine menschliche Urerfahrung dar, unabhängig von Kultur, Religion,
Geschlecht, Alter oder Persönlichkeitstyp. Sie haben meistens einen Transzendenzbezug. So ist es nicht verwunderlich, dass schon der griechische Philosoph Plato ein
Beispiel ausführlich berichtet und seine Seelenlehre daran anknüpft, dass man sie bereits im Schamanismus, im Tibetanischen Totenbuch des Buddhismus findet, in den
Schriften christlicher Mystiker und bei Paulus im Neuen Testament. Der Tübinger katholische Theologe Hermann Häring hat vor einiger Zeit in einem Vortrag die Meinung
vertreten, dass religionsgeschichtlich gesehen Jenseitsvorstellungen der Menschen
von früh an generell durch Nahtoderfahrungen geprägt sind.
Als ein erstes Beispiel greifen wir auf eines der ältesten Dokumente der Weltliteratur
zurück, das Gilgamesch-Epos, wo es in einer der Versionen heißt:
„Gilgamesch ... begann ... seine Suche nach dem Jenseits. Nach langer Zeit entdeckte er hinter den Ozeanen am Ende der Welt den Fluss Chubur, die letzte
Schranke vor dem Königreich der Toten. Gilgamesch verließ diese Welt und
kroch durch einen dunklen endlosen Tunnel. Es war ein langer, unbequemer Weg
... aber schließlich sah er Licht am Ende der Röhre. Er kam zum Ausgang des
Tunnels und sah einen wunderschönen Garten. Die Bäume trugen Perlen und
Juwelen, und über alles sandte ein wunderbares Licht seine Strahlen. Gilgamesch
wünschte, im Jenseits zu bleiben. Aber der Sonnengott schickte ihn durch den
Tunnel zurück in dieses Leben."
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Lassen Sie mich noch ein Beispiel einer Nahtoderfahrung in psychologischer Todesnähe anführen, das in verschiedener Hinsicht aufschlussreich ist. In der Zeitschrift „Der
Bergsteiger", dem offiziellen Organ des österreichischen Alpenvereins erzählt 1970
Hias Rebitsch von einem Absturz an der Goldkappel-Südwand in Tirol, wo er, mit drei
Haken gesichert, einen letzten Überhang schon überwunden glaubte:
„Noch erfasse ich es voll, nehme die Vorgänge um mich her noch bewusst auf:
ein kurzer Bremsruck. Ich registriere: Der erste Haken ist gegangen. Der zweite.
Ich schlage an den Fels, schleife ihm entlang hinab, will mich noch wehren, an
ihm verkrallen. Aber unaufhaltsam schleudert mich eine wilde Gewalt hinab. Verloren. Aus. Doch jetzt fühle ich keine Angst mehr. Die Todesfurcht weicht. Alles
Gefühl, jede Wahrnehmung ist ausgelöscht. Nur mehr Leere, völlige Ergebenheit
in mir und Nacht um mich her. Ich stürze auch nicht mehr. Ich sinke sanft auf einer Wolke durch den Raum, ergeben, erlöst. Habe ich das Tor zum Schattenreich
schon durchschritten? In die Finsternis um mich kommt plötzlich Licht und Bewegung. Verschwommene Gestalten lösen sich aus mir heraus, werden immer
klarer. Auf einer Leinwand in mir leuchtet ein Film auf: Ich sehe mich in ihm wieder, wie ich, erst drei Jahre alt, zum Krämer nebenan tippele. In der Hand halte ich
den Kreuzer fest umschlossen, den mir meine Mutter gegeben hatte, damit ich
mir ein paar Zuckerl kaufe. Dann sehe ich mich als Kind, sehe mich, wie ich mit
dem rechten Bein unter eine stürzende Bretterlage gerate. Der Großvater müht
sich ab, die Bretter hochzuheben. Mutter kühlt und streichelt den gequetschten
Fuß ... Immer mehr Bilder aus meinem Leben flimmern auf, werden durcheinander
geschüttelt... Das Filmband ist gerissen. Lichterschlangen fahren wie Blitze durch
den leeren schwarzen Hintergrund. Feuerkreise, sprühende Funken, flackernde
Irrlichter ... Plötzlich ein Ruf aus weiter Ferne: Hias! Und wieder Hias!, Hias! Ein
Anruf aus meinem Innern? ... Auf einmal übersonnter Fels und Licht und Ruhe
vor meinen Augen. Sie haben sich geöffnet. Das Fenster in die Vergangenheit war
aufgestoßen worden. Jetzt ist es wieder verschlossen. Und noch einmal der
angstvolle Schrei. Er kommt aus dieser Welt, von oben ... Erst jetzt kommt mir zu
Bewusstsein: Ich habe gerade einen tiefen Sturz überstanden, bin von langer
Reise rückwärts durch mein Leben, aus einem früheren Dasein zurückgekehrt,
bin wieder in meine Haut hineingeschlüpft. Am Seil arbeite ich mich die zwanzig
Meter hinauf... Der letzte Haken hatte gehalten."
Beim Absturz blieb Hias offensichtlich praktisch unverletzt, sonst wäre er nicht sofort
20 Meter am Seil hoch geklettert. Von körperlicher Todesnähe kann also nicht die
Rede sein, wohl aber von psychologischer, weil er mit dem sicheren Tod rechnete.
Bemerkenswert ist der Zeitrahmen: Da die Fallhöhe etwa 20 Meter betrug, umfasste
die Fallzeit ziemlich genau 2 Sekunden. Man kann annehmen, dass Hias in dem Augenblick stoßartig im Seil hängen blieb, in dem er vom Filmriss und den blitzartigen
Lichterschlangen spricht. Alles, was er vorher erlebt hat, spielte sich demnach in 2
Sekunden ab, eine Hochleistung des Gehirns.
Was sind nun die Merkmale, mit denen man Nahtoderfahrungen unter Extremerlebnissen heraushebt? In der Tat findet man immer wieder bestimmte Grundmuster des
Erlebens, die zwar individuell und kulturabhängig ausgestaltet werden, aber eine gemeinsame biologische Grundlage vermuten lassen. Zu diesen Grundmustern gehören:
•
Außerkörpererfahrungen, Schwebeerlebnisse, in denen beispielsweise Patienten mit Herzstillstand im OP ihre eigene Wiederbelebung von oben beobachten; Tunnel-Licht-Erlebnisse, in denen Betroffene sich auf ein ungewöhnliches
Licht zu bewegen;
•
Euphorische Glückserfahrung im Licht; in seltenen Fällen Schreckenserlebnisse, die aber oft in Wohlbefinden und Geborgensein umschlagen;
•
manchmal ein Wahrnehmen wunderbarer Landschaften oder nie gehörter Musik;
•
Sehen eines Lebensfilms oder eines Bilderpanoramas mit realen Szenen aus
dem gelebten Leben;
•
Begegnung mit bereits verstorbenen Freunden oder Verwandten, manchmal
mit unbestimmten Lichtgestalten; Mitteilung, man müsse noch einmal zurückkehren;
•
Enttäuschung über die Rückkehr in den - oft kranken - Leib und Sehnsucht,
zurück ins Licht zu kommen;
•
Längerfristig neues Verhältnis zu den Mitmenschen, soziales Engagement, vermehrte Spiritualität und Glaube an ein Leben nach dem Tod.
Das ist nicht so zu verstehen, als ob in jedem Nahtoderlebnis alle diese 8 Merkmale auftreten; aber einige sind zu finden; mindestens eines stärker ausgeprägt, wie im Beispiel von
Hias der Lebensfilm. Manchmal wird auch durch äußere Umstände das Erlebnis unterbrochen, etwa bei Gelingen einer Reanimation. Durch mehrere tausend Berichte, die
inzwischen weltweit dokumentiert sind, wird die Existenz der genannten Grundmuster
bestätigt. Besonders eindrucksvoll ist die Untersuchung, die zwei chinesische Ärzte
1987 in einer Reha-Klinik in Tangshan in der Nähe von Peking durchgeführt haben, und
zwar unter Querschnittsgelämten, die das große Erdbeben von 1976 überlebt hatten. Sie
fanden etwa 80 Nahtodbetroffene, deren Berichte ebenfalls die Bausteine obiger Grundmuster enthalten.
Um genauer zu verstehen, was in Nahtoderfahrungen geschieht, unterscheiden wir
drei Erklärungsebenen, die natürlich eng aufeinander bezogen sind:
1. Die unterste Ebene ist die medizinisch-psychologisch-biologische.
2. Die mittlere Ebene betrifft Aspekte der außersinnlichen Wahrnehmung und
des Paranormalen.
3. Die oberste Ebene schließlich fragt nach Sinn und Bedeutung der Nahtoderfahrungen, insbesondere hinsichtlich Leben nach dem Tod und Religion.
Schon auf der untersten Ebene ist die eingangs genannte Breite und Vielfalt der
Nahtoderlebnisse zu beachten. Erklärungsversuche wie „Nahtoderfahrungen sind weiter nichts als Sauerstoffmangel im Gehirn beim einsetzenden Sterben" sind schon
deshalb unbrauchbar, weil physische Todesnähe keine notwendige Voraussetzung für das
Geschehen ist, abgesehen davon, dass bei manchen Nahtodbetroffenen in Todesnähe sogar erhöhte Sauerstoffwerte im Blut gemessen wurden.
Ähnliches gilt für die Behauptung, es handle sich um die Ausschüttung von „Streßhormonen", Endorphinen oder Enkephalinen, vergleichbar dem, was manche Langstreckenläufer
bei km 20 erleben, wenn sie euphorische Gefühle bekommen. Es kann durchaus sein,
dass beim Nahtoderlebnis Endorphine im Gehirn ausgeschüttet werden. Aber das besagt
nicht viel. Das lässt sich gut durch folgenden Vergleich illustrieren: Wenn sich ein junger
Mensch verliebt, werden ebenfalls Endorphine im Gehirn ausgeschüttet. Es käme aber
niemand auf die Idee zu sagen: Verlieben ist weiter nichts als Ausschüttung von Endorphinen im Gehirn. Der Hirnprozess begeleitet ein lebendiges Geschehen. - Ein solches stellt auch ein Nahtoderlebnis dar; nur ist es den Augen der Mitmenschen verborgen und wird deshalb leicht durch sein Korrelat, seine Begleiterscheinung im Gehirn erklärt. Selbst wenn Teile eines Nahtodgeschehens - etwa ein Außerkörpererlebnis - durch
Hirnreizung ausgelöst werden kann, so erklärt das nicht jedes Außerkörpererlebnis, genau
so wie euphorische Gefühle durch künstliche Stimulation wie durch echte mitmenschliche
Erlebnisse ausgelöst sein können. Dass das Gehirn beteiligt ist, besagt allerdings, dass
wir nicht von rein jenseitigen Erlebnissen reden, sondern von Erfahrungen, für die unser
Körper ein Sensorium besitzt. Wie Symptome mit einem Geschehen zusammenhängen,
ist eine komplexe Angelegenheit. Vor allem sollte man einen methodischen Fehler vermeiden, der immer wieder zu beobachten ist, nämlich die Verwechslung von „verursachen" und
„auslösen". Wenn ich eine Musikanlage einschalte, dann heißt das nicht, dass ich musiziere, die Musik verursache. Ich löse den Vorgang des Abspielens aus. Hinzu kommt,
dass man mit dem Abspielen nicht unbedingt demonstriert, dass man etwas von der
gespielten Musik versteht. Wenn ein Nahtoderlebnis ausgelöst wird, so kann das
durch Unfall, Herzstillstand, Einnahme von Ketamin oder Meditation geschehen sein.
Was ausgelöst wird, ist damit nicht charakterisiert oder verstanden. Es kann sich je nach
Dauer und Intensität um ein flüchtiges Erlebnis oder um eine tiefe, das weitere Leben prägende Erfahrung handeln.
Offenbar tragen wir etwas wie eine Schatzkammer in unserem Gehirn, in der sich das,
was wir sind, unser Wissen, unser Erleben, unsere innere Ausrichtung, das, was unser Ich ausmacht, spiegelt, zusammengefasst, gespeichert ist. Durch Reizung kann
diese Kammer teilweise geöffnet werden, so dass sich etwas löst, das wir nur schwer verstehen. Vermutlich geschieht eine vollständige Öffnung erst im Tod und können wir durch
die Nahtoderlebnisse nur ahnen, was sich dann ereignet.
Was diese in unser Gesamtgehirn und unseren Leib biologisch integrierte „Schatzkammer" wirklich ist, wissen wir nicht. Ob himbiologische, psychologische und psychiatrische Kategorien überhaupt in der Lage sind, den Inhalt angemessen zu beschreiben,
kann man in Frage stellen.
Deshalb betreten wir die 2. Erklärungsebene, um nach weiteren Möglichkeiten Ausschau
zu halten, nämlich die Ebene des Paranormalen. Um gleich das einprägsamste Beispiel
herauszugreifen: Was geschieht in den Außerkörpererlebnissen, die eine Art inneres
Heraustreten aus sich selbst darstellen und zugleich mit äußeren Wahrnehmungen verbunden sind, wenn etwa im OP ein Betroffener unter der Decke schwebend seiner
eigenen Wiederbelebung zuschaut? Man hat immer wieder versucht, dieses Phänomen mit der Phantasie zu erklären, die auch bei einem Koma-Patienten noch in genügendem Umfang existiert. Das hat nur einen Haken: Es gibt immer wieder Berichte, in
denen Betroffene physische Dinge wahrnehmen, die sie vom Bett aus nicht sehen
können und das auch von Ärzten oder Krankenschwestern bestätigt wird. Es gibt darüber eine ganze Anzahl glaubwürdiger Berichte. Um aber dieses Phänomen, das ein unter Naturwissenschaftlern und Medizinern übliches Weltbild umstößt, auch wissenschaftlich präzise zu fassen, läuft gegenwärtig in England ein Großversuch, an dem
sich 25 Kliniken beteiligen. Man stellt neben den Betten von Herzpatienten, bei denen mit
Herzstillstand und möglicherweise einem dadurch ausgelösten Außerkörpererlebnis zu
rechnen ist, kleine Säulen auf, die auf der Oberseite, von unten unsichtbar. Ziffernkombinationen und Symbole tragen. Gegebenenfalls fragt man Patienten, die ein Nahtoderlebnis hatten, danach, ob sie im Schwebezustand diese Symbole und Zahlen gesehen
und sich gemerkt haben.
Es geht hier um eine besondere Form der außersinnlichen Wahrnehmung, die zwar
lange bekannt ist, aber immer wieder tabuisiert wird. Sie wird auch (präsentisches)
Hellsehen genannt. Es gibt darüber nicht nur Spukgeschichten, sondern auch eine seriö-
se Literatur. So brachte der amerikanische Schriftsteller Upton Sinclair 1930 eine Dokumentation besonderer Art heraus. Er hatte festgestellt, dass seine Frau Craig in der Lage
war, von ihm angefertigte Handzeichnungen ziemlich genau nachzuzeichnen, ohne sie
gesehen zu haben. Er führte über drei Jahre hinweg sorgfältig abgesicherte Experimente
durch und veröffentlichte 146 Zeichnungen mit hellseherischer Kopie oder Kommentar.
Albert Einstein schrieb ein Vorwort zu dem Buch. Eindrucksvoller kann man kaum das außersinnliche Sehen demonstrieren. Im September 1979 beschrieb ein hellseherisch begabter und trainierter Offizier des CIA den Bau eines riesigen neuartigen U-Bootes mit 18-20
Abschussbasen auf dem Heck und sagte dessen Auslaufen nach vier Monaten voraus.
Im Pentagon glaubte man eine derart unwahrscheinliche Ankündigung nicht. Im Januar 1980 stellte man aber fest, dass alles stimmte; es handelte sich um das erste sowjetische Atom-U-Boot mit genau 20 Abschussbasen auf dem Heck. Die entsprechenden
Dokumente sind neben vielen anderen in den neunziger Jahren freigegeben worden. - Das
sind nur zwei aus einer Fülle von Beispielen für real existierendes Hellsehen. So stehen die
Nahtodberichte nicht allein und können wir auf breitem Fundament auch das Auftreten
außersinnlicher Wahrnehmung in Außerkörpererfahrungen annehmen. Daraus folgt, dass
neurobiologisch-psychologische Methoden nicht genügen, um den Nahtodphänomenen
gerecht zu werden. Das ist wiederum nicht so zu verstehen, als sei eine um paranormale
Phänomene erweiterte Naturwissenschaft in der Lage, das Rätsel der Nahtoderfahrungen
aufzulösen. Es soll nur aufgezeigt sein, dass ein materialistisches Weltbild im Vorläufigen stecken bleibt. Wir brauchen ein erweitertes Naturverständnis. Die Physik hat seit
langem mit der Quantentheorie hierzu beigetragen. Und der amerikanische Neurobiologe
Stuart Hameroff, der mit dem englischen Physiker Roger Penrose zusammenarbeitet,
schlägt in der Tat vor, die Verdoppelung des Ich im Schwebeerlebnis, in dem der eigene
Körper von außen wahrgenommen wird, mit Hilfe der sogenannten Quantenverschränkung zu beschreiben, die diese Verdoppelung kennt; sie ist bei Photonen experimentell
nachgewiesen. Das ist ein sehr problematischer Vorschlag. Er zeigt immerhin, dass neuartige Denkmodelle möglich sind, die zum Verstehen von Teilaspekten des Paranormalen im Allgemeinen und der Nahtoderfahrungen im Besonderen beitragen.
Gleichwohl ist nicht zu erwarten, dass wir so oder anders auf wissenschaftlichem Weg
bis zum Zentrum des Nahtodgeschehens vordringen. Aber der Blick ist weit genug geöffnet, um wenigstens auf der dritten und obersten Erklärungsebene weitergehende Überzeugungen zu artikulieren, die wissenschaftlichem Denken nicht widersprechen, insbesondere, wenn wir die Kernfrage in Angriff nehmen: Stecken in den Nahtoderfahrungen
Hinweise auf ein Leben nach dem Tod? Bedeutet die Lösung vom Körper, die sich in der
außerkörperlichen Erfahrung und im Hinschweben auf das unsagbare Licht abzeichnet,
den Anfang des Weges über die Todesschwelle hinweg?
Zunächst sei betont, dass ich Nahtoderlebnisse nicht als Jenseitsreisen betrachte. Auch
wenn ein Betroffener durch Reanimation aus tiefem Koma „zurückgeholt" wurde, so ist
davon auszugehen, dass der Lebensfaden noch nicht gerissen war und die mystische
Vision vom „Diesseits" aus geschehen ist. Ob dabei etwas von einer jenseitigen, transzendenten Welt herüberleuchtet und vielleicht verbildlicht oder verschlüsselt geschaut
wird, lassen wir als eine ungelöste Frage stehen. Auffällig ist, dass die in vielen Nahtoderfahrungen erlebten Freunde oder Verwandte durchweg bereits verstorben sind.
Von einer Frau, die ich selbst kennen gelernt habe, weiß ich, dass sie in der Lichtvision
ihre Tante Cilla erblickte, die sie als noch lebend kannte. Sie erfuhr jedoch einige Tage
später, dass Tante Cilla kurz vor der Nahtodbegegnung verstorben war. Ob sich hier
eine telepathischer Übertragung abspielte und Tante Cilla zusammen mit dem ebenfalls
verstorbenen Vater der Betroffenen aus Bildern des Unbewussten heraufgekommen ist
oder ob eine transzendenzbezogene Begegnung stattfand, lassen wir offen. Ihr Vater sagte: Du musst noch einmal zurück - und Entsprechendes ist aus Begegnungen ähnlicher
Art bekannt. Neugierde über das Jenseits wird allemal nicht befriedigt.
In jedem Fall können wir die Kernfrage, auf die alles hinausläuft, stellen: Was wäre
geschehen, wenn in einer Koma-Situation an die Stelle des „Halt! Du musst noch einmal zurück" ein „Willkommen" getreten wäre? Wäre dann der oder die Betroffene weitergegangen in ein Leben nach dem Tod hinein, von dem wir dann nichts mehr erfahren
hätten? Das ist endgültig eine Frage der Überzeugung, weil es keine objektive Antwort gibt.
Was für diese Überzeugung spricht, ist einerseits die Erlebnistiefe, die uns diejenigen
vermitteln, die noch einmal zurückkehren und von dem Wunsch und der Sehnsucht beseelt sind, einmal den Weg weitergehen zu dürfen. Was ebenfalls zugunsten dieser Überzeugung zu Buche schlägt, ist ihre Universalität. Denn sie enthält noch keine spezifische religiöse Lehre, etwa darüber, was im Jenseits geschieht. Sie ist Grundbestandteil der meisten Religionen. Erst die Interpretation dieser Überzeugung führt zu Religionen im engeren Sinn. Nahtoderfahrungen sind keine Beweise für ein Leben nach
dem Tod, aber sie enthalten Hinweise, die in der Erlebniswelt der heutigen, weithin
nicht mehr religiösen Kultur die Urerkenntnis, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, neu
aufleuchten lässt und unterstützt.
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Was nun die religiösen Interpretationen im engeren Sinne angeht, so beschränken wir uns
aus Zeitgründen auf einige Bemerkungen zum Christentum. Folgt man unmittelbar dem,
was im Neuen Testament gesagt ist, liegt der unmittelbare Durchgang durch den Tod hindurch in ein anderes, lichterfülltes Leben nahe. Man denke an die Steinigung des Stephanus, der den Himmel offen sieht, an das, was Jesus zu einem Mitgekreuzigten sagt:
„Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein" oder an das Damaskuserlebnis des Paulus.
Das entsprach auch lange dem Glauben der Christenheit. Erst im Zuge der Aufklärung
und vor allem mit der Entwicklung des neuzeitlichen Weltbildes der Naturwissenschaft
kam es zu einer Anpassung in der Theologie, vor allem der protestantischen, die der Theologe und Schriftsteller Jörg Zink in seinem Buch „Auferstehung. Und am Ende ein Gehen ins
Licht" von 1999 so beschreibt:
„In der evangelischen Theologie der letzten achtzig Jahre gab es eine merkwürdige Lehre
von der Auferstehung oder besser der Nichtauferstehung. Es war die Lehre vom
,Ganztod'. Sie besagte, das Leben des Menschen ende im Tod und zwar ganz und gar
und in jeder Hinsicht und auf jeder Ebene, mit Geist, Seele und Leib. Man sagte Gott habe
den Menschen aus dem Nichts erschaffen. Er falle in seinem Tod wieder in das gänzliche Nichts zurück, und in irgendeiner nicht festsetzbaren Zukunft werde Gott diesen
Menschen wieder aus dem Nichts nacherschaffen. Er sei also mit seinem Tode vollständig ausgelöscht, und es gebe keine Kontinuität zwischen der jetzt lebenden Person
und ihrer künftigen Existenz bei Gott. So vertrat Karl Barth, der große Lehrer meiner Generation, die Auffassung, im Tode bleibe keine menschliche Seele übrig. Mit dem Tode sei
der ganze Mensch nichts. Es gebe ihn nicht mehr. Er werde erst am jüngsten Tage aus
der Erinnerung des Schöpfers neu geschaffen, aus dem Gedächtnis Gottes sozusagen
neu zusammengesetzt. Aber mich hat das noch nie überzeugt. Was soll denn damit
gemeint sein, dass zwischen Tod und Auferstehung das Nichts sei? Was ist der Sinn
dieses Vakuums? Das Neue Testament spricht ganz anders."
So sieht Zink in den Nahtoderfahrungen das „am Ende ein Gehen ins Licht" vorgezeichnet. Christlich Gläubige tun gut daran, ihm darin zu folgen, ohne sich einem EsoterikVerdacht auszusetzen. Einige Theologen haben in voreiliger Anpassung an ein verengtes naturwissenschaftliches Weltbild die „unsterbliche Seele" abgeschafft. Einzuräumen
ist, dass Seele nicht im Platonischen Sinn verstanden werden soll als etwas, das den
Leib bei der Geburt besteigt wie ein Fahrgast ein Taxi, um am Zielort, dem Tod, wieder
auszusteigen. Eine adäquate Alternative ist aber nicht, die „unsterbliche Seele" abzu-
schaffen, sondern sie im Sinne der mit unserem Leben herangewachsenen Schatzkammer zu verstehen als die Gestalt unseres Ich, die sich aus dieser Schatzkammer zu lösen, sozusagen den Mantel des Leibes abzulegen vermag. Christen können darin eine
Zusage sehen, dass, wie schwer auch immer das Sterben selbst sein mag, sie in das
Licht der Liebe Gottes eingehen. Was uns jenseits der Schwelle des Todes erwartet,
auch an Rechenschaft und Gericht, wissen wir nicht. Die Grunderfahrung im Tode ist
aber für jeden die Liebe und das Angenommensein. Die Lichterfahrung vieler Nahtodbetroffener oder der Menschen, bei denen im Sterbemoment noch ein Lichtschimmer
über das Gesicht streicht, lassen uns etwas davon erahnen. Um in einem Bild zusammenzufassen: Der Tod ist nicht nur ein biologisches Verenden. Der Tod ist ein Heiligtum, das
wir im Sterben betreten. Nahtoderfahrungen und mystische Erlebnisse dringen bis in
die Vorhöfe des Heiligtums vor und geben Hinweise auf das, was uns erwartet.
Schließen möchte ich mit einem Satz eines Philosophen, bei dem man ihn kaum vermuten mag, nämlich von Arthur Schopenhauer:
„Ich glaube, dass, wenn der Tod unsere Augen schließt, wir in einem Lichte stehen,
von welchem unser Sonnenlicht nur ein Schatten ist.“